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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942<br />

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft<br />

DEUTSCHLAND & EUROPA<br />

Heft 65 – 2013<br />

Bürgerbeteiligung in<br />

Deutschland und Europa


Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,<br />

Geographie, Kunst und Wirtschaft<br />

DEUTSCHLAND & EUROPA<br />

HEFT 65–2013<br />

»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale<br />

für politische Bildung Baden-Württemberg<br />

herausgegeben.<br />

DIREKTOR DER LANDESZENTRALE<br />

Lothar Frick<br />

REDAKTION<br />

Jürgen Kalb, juergen.kalb@lpb.bwl.de<br />

REDAKTIONSASSISTENZ<br />

Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de<br />

BEIRAT<br />

Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH,<br />

Stuttgart<br />

Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus,<br />

Jugend und Sport<br />

Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz<br />

Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt<br />

Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar<br />

für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar<br />

Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und<br />

Studien haus Wiesneck<br />

Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-<br />

Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim<br />

Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische<br />

Bildung<br />

Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für<br />

politische Bildung<br />

ANSCHRIFT DER REDAKTION<br />

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart<br />

Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43;<br />

Fax: 0711.16 40 99-77<br />

Die Teilnehmer des »Filderdialogs« am Samstag, den 16.06.2012 in Leinfelden-Echterdingen.<br />

Beim Filderdialog berieten Bürgerinnen und Bürger sowie Experten/-innen über mögliche alternative<br />

Stuttgart-21-Trassenvarianten rund um den Landesflughafen in Leinfelden-Echterdingen.<br />

Während die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg diese Form der Bürgerbeteiligung<br />

positiv bewertete, beurteilte z.B. die Bürgerinitiative »Schutzgemeinschaft Filder« oder der<br />

»BUND« diese überwiegend kritisch.<br />

© Franziska Kraufmann dpa/lsw<br />

Kontroverse Diskussion um den »Filderdialog«:<br />

Stellungnahme der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeiteiligung der badenwürttembergischen<br />

Landesregierung, Gisela Erler: www.stm.baden-wuerttemberg.de/de/<br />

Meldungen/ 285478.html?referer=225359&template=min_meldung_html&_min=_stm<br />

Stellungnahme der »Schutzgemeinschaft Filder« und des »BUND«: www.schutzgemeinschaftfilder.de/presse/presse-anzeige/article/schutzgemeinschaft-und-bund-empoert-ueber-umgangmit-filderdialog-votum-beide-erklaeren-austritt-a/<br />

Weiterführende Informationen auf der Website des »Filderdialogs 21«<br />

www.filderdialog-s21.de<br />

SATZ<br />

Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG<br />

Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit<br />

Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179<br />

DRUCK<br />

Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH<br />

89079 Ulm<br />

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr.<br />

Preis der Einzelnummer: 3,– EUR<br />

Jahresbezugspreis: 6,– EUR<br />

Auflage 17.000<br />

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die<br />

Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder.<br />

Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte<br />

übernimmt die Redaktion keine Haftung.<br />

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen<br />

Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion.<br />

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für<br />

Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.<br />

THEMA IM FOLGEHEFT 66 (NOVEMBER 2013)<br />

Erweiterungs- und Austrittsdiskussionen<br />

in der Europäischen Union


Inhalt<br />

Inhalt<br />

Bürgerbeteiligung in Deutschland und<br />

Europa<br />

Vorwort des Herausgebers . ................................................. 2<br />

Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . ............................ 2<br />

1. Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen Jürgen Kalb 3<br />

2. Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie: Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt<br />

vom Mitmachen Gisela Erler. .......................................... 10<br />

3. Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa Patrizia Nanz | Jan-Hendrik<br />

Kamlage. ........................................................ 12<br />

4. Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungs feld von Utopie<br />

und Wirklichkeit am Beispiel Deutschland Oscar W. Gabriel. .................... 20<br />

5. Die europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der<br />

Bürgerbeteiligung in der EU Franz Thedieck ................................ 26<br />

6. Mehr Demokratie? Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa von<br />

1945–1990 Andreas Grießinger ....................................... 34<br />

7. Soziale Medien und das Partizipationsparadox Jan-Hinrik Schmidt. ............... 46<br />

1<br />

8. Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst« D&E-Interview mit<br />

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zum »Wahlalter mit 16«. .......................... 54<br />

9. »Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E-Interview<br />

mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim .......................... 58<br />

10. »Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur ​<br />

Jeannette Behringer. ................................................ 68<br />

Deutschland & Europa intern<br />

D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65 .................................... 72<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Inhalt


Vorwort<br />

des Herausgebers<br />

Geleitwort<br />

des Ministeriums<br />

2<br />

Unser repräsentativ-demokratisches System befindet sich, so<br />

scheint es jedenfalls im Moment, in einem tiefgreifenden Wandel.<br />

Auf der einen Seite verlieren insbesondere die politischen Parteien<br />

zunehmend an Vertrauen und an Mitgliedern, auf der anderen<br />

Seite werden von großen Teilen der Bevölkerung direkte<br />

Formen der Demokratie wie z.B. Bürgerbegehren oder Volksentscheide,<br />

zumindest aber eine stärkere »Bürgerbeteiligung« eingefordert.<br />

Nach einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung<br />

aus dem Jahre 2011 wünschen sich 81 Prozent der befragten Bürger<br />

mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten im politischen<br />

Prozess. Gefragt nach der grundsätzlichen Bereitschaft,<br />

sich über Wahlen hinaus z.B. an Diskussionsforen, Bürgerbegehren<br />

oder Anhörungen zu beteiligen, zeigten sich 60 Prozent bereit,<br />

sich stärker einzubringen. 85 Prozent der Bürger in Deutschland<br />

stimmten der Aussage zu, dass politische Entscheidungen<br />

durch mehr Bürgerbeteiligung eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung<br />

fänden. Schließlich sagten 76 Prozent der Befragten,<br />

Deutschland würde durch mehr Bürgerbeteiligung gerechter.<br />

Empirische Untersuchungen zeigen allerdings auch, dass sich bildungsferne<br />

Gruppen keineswegs von allen Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten<br />

über demokratische Wahlen hinaus in gleichem<br />

Maße angesprochen fühlen wie etwa die Bürgerinnen und Bürger<br />

mit höherer formaler Bildung. Die Forderung nach »mehr Bürgerbeteiligung«<br />

könnte deshalb sogar zu Verzerrungen bei der Erhebung<br />

des Volkswillens im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess<br />

führen.<br />

Gleichzeitig wächst in einer modernen Industriegesellschaft fast<br />

täglich die Notwendigkeit, etwa durch die Erneuerung der Infrastruktur<br />

im Energie-, Verkehrs- oder Schulwesen, in den Alltag der<br />

Menschen einzugreifen.<br />

Deshalb reift auch bei den gewählten Repräsentanten die Einsicht:<br />

Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger merken, dass sie<br />

frühzeitig informiert, offen angehört und ihre Argumente verstanden<br />

werden, lässt sich eine höhere Identifikation, wenn nicht<br />

sogar die Verantwortungsübernahme zumal der jungen Bürgerinnen<br />

und Bürger für das Gemeinwohl erreichen.<br />

Voraussetzung und Grundlage für eine, wenn man so will, »Partizipationskompetenz«<br />

der Bürgerinnen und Bürger ist dabei stets<br />

eine sachliche, die kontroversen Standpunkte der Beteiligten berücksichtigende<br />

politische Bildung.<br />

15. März 2013<br />

Lediglich 42 % der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen<br />

Union sind der Meinung, dass ihre Stimme in der Union zählt. Und<br />

nur die Hälfte aller EU-Bürgerinnen und -Bürger sind mit der Art<br />

und Weise, wie Demokratie auf europäischer Ebene aktuell funktioniert,<br />

zufrieden (Eurobarometer 77.4, 2012). Diese Ergebnisse<br />

sind bedenklich und signalisieren deutlich Handlungsbedarf, um<br />

das Vertrauen der Menschen in die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit<br />

der Europäischen Union zu stärken.<br />

Richtig ist aber auch: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich<br />

mehr denn je und suchen nach neuen Wegen der Mitwirkung und<br />

der politischen Partizipation. Die Europäische Union hat das Jahr<br />

2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« erklärt<br />

und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass der wichtigste<br />

Baustein einer modernen Demokratie die Beteiligung von Bürgerinnen<br />

und Bürgern an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen<br />

ist. Die Bürgerbeteiligung gibt Menschen<br />

unterschiedlichster Herkunft und politischer Überzeugung die<br />

Möglichkeit, Politik zu erleben und mitzugestalten. Eine lebendige<br />

Gesellschaft braucht aktive Bürgerinnen und Bürger, die das<br />

Zusammenleben gestalten wollen, das Wort ergreifen, sich verantwortlich<br />

zeigen und sich einbringen. Dies gilt auf Ebene der<br />

Einzelstaaten, und dies hat auch für das Zusammenleben in Europa<br />

Gültigkeit.<br />

Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« gibt einen gelungenen<br />

Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung<br />

im europäischen System und beleuchtet das Thema<br />

aus vielfältigen Blickwinkeln. Die Bandbreite reicht von einer historischen<br />

Betrachtung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen in<br />

Deutschland und Europa bis hin zur aktuellen Diskussion zur Absenkung<br />

des Wahlalters auf 16 Jahre. Damit bietet das Heft eine<br />

ideale Grundlage für eine differenzierte Auseinandersetzung mit<br />

einem für die Zukunft Europas entscheidend wichtigen Themenkomplex.<br />

Lothar Frick<br />

Direktor<br />

der Landeszentrale<br />

für politische Bildung<br />

in Baden-Württemberg<br />

Jürgen Kalb, LpB,<br />

Chefredakteur von<br />

»Deutschland & Europa«<br />

Renzo Costantino<br />

Ministerium für<br />

Kultus, Jugend und Sport<br />

in Baden-Württemberg<br />

Vorwort & Geleitwort<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

1. Bürgerbeteiligung im europäischen<br />

Mehr ebenensystem – Chancen und<br />

Grenzen<br />

JÜRGEN KALB<br />

Die Europäische Union hat das Jahr 2013<br />

zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen<br />

und Bürger« erklärt. Verbunden damit<br />

ist die Aufforderung, sich über die Zukunft<br />

der EU, die »EU 2020«, auf allen exekutiven<br />

und legislativen Ebenen, aber auch in der<br />

Zivilgesellschaft und in der Geschäftswelt<br />

öffentlich auszutauschen. Zudem werden,<br />

so heißt es, die Bürgerinnen und Bürger<br />

auf den nationalen, regionalen oder lokalen<br />

Ebenen aufgefordert, sich zu artikulieren<br />

und sich zu beteiligen, sollen neue<br />

Wege der Bürgerbeteiligung gesucht, ausprobiert<br />

und etabliert werden. Dies geht<br />

einher mit Bestrebungen in einzelnen Bundesländern,<br />

wie z. B. Baden-Württemberg,<br />

und Kommunen, mehr »Bürgerbeteiligung<br />

zu wagen«. Doch was ist substantiell an<br />

dieser »Wende hin zu den Bürgerinnen und<br />

Bürgern«? Sind es gar nur Alibianhörungen<br />

in einem zu erstarren drohenden repräsentativ-demokratischen<br />

»europäischen<br />

Mehr ebenensystem«, das nicht selten als<br />

fernes »bürokratisches Monster Brüssel«<br />

karikiert wird? Das Ansehen der demokratisch gewählten Vertreterinnen<br />

und Vertreter ist jedenfalls, das zeigen nahezu<br />

alle nationalen sowie <strong>europa</strong>weiten Befragungen, auf einem<br />

Tiefpunkt angelangt. Ob sich durch mehr Bürgerbeteiligung<br />

eine Trendwende einleiten ließe, bleibt bislang sicher eine offene<br />

Frage. Optimisten sehen in der Etablierung von »formellen<br />

und informellen Formen der direkten Partizipation« bereits<br />

Alternativen bzw. Ergänzungen zum parlamentarischen<br />

System. Skeptiker warnen dagegen vor allzu viel Euphorie, ja<br />

sehen darin sogar die Gefahr, dass formelle und informelle<br />

Anhörungen der Bürgerinnen und Bürger das parlamentarische<br />

System und die Verantwortlichkeit der demokratisch legitimierten<br />

Repräsentanten aushöhlen und letzten Endes,<br />

fänden die Befragungen dann doch wenig Gehör, zu noch<br />

mehr Frustration und Misstrauen führen könnten. Letztlich<br />

sei die Partizipationsbereitschaft auch keineswegs auf alle<br />

Bevölkerungsgruppen gleichmäßig verteilt, was zu extremen<br />

Verzerrungen in der politischen Meinungs- und Willensbildung<br />

führen müsse. Andererseits sind sich alle Beteiligten<br />

schnell darin einig, dass ohne die Zustimmung seiner Bürgerinnen<br />

und Bürger ein so komplexes System wie das transnationale<br />

Mehrebenensystem der Europäischen Union auf Dauer<br />

nicht funktionieren kann. Das Anwachsen von Kräften, die<br />

sich für eine Renationalisierung einsetzen, lässt sich heute<br />

bereits in manchen Mitgliedstaaten beobachten.<br />

Warum ein »Europäisches Jahr<br />

der Bürgerinnen und Bürger«?<br />

Abb. 1 »Ist das nicht das Bürokratie-Monster? …« © Gerhard Mester, 20.1.2013<br />

Europakritische Stimmen melden sich nicht nur in den Medien<br />

und an den Stammtischen in zunehmendem Ausmaße. In zahlreiche<br />

Mitgliedstaaten sitzen heute bereits <strong>europa</strong>kritische Parteien<br />

in den Parlamenten. Dies sollte auch in Deutschland nicht<br />

bagatellisiert werden, auch wenn es hierzulande (noch) keine explizit<br />

populistisch-<strong>europa</strong>kritische Partei in den Parlamenten<br />

gibt. Schon in Großbritannien sieht es anders aus. So kündigte zu<br />

Beginn des Jahres 2013 der britische Premierminister David Cameron<br />

an, im Jahre 2017 ein Referendum über die weitere Mitgliedschaft<br />

des Vereinigten Königreichs in der EU durchführen zu<br />

lassen. Und Meinungsforscher sehen im Moment sogar eine<br />

Mehrheit bei jenen Briten, die einen Austritt aus der EU befürworten.<br />

In den Niederlanden, in Finnland, in Österreich, um nur einige<br />

Länder zu nennen, eroberten <strong>europa</strong>kritische Parteien<br />

längst enorme Prozentpunkte bei Parlamentswahlen.<br />

Insbesondere nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

sowie in der Folge der Staatsschuldenkrise in den PIIGS-Staaten<br />

(Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien), oft auch abgekürzt<br />

»Euro-Krise« genannt, scheinen jene Recht zu bekommen,<br />

die schon längst behaupten, dass die Problemlösungskapazität<br />

der Europäischen Union nicht ausreiche, die aktuellen<br />

Herausforderungen zu bewältigen. Als Krisenbewältiger erscheinen<br />

in den Medien und damit auch in den Augen der meisten Bürgerinnen<br />

und Bürger dabei auch in erster Linie die Staats- und<br />

Regierungschefs der großen EU-Mitgliedstaaten, die in nächtelangen<br />

Konferenzen um Kompromisse ringen. Als weiterer Agent<br />

neben dem Europäischen Rat erscheinen in den Medien höchstens<br />

noch die Vertreter der Europäischen Kommission. Vom Europaparlament<br />

war dagegen in diesen Krisenmonaten wenig zu lesen,<br />

zu hören oder zu sehen. Schon ist die Rede vom weiteren<br />

»Legitimationsverlust« der EU. Die »Effektivität« der beschlossenen<br />

Kompromisse wird schon länger angezweifelt.<br />

Umstrittene EU-Richtlinien aus den Reihen der EU-Kommission<br />

erzeugen zudem den Eindruck einer Regelungswut aus Brüssel,<br />

die an den Bedürfnissen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger<br />

3<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen


4<br />

JÜRGEN KALB<br />

vor Ort vollkommen vorbei gehe. Als Beispiel<br />

sei hier nur die sog. »Wasser-Richtlinie« genannt,<br />

die inzwischen durch öffentlichen<br />

Druck wieder zurück genommen wurde. Unter<br />

der Überschrift des »Europäischen Semesters«<br />

sind es dann wiederum der »Rat«<br />

und die Kommission, die die Mitgliedstaaten<br />

zur Einhaltung der nationalen Haushaltsdisziplin<br />

bzw. des Fiskalpaktes drängen. Vor allem<br />

in den Krisenstaaten entsteht der Eindruck,<br />

aus »Brüssel« oder »Berlin« werde eine<br />

Austeritäts- oder Sparpolitik diktiert, die den<br />

Bedürfnissen dieser Staaten keineswegs gerecht<br />

werde. Und Jugendarbeitslosigkeitsraten<br />

in den Krisenstaaten von nahe an oder<br />

über 50 % lassen in der Tat <strong>europa</strong>weit aufhorchen.<br />

Andererseits wehren sich zunehmend<br />

Menschen in den nördlichen EU-Mitgliedstaaten<br />

dagegen, »Zahlmeister der EU«<br />

zu werden. Bürgernähe erzeugt beides nicht.<br />

Zwar hat der Lissaboner Vertrag, der seit<br />

2009 als Grundlagen vertrag der EU gilt, die<br />

Rechte des Europaparlaments deutlich ausgeweitet,<br />

dessen Medienpräsenz und damit<br />

öffentliche Beachtung erscheint aber nach<br />

wie vor zumindest bei der Krisenbewältigung<br />

peripher. Selbst dem interessierten Beobachter<br />

des Europaparlaments fällt es schwer einzuschätzen,<br />

welches Gewicht das Europaparlament<br />

im Brüsseler Gesetzgebungsprozess<br />

denn nun wirklich spielt.<br />

2014 stehen erneut Europawahlen an. Und<br />

bereits 2009 war die Wahlbeteiligung mit<br />

<strong>europa</strong>weit rund 43 % keineswegs überzeugend.<br />

Abb. 2<br />

Mit dem »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« im Jahr<br />

2013 möchten die Europäische Kommission und die Europaparlamentarier<br />

deshalb rechtzeitig damit beginnen, Wählerinnen und<br />

Wähler für die Europawahlen zu mobilisieren.<br />

Die Europäische Kommission hat dazu neben einer Öffentlichkeitskampagne<br />

mit verschiedenen Webportalen (z. B. http://<strong>europa</strong>.<br />

eu/ citizens-2013/de/home) zudem »Eurobarometer« damit beauftragt<br />

herauszufinden, ob die Bürgerinnen und Bürger in der EU denn<br />

genügend über ihre Rechte als Unionsbürger informiert seien<br />

(Flash Eurobarometer 365 vom Februar 2013, Erhebung November 2012).<br />

Das insgesamt positive Ergebnis kann aber sicher nicht darüber<br />

hinweg täuschen, dass die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger<br />

mit ihren Mitwirkungsrechten auf der europäischen Ebene keineswegs<br />

zufrieden sind.<br />

Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede vom 22.2.2013<br />

einige der seit langem zu hörenden Kritikpunkte an der EU aufgelistet:<br />

»den Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokraten und<br />

ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entscheidungen,<br />

das Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von Institutionen<br />

und nicht zuletzt den Unwillen über die wachsende Bedeutung<br />

des Europäischen Rates und die dominierende Rolle des deutsch-französischen<br />

