Download - Buntes Haus Celle
Download - Buntes Haus Celle
Download - Buntes Haus Celle
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
frühen Dämmerungen, ab<br />
Oktober. Am schönsten,<br />
am reinsten, am tiefsten<br />
über der Bahnhofstraße.<br />
Wie oft habe ich <strong>Celle</strong>r<br />
Mauve gemalt! Abstrakt<br />
versteht sich. Nonfigurativ.<br />
Ach! Wenn die Lampen<br />
grün aufflammen wie<br />
Aperitifs aus Phosphor<br />
und Kleinstadtsünde.<br />
Wenn Dämmerung plus<br />
<strong>Haus</strong>branddunst und<br />
Auspuffgase um Strauch<br />
und Baum der Trift weben,<br />
sich der Abendstern<br />
dazugesellt und gar die alte Zuchthausglocke pingelt,<br />
dann ist das eine Wolke, dann ist das einfach marecagé<br />
sur chaussette oder Angelique á la framboise mit Bauchdekollete<br />
bußfertig auf der Treppe der Madeleine. Ich<br />
kann <strong>Celle</strong>r Mauve nicht mehr entbehren. – So weit<br />
über »das« Mauve. Es gibt aber außerdem noch »den«<br />
Mauve. Der Mauve ist ein Original Pariser Petticoat der<br />
Schwarzen, meiner Gattin (Verlobungsgeschenk eines<br />
Vorgängers), und ihn hat sie natürlich in erster Linie<br />
gemeint. Besagtes Kleidungsstück (als pars pro toto)<br />
hatte mich vor Jahren veranlaßt, <strong>Celle</strong> nicht den Rücken<br />
zu kehren, als die Schwarze noch Fräulein Freudenberg<br />
war und ich schon abzudampfen gedachte, um in Frankfurt<br />
den Posten eines Raststätten-Syndikus anzunehmen<br />
oder jenseits des Rheines Mist zu karren, wenn ich als<br />
Pflastermaler versagt hätte.“ (Ein Jahr später verließ<br />
Grasshoff übrigens <strong>Celle</strong> und siedelte um nach Zwingenberg<br />
an der Weinstraße.)<br />
Miesemase<br />
Dieses kleine Stück »Merian«-Prosa atmet schon den<br />
Geist von Grasshoffs einzigem Roman, dem »Blauen<br />
Heinrich«, der im Jahr 1980 veröffentlicht wurde . Im<br />
Genre des Schelmenromans erleben die Leser*innen die<br />
Kriegs- und Nachkriegsodyssee von Grasshoffs alter ego,<br />
dem Malerpoeten Heinrich Blaue – und als das schon<br />
genannte »Mölze« ist <strong>Celle</strong> der geografische Ankerpunkt<br />
der Nachkriegsgeschichten. Die euphorische Besprechung<br />
seines Freundes Georg Eyring in der »Zeit« hebt<br />
das literarisch Auf- und Anregende des Romans zwar<br />
treffend hervor, aber der erhoffte Erflog war dem Werk<br />
nicht beschieden. Das ist nicht wirklich verwunderlich,<br />
denn das Buch liefert eine Sicht auf Krieg und Nachkriegszeit,<br />
die zwar klar zwischen oben und unten zu<br />
unterscheiden weiß, aber sich als zu sperrig erweist gegenüber<br />
ethischen Fragestellungen. Dass erst das Fressen<br />
kam und dann die Moral, war nichts, mit dem sich das<br />
Feuilleton und auch nicht die Leser*innen anzufreunden<br />
vermochten. Hier eine Passage, die dies vielleicht illustriert:<br />
„Auch Wladi Kleingeld, mein Freund und Gönner,<br />
die Nummer zwei der örtlichen KP, der sozusagen den<br />
ortete, bemerkte nichts, obwohl er jede Woche zweimal<br />
mittendrin saß in der fetten Wolke, dann nämlich,<br />
wenn er meiner Wenigkeit das dialektische Denken unterwuchtete,<br />
wir DAS MANIFEST durchnahmen, und<br />
er mir die Thesen Marxens kommentierte. Es war für<br />
Kleingeld beschlossene Sache: Er würde, da er alle Voraussetzungen<br />
gegeben sah, aus mir den ersten proletarischen<br />
Maler des Landes machen. Dafür aber, daß er<br />
mich kostenlos den ROTEN GLAUBEN lehrte, sowie<br />
für die Verheißung, bei Übernahme der politischen Geschäfte<br />
durch das Proletariat in Mölze gesellschaftlich<br />
aufzurücken - versteht sich: in der neuen Gesellschaft -,<br />
stellte ich ihm und seiner Ische, einer Schauspielerin<br />
vom Parktheater, meine Bude achtmal im Monat für die<br />
Dauer von zwei Stunden ebenso kostenlos zur Verfügung.<br />
Währenddessen trieb ich mich im Güterbahnhofgelände<br />
herum, vor der Wellblechbude des RIVERSI-<br />
DE-CLUBS nach Kippen spähend, oder unternahm<br />
kleine Ausflüge in den Brigsener Wald, wo ich Pilze<br />
sammelte oder Bucheckern oder Verse ersann, völlig<br />
unpolitische, noch ohne jeden Klassenkampfgedanken,<br />
die später, allesamt vertont von Ari Slimka, durch Ulla<br />
Madison im NWDR gerade darum weite Verbreitung<br />
und ungeahnten Anklang fanden.<br />
Die Mädchen von Manhatten,<br />
die liegen in den Betten<br />
und rauchen Zigaretten<br />
und warten auf die große Show .. .<br />
Sowas und Ähnliches. Will nur sagen: Manchmal<br />
findet der Scherenschleifer auf Nebengleisen oder<br />
Holzwegen dickere Brocken als auf der Hauptstrecke.<br />
Jedenfalls konnte ich mir davon ein paar Meter Wurst<br />
kaufen und endlich eine neue Hose.<br />
Kulturschuster wiegte allerdings bedenklich die Bombe:<br />
»Meister, Sie schicken Ihre Muse auf den Strich«.<br />
Dr. Viehaak, der gefeierte Stadtdichter und Herausgeber<br />
der Gral-Hefte, nahm die Produkte zum Anlaß einer<br />
tiefschürfenden Abhandlung über DAS TRIVIALE IN<br />
DER LYRIK. Dr. Klemmhage meinte, das sei meiner<br />
nicht würdig, und Wladi Kleingeld nannte es ganz einfach<br />
kapitalistische Kulturkotze. Ich versprach ihm denn<br />
auch, in mich zu gehen und lieber zu hungern, als mit<br />
Unkunst weiterhin dem Kapital in die Tentakel zu arbeiten.“<br />
Möwen, kleine weiße<br />
Bekannt gemacht hat Grasshoff seine »Halunkenpostille«,<br />
die – erstmals 1947 erschienen – Balladen und<br />
Moritaten versammelt, die – wie Georg Eyring schreibt<br />
– sich in der „Tradition antiker Satiriker, mittelalterlicher<br />
Vaganten, barocker Schäferdichter der derben Sorte<br />
bis hin zum jungen Brecht, zu Klabund, Tucholsky,<br />
Ringelnatz und Mehring“ bewegen. Das Personal dieser<br />
Gedichte sind die Lumpen, Schnorrer, Penner, Kesselflicker<br />
und Diebe. Das ist der seit den 1950er Jahren<br />
bekannte Grasshoff, der hier und da auch einmal Ein-<br />
noch schwächsten kapitalistischen Furz im Dunkeln<br />
___________________________________________________________________________________________________<br />
24 revista Nr. 67, Nov./Dez. 2013