Neue Leitlinien und Therapiekonzepte - Ärztekammer Bremen
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8 NICHT SPEZIFISCHE RÜCKEN SCHMER ZEN<br />
BREMER ÄRZTEJOURNAL 03| 1 3 BREMER ÄRZTEJOURNAL 03| 13 NICHT SPEZIFISCHE RÜCKEN SCHMER ZEN 9<br />
BIRTH<br />
Die<br />
Multimodale Rückenschmerz-<br />
therapie mit BIRTH<br />
Rückenschmerzen sind von nicht unerheblicher sozio-ökonomischer Bedeutung.<br />
85 Prozent der Bevölkerung in westlichen Industriestaaten leiden einmal im Leben<br />
an Rückenschmerzen.<br />
In etwa zehn Prozent der Fälle werden<br />
die Rückenbeschwerden chronisch, fünf<br />
Prozent der Betroffenen werden zu Problemfällen.<br />
Bei gr<strong>und</strong>sätzlich guter Prognose<br />
von Rückenschmerzen stellen Rezidive<br />
in vielen Fällen den Auftakt zu<br />
komplizierten Krankheitsverläufen mit<br />
der Gefahr chronischer Verläufe dar. An<br />
der Chronifizierung sind nicht nur somatische,<br />
sondern überwiegend kognitive,<br />
emotionale sowie psychosoziale Belastungsfaktoren<br />
beteiligt. Beim chronischen<br />
Rückenschmerz ist schließlich von<br />
einem eigenständigen Krankheitsbild<br />
auszugehen, geprägt durch Auswirkungen<br />
auf somatischer Ebene, psychische<br />
Beeinträchtigungen, Verhaltensänderungen,<br />
dysfunktionale Krankheitsverarbeitung<br />
<strong>und</strong> sozialen Konsequenzen.<br />
Obwohl diese Erkenntnisse Eingang gef<strong>und</strong>en<br />
haben in die anerkannten <strong>Leitlinien</strong>,<br />
zuletzt in die Erstellung der Nationalen<br />
Versorgungsleitlinie „Kreuzschmerz“,<br />
existiert eine Diskrepanz in der Angleichung<br />
der Versorgungsstrukturen.<br />
Boykott beim Paradigmenwechsel<br />
In Deutschland wird durch das Beharren<br />
auf tradierten Sichtweisen die Etablierung<br />
dieses Paradigmenwechsels verhindert.<br />
Eine veränderte Sichtweise des<br />
Krank heitskonzeptes im Sinne der Aktivierung,<br />
mit dem Ziel der Rekonditionierung<br />
<strong>und</strong> der alltagstauglichen Belastbarkeit,<br />
wird nur unzureichend erzielt.<br />
Die konzeptionelle Ausrichtung auf das<br />
Prinzip des Selbst managements gelingt in<br />
der Umsetzung in die alltägliche Versorgung<br />
lediglich lückenhaft. Monokausale<br />
Therapieansätze überwiegen. Stationäre<br />
Komplexbehandlungen mit dem Schwerpunkt<br />
auf interventionellen Maßnahmen,<br />
führen zu einer Ausweitung der Schmerzregionen,<br />
erhöhtem Analgetikabedarf<br />
sowie negativen psychosozialen Entwicklungen<br />
im Verlauf.<br />
Somatischer Bereich<br />
„Von namhaften Wissenschaftlern<br />
wurde der Umgang mit Rückenschmerzen<br />
in den letzten 50 Jahren<br />
als das größte medizinische Desaster<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts bezeichnet“<br />
Was ist BIRTH?<br />
Die Abkehr von eindimensionalen Krankheits-<br />
<strong>und</strong> Behandlungskonzepten hat in<br />
der Vergangenheit zur Etablierung multimodaler<br />
Therapieverfahren geführt. Wenn<br />
weniger intensive evidenzbasierte Therapieverfahren<br />
unzureichend wirksam<br />
wa ren, hat sich die multimodale Schmerztherapie<br />
als eine wirksame Behandlungsform<br />
bewährt. Genau hier setzt das BIRTH-<br />
Pro gramm des Wirbelsäulenzentrums an.<br />
Besserung der Schmerzerkrankung mit Linderung ihrer Symptomatik,<br />