Tandems«. (Joachim Gauck, Europa: Vertrauen erneuern – Verbindlichkeit<br />

stärken, S. 2f., www.bundespraesident.de)<br />

Der Bundespräsident kommt zu dem Schluss, »zu viele Bürger lässt<br />

die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit<br />

zurück« (S. 2) und weiter unten heißt es: »Die Krise hat mehr als nur<br />

eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das<br />

politische Projekt Europas.«<br />

Gleichzeitig betont Gauck aber auch, dass es, anders noch als im<br />

19. Jahrhundert bei der Nationalstaatenbildung, heute »starke Zivilgesellschaften«<br />

gebe. »Ohne die Zustimmung der Bürger könnte<br />

keine europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der<br />

europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen Bürgerinnen<br />

und Bürgern bestimmt« (ebenda, S. 9).<br />

»Wie hoch ist Ihr Vertrauen in folgende Berufsgruppen?«<br />

© Change, Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, Sonderheft 2009; S. 19<br />

Sein Wunschbild für Europa heißt für ihn, »mehr europäische Bürgergesellschaft«<br />

(S. 12). Darunter versteht Gauck auch »eine europäische<br />

Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander«<br />

(S. 11). Direkt an die anwesenden Schülerinnen und Schüler<br />

gewandt führt er aus:<br />

»Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnten ja unsere<br />

Medienmenschen, könnte unsere Medienlandschaft so eine Art <strong>europa</strong>fördernde<br />

Innovation hervorbringen, vielleicht so etwas wie »Arte für alle«<br />

(»Arte« ist ein deutsch-französischer TV-Sender mit kulturellem Anspruch:<br />

J. K.), ein Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten,<br />

28 natürlich, für Junge und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer<br />

und Europa-Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision<br />

Song Contest oder ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel<br />

Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien<br />

oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden<br />

geben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und<br />

verständlich machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen<br />

ganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann<br />

nach einem Krisengipfel die Türen aufgehen und die Kamera würde nicht<br />

nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch<br />

einblenden. Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brauchen<br />

eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn<br />

entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in nationalistische<br />

Töne verfallen, ohne Sensibilität oder Sachkenntnis, über<br />

den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich weiß, dass viele Medienkonzerne<br />

die europäische Öffentlichkeit schon zu stimulieren versuchen,<br />

mit Beilagen aus anderen Ländern, mit Schwerpunktthemen zu Europa<br />

und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber bitte mehr davon – mehr<br />

Berichterstattung über und mehr Kommunikation mit Europa!<br />

Wir sprechen gerade über Kommunikation. Kommunikation ist für mich<br />

kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der Themen<br />

und Probleme, sie ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der<br />

Mündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und sie nicht als untertänig,<br />

desinteressiert und unverständig abtut. Mehr Europa heißt für mich:<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


mehr europäische Bürgergesellschaft. Ich<br />

freue mich daher, dass 2013 das Europäische<br />

Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist.«<br />

(ebenda, S. 12)<br />

Gauck weist dabei in seiner Rede ausdrücklich<br />

auf das von Ulrich Beck und<br />

Daniel Cohn-Bendit initiierte Manifest<br />

»Wir sind Europa! Manifest zur Neugründung<br />

Europas von unten.« (http://manifest-<strong>europa</strong>.eu/allgemein/<br />

wir-sind-<strong>europa</strong>?lang=de) hin, wenn er<br />

auch nicht allen aufgestellten Forderungen<br />

zustimmen möchte. Im Manifest<br />

heißt es:<br />

»Wir, die Erstunterzeichnenden, möchten<br />

der europäischen Bürgergesellschaft eine<br />

Stimme geben. Wir fordern deshalb die<br />

Europäische Kommission und die nationalen<br />

Regierungen, das Europäische Parlament<br />

und die nationalen Parlamente dazu<br />

auf, ein Europa der tätigen Bürger zu<br />

schaffen und sowohl die finanziellen wie<br />

auch rechtlichen Voraussetzungen für ein<br />

Freiwilliges Europäisches Jahr für alle bereitzustellen<br />

– als Gegenmodell zum Europa<br />

von oben, dem bisher vorherrschenden<br />

Europa der Eliten und Technokraten. Europa droht zu scheitern an der<br />

unausgesprochenen Maxime der Europapolitik, das Glück des europäischen<br />

Bürgers notfalls auch gegen seinen Willen zu schmieden. Es geht<br />

darum, die nationalen Demokratien europäisch zu demokratisieren und<br />

auf diese Weise Europa neu zu begründen. Nach dem Motto: Frage nicht,<br />

was Europa für dich tun kann, frage vielmehr, was du für Europa tun<br />

kannst – Doing Europe!«<br />

Wenn auch der deutsche Bundespräsident sich nicht gleich der<br />

Forderung des Manifests nach einem »von der EU finanzierten europäischen<br />

Freiwilligendienst« anschließen möchte, so hegt er<br />

doch Sympathien für die Forderungen nach einer »EU von unten«,<br />

nach der Unterstützung und Organisation von mehr Bürgerbeteiligung<br />

in Europa, auf allen Ebenen.<br />

Das Instrument der<br />

»Europäischen Bürgerinitiative«<br />

Abb. 3<br />

3. DIE EUROPÄISCHE BÜRGERINITIATIVE (EBI)<br />

Umweltpolik<br />

Verbraucherschutz<br />

Steuerfragen<br />

Grundrechte der EU-Bürger<br />

Altersversorgung<br />

Bildungsfragen<br />

Arbeits- und Beschäigungspolik<br />

Nationaler Bericht - Deutschland<br />

»In welchen Bereichen würden Sie die Europäische Bürgerinitiative am ehesten nutzen?«<br />

© EU-Kommission: Standard Eurobarometer 78/Herbst 2012 – TNS Opinion & Social<br />

19%<br />

Bürgerbeteiligung lässt sich im transnationalen europäischen<br />

Mehrebenensystem sicher nur sehr unterschiedlich für die politische<br />

Willensbildung nutzbar machen. Am häufigsten werden die<br />

unterschiedlichen Modelle der »formellen oder informellen Bürgerbeteiligung«<br />

sicher auf regionaler oder lokaler Ebene organisiert<br />

und praktiziert. Professorin Dr. Patrizia Nanz und Dr. Jan-<br />

Hendrik Kamlage haben dazu in der vorliegenden Ausgabe von<br />

D&E in ihrem Beitrag »Entwicklungen der partizipativen Demokratie in<br />

Europa« einige anschauliche Beispiele vorgestellt. Im sich anschließenden<br />

Materialteil wird zudem mit Zeitungsberichten zu<br />

Praxisbeispielen aus Süd<strong>deutschland</strong> das durchaus unterschiedliche<br />

Presseecho auf solche Bürgerbeteiligungsformen deutlich.<br />

Zuvor beschreibt die »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung«<br />

der baden-württembergischen Landesregierung,<br />

Gisela Erler, in ihrem Beitrag: »Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie:<br />

Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen« die<br />

diesbezüglichen Vorhaben der grün-roten Landesregierung. Für<br />

die Landesregierung soll die verstärkte Bürgerbeteiligung gar zu<br />

einem zentralen Vorgehen in ihrer Regierungsarbeit werden.<br />

Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel von der Universität Stuttgart<br />

sieht die Bürgerbeteiligungsprojekte, wozu er auch z. B. Volksabstimmungen<br />

rechnet, in einem Zielkonflikt: »Bürgerbeteiligung und<br />

soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungsfeld von Utopie und<br />

Wirklichkeit.« Am Beispiel Deutschlands zeigt er, auf empirische<br />

Daten gestützt, welche Personengruppen sich bislang noch wenig<br />

durch partizipative Bürgerbeteiligungsformen angezogen<br />

fühlen: Es sind dies vor allem die weniger Gebildeten und die<br />

Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch tendenziell die<br />

jungen Menschen.<br />

Auf europäischer Ebene sieht der Lissaboner Vertrag übrigens<br />

auch ein diesbezügliches Instrument vor, das seit April 2012 auch<br />

aktiv gestartet wurde. Es ist die sogenannte »Europäische Bürgerinitiative«,<br />

die durch transnationale Unterschriftensamm lungen<br />

von mehr als einer Million in mindestens sieben EU- Mitgliedstaaten<br />

die EU-Kommission, die bislang allein das Gesetztesinitiativrecht<br />

besitzt, zwingen kann, sich mit der jeweiligen Initiative (erneut)<br />

zu befassen.<br />

Prof. Dr. Franz Thedieck von der Hochschule Kehl stellt in dieser<br />

Ausgabe von D&E dieses transnationale Instrument einer Mitwirkung<br />

von Bürgerinnen und Bürger der EU auf den Gesetzgebungsprozess<br />

anhand der konkreten Bestimmungen, anhand der<br />

Interviews und beispielhafter Initiativen vor: »Die Europäische Bürgerinitiative<br />

und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in<br />

der EU.«<br />

Und tatsächlich hat bereits mindestens eine erste Europäische<br />

Bürgerinitiative, so wurde noch im Februar 2013 in der Presse gemeldet,<br />

das notwendige Quorum erreicht. Es handelt sich dabei<br />

um die Initiative »Right2Water«, die sich gegen eine EU-Richtlinie<br />

zur geplanten Pflicht der öffentlichen Ausschreibung der Wasserversorgung<br />

richtet. Zumindest in Deutschland war der Widerstand<br />

dagegen groß, befindet sich hier doch noch immer ein<br />

Großteil der Wasserversorgung in kommunaler Hand. Kritiker sehen<br />

in dieser Initiative der EU-Kommission ein Plädoyer für die<br />

Privatisierung eines öffentlichen Gutes. Wenn auch der – in dieser<br />

Ausgabe von D&E dokumentierte – Weg der Initiative noch nicht<br />

beendet ist, so hat doch der zuständige EU-Kommissar Michel<br />

Barnier bereits angekündigt, die geplante EU-Richtlinie nicht weiter<br />

– zumindest im ursprünglich geplanten Umfang – zu verfolgen.<br />

Dabei ist die EU-Bürgerinitiative gegen die Wasserprivatisierung<br />

nicht die einzige initiierte Unterschriftensammlung. Ein<br />

eigenes Webportal der EU sorgt hier für die nötige Transparenz.<br />

Transparenz und Partizipation –<br />

neue Möglichkeiten mit Hilfe des Internets<br />

Jan-Hinrik Schmidt beschreibt in seinem Beitrag: »Soziale Medien<br />

und das Partizipationsparadox«, welche Möglichkeiten, aber auch<br />

20%<br />

20%<br />

22%<br />

22%<br />

QD8: In welchen Bereichen<br />

würden sie die Europäische<br />

Bürgerinitiative am ehesten<br />

nutzen ? / EU<br />

24%<br />

38%<br />

5<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen


6<br />

JÜRGEN KALB<br />

Gefahren neue Kommunikationstechnologien<br />

für die Bürgerbeteiligung bieten. Nicht<br />

wenige, vor allem junge Menschen, verstehen<br />

sich als sogenannte »Digital Natives«, als<br />

nach Transparenz und Beteiligung gierende<br />

Staatsbürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig<br />

gilt vielen von ihnen das tradierte repräsentative<br />

System als zu starr, wenn nicht als<br />

gänzlich überholt. Unter »politischem Engagement«<br />

und »Bürgerbeteiligung« wird in<br />

dieser Gruppe unter Umständen etwas anderes<br />

verstanden: Diskussionen mit möglichst<br />

allen Beteiligten unter »Twitter«, persönliche<br />

Portale bei z. B. »Facebook« und individualisierte<br />

»Blogs« mit Kommentaren von den jeweiligen<br />

»Followern«. Max Winde hat mit seinem<br />

Blog »Ihr werdet euch noch wünschen,<br />

wir wären politikverdrossen« diesem Milieu<br />

eine sprechende Stimme gegeben. Zeitweise<br />

schien es auch so, als ob dieses Milieu durch<br />

die »Piratenpartei« sich nicht nur politisch<br />

organisieren, sondern auch breitere Kreise<br />

der vor allem jungen Bevölkerung in ihren<br />

Bann ziehen könnte. Bei regionalen Wahlen<br />

erzielten die »Piraten« Achtungserfolge und<br />

zogen gleich in drei Länderparlamente ein.<br />

Die erste Strahlkraft der »Piraten«, so zeigen<br />

es jedenfalls die demoskopischen Umfragen, scheint jedoch<br />

inzwi schen wieder etwas verblasst. An der radikalen Forderung<br />

nach »umfassender Transparenz« scheinen die inhaltlichen Debatten<br />

und programmatischen Findungsprozess ebenso wie<br />

wichtige personelle Entscheidungen derzeit in Mitleidenschaft zu<br />

geraten. Dennoch bleibt spannend zu beobachten, ob die »Digital<br />

Natives« politisch eine »Heimat« finden werden und wie sich<br />

solch eine Organisation zum etablierten repräsentativen politischen<br />

System stellen wird (| Abb. 4 |).<br />

»Mobilisierung der Jugendlichen durch ein<br />

Wahlalter mit 16«?<br />

Abb. 4 »Nirgendwohin! Aber schnell!« (Die »5-Sterne-Bewegung« von Beppo Grillo hatte bei den italienischen<br />

Parlamentswahlen in Italien rund 25 % der Stimmen erzielt. Grillos Partei gilt als »netzaffin« und<br />

kritisch gegenüber dem parlamentarisch-repräsentativen System.) © Gerhard Mester, 27.2.2013<br />

Nicht erst die Untersuchungen der »Bertelsmann Stiftung« (2011)<br />

sowie der »Stiftung für Zukunftsfragen« (2012), auch bereits die<br />

Shellstudien (2002, 2006, 2010) belegen, dass das Vertrauen in<br />

Politiker und insbesondere in die Parteien besorgniserregend<br />

schwindet. Rückläufige Mitgliederzahlen bei den etablierten<br />

Volksparteien sprechen hier eine deutliche Sprache. Aber auch<br />

die anderen Parteien, vielleicht immer noch mit Ausnahme der<br />

»Piraten«, klagen über Nachwuchssorgen.<br />

Insbesondere von Seiten der SPD und den Grünen wird deshalb<br />

versucht, Jugendliche für die Politik dadurch zu interessieren,<br />

dass man ihnen ein aktives Wahlrecht bereits ab 16 zugesteht. Bedenkenträger<br />

dazu äußern sich insbesondere aus den Reihen der<br />

Union.<br />

D&E hat zu dieser Thematik für die vorliegende Ausgabe zwei renommierte<br />

Fachleute befragt: Professor Dr. Klaus Hurrelmann<br />

und Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim. In<br />

Baden-Württemberg erhält diese Thematik dadurch Brisanz, da<br />

die grün-rote Landesregierung für die anstehenden Kommunalwahlen<br />

im Mai 2014 ein Wahlrecht ab 16 angekündigt hat. Für die<br />

2016 in Baden-Württemberg wieder anstehenden Landtagswahlen<br />

wäre allerdings eine Verfassungsänderung notwendig, was<br />

ohne die Zustimmung der CDU nicht möglich ist. Die öffentliche<br />

Diskussion über das Thema »Wahlalter 16« steht demnach noch<br />

bevor. In Bremen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist<br />

eine solche Wahlrechtsreform dagegen bereits beschlossen und<br />

umgesetzt worden, ebenso wie z. B. in Österreich. Der Kommunikations-<br />

und Politikwissenschaftler Dr. Jan Kercher geht in seinem<br />

Interview: »Wahlalter 16 – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?«<br />

ausführlich auf die unterschiedlichen<br />

Argumente pro und contra »Wahlalter 16« ein. Dabei kann er sich<br />

auch auf eigene Untersuchungen und Befragungen Jugendlicher<br />

sowie die Wahlergebnisse mit dem Wahlalter 16 beziehen.<br />

Bereits seit Mitte der neunziger Jahre führte der international renommierte<br />

Bildungsforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann<br />

zahlreiche Jugendstudien, darunter die bekannten Shell-Studien,<br />

durch. In seinem Interview mit dem Redakteur von D&E: »Nichts ist<br />

aktivierender als die Aktivität selbst.« bezieht er sich zunächst auch<br />

auf seine Untersuchungen zum Reifeprozess junger Menschen im<br />

21. Jahrhundert. Hurrelmann plädiert dabei für die Vorverlegung<br />

des Wahlalters, obwohl er in seinen Studien immer wieder feststellen<br />

konnte, dass eine knappe Mehrheit der Jugendlichen<br />

selbst durchaus Skepsis gegenüber dieser Regelung hegt. Hurrelmann<br />

möchte aber nicht nur am Wahlalter ansetzen, sondern die<br />

Bildungspolitik insgesamt zu mehr politischer Bildung, aber auch<br />

zur Erprobung eines demokratischen Miteinanders im Schulalltag<br />

ermutigen. Davon, so Hurrelmann, hänge im Wesentlichen die<br />

Stabilität und Akzeptanz des politischen Systems insgesamt auf<br />

Dauer ab. Mehr Partizipation, d. h. mehr Bürgerbeteiligung,<br />

müsse früh eingeübt und als selbstverständliche Realität erlernt<br />

werden. In Zeiten horrender Jugendarbeitslosigkeitszahlen in den<br />

südlichen Mitgliedstaaten der EU, teilweise nahe an oder bereits<br />

über 50 % einer Generation, seien die politischen Beteiligungschancen<br />

gerade der Jugendlichen essenziell für ein Gemeinwesen.<br />

Ob nun Spanien oder Griechenland, nicht selten wird heute bereits<br />

von einer »verlorenen Generation« (»Lost Generation«) gesprochen<br />

und geschrieben. Landesweite Jugendprotestbewegungen<br />

wie in Spanien, »Echte Demokratie Jetzt!« (»M-15«), oder in<br />

Griechenland, Italien oder Frankreich belegen bereits heute eindrucksvoll,<br />

sowie transnationale NGOs wie die »Occupy-Bewegung«,<br />

dass die Gefahr einer vom herrschenden parlamentarischen<br />

System zutiefst frustrierten »Lost Generation« immer<br />

weniger von der Hand zu weisen ist.<br />

Die historische Perspektive:<br />

Zivilgesellschaftliche Bewegungen nach dem<br />

II. Weltkrieg<br />

Dr. Andreas Grießinger hat in seinem Beitrag: »Mehr Demokratie?<br />

Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


1990« eine Bilanz ganz unterschiedlicher<br />

Demokratiebewegungen gezogen.<br />

Dabei gelingt ihm nicht nur eine<br />

eindrucksvolle Analyse ausgewählter<br />

zivilgesellschaftlicher Demokratiebewegungen,<br />

sein ausführlicher Materialteil<br />

dokumentiert auch die jeweils<br />

unterschiedliche Stoß- und<br />

Ausrichtung dieser Strömungen. Ein<br />

moderner Geschichtsunterricht täte<br />

gut daran, diese aktuelle »Geschichte<br />

von unten« in Deutschland und Europa<br />

in Beziehung zu setzen zu den<br />

durch die Regierungen und Parlamente<br />

vereinbarten staatlichen Abkommen<br />

und Verträgen nach 1945 bis<br />

in die Gegenwart. Dabei zeigt sich,<br />

dass die zentrale Frage und Forderungen<br />

nach »Mehr Demokratie« keineswegs<br />

immer so einfach zu beantworten<br />

ist. »Bürgerbeteiligung und<br />

soziale Gleichheit« stehen eben in einem<br />

Spannungsverhältnis, wie Oscar W. Gabriel in seinem Beitrag<br />

für das aktuelle Deutschland ja bereits empirisch untersucht<br />

hat.<br />

Dr. Jeannette Behringer stellt schließlich ein wesentlich von ihr<br />

mit betreutes und von der LpB Baden-Württemberg initiiertes trinationales<br />

Projekt vor. Ihr Beitrag: »Grenzen-Los! Trinationale Zusammenarbeit<br />

für eine Engagementkultur« beschreibt und dokumentiert<br />

die durchaus unterschiedlichen Ansätze von freiwilligem<br />

bzw. bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz. Mehrere Konferenzen zeigten, dass bürgerschaftliches<br />

Engagement in allen drei Ländern eine auch volkswirtschaftlich<br />

beeindruckende Rolle spielt, dass die Rolle staatlicher<br />

Institutionen und Repräsentanten dabei aber durchaus<br />

unterschiedlich gesehen wird. Auffallend ist auch, dass Projekte,<br />

die sich der politischen Beteiligung oder Bildung im engeren<br />

Sinne widmen, in allen untersuchten Ländern eher eine periphere<br />

Rolle spielen. Sollten staatliche Verwaltungen und gewählte Repräsentanten<br />

nicht doch mehr dazu betragen, Bürgerinnen und<br />

Bürger die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu beteiligen?<br />

Was bedeutet Bürgerbeteiligung?<br />

Bürgerbeteiligung kann man in Abgrenzung zu Bürgerentscheiden<br />

(z. B. »Wahlen« oder »Volksabstimmungen«, vgl. auch GG<br />

Art 20) als »Mitsprache« oder »Teilhabe« (»Partizipation«) der Bürgerinnen<br />

und Bürger an politischen Planungsprozessen sowie<br />

Entscheidungen definieren.<br />

Die stärksten Formen der Bürgerbeteiligung sind dabei, wenn<br />

man so will, direktdemokratische Verfahren wie z. B. die Bürgerentscheide<br />

oder Volksabstimmungen, die mit zum Teil recht unterschiedlichen<br />

Quoren auf lokaler, regionaler, (in Deutschland<br />

kaum auf) nationaler und bisher gar nicht auf europäischer Ebene<br />

praktiziert werden. Einzelheiten, Vor- und Nachteile der direktdemokratischen<br />

Modelle hat D&E in seiner Ausgabe »Politische<br />

Partizi pation in Europa«, Heft 62, vom November 2011 ausführlich<br />

untersucht. Insbesondere Dr. Otmar Jung hat umfassend die jeweils<br />

unterschiedlichen Regelungen, ihre Vor- und Nachteile in<br />

Deutschland und der Schweiz analysiert und bewertet: »Erfahrungen<br />

mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz.« Er plädierte<br />

dabei für die Ergänzung der repräsentativen Demokratie<br />

um direktdemokratische Elemente, wie es die Schweiz seit langem<br />

kennt.<br />

Demgegenüber betonen z. B. Patrizia Nanz und Miriam Fritsche<br />

in ihrem »Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen<br />

und Grenzen« (Bonn 2012) ausdrücklich, dass die dort sachlich beschriebenen<br />

Bürgerbeteiligungsformate keineswegs zu einer<br />

Abb. 5 Bürgerbeteiligung und die Dauer von Präsenzverfahren © Nanz/Fritsche, S. 108<br />

»Schwächung der repräsentativen Demokratie« führen sollten.<br />

Sie sind der Überzeugung, dass diese Verfahren den gewählten<br />

Volksvertreterinnen und Volksvertretern allerdings helfen könnten,<br />

eine »verantwortungsbewusste Politik jenseits von Parteidisziplin<br />

und kurzfristigen Wahlkampfinteressen« (S. 133) durchzusetzen.<br />

Ihr Handbuch bietet demgemäß neben einer Darstellung<br />

vielfältiger Bürgerbeteiligungsformate insbesondere auch die<br />

grundsätzliche Reflexion über Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung.<br />

Bezüglich der Verbindlichkeit der Bürgerbeteiligung werden dabei<br />

zwei unterschiedliche Beteiligungsverfahren unterschieden:<br />

die gesetzlich vorgeschriebenen oder »formellen Beteiligungsverfahren«<br />

sowie die »freiwillige Bürgerbeteiligung«, entweder<br />

organisiert durch die gewählten Repräsentanten (»Top-down-<br />

Verfahren«) oder durch Initiativen der Bürgerinnen und Bürger<br />

selbst (»Bottom-up-Verfahren«). Im Handbuch zur Bürgerbeteiligung<br />

werden die zuerst genannten, also die formellen Beteiligungsverfahren<br />

nicht näher analysiert, also weder Informationsveranstaltungen<br />

mit partizipativem Anstrich noch Verfahren<br />

unter Beteiligung von Interessengruppen, Lobbyistinnen und<br />

Lobbyisten oder professionellen Expertinnen und Experten.<br />

Im Mittelpunkt der analysierten Formate stehen »deliberative<br />

bzw. dialogorientierte Verfahren«, also der Austausch von Argumenten<br />

mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung<br />

und idealerweise einer anschließenden konsensualen Entscheidungsfindung.<br />

In organisierten Diskussionen sollen die Beteiligten<br />

alternative Positionen abwägen unter der Prämisse, andere<br />

Standpunkte zu berücksichtigen. Diese zumeist sehr komplexen<br />

Verfahren durchlaufen dabei oft mehrere Runden und sind angewiesen<br />

auf die Unterstützung von Moderatorinnen und Moderatoren<br />

sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis.<br />

Eine erste Unterscheidung könnte dabei die Dauer (| Abb. 5 |),<br />

die Anzahl der Teilnehmenden an den Präsenzverfahren, die Rekrutierung<br />

und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

(| Abb. 6 |, | Abb. 7 |) sowie die Funktionen der Bürgerbeteiligungsverfahren<br />

(| Abb. 8 |) betreffen.<br />

Häufig komme es jedoch vor, so die Erfahrungen der beiden Autorinnen<br />

Nanz und Fritsche, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

bei Bürgerbeteiligungsformaten mit sehr unterschiedlichen<br />

Erwartungen und Interessen aufeinanderträfen, um sich auch<br />

noch über unklar definierte Themen auszutauschen und zu Ergebnissen<br />

zu gelangen, deren Gültigkeitsbereich und Reichweite<br />

nicht vorab festgelegt wurden.<br />

7<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen


8<br />

JÜRGEN KALB<br />

Abb. 6 Bürgerbeteiligungsformate und die Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

© Nanz/Fritsche, S. 115<br />

Abb. 7 Ansätze zur Auswahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Bürgerbeteiligungsverfahren<br />

Selbstselektion: Der Zugang zum Verfahren ist offen für alle. Die Teilnahme ist eine freiwillige Entscheidung.<br />

Selbstselektion führt häufig zur Überrepräsentation »beteiligungsaffiner Milieus«: bildungsnahe Angehörige der<br />

Mittelschicht und Menschen, die über vergleichsweise viel Zeit verfügen wie zum Beispiel Studierende, Seniorinnen<br />

und Senioren. Dieser Ansatz bringt es deshalb häufig mit sich, dass die am stärksten vom Regelungsgegenstand<br />

betroffenen Personen sich auch am stärksten beteiligen. Beispiele: Open-Space, Bürgerhaushalt, Zukunftswerkstatt.<br />

Zufällige Auswahl: Dieser Ansatz kann – theoretisch – die Repräsentativität erhöhen und damit die Dominanz<br />

von Partikularinteressen senken. Doch auch hier besteht die Gefahr überproportionaler Teilnahme beteiligungsaffiner<br />

Gruppen. Durch eine große Stichprobe und gezielte Nachrekrutierung (z. B. anhand demographischer Merkmale)<br />

kann diesem Effekt begegnet werden. Beispiele: Bürgergutachten, Konsensuskonferenzen, Deliberative Poll.<br />

Gezielte Auswahl: Der Verfahrenszugang ist offen, jedoch wird zum Erreichen möglichst hoher Repräsentativität<br />

gezielt versucht, Einzelpersonen oder Vertreterinnen und Vertreter bestimmter Gruppen zu rekrutieren. Dies kann<br />

durch gezielte Ansprache, aber auch durch Anreize (z. B. Aufwandsentschädigung) geschehen. Beispiele: Szenario-<br />

Workshops, Zukunftskonferenzen, Mediationsverfahren.<br />

© Nanz/Kamlage, D&E, Heft 65, 2013 (Vgl. deren Beitrag in dieser Ausgabe von D&E)<br />

Voraussetzungen erfolgreicher<br />

Bürgerbeteiligung<br />

Nach Nanz/Fritsche ließen sich folgende Voraussetzungen für<br />

eine erfolgreiche Bürgerbeteiligung formulieren:<br />

(1) Beteiligungsverfahren sind angewiesen auf die freiwillige und<br />

in der Regel unentgeltliche Mitwirkung von Bürgerinnen und<br />

Bürgern. Sie engagieren sich in ihrer Freizeit, aus Überzeugung<br />

und mit dem Ziel, einen politischen Entscheidungsprozess<br />

zu beeinflussen. Wenn bei den Teilnehmenden der Eindruck<br />

entsteht, dass ein Verfahren folgenlos bleibt, werden<br />

sie sich rasch enttäuscht abwenden und nicht erneut einbringen.<br />

Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, müssen<br />

Bürgerinnen und Bürger von der Relevanz und Sinnhaftigkeit<br />

der konkreten demokratischen Teilhabe überzeugt<br />

sein.<br />

(2) Echte Bürgerbeteiligung setzt zudem voraus, dass politische<br />

Mandatsträgerinnen und -träger sich von einer reinen Topdown-Politik<br />

verabschieden und die Bereitschaft für einen<br />

souveränen Umgang mit offenen Austausch- und Mitwirkungsprozessen<br />

aufbringen.<br />

(3) Dem Beteiligungsverfahren muss ein klar definiertes Ziel zugrunde<br />

liegen: Soll die demokratische Bildung der Bürgerinnen<br />

und Bürger gestärkt oder die öffentliche Debatte angestoßen<br />

werden? Geht es um eine Beratung von Politik und<br />

Verwaltung oder sollen politische Entscheidungen direkt von<br />

Bürgerinnen und Bürgern beeinflusst werden?<br />

(4) Alle Informationen zum Thema<br />

müssen für die Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer eines Verfahrens<br />

frei und umstandslos zugänglich<br />

sein.<br />

(5) Zugleich müssen sich auch Außenstehende<br />

jederzeit über<br />

Ziele, Auftraggeberinnen und<br />

Auftraggeber, Teilnehmende, deren<br />

Interessen und den Stand des<br />

jeweiligen Verfahrens informieren<br />

können. Eine solche Transparenz<br />

dient einerseits als Möglichkeit<br />

zur Kontrolle, sie schafft<br />

andererseits auch eine breite<br />

Vertrauensbasis.<br />

(6) Die Grenzen der Mitwirkung<br />

und die Frage, in welchen Händen<br />

die Entscheidungshoheit<br />

letztendlich liegt, müssen von<br />

Anfang an feststehen und deutlich<br />

kommuniziert werden.<br />

(7) Initiatorinnen und Initiatoren müssen<br />

dafür Sorge tragen, dass die an<br />

einem Verfahren Teilnehmenden<br />

ein verlässliches Feedback erhalten,<br />

das heißt, es ist öffentlich zu<br />

begründen, welche Ergebnisse des<br />

Beteiligungsverfahrens im weiteren<br />

Entscheidungsprozess berücksichtigt<br />

wur den – und welche nicht<br />

und warum.<br />

(8) Sowohl innerhalb eines Verfahrens<br />

als auch in seiner Außendarstellung<br />

muss Klarheit über die<br />

Rollenaufteilung und die Zuständigkeiten<br />

aller Beteiligten<br />

herrschen (so z. B. Auftraggeber/<br />

innen, Projektleiter/innen, Dienstleister/innen,<br />

wissenschaftliche<br />

Berater/innen, Moderator/innen<br />

und technische Begleiter/innen).<br />

(9) Eine professionelle Durchführung und Moderation des Beteiligungsprozesses<br />

muss gewährleistet sein.<br />

(10) Bürgerinnen und Bürger müssen während des gesamten Prozesses<br />

ernst genommen werden. Die Kommunikation sollte<br />

mit gegenseitiger Wertschätzung und auf Augenhöhe erfolgen.<br />

Es ist sicherzustellen, dass alle vorgetragenen Standpunkte<br />

berücksichtigt und in den weiteren Entscheidungsprozess<br />

einbezogen werden. (nach: Nanz/Fritsche, S. 130f.)<br />

Unter diesen Voraussetzungen geht es bei Bürgerbeteiligung um<br />

»(…) Partizipation durch Artikulation und Einmischung und damit letztlich<br />

um Emanzipation. (…) Sie kann einerseits auf die Erzeugung rationaler<br />

Politikerzeugnisse zielen, sich aber auf der anderen Seite auch der Verringerung<br />

des Abstands zwischen Herrschern und Beherrschten widmen.«<br />

(ebenda, S. 126)<br />

»Fallstricke« und »Stolpersteine«<br />

der Bürgerbeteiligung<br />

Den Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung bestätigte jüngst auch<br />

eine wissenschaftliche Untersuchung der Universität Leipzig (Vgl<br />

Literaturhinweise), die zeigt, dass von den Bürgerinnen und Bürgern<br />

eine stärkere Einbindung insbesondere bei Infrastrukturmaßnahmen<br />

wie dem Bau von Straßen, Behörden, Flugplätzen<br />

oder Stromleitungen gefordert wird. Im Gegensatz zu den ebenfalls<br />

befragten Vertretern von Kommunen bemängelten die Bür-<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


gerinnen und Bürger insbesondere,<br />

dass die bislang gesetzlich geregelten<br />

Verfahren der Bürgerbeteiligung<br />

(»Bauleitplanungen«) nicht ausreichten.<br />

Bürgeranliegen würden in der<br />

Regel zu spät erfragt und zu wenig<br />

bis gar nicht berücksichtigt.<br />

Andererseits ergab die Studie auch,<br />

dass die Mehrzahl der Bürgerinnen<br />

und Bürger die bereits bestehenden<br />

Angebote kaum wahrnehme. Ein<br />

Großteil der befragten Haushalte<br />

gab offen an, meist nur bei direkter<br />

persönlicher Betroffenheit aktiv zu<br />

werden. Zudem erwiesen sich solche<br />

Verfahren allzu oft als enorm zeitaufwändig<br />

und kostspielig, klagten insbesondere<br />

die Vertreter der Kommunen<br />

und der Unternehmen.<br />

Bürgerbeteiligungsmodelle drohen<br />

somit vor allem dann zu scheitern,<br />

wenn …<br />

(1) … die Unterstützung seitens der<br />

Abb. 8 Bürgerbeteiligungsformate und ihre Funktionen © Nanz/Fritsche, S. 121<br />

Entscheidungsträgerinnen und -träger fehlt und diese zu<br />

Recht oder Unrecht eine Einschränkung ihrer Ent schei dungsmacht<br />

und Verantwortung fürchten;<br />

(2) … kein tatsächlicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung<br />