Einflussnahme auf die Ursachenkette <strong>und</strong> Prävention von Rezidiven<br />
Reduktion von schmerzbedingter Beeinträchtigung<br />
Verbesserung von Ausdauer, Muskelkraft, Koordination <strong>und</strong> Beweglichkeit<br />
Verbesserung der funktionellen Leistungsfähigkeit, Anhebung des Aktivitätsniveaus<br />
Positive Beeinflussung von Risikofaktoren <strong>und</strong> Komorbidität (z. B. Bluthochdruck,<br />
Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, metabolisches Syndrom)<br />
Psychosozialer Bereich<br />
Verminderung psychosozialer Belastungen <strong>und</strong> psychischer Folgen oder<br />
Komorbiditäten, wie Depressivität <strong>und</strong> Angst<br />
Abbau inadäquater Bewältigungsstrategien<br />
(z. B. Katastrophisieren, Schonverhalten, Durchhaltestrategien)<br />
Verbesserung von Interaktions- <strong>und</strong> Kommunikationskompetenz zur Vermeidung<br />
instrumenteller Funktion von Schmerzverhalten<br />
Motivierung zu nachhaltiger körperlicher Aktivität<br />
Verbesserung der psychischen <strong>und</strong> sozialen Kompetenz in Alltag <strong>und</strong> Beruf<br />
multimodale Bremer Integra tive<br />
Rückentherapie (BIRTH) vereint Disziplinen,<br />
die sich für die individuelle effek tive<br />
Behandlung chronifizierter Rückenschmerzen<br />
als sinnvoll erwiesen haben. Orthopäden,<br />
Schmerzmediziner, Psychologen<br />
<strong>und</strong> Physiotherapeuten arbeiten auf<br />
Gr<strong>und</strong> lage eines strukturierten interdisziplinären<br />
Ass essments, mit einem auf die<br />
individuellen Bedürfnisse ausgerichteten,<br />
inhaltlich <strong>und</strong> zeitlich abgestimmten Therapiekonzept.<br />
In das Vorgehen sind medizinische,<br />
sporttherapeu tische, physiotherapeutische<br />
<strong>und</strong> psychotherapeutische<br />
Interventionen in einem abgestuften standardisierten<br />
Ge samt konzept integriert.<br />
Das Ziel einer solchen Behandlung ist nicht<br />
vorrangig die Beseitigung des Symptoms<br />
„Schmerz“ – stattdessen rückt vielmehr<br />
die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit<br />
in Alltag <strong>und</strong> Beruf in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Das gesamte Behand lungskonzept,<br />
die somatischen Behandlungsoptionen<br />
eingeschlossen, ori entiert sich stringent<br />
an lerntheor etischen <strong>und</strong> verhaltenstherapeutischen<br />
Prinzipien.<br />
BIRTH – handeln statt behandeln<br />
Die Betreuung im BIRTH-Programm erfolgt<br />
in Kleingruppen von bis zu acht Personen<br />
stationär über eine Dauer von 17 Tagen<br />
im Wirbelsäulenzentrum der Roland-Klinik.<br />
Die Therapieinhalte unterliegen einem<br />
integrativen Konzept der funktionalen<br />
Wiederherstellung („functional restoration“)<br />
auf verschiedenen Ebenen. Der<br />
somatisch orientierte Behandlungsansatz<br />
wird lerntherapeutischen sowie verhaltenstherapeutischen<br />
Ansätzen nachgeordnet.<br />
Handeln statt Behandeln ist<br />
dabei ein wichtiges Prinzip. Die Steigerung<br />
der Kon trollfähigkeit <strong>und</strong> des Kompetenzgefühls<br />
der Betroffenen werden<br />
im Sinne eines Selbstmanagements in<br />
den Vordergr<strong>und</strong> der Therapie gerückt.<br />
Die therapeutischen Bausteine des BIRTH-Programms<br />
Medizinische Behandlung: Medikamentöse Schmerztherapie nach<br />