Bertelsmann Stiftung (2009): Deutschland 2020 – Blick nach vorn! In:<br />

Change. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Sonderheft.<br />

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-BB97FD61-E8299D21/bst/<br />

xcms_bst_dms_29851_29852_2.pdf<br />

steht, die wesentlichen Entscheidungen bereits im Vorfeld des<br />

Bertelsmann Stiftung (2012): Politik beleben, Bürger beteiligen, Charakteristika<br />

neuer Beteiligungsmodelle, Gütersloh, www.bertelsmann-stiftung.de/<br />

Verfahrens feststehen oder Bürgerinnen und Bürger schlichtweg<br />

zu spät eingebunden werden;<br />

cps/rde/xbcr/SID-26D3BB55-C9EC3B10/bst/xcms_bst_dms_ 31298_ 31299_<br />

(3) … Bürgerinnen und Bürger das Partizipationsangebot<br />

2.pdf<br />

nicht annehmen wollen – weil sie z. B. in der Vergangenheit<br />

schlechte Erfahrungen gemacht haben oder sich ihnen Möglichkeiten<br />

Deutschand&Europa, Heft 62 (2011): Politische Partizipation in Europa.<br />

eröffnen, ihre Interessen auf anderen Wegen effizi-<br />

Stuttgart. www.<strong>deutschland</strong>und<strong>europa</strong>.de<br />

enter durchzusetzen;<br />

Fritsche, Miriam/Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Verfahren<br />

und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bundes-<br />

(4) … soziale Ungleichheiten zwischen den Teilnehmenden eines<br />

Verfahrens weder in der Zusammensetzung noch in der<br />

zentrale für politische Bildung, Bonn. (vergriffen), kostenloser download<br />

konkreten Durchführung ausgeglichen, sondern vielmehr zementiert<br />

werden. (Vgl. Nanz/Fritsche, S. 107ff.)<br />

unter: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Buerger<br />

beteiligung.pdf<br />

Zusätzlich sollten angekündigte Bürgerbeteiligungsprojekte mit<br />

den notwendigen materiellen und personellen Ressourcen, d. h.<br />

auch mit dem notwendigen Know-how sowie der Expertise unabhängiger<br />

Jung, Otmar (2011): Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland<br />

und der Schweiz. in: D&E, Heft 62, S. 18–27<br />

Expertinnen und Experten ausgestattet werden. Das gilt<br />

Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge<br />

der Universität Leipzig, u. a. (2013): »Optionen moderner Bürger-<br />

auch und gerade für Online-Formate, die sogenannten Beteiligungsportale.<br />

Allein schon die notwendigen Feed-Back-Prozesse<br />

beteiligung auf Basis von Erfahrungen und Einstellungen von Bürgern,<br />

dürften dabei sicherlich ressourcenintensiv werden.<br />

Kommu nen und Unternehmern«, www.wifa.uni-leipzig.de/ fileadmin/<br />

»Bürgerbeteiligungs-Politik« braucht besonders die Bereitschaft<br />

user_upload/KOZE/Downloads/Optionen_moderner_<br />

der Verantwortlichen, umfassende Transparenz zu ermöglichen.<br />

Bürgerbeteiligungen_bei_ Infrastrukturprojekten_.pdf<br />

Angesichts der Reaktionen einer kritisch-investigativen Öffentlichkeit<br />

und zahlreicher juristischer Widerspruchsmöglichkeiten<br />

im Rechtsstaat stellt dies sicher eine große Herausforderung dar.<br />

Mit Recht verweisen Nanz/Fritsche zusätzlich noch auf die Notwendigkeit<br />

Internethinweise<br />

einer sachlichen, auf empirischen Untersuchungen<br />

basierenden wissenschaftlichen Begleitung von Bürgerbeteiligung<br />

www.buergerbeteiligung.lpb-bw.de (Portal der LpB Ba-Wü)<br />

am konkreten Beispiel und Format.<br />

Sollte dies gelingen, dürfte sich jedoch so nach und nach verloren<br />

www.b-b-e.de (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement)<br />

gegangenes Vertrauen in den politischen Prozess wiederherstellen<br />

www.buerger-beteiligung.org (Portal der Bertelsmann Stiftung mit zahl-<br />

lassen. Die Einbeziehung junger Menschen scheint dabei von<br />

reichen Beispielen von Formaten gelungener Bürgerbeteiligung<br />

ganz besonderer Bedeutung, exemplarisch etwa bei der gerade<br />

www.buergergesellschaft.de dort insbesondere: Modelle und Methoden<br />

anstehenden »Bildungsplanreform 2015« in Baden-Württemberg.<br />

der Bürgerbeteiligung: www.buergergesellschaft.de/politischeteilhabe/modelle-und-methoden-der-buergerbeteiligung/modelle-und-<br />

Literaturhinweise<br />

Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen,<br />

methoden-von-a-bis-z/106120/ – eine Infoseite der Stiftung Mitarbeit:<br />

www.mitarbeit.de<br />

www.politische-bildung.de/buergerbeteiligung_demokratie.html<br />

vor allem aber mitentscheiden. www.bertelsmann-stiftung.de/cps/<br />

(Umfangreiches Literaturverzeichnis)<br />

rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf<br />

9<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenensystem – Chancen und Grenzen


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

2. Gemeinsam gestalten –<br />

Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen<br />

GISELA ERLER<br />

10<br />

Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung sind in aller<br />

Munde: Menschen wollen mitreden. Menschen wollen teilhaben<br />

und beteiligt sein. Alle reden davon, meinen aber oft<br />

nicht dasselbe: Bürger verbinden damit oft paradiesische Zustände.<br />

Politik befürchtet Machtverlust und die Verwaltungen<br />

sagen, dass sie auch ohne die Bürger schon sehr beschäftigt<br />

seien. Der Wunsch nach einem Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe<br />

der Menschen liegt im Wesentlichen an den Veränderungen<br />

der gesellschaftlichen Milieus. Mit einer Politik des<br />

»Gehört werdens« will die baden-württembergische Landesregierung<br />

dem wachsenden Mitwirkungsbedürfnis dieser engagierten<br />

Zivilgesellschaft gerecht werden und verloren gegangenes<br />

Vertrauen in die Politik wieder zurückgewinnen.<br />

Unser Ziel ist eine Mitmachdemokratie. Als Landesregierung<br />

haben wir aus diesem Grund Strategien und Formate entwickelt,<br />

die eine Mitwirkung der Bürgergesellschaft auf Augenhöhe<br />

mit der Politik ermöglichen. Wir wollen nicht nur dafür<br />

sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen<br />

besser nachvollziehen können und Transparenz hergestellt<br />

wird, sondern auch, dass das Wissen und die Kompetenz<br />

der Zivilgesellschaft künftig besser genutzt werden. Denn wir<br />

sind davon überzeugt: Wenn sich die Politik dem Einfluss und<br />

den Ideen aus der Bürgergesellschaft öffnet, erhöht das auch<br />

die Chancen auf gute politische Ergebnisse und trägt so nicht<br />

zuletzt zu einer spürbaren Qualitätsverbesserung von Politik<br />

bei. Gerade in Baden-Württemberg sind die Voraussetzungen<br />

besonders gut, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft<br />

auf zukunftsweisende Art neu zu justieren, denn<br />

nirgendwo sonst sind die Menschen stärker bürgerschaftlich<br />

engagiert.<br />

Mitmachen – davon lebt Bürgerbeteiligung<br />

Damit ist eine wichtige Grundvoraussetzung geschaffen, denn<br />

Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen. Eine moderne, eine lebendige<br />

und starke Demokratie lebt vom Einspruch und von der<br />

Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nicht wo die Menschen<br />

sich einmischen ist die Demokratie bedroht, sondern dort, wo sie<br />

sich abwenden von den öffentlichen Angelegenheiten, von den<br />

res publica. Die Landesregierung möchte deshalb die demokratischen<br />

Spielregeln in Baden-Württemberg ändern: Neben der Reform<br />

von Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen werden ein<br />

verbindlicher Planungsleitfaden und neue Fachgesetze mehr Beteiligung<br />

in Planungsprozessen ermöglichen. Mit mehr direkter<br />

Demokratie schaffen wir einen Hebel, mit dem die Bürgerschaft<br />

ihr Veto einlegen kann. Die Politik muss deshalb frühzeitiger beteiligen,<br />

um eben dieses Veto zu verhindern. Ich möchte meine<br />

Arbeit aber nicht auf rechtliche Veränderungen begrenzt sehen.<br />

Es gibt auch »weiche« Strategien, mehr Bürgerbeteiligung zu erreichen,<br />

auf die ich hier eingehender erläutern möchte.<br />

Für eine Pädagogik der Beteiligung<br />

Ich war schon immer der Überzeugung, dass Bürgerbeteiligung<br />

gelernt werden kann. Sie ist viel mehr als Methoden und Formate<br />

und bedarf jenseits von gesetzlicher Verankerung einer persönlichen,<br />

ermöglichenden Haltung. Solche Haltungen ergeben sich<br />

Abb. 1 Staatsrätin Gisela Erler bei der Eröffnung des Workshops »Europäisches<br />

Netzwerk zur Bürgerbeteiligung«, 6.12.2012<br />

© Staatsministerium Baden-Württemberg<br />

nicht von selbst. Sie müssen von Bürgern, Verwaltung und Politik<br />

gleichermaßen erarbeitet und erlernt werden. Die Qualifizierung<br />

zur Beteiligung voranzubringen ist deshalb für mich ein zentraler<br />

Punkt. Was haben wir dafür getan und woran arbeiten wir noch?<br />

Gemeinsam mit der Führungsakademie Baden-Württemberg und<br />

den Hochschulen für öffentliche Verwaltung in Kehl und Ludwigsburg<br />

haben wir ein Curriculum zum Thema Bürgerbeteiligung erarbeitet.<br />

Daraus wurde innerhalb kürzester Zeit ein Kontaktstudiengang<br />

mit 15 Modulen, die sich vor allem an Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter aus Ministerien, Regierungspräsidien und Kommunalverwaltungen<br />

richten. Zentrale Inhalte sind die gesellschaftliche<br />

Entwicklung von Bürgerbeteiligung, Kommunikation<br />

in Beteiligungsprozessen, E-Partizipation, Methoden und Instrumente<br />

und der kontinuierlicher Erfahrungsaustausch.<br />

Beteiligungsportal – das Internet nutzen<br />

Mit dem Beteiligungsportal (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteiligungsportal-info),<br />

welches ab dem Frühjahr 2013 online gehen wird,<br />

beschreiten wir neue Wege in Sachen Mitwirkung durch die Bürgerschaft.<br />

Das Beteiligungsportal umfasst drei Säulen. Auf der<br />

Informationssäule werden die Aktivitäten der Landesregierung<br />

im Bereich Bürgerbeteiligung präsentiert. Somit werden die in<br />

den Ressorts durchgeführten Beteiligungsprojekte an einer zentralen<br />

Stelle kommuniziert. In der Kommentierungssäule des Beteiligungsportals<br />

werden Gesetzentwürfe, die sich im Anhörungsverfahren<br />

befinden, online veröffentlicht und können von<br />

Nutzerinnen und Nutzern kommentiert werden. In der Mitmachsäule<br />

wird den Ministerien eine Infrastruktur angeboten, die sie<br />

für die Durchführung umfassender Online-Beteiligungsverfahren<br />

verwenden können. Ich empfehle den Ressorts, wichtige politische<br />

Vorhaben mit Bürgerbeteiligung zu realisieren. Dabei sollte<br />

ein Mix aus Online- und Offline-Beteiligung angewandt werden.<br />

Das Beteiligungsportal ermöglicht es, einen kompletten Beteiligungsprozess<br />

darzustellen, und bietet die technischen Möglichkeiten,<br />

eine Online-Konsultation durchzuführen.<br />

Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen D&E Heft 65 · 2013


Allianz für Beteiligung –<br />

im Netzwerk handeln<br />

Vor einem Jahr habe ich die Initiative für eine<br />

»Allianz für Beteiligung« angestoßen. Im Mai<br />

2012 fand dazu eine Auftaktkonferenz mit<br />

über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />

mit 90 Initiativen aus ganz Baden-Württemberg<br />

statt. Zentrale Aufgabe der Allianz ist<br />

die Entwicklung einer regionalen Hilfs- und<br />

Unterstützungsstruktur im Sinne einer »Peer<br />

to Peer Beratung«. Darin soll die Nutzung von<br />

Fähigkeiten und Talenten aus der Bürgerschaft<br />

zum Thema Bürgerbeteiligung aktiviert<br />

und vernetzt werden. Grundvoraussetzung,<br />

dass dies gelingt, ist die Entwicklung<br />

der Allianz im bottom-up Verfahren, also<br />

durch die Menschen und Initiativen selber<br />

und nicht von staatlicher Seite. Inzwischen<br />

wurde der Verein »Allianz für Beteiligung«<br />

zum Aufbau und Stärkung einer Beteiligungskultur<br />

in Baden-Württemberg, vor allem<br />

aber zur organisatorischen Abwicklung,<br />

gegründet. Finanziell erfährt die Allianz eine<br />

Förderung durch die Baden-Württemberg<br />

Stiftung, die Robert Bosch Stiftung und die<br />

Breuninger Stiftung. Damit kann eine Grundausstattung<br />

für eine Geschäftsstelle gewährleistet werden und<br />

die Allianz kann starten. Im Laufe dieses Jahres wird die Allianz<br />

mit einem eigenständigen Veranstaltungsformat in allen vier Regierungsbezirken<br />

in unserm Land aktiv und sichtbar.<br />

Demokratietheater, Lernlabor und<br />

Demokratie-Monitoring<br />

Es ist bekannt, dass komplexe Sachverhalte am einfachsten spielerisch<br />

vermittelt werden können. Dieser pädagogischen Erkenntnis<br />

tragen wir durch eine Theaterproduktion mit dem Titel »Bürgerbeteiligung<br />

– ein Lustspiel« Rechnung. Im Rahmen des<br />

Landesjubiläums 2012 habe ich die Produktion in Auftrag gegeben.<br />

Das Stück befasst sich fernab von Runden Tischen, Planungswerkstätten<br />

und Bürgerhaushalten sehr kreativ mit dem<br />

Thema Demokratie und Beteiligung und ist in sich selbst partizipativ<br />

und generationsübergreifend mit 20 ganz normalen Bürgern<br />

zwischen 7 und 70 Jahren angelegt. Gespielt wird es immer<br />

an einschlägigen Demokratieorten in Rathäusern, Landratsämtern<br />

und sogar im Plenarsaal des Landtags in Stuttgart. Das Projekt<br />

wird textlich, fotografisch und filmisch dokumentiert.<br />

Geplant ist eine »Spielkiste« mit methodischen Tipps zu Beteiligungs-Theater-Ideen<br />

für interessierte Kommunen und Theatergruppen.<br />

Ein weiterer Schwerpunkt, wenn es um eine Pädagogik der Beteiligung<br />

geht, sind die Qualifizierungsangebote für junge Bürgerinnen<br />

und Bürger. Mit ganz spezifischen Formaten wie Onlinespielen,<br />

Planspielen und Programmen wie etwa »Jugend bewegt«, soll<br />

ein demokratisches Lernlabor für die junge Generation eröffnet<br />

werden. Ob und wie all unsere Bestrebungen in Sachen Beteiligung<br />

bei den Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ankommen,<br />

wollen wir mit einem regelmäßigen »Demokratie-Monitoring«<br />

herausfinden, das erstmalig im Sommer 2013 Ergebnisse zu<br />

Tage förder<br />

Dass es in Baden-Württemberg schon viele gute Beispiele für die<br />

Beteiligung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger gibt zeigen<br />

wir mit einem gemeinsamen Wettbewerb des Staatsanzeigers<br />

und der kommunalen Spitzenverbände. Über 130 Beiträge<br />

sind dazu beim Staatsanzeiger eingegangen und zeigen eindrücklich,<br />

dass in den Gemeinden und Kommunen schon eine ganz<br />

hervorragenden Arbeit geleistet wird. Dachten wir zunächst an<br />

Abb. 2 Werbung des Staatsministeriums für das »Bürgerbeteiligungsportal« der baden-württembergischen<br />

Landesregierung: (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteiligungsportal-info)<br />

© Staatsministerium Baden-Württemberg<br />

vierzig oder fünfzig Beiträge, so würden wir und vor allem auch<br />

der Staatsanzeiger völlig überrascht. Die außerordentlich erfreuliche<br />

Konsequenz, dass bis in den Sommer hinein, alle Wettbewerbsbeiträge<br />

veröffentlicht werden. Danach sind die Leserinnen<br />

und Leser des Staatsanzeiger für eine Vorauswahl gefragt um<br />

dann diese schließlich und endlich von einer »Bürgerjury« bewertet<br />

werden.<br />

Europäisches Netzwerk zur Bürgerbeteiligung<br />

Das Thema Bürgerbeteiligung und die verschiedenen Methoden<br />

zur Anwendung beschränken sich aber natürlich nicht nur auf<br />

Deutschland. Die Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen der verschiedenen<br />

Akteure und vom Wissensaustausch untereinander.<br />

Und da viele Fragen, die die Demokratie bzw. die gelebte politische<br />

Praxis betreffend, heute in vielerlei Form mit Europa und der<br />

EU zusammenhängen, kommt der europäischen Komponente der<br />

Beteiligung eine besondere Bedeutung zu.<br />

Genau aus diesem Grunde habe ich im Dezember letzten Jahres in<br />

Stuttgart einen internationalen Workshop zur Bürgerbeteiligung<br />

organisiert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus den<br />

verschiedensten Ländern Europas und der ganzen Welt. Akademische<br />

Koryphäen führten in Ihren Vorträgen in den aktuellen Forschungsstand<br />

zu Demokratie und Demokratieentwicklung ein.<br />

Neben dieser theoretischen Grundlage kamen aber auch in den<br />

Vorträgen schon Anwendungsbeispiele aus verschiedenen Ländern,<br />

so zum Beispiel zu den verschiedenen Beteiligungsnetzwerken<br />

in den USA oder einem speziellen, sogenannten Sunset-Law,<br />

Gesetz zur Beteiligung in der Toskana.<br />

Neben den Inputs aus Vorträgen wurde danach in verschiedenen<br />

Arbeitsgruppen von Vertretern aus den jeweiligen Ländern über<br />

Ihre Erfahrungen mit der Beteiligung und den von Ihnen gewählten<br />

Methoden ausgetauscht. Am Ende des zweitätigen Workshops<br />

stand für alle Beteiligten die Notwendigkeit einer engeren<br />

Kooperation zwischen den Ländern und Regionen, vor allem Europas,<br />

zum Thema Bürgerbeteiligung fest. Daher haben wir ein<br />

europäisches Netzwerk gegründet, dessen Ziel es ist, durch regelmäßig<br />

stattfindende Treffen und den Austausch untereinander<br />

weiter voneinander zu lernen und die Bürgerbeteiligung im<br />

europäischen Kontext zu stärken.<br />

11<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

3. Entwicklungen der partizipativen<br />

Demokratie in Europa<br />

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*<br />

Die Demokratien in Europa unterliegen<br />

einem merklichen Wandel. Zum einen<br />

gibt es in Europa eine immer größer werdende<br />

Zahl an direktdemokratische Verfahren<br />

wie Referenden, Volksbegehren und<br />

Bürgerbegehren (vgl. APuZ 2006). Von den<br />

weltweit seit 1793 gezählten 1.405 nationalen<br />

Referenden entfallen alleine 62 Prozent<br />

auf die europäischen Länder. Ungefähr die<br />

Hälfte davon fanden seit 1989 statt (Pállinger,<br />

Kaufmann, Marxer & Schiller 2007: 9).<br />

Zum anderen finden auch die sogenannten<br />

deliberativen oder dialogorientierten Verfahren<br />

der Bürgerbeteiligung wie Bürgerhaushalte,<br />

Bürgerinnenräte, Zukunftskonferenzen<br />

und Planungszellen in den letzten<br />

zwei Jahrzenten zunehmende Verbreitung<br />

in Europa. Durch wissenschaftliche Forschung<br />

belegte Zahlen liegen hier allerdings<br />

bisher nicht vor, weder zum Umfang<br />

dieses Trends insgesamt noch zur Verteilung<br />

der verschiedenen dialogorientierten<br />

Beteiligungsformate in den europäischen<br />

Ländern.<br />

Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung<br />

Angaben in Prozent<br />

Wünschen Sie sich mehr politische<br />

Beteiligungsmöglichkeiten für die<br />

Bürger?<br />

Wären Sie bereit, sich über Wahlen<br />

hinaus an politischen Prozessen zu<br />

beteiligen?<br />

Glauben Sie, dass die Politiker<br />

grundsätzlich mehr Mitbestimmung<br />

durch die Bürger wollen?<br />

Ja Nein Weiß nicht, keine Angabe<br />

Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid.<br />

Ja<br />

Nein<br />

81 16<br />

60 39<br />

22 76<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Abb. 1 »Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung«<br />

© Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber mitentscheiden,<br />

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf<br />

12<br />

Die Krise der repräsentativen Demokratie<br />

Die direktdemokratischen wie dialogorientierten Formen der<br />

Bürgerbeteiligung erfreuen sich vor allem deshalb wachsender<br />

Beliebtheit, weil sie im Ruf stehen, die immer größer werdende<br />

Kluft zu den gewählten Politikern, die weniger als Volksvertreter<br />

und -vertreterinnen denn als politische Klasse wahrgenommen<br />

werden, zu verringern. Schwindende Wahlbeteiligung, abnehmende<br />

Mitgliederzahlen der Parteien, sinkendes Vertrauen der<br />

Menschen in die Handlungsfähigkeit der Regierenden – die Diagnose<br />

der Krise der repräsentativen Demokratie ist vielfältig. So<br />

stimmen beispielsweise nur fünf Prozent der Deutschen in einer<br />

repräsentativen Studie der Stiftung für Zukunftsfragen der Aussage<br />

zu: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zukunft<br />

vor«. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus: In<br />

Frankreich stimmen zwölf Prozent und in Spanien sieben Prozent<br />

dieser Aussage zu (Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen,<br />

2012). Gleichzeitig ist der Wunsch der Bürgerinnen und<br />

Bürger nach unmittelbarer Mitwirkung und Beteiligung an politischen<br />

Entscheidungen so groß wie nie. Nach Angaben einer repräsentativen<br />

Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2011<br />

wünschen sich 78 Prozent der Deutschen mehr Möglichkeiten<br />

über politische Fragen durch Volksentscheide und Bürgerbegehren<br />

direkt mitentscheiden zu können. 68 Prozent würden gerne<br />

bei großen Infrastrukturprojekten mitentscheiden und 47 Prozent<br />

an Bürgerhaushalten mitwirken. Generell sprechen sich 81<br />

Prozent für mehr politische Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten<br />

aus (Bertelsmann Stiftung, 2011, www.bertelsmann-stiftung.<br />

de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/nachrichten_107591.htm).<br />

* | Hinweis: Der Beitrag ist unter der Zuarbeit von Ivo Gruner entstanden.<br />

Dialogorientierte Formen der Bürgerbeteiligung<br />

in Europa<br />

Im Folgenden wollen wir augenfällige Entwicklungen der partizipativen<br />

Demokratie in Europa in groben Zügen darstellen. Dabei<br />

geht es ausschließlich um dialogorientierte Formen der Bürgerbeteiligung.<br />

Zunächst: Was bedeutet dialogorientierte Bürgerbeteiligung?<br />

In solchen Verfahren werden Bürgerinnen und Bürger,<br />

zivilgesellschaftliche Akteure und Entscheidungsträgerinnen und<br />

-träger frühzeitig im politischen Prozess zusammengebracht. Im<br />

Mittelpunkt der Beratungen steht der Austausch von Argumenten<br />

mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung und idealerweise<br />

einer anschließenden konsensualen Entscheidungsfindung.<br />

In Diskussionen wägen die Beteiligten alternative Positionen<br />

ab unter der Prämisse, andere Standpunkte zu berücksichtigen<br />

(Fung, 2003, S. 340). Diese teilweise komplexen Verfahren durchlaufen<br />

oft mehrere Runden und sind angewiesen auf die Unterstützung<br />

von Moderatorinnen und Moderatoren sowie Expertinnen<br />

und Experten aus Wissenschaft und Praxis. Sie werden oft als<br />

»informell« bezeichnet in Abgrenzung zu gesetzlich vorgeschriebenen<br />

»formellen« Beteiligungsmöglichkeiten wie zum Beispiel<br />

den Anhörungen im Rahmen der deutschen Raumordnungs- und<br />

Planfeststellungsverfahren bei öffentlichen Bauvorhaben. Erweiternd<br />

und ergänzend stehen bei dialogorientierten Beteiligungsprozessen<br />

immer öfter auch internetgestützte Werkzeuge und<br />

Technologien zur Verfügung, die einer größeren Menge von Bürgerinnen<br />

und Bürger die Mitwirkung ermöglichen.<br />

Dialogorientierte Bürgerbeteiligung ist eingebettet in spezifische<br />

politische Kulturen und Systeme, die sich je nach Ländern<br />

und Regionen, und manchmal auch nach Städten und Gemeinden<br />

unterscheiden. Vergleicht man Europa mit den USA, so ist auffällig,<br />

dass in den Vereinigten Staaten die Beteiligungsprozesse in<br />

aller Regel auf der lokalen Ebene und kaum auf zentralstaatlicher<br />

Ebene stattfinden. Durchgeführt und getragen werden Beteiligungsprozesse<br />

wie »Citizens Juries« und »National Issue Forums«<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa D&E Heft 65 · 2013


Abb. 2 Europaweite Befragung: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zukunft vor.«<br />

© Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen,<br />

www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/Forschung-Aktuell-241-Politikervertrauen-in-Krisenzeiten_01.pdf<br />

sowie vor allem Großformate wie zum<br />

Beispiel »Deliberative Pollings« und<br />

»Town Hall Meetings« (500 bzw. bis zu<br />

5000 Teilnehmende) vornehmlich<br />

durch zivilgesellschaftliche Organisationen<br />

(Bertelsmann Stiftung, im Erscheinen).<br />

In Europa findet Bürgerbeteiligung<br />

vorwiegend sowohl auf lokaler als<br />

auch auf regionaler Ebene statt, und<br />

in manchen Ländern auch auf nationaler<br />

Ebene. Je nach politischer Kultur<br />

lassen sich verschiedene Muster<br />

der Beteiligung in den einzelnen Ländern<br />

und Regionen finden. In Frankreich<br />

zum Beispiel gibt es die »Commission<br />

Nationale du Débat Public«,<br />

eine unabhängige vom Staat finanzierte<br />

Organisation auf der zentralstaatlichen<br />

Ebene, die öffentliche<br />

Debatten und Beteiligung zu großen<br />

Infrastrukturvorhaben wie beispielsweise<br />

U-Bahnen, Autobahnen und<br />

Bahnhöfen organisiert. Diese Be tei ligungs<br />

formen sind eher »spontan«<br />

und auf die Einflussnahme von Öffentlichkeit<br />

und Gesellschaft gerichtet<br />

im Vergleich zu deutschen Verfahren, denen meist ein recht<br />

klares Regelwerk zugrunde liegt und die oft das Ziel verfolgen,<br />

Entscheidungsträgerinnen und – träger zu beraten. In Frankreich<br />

wie auch in Deutschland haben Mandatsträger und -trägerinnen<br />

sowie Verwaltungsmitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine dominante<br />

Rolle in der Vorbereitung und Durchführung der Verfahren,<br />

während die britische Regierung Bürgerbeteiligung vornehmlich<br />

auf lokaler Ebene einfordert, aber deren Ausführung dem privaten<br />

und Non-Profit-Sektor überlässt. In Großbritannien ist seit<br />

2003 die gemeinnützige Organisation »Involve« aktiv, welche die<br />

Zusammenarbeit vieler an Partizipation beteiligter Akteure optimiert,<br />

sowohl aus dem öffentlichen, als auch aus dem privaten<br />

und dem freiwilligen Sektor. In Italien wiederum gibt es zahlreiche<br />

kleine Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene. Die Region<br />

Toskana hat im Jahr 2007 ein in Europa bislang einzigartiges<br />

Gesetz erlassen, das es Bürgerinnen und Bürgern und dort wohnhaften<br />

Personen ermöglicht, Beteiligung einzufordern und selber<br />

zu initiieren, wenn das geplante Großvorhaben einen signifikanten<br />

Einfluss auf die Bevölkerung hat. Mit dem Gesetz wurde darüber<br />

hinaus eine zentrale staatliche Anlauf- und Beratungsstelle<br />

zur Verbreitung, Förderung und Evaluation der Beteiligungspraxis<br />

etabliert, die jährlich Berichte über den Verlauf der Praxis veröffentlicht<br />

(Regione Toscana, 2007).<br />

Länderübergreifende und vergleichende wissenschaftliche Forschung,<br />

die die verschiedenen Partizipationskulturen in Europa<br />

sowie die unterschiedliche Verbreitung bzw. Ausprägung einzelner<br />

Beteiligungsformate erfasst, gibt es allerdings bislang nicht.<br />

Mit einer Ausnahme: die Erforschung der »Bürgerhaushalte« in<br />

verschiedenen europäischen Ländern. Der Bürgerhaushalt ist das<br />

weltweit bekannteste und verbreitetste dialogorientierte Verfahren<br />

(Cabannes, 2006). Entstanden sind Bürgerhaushalte Ende der<br />

1980er Jahre in der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre<br />

und im neuseeländischen Christchurch. Das in Porto Alegre entwickelte<br />

Modell ist als Beispiel einer »Demokratisierung der Demokratie«<br />

bekannt geworden. Die Bürgerinnen und Bürger können<br />

auf kommunaler Ebene an der Gestaltung politischer und<br />

budgetärer Angelegenheiten, deren Konsultation und Prioritätensetzung<br />

mitwirken und sogar mitentscheiden. Die Entstehung<br />

des Beteiligungsverfahrens in Porto Alegre stand unter den Vorzeichen<br />

von sozialer Gerechtigkeit, Bekämpfung von Korruption<br />

und Ausweitung der Basisdemokratie. Erwähnenswert ist, dass<br />

sich hier verstärkt auch ärmere und bildungsferne Bevölkerungsschichten<br />

beteiligen (Baiocchi, 2005). Der Bürgerhaushalt von<br />

Christchurch hingegen gilt als Vorbild für eine erfolgreiche Verwaltungsmodernisierung<br />

durch bürgerschaftliche Konsultationen<br />

(Holtkamp, 2012). Er soll vornehmlich die Akzeptanz erhöhen<br />

und Legitimierung fiskalpolitischer Maßnahmen in der Bevölkerung<br />

steigern. Diese beiden Modelle haben in den europäischen<br />

Ländern und Regionen unterschiedliche Verbreitung gefunden<br />

(Herzberg, Sintomer, et al., 2010).<br />

In Deutschland beispielsweise werden Bürgerhaushalte wie in<br />

Berlin-Lichtenberg, Esslingen, Köln und Freiburg überwiegend als<br />

Mittel zur Verwaltungsmodernisierung angewendet, also nach<br />

dem neuseeländischen Vorbild. Sie zielen ab auf eine Verbesserung<br />

der Informationsgrundlage der Stadt- und Gemeinderäte bei<br />

der Beschlussfassung über den Haushaltsplan. In Spanien und<br />

anderen Ländern Süd<strong>europa</strong>s hingegen stehen bei Bürgerhaushalten<br />

nach dem brasilianischen Modell eher Fragen der sozialen<br />

Gerechtigkeit im Mittelpunkt wie zum Beispiel in Cordoba, Sevilla<br />

und Albacete (Sintomer, Herzberg, et al., 2008). Mit Blick auf die<br />

Bürgerhaushalte lässt sich festhalten: Die Gestaltung und Umsetzung<br />

eines Beteiligungsformats hängt stark von den jeweiligen<br />

Beteiligungskulturen und Traditionen sowie den Strukturen des<br />

politischen Systems der jeweiligen Länder und Regionen ab.<br />

Neben den Bürgerhaushalten gibt es heute rund 16 weitere gängige<br />

Verfahren und Methoden dialogorientierter Bürgerbeteiligung,<br />

die in den europäischen Ländern und Regionen Verbreitung<br />

gefunden haben – ergänzt um eine zunehmende Zahl von<br />

online- und internetgestützten Beteiligungsverfahren (siehe im<br />

Überblick Fritsche & Nanz, 2012). Die verschiedenen Formate unterscheiden<br />

sich hinsichtlich ihrer Dauer (ein Tag bis mehrere Monate),<br />

ihrer Teilnehmerzahl (von zehn bis mehreren Tausenden)<br />

sowie der Rekrutierung und Auswahl der beteiligten Bürgerinnen<br />

und Bürger (Selbstselektion, zufällige oder gezielte Auswahl, vgl.<br />

| Abb. 7 |, S. 8). In Europa dienen Beteiligungsprozesse vornehmlich<br />

der Einflussnahme von Öffentlichkeit und Gesellschaft sowie<br />

der Beratung von Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Unmittelbare<br />

Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger sind in<br />

den meisten dialogorientierten Verfahren nicht vorgesehen, sodass<br />

kollektiv bindende Beschlüsse nach wie vor durch Parlamente,<br />

Stadträte und Verwaltungen gefällt werden. Allein im Rahmen<br />

von Bürgerhaushalten sind auch Mit-Entscheidungen von<br />

Bürgerinnen und Bürgern möglich, wobei in Deutschland auch<br />

13<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa


14<br />

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*<br />

hier das Entscheidungsrecht weiterhin ausschließlich in den Händen<br />

von Politik und Verwaltung liegt.<br />

In den europäischen Ländern haben sich die verschiedenen Beteiligungsformate<br />

nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, wie das<br />

Beispiel der Bürgerhaushalte zeigt, sondern sie sind auch unterschiedlich<br />

weit verbreitet. In Deutschland wird schon seit den<br />

1970er Jahren die »Planungszelle« angewendet. Planungszelle ist<br />

ein organisatorisch aufwendiges Kleinformat, das komplexe Fragestellungen<br />

von wenigen, zufällig ausgewählten Bürgerinnen<br />

und Bürgern erarbeiten lässt und auf dieser Basis Empfehlungen<br />

(sogenannte »Bürgergutachten«) erstellt. Diese dienen dann<br />

Stadträten, Verwaltungen und Parlamenten als Entscheidungsgrundlage,<br />

beispielsweise für die Kommunal- und Verwaltungsreform<br />

in Rheinland-Pfalz (vgl. Dienel, 2011) oder für die Entwicklung<br />

der Neusser Innenstadt (vgl. Ortwein, 2001).<br />

Europaweit:<br />

Bürgerbeteiligung im Fokus der Öffentlichkeit<br />

Nicht zuletzt als Antwort auf die neue Protestwelle in den letzten<br />

Jahren (u. a. Stuttgart 21) und auf die Konflikte im Kontext der<br />

Energiewende ist Bürgerbeteiligung in Deutschland (wieder)<br />

stark in den Fokus der politischen Öffentlichkeit gerückt. An vielen<br />

Orten in der Republik, sei es auf kommunaler, regionaler oder<br />

zentralstaatlicher Ebene, werden gegenwärtig verschiedenste<br />

Beteiligungsverfahren erprobt.<br />

In Österreich, und hier vorwiegend im westösterreichischen Bundesland<br />

Vorarlberg, hat das im Vergleich zur Planungszelle einfache<br />

Format der Bürgerinnenräte weite Verbreitung gefunden, das<br />

in den USA entwickelt wurde und dort »Wisdom Council« genannt<br />

wird. Ziel ist es, die Ideen und Vorschläge von rund zehn zufällig<br />

ausgewählten Bürgerinnen und Bürger an wenigen Tagen zu erarbeiten<br />

und auf diesem Weg zu einer kreativen und gemeinschaftlichen<br />

Problemlösung zu gelangen. Die daraus entstehenden<br />

Empfehlungen dienen als Diskussionsgrundlage sowohl für die<br />

lokale Öffentlichkeit als auch für Entscheidungsträgerinnen und<br />

-träger, z. B. im Gemeinderat (Strele, Nanz, et al., 2012). Aufgrund<br />

der positiven Erfahrungen mit den Bürgerinnenräten wird erstmals<br />

in Europa im Jahr 2013 die partizipative Demokratie in der<br />

Landesverfassung von Vorarlberg verankert – ein Trend, dem<br />

höchstwahrscheinlich auch andere Regionen in Bälde folgen werden.<br />

In Großbritannien wird neben vielen anderen häufig das Beteiligungsverfahren<br />