WHO-Richtlinien, manuelle Therapie<br />
Intensive Schulung auf Basis eines biopsychosozialen Krankheitsmodells mit<br />
Inhalten zur Schmerzerkrankung <strong>und</strong> Bezug zur individuellen Problematik wie<br />
psychosoziale Risikofaktoren <strong>und</strong> Bewegungsmangel<br />
Körperliche Aktivierung mit Anleitung zur selbstständigen Weiterführung<br />
in Form von medizinischer Trainingstherapie, Muskelaufbautraining mit<br />
Milon-Zirkel, Nordic Walking, Bewegungsbäder<br />
Psychotherapeutische Behandlung: zur Veränderung eines maladaptiven, auf<br />
Ruhe <strong>und</strong> Schonung oder Durchhalten ausgerichteten Krankheitsverhaltens, zur<br />
Stärkung von eigenen Ressourcen im Umgang mit Schmerz <strong>und</strong> Beeinträchtigung<br />
sowie zum Erlernen von Entspannungs- <strong>und</strong> Stressbewältigungstechniken,<br />
Bewältigungsstrategien, auch in Form von störungsorientierter Einzeltherapie<br />
Work-Hardening als arbeitsorientiertes Trainingsprogramm unter Einbeziehung<br />
ergotherapeutischer Aspekte<br />
Indikation vs. Kontraindikation<br />
Indikationen zum multimodalen BIRTH-<br />
Programm sind gegeben bei:<br />
■ Gescheiterten monodisziplinären<br />
Therapieversuchen<br />
■ Schmerzassoziierten psychischen<br />
Begleiterkrankungen<br />
■ Psychosozialen Konsequenzen<br />
durch Schmerzkrankheiten<br />
■ Hohem Chronifizierungsstadium II<br />
<strong>und</strong> III nach Gerbershagen<br />
■ Räumlicher Ausbreitung des<br />
Schmerzbildes, Hinzutreten neuer<br />
Schmerzbilder, Wechsel des Schmerzcharakters<br />
eines Schmerzsyndroms<br />
■ Zunahme der Schmerzdauer/<br />
-attacken<br />
■ Relevanter Zunahme körperlicher<br />
Folgen<br />
■ Zunahme des Medikamentengebrauchs/Fehlgebrauch<br />
■ Schmerzbedingter Arbeitsunfähigkeit<br />
von mehr als zwei Monaten<br />
■ Sozialen Risikofaktoren.<br />
Das Vorliegen einer der folgenden aufgeführten<br />
Kontraindikationen schließt die<br />
Teilnahme am BIRTH-Programm aus:<br />
■ Ausgeprägte Sprachbarriere/stark<br />
eingeschränktes Sprachverständnis<br />
■ Erhebliche, die Leistungsfähigkeit<br />
einschränkende Zusatzerkrankungen<br />
bzw. schwere körperliche Einschränkungen<br />
■ Eingeschränkte Gehstrecke<br />
■ Unbehandelte Suchtprobleme<br />
■ Suizidalität<br />
Relative Kontraindikationen liegen vor bei:<br />
■ Rentenbegehren, laufenden BG-Verfahren,<br />
Versicherungsansprüchen.<br />
Um herauszufinden, ob ein Patient fürs<br />
BIRTH-Programm geeignet ist, müssen<br />
die aufgeführten Indikationen <strong>und</strong> Kontraindikationen<br />
überprüft <strong>und</strong> abgewägt<br />
werden. Ergeben sich aus der Prüfung der<br />
Indikationen <strong>und</strong> Kontraindikationen entsprechende<br />
Voraussetzungen zur Teilnahme<br />
am BIRTH-Programm werden die<br />
Patienten zum ärztlichen sowie psychologischen<br />
Assessment durch den Facharzt<br />
zugewiesen.<br />
In gemeinsamer Entscheidungsfindung<br />
wird die Teilnahme bei gegebener Indikation<br />
befür wortet <strong>und</strong> die Maßnahme<br />
eingeleitet.<br />
Literatur bei den Verfassern.<br />
Dr. Hannelore Schütte-Mönnig,<br />
Fachärztin für Orthopädie,<br />
Oberärztin,<br />
Roland-Klinik <strong>Bremen</strong><br />
Olaf Klünder,<br />
Anästhesist <strong>und</strong> Schmerzmediziner,<br />
<strong>Bremen</strong>