»Planning for Real« angewendet, mit dem Ziel,<br />

die Lebensqualität an konkreten Orten (Stadtplätze, Quartiere,<br />

Stadtparks etc.) zu verbessern. Es ist offen für alle Interessierten.<br />

Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist nicht begrenzt.<br />

In Dänemark wiederum werden seit den frühen 1990er Jahren erfolgreich<br />

»Konsensuskonferenzen« mit Bürgern durchgeführt,<br />

deren Ergebnisse dem Parlament überreicht werden. Die Dänische<br />

Behörde für Technikfolgenabschätzung bringt dazu Expertinnen<br />

und Experten zusammen mit 10–30 zufällig ausgewählten<br />

Laien hinsichtlich eines zu diskutierenden Themas. Das Themenspektrum<br />

der Konferenzen reicht von der Strahlenbelastung von<br />

Lebensmitteln über die Behandlung von Unfruchtbarkeit bis hin<br />

zu Chancen und Schwierigkeiten von Verkehrsmauten.<br />

Wie sieht es nun auf der europäischen Ebene mit der Erprobung<br />

von »dialogorientierten Verfahren der Bürgerbeteiligung« aus?<br />

Die Europäische Kommission hat seit 2001 eine Vielzahl von Projekten<br />

unterstützt, um zu testen, welche Verfahren und Methoden<br />

für transnationale und mehrsprachige Bürgerbeteiligung geeignet<br />

sind (Nanz & Kies, im Erscheinen). Das größte und<br />

vielschichtigste Projekt dieser Art waren bislang die »Europäischen<br />

Bürgerkonferenzen«, die erstmals zwischen Oktober 2006<br />

und Mai 2007 stattfanden. An diesem grenzüberschreitenden<br />

Großverfahren nahmen etwa 1.800 nach demographischen Kriterien<br />

zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern aus 27 EU-<br />

Mitgliedstaaten teil und berieten über die Zukunft Europas. Die<br />

Europäischen Bürgerkonferenzen waren nach der Auftaktveranstaltung<br />

in Brüssel als ein dreistufiges Verfahren organisiert: Im<br />

ersten Schritt wurden zentrale Bürgerkonferenzen mit Online-<br />

Elementen in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgeführt. Im<br />

zweiten Schritt wurden ergänzend in verschiedenen Städten der<br />

Mitgliedstaaten »regionale Bürgerforen« veranstaltet, um in einem<br />

letzten Schritt die Ergebnisse aus den Mitgliedstaaten auf<br />

der europäischen Ebene zusammenzutragen und dort mit Vertretern<br />

der Europäischen Kommission auf einer Abschlussveranstaltung<br />

zu diskutieren (Baumann, Felten, et al., 2009). Im Anschluss<br />

an die ersten Europäischen Bürgerkonferenzen gab es bis heute<br />

verschiedene Folgeprozesse, die die Ergebnisse des Verfahrens in<br />

die Mitgliedstaaten zurück kommuniziert haben. Im Jahr 2009<br />

wurden erneut Europäische Bürgerkonferenzen veranstaltet, um<br />

so eine erste reguläre transnationale Beteiligungspraxis der Bürgerinnen<br />

und Bürger in Europa zu etablieren.<br />

Erste Ergebnisse<br />

Die vielfältigen Entwicklungen im Feld der dialogorientierten Verfahren<br />

in Europa haben dazu geführt, dass sowohl Politik und<br />

Verwaltungen einiger Länder, Regionen und Kommunen als auch<br />

die wachsende Anzahl an Dienstleistern und Anbietern von Bürgerbeteiligungsverfahren<br />

ein gesteigertes Interesse an Qualitätsnormen,<br />

Standards und Leitlinien für die Umsetzung der Beteiligungsverfahren<br />

entwickelt haben. In den letzten Jahren sind<br />

daher in verschiedenen Ländern Europas Qualitätsgrundsätze<br />

und Standards der Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung entstanden.<br />

So hat die »Österreichische Gesellschaft für Umwelt und<br />

Technik« (ÖGUT), die Mitte der 1980er Jahre als überparteiliche<br />

Plattform für Umwelt, Wirtschaft und Verwaltung zur Förderung<br />

von Beteiligungsprozessen vor allem im Bereich der Umweltpolitik<br />

gegründet wurde, »Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung«<br />

veröffentlicht. Die Entwicklung der Standards und Praxisleitfäden<br />

wurde vom österreichischen Ministerrat am 2. Juli 2008 beschlossen<br />

und von einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung<br />

des Kanzleramtes und des Lebensministeriums entwickelt.<br />

Die Arbeitsgruppe konsultierte darüber hinaus verschiedene<br />

Vertreter der Zivilgesellschaft und externe Fachexperten (Lebensministerium<br />

& Bundeskanzleramt, 2008, S. 3). Die Qualitätsstandards<br />

und Leitfäden sind als Service und Unterstützung für Verwaltungen<br />

konzipiert, um eine Orientierung für die gute Praxis<br />

der Öffentlichkeitsbeteiligung bereit zu stellen (www.partizipation.<br />

at/standards_oeb.html).<br />

Neben Österreich hat auch die Landesregierung von Wales begonnen,<br />

nationale Prinzipien für öffentliche Beteiligung zu entwickeln.<br />

Hierzu wurde im Jahr 2009 die beratende Kommission der<br />

Organisation »Participation Cymru« beauftragt. »Participation<br />

Cymru« ist eine Kooperation der öffentlichen Verwaltung und zivilgesellschaftlichen<br />

Organisationen, die darauf abzielt, öffentliche<br />

Dienstleistungen durch die Stärkung und den innovativen<br />

Einsatz von Bürgerbeteiligung zu verbessern. Den Anstoß zur Entwicklung<br />

der Prinzipien gab eine vom walisischen Parlament verabschiedete<br />

»Vision für öffentliche Dienstleistungen«. Jüngst haben<br />

sich auch Städte wie Heidelberg und Leipzig auf den Weg<br />

gemacht, Qualitätsnormen zu kodifizieren (vgl. Stadt Heidelberg,<br />

2012; Stadt Leipzig, 2013). Zu diesem Zweck wurden unter anderem<br />

Grundsätze und Leitfäden für die Umsetzung von dialogorientierten<br />

Verfahren entwickelt.<br />

Trotz der mittlerweile zahlreichen Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung<br />

hat in Europa bisher kein systematischer Lern- und Erfahrungsaustausch<br />

stattgefunden. Im Dezember 2012 hat daher die<br />

Stabsstelle der »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung<br />

des Staatsministeriums Baden-Württemberg«, Gisela Erler,<br />

und das »European Institute for Public Parcipation« (EIPP)<br />

verschiedene europäische Regionen zu einer Konferenz eingeladen,<br />

u. a. Rhone-Alpes, Vorarlberg, Katalonien, die dänischen Regionen<br />

sowie die Toskana und Emilia-Romagna. Als Ergebnis ist<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


das erste »Europäische Netzwerk zur Förderung<br />

der Bürgerbeteiligung« gegründet worden.<br />

Es wurde bei dem Treffen der europäischen<br />

Regionen deutlich, dass Politik und<br />

Verwaltung als Initiatoren und Organisatoren<br />

von partizipativen Prozessen in den kommenden<br />

Jahren dringend Kompetenzen ausbilden<br />

müssen, um entscheiden zu können,<br />

welches Format am besten für ein Thema, ein<br />

Fachgebiet und eine politische Ebene geeignet<br />

ist. Was zudem benötigt wird, ist praktisches<br />

Wissen über die Stärken und Schwächen<br />

der verschiedenen Verfahren und ihre<br />

Nützlichkeit für unterschiedliche Situationen.<br />

Darüber hinaus suchen Regionen und<br />

Kommunen verstärkt nach Wegen, dialogorientierte<br />

Verfahren mit den jeweiligen repräsentativ-demokratischen<br />

Institutionen und<br />

Gremien zu verzahnen, damit das »Voicing«<br />

der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig Einfluss<br />

nehmen kann.<br />

Die wachsende Verbreitung neuer und innovativer<br />

Formen dialogorientierter Bürgerbeteiligung<br />

in Europa macht auch die Notwenigkeit sozialwissenschaftlicher<br />

Forschung deutlich, die diese Entwicklungen<br />

quantitativ sowie qualitativ erfasst und kritisch begleitet. Europa<br />

braucht ein unabhängiges Kompetenzzentrum, das Grundlagenforschung<br />

mit Anwendungsorientierung verbindet und zentraler<br />

Bestandteil eines europäischen Netzwerks für Bürgerbeteiligung<br />

wird. Aufgabe dieses Zentrums wäre es, länderübergreifend die<br />

Erfahrungen aus einzelnen Beteiligungsinitiativen systematisch<br />

zusammenzutragen, die Ursachen für Erfolg und Misserfolg zu<br />

analysieren, unabhängige Handreichungen über intendierte und<br />

nicht-intendierte Wirkungen von Beteiligungsbeispielen zur Verfügung<br />

zu stellen und somit einen Raum zur kritischen Reflexion<br />

partizipativer Prozesse zu schaffen. Auf der Grundlage solchen<br />

Wissens könnte eine derartige Institution auch bei der Konzeption<br />

von Beteiligungsangeboten behilflich sein, Qualitätsnormen<br />

für Verfahren erarbeiten und Evaluationsstandards zur unabhängigen<br />

Bewertung der Praxis entwickeln. Darüber hinaus könnte<br />

sie Akteure aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft ebenso<br />

wie Dienstleisterinnen und Dienstleister, Moderatorinnen und<br />

Moderatoren sowie technische Entwicklerinnen und Entwickler<br />

vernetzen und zum »Capacity Buildings« der Akteursgruppen beitragen.<br />

Ein solches Kompetenzzentrum könnte aber auch die Debatte<br />

um die Zukunft der Demokratie insgesamt bereichern:<br />

– Wie ließen sich dialogorientierte Beteiligungsverfahren mit<br />

direkt-demokratischen Abstimmungen verbinden (wie etwa<br />

im Beispiel der Wahlrechtsreform in British Columbia oder des<br />

isländischen Verfassungsentwurfs durch die Bürger und Bürgerinnen,<br />

für das jüngst eine satte Mehrheit der Wahlbevölkerung<br />

gestimmt hat)?<br />

– Wie könnten Verknüpfungen von einzelnen Beteiligungsverfahren<br />

(oder gar einer ständigen Bürgerkammer zum Beispiel<br />

für langfristige Fragenstellungen) und parlamentarischen<br />

Entscheidungsprozessen aussehen?<br />

Es ginge am Ende darum, systematische Vorschläge für europäische<br />

Demokratiereformen zu machen – Demokratiereformen, die<br />

institutionelle Rahmenbedingungen entwickeln für eine Kombination<br />

aus repräsentativer, direkter und partizipativer Demokratie<br />

– und dabei die unterschiedlichen Beteiligungskulturen und<br />

politischen Systeme in Europa berücksichtigt.<br />

Literaturhinweise<br />

APuZ (2006): Direkte Demokratie, Bundeszentrale für politische Bildung,<br />

Bonn, www.bpb.de/system/files/pdf/YRK9YG.pdf (letzter Zugriff:<br />

25.01.2013).<br />

Abb. 3 Am 5. und 6.12.2012 kamen im Staatsministerium in Stuttgart Expertinnen und Experten aus<br />

aller Welt zusammen, um sich in einem Workshop über Konzepte der Bürgerbeteiligung in Europa auszutauschen.<br />

Dazu eingeladen hatten die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela<br />

Erler, und Professorin Dr. Patrizia Nanz vom »European Institute for Public Participation« (EIPP).<br />

© Staatsministerium Baden-Württemberg<br />

Baiocchi, Gianpaolo (2005): Militants and Citizens: The Politics of Participatory<br />

Democracy in Porto Alegre, Stanford, Kalifornien.<br />

Baumann, Mechthild, Felten, Sandra & Stratenschulte, Eckart D. (2009):<br />

Empi rische Auswertung der Europäischen Bürgerforen 2008/2009,<br />

www.buergerforen.de/fileadmin/medias-buergerforen/presse/Finale_<br />

Auswertung.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013).<br />

Bertelsmann Stiftung (im Erscheinen): Public Participation in International<br />

Review: A discussion between Archon Fung, Yves Sintomer, Patrizia Nanz<br />

and Anna Wohlfarth, in: Inspiring Democracy: New Forms of Public Participation,<br />

S. 71–75.<br />

Dienel, Hans-Liudger (2011): Die Planungszelle im Einsatz: Bürgervoten für<br />

die Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz, in: Kurt Beck &<br />

Jan Ziekow (Hrsg.), Mehr Bürgerbeteiligung wagen, S. 169–177.<br />

Fritsche, Miriam & Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Verfahren<br />

und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bundeszentrale<br />

für politische Bildung, Bonn.<br />

Fung, Archon (2003): Survey Article: Recipes for Public Spheres: Eight Institutional<br />

Design Choices and Their Consequences, Journal of Political Philosophy,<br />

11(3), S. 338–367.<br />

Herzberg, Carsten, Sintomer, Yves, et al. (2010): Vom Süden lernen: Bürgerhaushalte<br />

weltweit-eine Einladung zur globalen Kooperation: Studie,<br />

http://opus.kobv.de/zlb/volltexte/2011/10312/pdf/dg25.pdf (letzter Zugriff:<br />

25.01.2013).<br />

Ley, Astrid & Weitz, Ludwig (Hrsg.) (2009): Praxis Bürgerbeteiligung, Stiftung<br />

Mitarbeit, Bonn.<br />

Nanz, Patrizia & Kies, Raphaël (im Erscheinen): Is Europe Listening to Us?<br />

Successes and Failures of EU Citizen Consultations, Ashgate Publishing.<br />

Stadt Heidelberg (2012): Leitlinien für mitgestaltende Bürgerbeteiligung in<br />

der Stadt Heidelberg, online: http://www.heidelberg.de/servlet/PB/<br />

show/1227274/12_pdf_Buergerbeteiligung_LeitlinienEnd.pdf (letzter<br />

Zugriff: 25.01.2013).<br />

Stiftung für Zukunftsfragen (2012): Forschung aktuell, Hamburg, online:<br />

www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/Forschung-Aktuell-<br />

241-Politikervertrauen-in-Krisenzeiten_01.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013).<br />

Strele, Martin, Nanz, Patrizia & Lüdemann, Martin (2012): BürgerInnen-Räte<br />

in Österreich, Gemeinsames Forschungsprojekt des Lebensministeriums<br />

und des Büros für Zukunftsfragen, Bregenz, Wien, online:<br />

http://www.vorarlberg.at/pdf/endberichtforschungsproje.pdf (letzter<br />

Zugriff: 26.01.2013).<br />

15<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa


16<br />

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*<br />

MATERIALIEN<br />

M 1 Claus Leggewie, Patrizia Nanz: »<br />

Mehr Beteiligung für die Energiewende«,<br />

Süddeutsche Zeitung<br />

Es wird eng: Rund um den Erdball werden<br />

Endlager für hoch radioaktive Abfälle aus der<br />

Nutzung der Kernenergie durch Industrie,<br />

Medizin und Forschung gesucht. Die Europäische<br />

Union hat 14 Mitgliedstaaten eine Lösung<br />

für die Atommüll-Endlagerung bis 2015<br />

auferlegt, andernfalls wird sie gegen säumige<br />

Staaten vorgehen und wegen Vertragsverletzung<br />

vor dem Europäischen Gerichtshof<br />

klagen. Die Lagerstätten müssen so<br />

beschaffen sein, dass die Abfälle von der Biosphäre<br />

abgeschieden bleiben, bis keine Gefahr<br />

mehr von ihnen ausgeht – nach Festlegung<br />

des Bundesamtes für Strahlenschutz<br />

von 2005 heißt das: für eine Million Jahre. Bis<br />

zum Jahr 1 002 005 also. Die Zahl demonstriert<br />

den Hochmut einer hochriskanten Technologiewahl,<br />

die für Menschen kaum nachvollziehbare<br />

Fristen und Risiken einplanen<br />

muss. Aber das zu beklagen, reicht nicht: Das<br />

jahrelange Schwarze-Peter-Spiel zwischen Energiewirtschaft, Politik<br />

und Anti-AKW-Bewegung hat die Übernahme von Verantwortung<br />

für das immer dringender werdende Problem verhindert.<br />

Nach dem Fiasko von Gorleben, dem Skandal um die Asse und der<br />

Untauglichkeit anderer bislang in Aussicht genommener Standorte<br />

ist endlich ein annehmbares Endlager auszuweisen, politisch<br />

zu vereinbaren und mit maximalen Sicherheitsvorkehrungen zu<br />

errichten. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried<br />

Kretschmann (Grüne) hat uns auf den Boden der Tatsachen<br />

geholt, als er sagte, irgendwo müsse das Zeugs ja hin.<br />

Zunächst aber stößt jeder Vorschlag, Bürgerbeteiligung bei der<br />

Endlagersuche auf den Weg zu bringen, auf berechtigte Skepsis.<br />

Warum soll das Volk richten, was eine sich selbst blockierende<br />

und zur Einigung nicht fähige Allparteienkoalition verbockt hat?<br />

Aber wie, wenn nicht unter Einbeziehung der Betroffenen vor Ort<br />

und mit der Legitimierung durch den Souverän soll dies sonst gelingen?<br />

Gemeint ist erst einmal kein Volksentscheid, sondern eine<br />

tiefer gehende Erörterung des bestgeeigneten Endlager-Standortes<br />

durch die Öffentlichkeit, die in den Entwürfen für ein Endlagersuchgesetz<br />

breiten Raum einnimmt (www.endlagerdialog.de).<br />

Die wenigen Erläuterungen und Konkretisierungen des Gesetzesentwurfes<br />

lassen allerdings wenig Gutes hoffen; Bundesumweltminister<br />

Peter Altmaier (CDU) meint wohl, mit ein paar unverbindlichen<br />

Bürgerdialogen und Internetplattformen könne man<br />

sich die nötige Akzeptanz beschaffen.<br />

Das gelingt freilich schon bei weniger dramatischen Anlässen<br />

nicht, erst recht nicht in der Endlagerfrage. Und es geht ja um<br />

mehr als bloße Akzeptanzbeschaffung: nämlich darum, einer wie<br />

auch immer gearteten parlamentarischen Entscheidung durch<br />

eine verbindliche Empfehlung aus der Bürgerschaft zusätzliche<br />

Legitimation und Tragfähigkeit zu verleihen. Alle Vorzeichen für<br />

einen ruhigen und rationalen Meinungsaustausch sind allerdings<br />

negativ: Das Vertrauen in die politischen Eliten ist vollständig erschüttert,<br />

keine wissenschaftliche Autorität wird mehr anerkannt,<br />

Bürgerinitiativen haben sich in einer Wagenburg verschanzt,<br />

die Energiekonzerne stehlen sich aus der Verantwortung.<br />

Wer sich ernsthaft mit der Organisation von Bürgerbeteiligung<br />

befasst hat, möchte vor einer solchen Ausgangsszenerie davonlaufen.<br />

Allein die Dringlichkeit des Problems erfordert, im Zuge<br />

der Energiewende die Jahrhundertchance auf einen haltbaren politischen<br />

Kompromiss für ein durchdachtes Endlagersuchgesetz<br />

zu nutzen. Es gilt dabei, einen lokalen, nationalen und am Ende<br />

M 2 »Einstimmig!« © Gerhard Mester 2013<br />

auch europäischen Bürgerbeteiligungsprozess sorgfältig vorzubereiten<br />

und in Angriff zu nehmen. Bis 2015 muss eine Entscheidung<br />

gefällt sein, welche Endlagerstätten erkundet werden sollen,<br />

in den folgenden Jahren muss eine konsensfähige und<br />

nachhaltige Lösung gefunden werden, die deren schwere Lasten<br />

auch noch möglichst gerecht verteilt und den Betroffenen nicht,<br />

wie man es mit denen in Gorleben halten wollte, zuruft: Pech gehabt!<br />

Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Legitimität – das sind die<br />

normativen Leitlinien des im Gesetzentwurf angedeuteten Bürgerbeteiligungsprozesses.<br />

Der muss zugleich die nationale Aufgabe der Endlagersuche, deren<br />

Organisation einer neuen Behörde übertragen werden soll, an<br />

alle in Erwägung gezogenen Standorte dezentralisieren. Er muss<br />

zudem lokale Belange, die jeweils nach dem NIMBY-Prinzip (»Not<br />

in my Backyard«) wegdelegiert werden können, zum Ausgleich<br />

bringen. Was wir dafür brauchen, ist ein nationaler Ausschuss, der<br />

mehr ist als die Ethik-Kommission, die im Fall des Atomausstiegs<br />

nach Fukushima als Gremium ausgesuchter Persönlichkeiten tätig<br />

geworden ist. Wenig geeignet ist sicherlich auch eine vor laufender<br />

Kamera agierende Schlichtung, wie im Fall Stuttgart 21,<br />

oder die Stakeholder-Mediation am Frankfurter Flughafen, um<br />

nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.<br />

Ein Patentrezept für die Zusammensetzung und beste Mischung<br />

gibt es nicht, persönliche Autorität, wissenschaftliche Kompetenz<br />

und gesellschaftliche Repräsentativität müssen fein balanciert<br />

werden.<br />

Denkbar ist ein Zukunftsrat, der sich gar nicht aus Prominenten<br />

rekrutiert, sondern aus einfachen Bürgern, die sich – wie eine<br />

parlamentarische Untersuchung – jeden gewünschten Sachverstand<br />

per Hearing heranziehen kann, und per Zufallsverfahren<br />

und nach soziodemografischen Kriterien wie Alter, Geschlecht<br />

und Bildung so zusammensetzen, dass sie den Querschnitt der<br />

Bevölkerung möglichst gut abbilden. Anders als amerikanische<br />

Geschworenengerichte sollen die »Laienschöffen« kein Urteil fällen,<br />

sondern eine Handlungsempfehlung aussprechen, die vom<br />

Parlament in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden<br />

muss. Eine große Portion Gemeinsinn scheint bei der Endlagerfrage<br />

in jedem Fall unverzichtbar.<br />

Infrage kommende Standorte könnten in lokalen Gremien diskutiert<br />

werden, während eine Ratsversammlung auf nationaler<br />

Ebene die Ergebnisse aller Gremien bündeln und bewerten sollte.<br />

Besonders in Regionen, die vielleicht zu den Lastenträgern der<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Endlagerfrage werden, könnte Bürgerbeteiligung<br />

eine wichtige Rolle<br />

spielen, um Konflikte gemeinschaftlich<br />

zu beraten, faire Ausgleichsmöglichkeiten<br />

zu entwerfen und die Bildung<br />

von Orten des Widerstands zu<br />

verhindern. Auch in den lokalen Gremien<br />

ist das Prinzip der direkten Betroffenheit<br />

gering zu halten, denn sie<br />

sollen sich schließlich nicht nur um<br />

den Standort, sondern auch um die<br />

langfristige Zukunft einer Region Gedanken<br />

machen.<br />

Denn darum geht es ja: wie die Bevölkerung<br />

sich die Existenzbedingungen<br />

und Lebensqualität ihrer Kinder, Enkel<br />

und Urenkel in einer Gegend vorstellt,<br />

in der – gegebenenfalls – das<br />

Endlager errichtet wird. Viele<br />

Perspek tiven – sozialpolitische, demografische<br />

und energiepolitische –<br />

stehen heute unter diesem futurischen<br />

Vorzeichen 2012, 2050, 2100.<br />

Und ganz offenbar ist unsere Zukunft<br />

keine lineare Fortschreibung des gewohnten<br />

Lebens. Wegen der zeitlich<br />

weitreichenden Folgen ist die atomare<br />

Endlagerung eine besondere<br />

Herausforderung für die Gerechtigkeit<br />

zwischen den Generationen.<br />

Der Teufel liegt bei einer öffentlichen<br />

Erörterung der Standortfrage mit allen<br />

Nebenerwägungen durch einen<br />

Zukunftsrat im prozeduralen Detail:<br />

Wie oft und wie lange tagen die nationale<br />

Ratsversammlung und lokale<br />

Gremien, wie viele Mitglieder sollen<br />

sie haben, sollen Bürger eine Aufwandsentschädigung<br />

erhalten? Wie<br />

können die Interessen künftiger Generationen<br />

systematisch berücksichtigt<br />

werden? Sicher benötigt der<br />

Zukunfts rat einen gewissen professionellen<br />

Apparat und finanzielle Ressourcen:<br />

Informationsmaterial muss<br />

M 3<br />

bereitgestellt, Debatten moderiert, Experten einbestellt, Ergebnisse<br />

gesichert und öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Er<br />

arbeitet nicht fürs Fernsehen, aber eine kontinuierliche Dokumentation<br />

online und möglichst auch eine Berichterstattung in<br />

den Medien sind zentral.<br />

Es lohnt sich ein Blick ins Ausland: In Großbritannien fand 1999<br />

eine Konsensuskonferenz statt, in der 15 Bürger in mehreren Wochenendworkshops<br />

Vorschläge für eine effiziente und öffentlich<br />

akzeptierte Langzeitlagerung von radioaktivem Abfall entwickelt<br />

haben.<br />

Die dänische Behörde für Technikfolgenabschätzung führt seit<br />

dem Ende der achtziger Jahre erfolgreich solche Verfahren durch.<br />

Hier wird der Endbericht immerhin nicht nur der Öffentlichkeit,<br />

sondern auch allen Parlamentsmitgliedern übergeben. Der Zukunftsrat<br />

bräuchte allerdings sicherlich mehrere Monate für seine<br />

Arbeit und insgesamt weit mehr als 15 Mitglieder. Wesentlich ist,<br />

dass eine Bürgerbeteiligung über eine so weitreichende Entscheidung<br />

wie das Endlager nach demokratischen Kriterien und auf<br />

mehreren Ebenen konzipiert wird, damit jedes »Hier nicht!« mit<br />

dem »Hier auch nicht!« an anderer Stelle konfrontiert wird und<br />

damit gemeinsame Verantwortung entstehen und ein faire Verteilung<br />

der Lasten erreicht werden kann. Die weitere Voraussetzung<br />

für das Gelingen dieses Experiments ist eine geeignete Anbindung<br />

an den Entscheidungsprozess in den parlamentarischen<br />

Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert<br />

und sind für sie erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage?<br />

Angaben in Prozent<br />

Form der<br />

Beteiligung<br />

Teilnahme an Wahlen<br />

Volksentscheide-Bürgerbegehren<br />

Abstimmung über Infrastrukturprojekte<br />

Teilnahme an einer Bürgerversammlung<br />

Mitgliedschaft in einem Interessenverband<br />

Schreiben eines Leserbriefes<br />

Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten<br />

Online-Umfrage im Internet<br />

Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt<br />

Teilnahme an einer Demonstration<br />

Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet<br />

Elektronische Petition<br />

Teilnahme an einem Bürgerforum / Zukunftswerkstatt<br />

Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative<br />

Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft<br />

Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs<br />

Mitgliedschaft in einer Partei<br />

Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat<br />

Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich in Frage Kommt für mich nicht in Frage Weiß nicht, keine Angabe<br />

Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid.<br />

Hab ich schon einmal<br />

gemacht oder käme<br />

für mich in Frage<br />

55<br />

55<br />

54<br />

51<br />

47<br />

47<br />

45<br />

39<br />

39<br />

34<br />

33<br />

32<br />

30<br />

27<br />

68<br />

64<br />

Kommt für mich<br />

nicht in Frage<br />

0 20 40 60 80 100<br />

»Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für Sie erstrebenswert<br />

– Welche kommen nicht in Frage?« www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-<br />

CE93650F-414B9DD6/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf<br />

© Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2011<br />

21<br />

29<br />

36<br />

44<br />

Gremien auf Bundes- und Länderebene und in den Gemeinden.<br />

Der Zukunftsrat hat im Sinn der Gewaltenteilung kein imperatives<br />

Mandat, aber er müsste gehört werden, und er sollte, damit politische<br />

Akteure und Konjunkturen ihn nicht ignorieren können,<br />

neben parlamentarischen Debatten über dessen Handlungsempfehlung<br />

auch ein verbindliches Feedback von der Regierung bekommen.<br />

Wenn man Bundespräsident Gauck als Schirmherrn gewinnen<br />

könnte, wäre das Verfahren zudem mit der nötigen personalen<br />

Autorität versehen.<br />

Der Vorschlag eines solchen Zukunftsrats mag vielen utopisch<br />

vorkommen. Das mag er sein, aber man muss ihn abgleichen mit<br />

anderen Entscheidungsmodalitäten, die bisher eben nicht zur<br />

Findung und Realisierung eines geeigneten Endlagers im Konsens<br />

geführt haben. Ein Endlager muss so beschaffen sein, dass<br />

eine Million Jahre keine Gefahr von ihm ausgeht<br />

Claus Leggewie, Patrizia Nanz: » Mehr Beteiligung für die Energiewende. Nach dem Fiasko<br />

um Gorleben braucht die Suche nach einem Atom-Endlager endlich mehr demokratische<br />

Basis: einen Zukunftsrat. «, Süddeutsche Zeitung 22.11.2012, S. 20<br />

78<br />

94<br />

5<br />

45<br />

45<br />

48<br />

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53<br />

54<br />

58<br />

60<br />

65<br />

67<br />

67<br />

69<br />

72<br />

17<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa


18<br />

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*<br />

M 4<br />

Der Filder-Dialog in Kürze<br />

»Mit dem Filder-Dialog S 21 wollen die Projektpartner<br />

von Stuttgart 21 Transparenz<br />

über ihr Vorhaben vor Ort schaffen und mit<br />

den Betroffenen und der Bürgerschaft in einen<br />

konstruktiven Dialog treten. Sie nehmen<br />

dabei den Planfeststellungsabschnitt 1.3 auf<br />

den Fildern (beim Stuttgarter Flughafen) unter<br />

die Lupe: Sowohl die für diesen Abschnitt<br />

beantragte Trasse als auch weitere Trassen<br />

und Varianten sollen vorgestellt und diskutiert<br />

werden. Dabei geht es auch um die zugrunde<br />

liegenden Planungsprämissen und<br />

Bewertungskriterien. Zu den Vorgaben des<br />

Dialogs gehört unter anderem, dass der vereinbarte<br />

Kostendeckel nicht angehoben, der<br />

Terminplan eingehalten und über die sogenannte<br />

Null-Variante (die das Projekt Stuttgart<br />

21 grundsätzlich infrage stellt) nicht diskutiert<br />

wird.<br />

Ziel des Dialogverfahrens: Die Teilnehmenden äußern sich zu den<br />

verschiedenen Trassenvarianten und geben Empfehlungen an die<br />

Projektpartner. Dabei können auch andere Lösungen, als die bislang<br />

geplante Trasse herauskommen. Die Projektpartner haben<br />

zugesagt, nach Abschluss der Bürgerbeteiligung die Ergebnisse<br />

gemeinsam zu bewerten und zu beschließen, welche Empfehlungen<br />

bei der weiteren Planung berücksichtigt werden. Sie wollen<br />

die Machbarkeit dieser Empfehlungen anhand der geltenden Planungsprämissen<br />

und Bewertungskriterien ernsthaft prüfen. (…)<br />

Den ersten Schritt zum Filder-Dialog hat im Herbst 2010 die<br />

»Schlichtung« zum Gesamtprojekt Stuttgart 21 gesetzt. Damals<br />

hatte die Deutsche Bahn AG betont, sie wolle Planungen künftig<br />

anders angehen und mehr Bürgermitwirkung sowie eine bessere<br />

Informationspolitik gewährleisten Kurz darauf, im Frühjahr 2011,<br />

wechselte bei einem der Projektpartner die für Stuttgart 21 zuständige<br />

Spitze: Winfried Hermann, Grüne, der neue Minister für<br />

Verkehr und Infrastruktur des Landes Baden-Württemberg, plädierte<br />

dafür, an der noch nicht abgeschlossenen S21-Planung auf<br />

den Fildern die örtliche Bürgerschaft zu beteiligen. So beschlossen<br />

die Projektpartner am 24. Februar 2012, mit dem Filder-Dialog<br />

S21 eine neue Form der Bürgerbeteiligung anzugehen. Und sie<br />

kamen überein, die Planung und Durchführung des Dialogs in die<br />

Hände einer erfahrenen externen Fachkraft für Moderation zu legen.<br />

Um den Filder-Dialog so optimal wie möglich zu gestalten, wurde<br />

ein auf Großgruppenmoderation spezialisierter und von außerhalb<br />

der Region Stuttgart kommender Experte gesucht. Beste<br />

Sachkenntnis bezüglich des Verfahrens bei möglichst großem Abstand<br />

zu den verhandelten Inhalten, so lautete die Vorgabe. Die<br />

Wahl fiel auf den Moderator Ludwig Weitz aus Bonn.«<br />

© www.filderdialog-s21.de/ueberdenfilderdialog-s21.html<br />

M 5<br />

Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog zu Stuttgart<br />

21«: Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten«<br />

Der Filderdialog, ein demokratisches Verfahren mit ergebnisoffenem<br />

Ausgang, bei dem sich Bürger einbringen und echte Verbesserungen<br />

bewirken konnten? Darüber gibt es auch nach dem<br />

Abschluss der Veranstaltung unterschiedliche Meinungen. Zumindest<br />

die Mehrheit der Teilnehmer selbst, so die Bilanz der<br />

Schlussrunde, ist mit einem guten Gefühl nach Hause gegangen.<br />

Etliche Bürger klagten in ihrem Abschlusswort aber auch darüber,<br />

dass sie sich von den Projektpartnern nicht ernst genommen gefühlt<br />

hätten, nur Statisten gewesen seien und der Ausgang von<br />

vorneherein festgestanden hätte, so eine der Zufallsbürgerinnen.<br />

Einig waren sich die Teilnehmer dagegen in dem Wunsch, über<br />

M 6 Der Moderator des »Filderdialogs – S 21«: Ludwig Weitz, Bonn © dpa, picture alliance<br />

den weiteren Verlauf und die Ergebnisse der Machbarkeitsstudien<br />

der Projektpartner informiert zu werden. Eine Art Fortsetzung des<br />

Filderdialogs ist zudem auch im Sinne der Staatsrätin Gisela Erler<br />

und des Moderatos Ludwig Weitz, die das Verfahren erst als beendet<br />

sehen, so Weitz, wenn ein konkretes Ergebnis auf dem Papier<br />

steht, das auch umgesetzt wird. Der Verkehrsminister Winfried<br />

Hermann (Grüne), der im Filderdialog ein gelungenes Experiment<br />

der Bürgerbeteiligung sieht, hat eine solche Fortführung fest zugesagt.<br />

Drei Monate lang wollen die Projektpartner nun in einer<br />

Machbarkeitsstudie prüfen lassen, ob der Vorschlag, den Fernbahnhof<br />

auf den Fildern unter der Flughafenstraße und damit näher<br />

an die S-Bahn-Station zu bauen, tragfähig und finanziell realisierbar<br />

ist. Ein Vorteil dieser Variante wäre, dass zumindest die<br />

S-Bahn-Station frei von Mischverkehr wäre, da die Fern- und Regionalzüge<br />

direkt in den Flughafenbahnhof einschleifen würden.<br />

Auf der S-Bahn-Trasse zwischen Rohrer Kurve und Flughafen<br />

müssten die Kommunen dagegen mit dem ungeliebten Mischverkehr<br />

leben, weshalb nun auch die Möglichkeiten des Lärm- und<br />

Erschütterungsschutzes ausgelotet werden sollen. Im Spätherbst,<br />

so Hermann, könne das Ministerium die ersten Ergebnisse<br />

vorlegen.<br />

Prominente Teilnehmer wie Roland Klenk, der Oberbürgermeister<br />

von Leinfelden-Echterdingen, oder Institutionen wie der Umweltverband<br />

BUND und die Schutzgemeinschaft Filder haben<br />

derweil ihre Meinung zu dem Verfahren schon während des Dialogs<br />

mit ihrem Austritt kundgetan. Die Staatsrätin Gisela Erler<br />

wertet es trotz dieser Probleme als einen richtungsweisenden<br />

Schritt: »Wir haben einen Grundstein gelegt für ein neues Denken<br />

und für ein Verfahren, wie man zukunftsfähige Verkehrslösungen<br />

mit den Bürgern erarbeiten kann.«<br />

Das große Problem des Dialogs sei gewesen, dass er viel zu spät<br />

im Projektverlauf begonnen und unter enormem Zeitdruck gestanden<br />

habe. Gemessen an den schwierigen Bedingungen sei<br />

durchaus etwas Zukunftsweisendes herausgekommen, so Erler.<br />

Dass nun etwa auch die Sicherung der Gäubahn für den Nahverkehr<br />

mit großer Priorität geprüft werde, könnten die Bürger als<br />

Erfolg verbuchen. Sicher sei es für viele Teilnehmer bitter, dass<br />

sich ihre Wunschtrasse nicht durchgesetzt hat. »Damit muss man<br />

bei einem demokratischen Verfahren, das nur empfehlenden<br />

Charakter hat, aber rechnen.« Auch von den »unterlegenen« Befürwortern<br />

der Gäubahnvariante seien jedoch überwiegend positive<br />

Rückmeldungen bezüglich des Verfahrens gekommen.<br />

Die Erfahrungen der vergangenen Wochen sollen nun in geplante<br />

Bürgerverfahren bei vergleichbaren Infrastrukturprojekten in<br />

Schwäbisch Gmünd und Tübingen einfließen, und auch bei der<br />

Planung des Rosensteinquartiers hält die Staatsrätin eine sehr<br />

frühe Beteiligung der Bürger für höchst hilfreich. »Wir alle haben<br />

im Filderdialog viel gelernt«, sagt Erler: »Was man tun sollte – und<br />

was besser nicht.«<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Am Montag sprachen die Mitglieder der<br />

»Arbeits gruppe S 21« derweil über die Stellungnahmen<br />

der Projektpartner zu den Empfehlungen<br />

des Filderdialogs. »Es ist erschreckend,<br />

dass wir in Leinfelden-Echterdingen<br />

mehr Lärmschutz entlang der S-Bahn-Trasse<br />

als gesetzlich nötig selbst zahlen sollen«,<br />

sagte Uwe Janssen (Grüne).<br />

© Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog« zu Stuttgart 21:<br />

Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten, Stuttgarter Zeitung<br />

vom 17.7.2012<br />

M 7<br />

Jan-Hendrik Kamlage: »Tunneldialog<br />

und Bürgerbeteiligung in<br />

Schwäbisch Gmünd«<br />

In Schwäbisch Gmünd soll mit dem Einhorn-<br />

Tunnel die Innenstadt vom Straßenverkehr<br />

entlastet werden. Geplant ist, dass die mit<br />

Staub und Schadgasen belastete Luft des 2,2 Kilometer langen<br />

Tunnels über einen zentralen Kamin ausgeblasen wird. Anwohner<br />

befürchten gesundheitliche und ökologische Folgen steigender<br />

Immissionsbelastungen im Bereich des Kamins und schlugen den<br />

Einbau eines Tunnelfilters vor. Dies wurde von dem Regierungspräsidium<br />

Stuttgart (RP) sowie dem Ministerium für Verkehr und<br />

Infrastruktur Baden-Württemberg (MVI) und dem Bundesministerium<br />

für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) jedoch<br />

abgelehnt, da die gesetzlichen Grenzwerte für Luftschadstoffe<br />

nicht überschritten würden. Im September 2007 gründete sich<br />

die Bürgerinitiative »Pro Tunnelfilter«. Kurz danach wurde in<br />

Schwäbisch Gmünd die Umweltzone eingeführt, die in der Bevölkerung<br />

über wenig Akzeptanz verfügt.<br />

Um den Konflikt zu schlichten und die Sachfrage zu klären, wurde<br />

im Februar 2011 durch das Bundesministerium für Bildung und<br />

Forschung (BMBF) eine Machbarkeitsstudie in Aussicht gestellt.<br />

Die Studie sollte klären, ob und unter welchen Bedingungen ein<br />

Tunnelfilter für den Einhorn-Tunnel einsetzbar sei. Daraufhin erarbeiteten<br />

im März 2011 Vertreterinnen und Vertreter aus den<br />

Bürgerinitiativen, der Wirtschaft, der Stadtverwaltung und der<br />

Lokalpolitik gemeinsam einen Fragenkatalog, der innerhalb des<br />

Verfahrens bearbeitet werden sollte. Im Anschluss wählte die<br />

Gruppe das Konsortium zur Umsetzung der Studie aus.<br />

Der Tunneldialog in Schwäbisch Gmünd ist ein Anwendungsfall<br />

für Verfahren der Präsenzbeteiligung. Vertreter aus Zivilgesellschaft,<br />

Unternehmen, Verwaltung und Politik beraten innerhalb<br />

eines speziell für diesen Fall entwickelten Beteiligungsformates<br />

die strittige Frage, ob und inwieweit ein Tunnelfilter für den dortigen<br />

Einhorn-Tunnel von Nutzen sein kann.<br />

© Jan-Hendrik Kamlage: Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd. Originalbeitrag.<br />

M 8<br />

Wolfgang Fischer: » Bessere Wege als der Filter zu<br />

sauberer Luft«. Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in<br />

Schwäbisch Gmünd<br />

Schwäbisch Gmünd. Die Abluft des Tunnels muss gefiltert werden,<br />

davon waren viele Bürger überzeugt. Doch seit April hat es<br />

vier Dialogrunden von Bürgern und Experten zu diesem Thema<br />

gegeben, und am Ende fasste zum Beispiel Schönblick-Geschäftsführer<br />

Martin Scheuermann, bisher überzeugter Filter- Befürworter,<br />

zusammen: »Wir sind uns einig, dass die gesundheitlichen<br />

Probleme, die wir befürchtet haben, nicht eintreten.« Prof. Dr.<br />

Erich Wichmann, Physiker und Mediziner an der Uni München,<br />

hatte den Zuhörern im Stadtgarten zuvor nochmals dargelegt,<br />

dass der Tunnel die Luftsituation in Gmünd deutlich verbessere.<br />

M 9 Kleingruppenarbeit beim »Filderdialog 21« © dpa, picture alliance<br />

Die zusätzliche Wirkung des Filters wäre dagegen verschwindend<br />

gering. Es gebe bessere Wege, die Luftqualität zu verbessern, folgerte<br />

auch Martin Scheuermann. Welche, das hatten die Dialog-<br />

Teilnehmer zuvor in einer Arbeitsgruppe diskutiert. Grünen-<br />

Stadträtin Brigitte Abele, die die Ergebnisse vortrug, nannte als<br />

ersten Punkt die Umweltzone: Rascher als vorgesehen müsse<br />

auch Fahrzeugen mit gelber Plakette die Zufahrt verboten werden,<br />

zudem solle die Einhaltung schärfer kontrolliert werden. (…)<br />

Auch Oberbürgermeister Richard Arnold räumte im Gespräch mit<br />

der Gmünder Tagespost ein, dass der Tunneldialog anders als erwartet<br />

verlaufen sei. »Die Hoffnung auf Argumente für den Filter<br />

hat sich nicht erfüllt.« Dafür hätten sich andere Perspektiven eröffnet.<br />

Zum Beispiel könnte er sich vorstellen, in Gmünd modellhaft<br />

an einer Stelle Moose oder andere Pflanzen, die Feinstaub<br />

binden, anzubauen – vielleicht schon zur Landesgartenschau. Außerdem<br />

gefällt ihm die Idee eines Clusters »Saubere Luft für den<br />

Raum Gmünd« (…). Diese Idee hatte Dr.-Ing. Hartmut Pflaum vom<br />

Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik<br />

eingebracht. Er definierte »Cluster« als Zusammenschluss von<br />

Akteuren mit gleichen Interessen in einer Region. (…)<br />

Ebenfalls Thema war der Verlauf des Dialogs: Martin Scheuermann<br />

anerkannte, dass die Experten auch »sehr, sehr kritische<br />

Fragen« der Bürger beantwortet hätten. Im Gegenzug lobte Moderator<br />

Lars Eggert die außergewöhnliche Offenheit der Bürger in<br />

diesen Dialogrunden.<br />

Auch Claus Leggewie vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen,<br />

der den Dialog begleitet hatte, lobte die Form der Diskussionen.<br />

Allerdings hätte er sich mehr Politiker – auch überregionale<br />

– als Teilnehmer gewünscht. Eine Zuhörerin kritisierte, dass<br />

nur wenige Bürger gekommen waren. Andere hätten sich gewünscht,<br />

dass dieser Dialog früher gekommen wäre. Filter-Ingenieur<br />

Bernd Müller verteidigte in einem persönlichen Fazit die<br />

Forderung nach einem Filter. Doch die Teilnehmer des Dialogs<br />

diskutierten bereits, wie man die neue Erkenntnis, dass der Filter<br />

eben doch nicht das Optimum für Gmünd wäre, den Bürgern mitteilt,<br />

die man zuvor um Unterschriften für den Filter gebeten<br />

hatte. Wie es weitergeht, legte auch Lars Eggert dar: Voraussichtlich<br />

Ende September 2013 wird ein Abschlussbericht des Gmünder<br />

Tunneldialogs vorliegen, der an den Auftraggeber, das Bundesministerium<br />

für Bildung und Forschung, übergeben werden muss.<br />

Diese Aufgabe, schlug er vor, könnte eine Gmünder Delegation<br />

übernehmen.<br />

© Wolfgang Fischer: Bessere Wege als der Filter zu sauberer Luft. Einhelliges Fazit bei der<br />

Abschlusssitzung des Tunneldialogs/Umweltzone ausweiten und »verschärfen«?. Gmünder<br />

Tagespost vom 20.07.2012<br />

19<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

4. Bürgerbeteiligung und soziale<br />

Gleichheit: Zwei Prinzipien im<br />

Spannungs feld von Utopie und Wirklichkeit<br />

am Beispiel Deutschland<br />

OSCAR W. GABRIEL<br />

20<br />

Ein Ausbau der politischen Beteiligung erscheint derzeit<br />

vielen als Königsweg zu einer besseren Demokratie. Eine<br />

breite Bürgerbeteiligung soll dazu dienen, die politische<br />

Agenda zu öffnen und zu erweitern, die Inhalte der politischen<br />

Entscheidungen an den Präferenzen der Bürger auszurichten,<br />

die Distanz zwischen den Regierenden und den Regierten zu<br />

verringern, die Transparenz politischer Prozesse zu verbessern,<br />

die Qualität der politischen Auseinandersetzung zu erhöhen,<br />

die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen zu fördern<br />

und die demokratische Kompetenz der Bürger zu stärken<br />

(Dahl 1998: 37–41; Parry/Moyser/Day 1993: 6–16). Im Prinzip<br />

sind diese Erwartungen normativ gerechtfertigt, denn nur ein<br />

Staat, in dem alle Bürger über gleiche Beteiligungsrechte verfügen<br />

und von ihnen Gebrauch machen, darf das Attribut »demokratisch«<br />

beanspruchen. In einem politischen System, in<br />

dem das Recht, im Namen der politischen Gemeinschaft allgemein<br />

verbindliche Entscheidungen zu treffen und diese<br />

durchsetzen, sich aus dem Grundsatz der Volkssouveränität<br />

ableitet, bilden Demokratie und Bürgerbeteiligung notwendigerweise<br />

eine Einheit (Dahl 1971; van Deth 2009: 141; Verba/<br />

Schlozman/Brady 1995: 1). Doch im Gegensatz zu dem breiten<br />

Konsens über die Zusammengehörigkeit der Prinzipien »Bürgerbeteiligung«<br />

und »Demokratie« sind einzelne Aspekte dieser<br />

Beziehung umstritten. Es existieren unterschiedliche Auffassungen<br />

darüber, wie viel Beteiligung eine funktionsfähige<br />

Demokratie benötigt, in welchen Formen sie sich vollziehen<br />

sollte, welchen konkreten Zwecken bürgerschaftliche Beteiligung<br />

dient und welche demokratischen Prinzipien sie fördert,<br />

ob sich alle diese Ziele gleichzeitig erreichen lassen und welchen<br />

von ihnen im Konfliktfall der Vorzug zu geben ist.<br />

Abb. 1 »Die Zeit ist reif für Volksabstimmungen …« © Heiko Sakurai, 26.6.2012<br />

Dieser Beitrag untersucht, wie sich die wichtigsten Merkmale der<br />

Sozialstruktur auf die politische Aktivität der Bürger auswirken.<br />

Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die politisch bedeutsamsten<br />

Merkmale der Sozialstruktur, der sozioökonomische Status,<br />

das Geschlecht, das Alter und der Migrationshintergrund der Bürger.<br />

Zunächst gebe ich einen Überblick über das Niveau und die<br />

Entwicklung der politischen Beteiligung im Zeitraum 1998 bis<br />

2008 und stelle dann den sozialen Hintergrund der politischen<br />

Beteiligung dar. Im Schlussteil erfolgt eine Diskussion der Bedeutung<br />

der dargestellten Sachverhalte für die Qualität der Demokratie<br />

in Deutschland.<br />

Bürgerbeteiligung, Demokratie und Gleichheit:<br />

eine problematische Beziehung?<br />

Nicht weniger kompliziert stellt sich die Beziehung zwischen den<br />

Prinzipien »Bürgerbeteiligung« und »Demokratie« bei einem<br />

Blick auf die Ergebnisse der empirischen Forschung dar. Wie zahlreiche<br />

Studien belegen, beteiligt sich jenseits der Stimmabgabe<br />

bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen nur eine<br />

Minderheit der Bürger aktiv am politischen Leben, und auch die<br />

Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahrzehnten in fast allen Demokratien<br />

zurückgegangen (z. B. Norris 2002; Blais 2010). Darüber<br />

hinaus nehmen nicht alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft<br />

ihre Beteiligungsrechte in gleichem Ausmaß wahr (so<br />

schon: Nie/Powell/Prewitt 1969; Verba/Nie/Kim 1978; neuestens:<br />

Hooghe/Quintelier 2013). Nicht nur die Breite der bürgerschaftlichen<br />

Beteiligung, auch die soziale Zusammensetzung der politisch<br />

Aktiven bleibt in den modernen Gesellschaften hinter den<br />

demokratischen Idealen zurück. Es gibt sogar Indizien dafür, dass<br />

sich diese Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in den letzten<br />

Jahrzehnten nicht verringert hat, sondern gewachsen ist.<br />

Bürgerbeteiligung: Struktur und Entwicklung<br />

Als politische Beteiligung bezeichnet man in Anlehnung an Kaase<br />

(1997: 167) alle freiwillig ausgeübten Aktivitäten, mittels derer Privatpersonen<br />

versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen<br />

zu nehmen oder direkt an diesen mitzuwirken. Seit dem Beginn<br />

der Demokratisierung der modernen Staaten hat die politische<br />

Beteiligung der Bürger zugenommen und an Vielfalt gewonnen.<br />

Zwar ist die Stimmabgabe bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen<br />

noch immer die am weitesten verbreitete Form aktiver<br />

politischer Teilnahme, daneben existieren jedoch zahlreiche weitere<br />

Beteiligungsmöglichkeiten, die sich in ihren strukturellen<br />

Eigenschaften und ihren Zielen voneinander unterscheiden und<br />

von der Bevölkerung unterschiedlich breit genutzt werden. Hierzu<br />

zählen Aktivitäten im Rahmen der Strukturen und Prozesse der<br />

repräsentativen Demokratie, wie die Mitarbeit in Parteien oder<br />

die Versuche, durch Politiker- oder Verwaltungskontakte politischen<br />

Einfluss auszuüben. Darüber hinausgehend, greift die Bevölkerung<br />

seit der Mitte der 1970er Jahre in allen modernen<br />

Gesell schaften zur Durchsetzung ihrer Ziele vermehrt auf Protestaktionen<br />

wie Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Verkehrsblockaden<br />

und Produktboykotte zurück. Schließlich wurden<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit D&E Heft 65 · 2013


in den letzten Jahrzehnten wurden in 100<br />

Deutschland und anderen Demokratien vermehrt<br />

Möglichkeiten geschaffen, durch<br />

Volksbegehren und -entscheide politischen<br />

Einfluss auszuüben. Zu guter Letzt nutzt eine<br />

80<br />

wachsende, wenn auch immer noch relativ<br />

kleine, Gruppe von Bürgern das Internet als<br />

Mittel der politischen Beteiligung (vgl. ausführlich<br />

dazu: Gabriel/Völkl 2005; Gabriel/<br />

Völkl 2008; van Deth 2009).<br />

60<br />

Auch wenn die Beteiligung an der Wahl der<br />

politischen Führung für die meisten Bürger<br />

die wichtigste Form politischer Einflussnahme<br />

geblieben ist, zeigt die empirische 40<br />

Forschung mit großer Deutlichkeit, dass die<br />

vielfältigen Möglichkeiten zum politischen<br />

Engagement von einer wachsenden Zahl von<br />

Bürgern genutzt werden. Zwar ist die Wahlbeteiligung<br />

in den letzten zwanzig Jahren in<br />

20<br />

Deutschland stärker gesunken als es die Daten<br />

in Abbildung 2 erkennen lassen, jedoch<br />

handelt es sich dabei eher um eine Ausnahme 0<br />

als um die Regel im politischen Engagement:<br />

Entweder ist das politische Engagement gestiegen<br />

– wie im Fall der legalen Protestaktionen<br />

– oder es ist zumindest stabil geblieben.<br />

Außer der Wahlbeteiligung hat sich in<br />

Deutschland keine andere Form der politischen<br />

Partizipation rückläufig entwickelt.<br />

Insgesamt ist somit die Inklusivität des politischen Systems gewachsen.<br />

Dies bestätigen auch weitere empirische Studien (Hinweise<br />

bei: Gabriel 2011: 24–29).<br />

Welche Gruppen betätigen sich politisch und<br />

welche bleiben inaktiv?<br />

Ungeachtet des relativ breiten bürgerschaftlichen Engagements<br />

beteiligt sich jeder zweite Deutsche nicht aktiv am gesellschaftlichen<br />

bzw. politischen Leben, jedenfalls soweit das Engagement<br />

über die Stimmabgabe bei Wahlen hinausgeht. Solange man<br />

nicht die unrealistische Erwartung hegt, dass alle Bürger jederzeit<br />

ihre Partizipationsrechte wahrnehmen, ist dieser Sachverhalt<br />

für sich genommen nicht problematisch. Er kann aber dann zu<br />

einer Herausforderung für die Demokratie werden, wenn sich die<br />

aktiven und die inaktiven Bevölkerungsgruppen systematisch in<br />

ihrer sozialen Herkunft und in ihren politischen Wünschen und<br />

Ideen voneinander unterscheiden. Wie die empirische Forschung<br />

vielfach belegte, sind ressourcenstarke, sozial gut integrierte<br />

Menschen politisch aktiver als Personen, denen diese Merkmale<br />

fehlen (Burstein 1972; Marsh/Kaase1979; Nie/Powell/Prewitt 1969;<br />

Verba 2003; Verba/Nie/Kim 1978; Verba/Schlozman/Brady 1995).<br />

Dies stellt eine Herausforderung an ein demokratisches Regime<br />

dar, weil die politisch aktiven Teile der Öffentlichkeit die politische<br />

Führung möglicherweise mit Forderungen konfrontieren,<br />

die sich von denen der inaktiven Bevölkerung unterscheiden. Unter<br />

diesen Bedingungen kann die ungleiche Wahrnehmung von<br />

Partizipationsrechten in Konflikt mit den Forderungen nach politischer<br />

Gleichheit und nach einem gegenüber allen Gruppen verantwortlichen<br />

Handeln der politischen Führung geraten.<br />

Bevor man dieser Frage im Einzelnen nachgeht, ist es sinnvoll, die<br />

für das politische Engagement maßgeblichen sozialen Merkmale<br />

zu bestimmen, die dazu führen können, dass die politische Führung<br />

durch die Beschäftigung mit den von den Aktivisten artikulierten<br />

Forderungen einseitige oder verzerrte Informationen über<br />

die in einer Gesellschaft vorherrschenden Bedürfnisse und Probleme<br />

erhält.<br />

1988 1998 2008<br />

Wählen<br />

Petition/<br />

Unterschrift<br />

An Diskussion<br />

teilnehmen<br />

Angemeldete<br />

Demonstration<br />

In Bürgerinitiative<br />

mitarbeiten<br />

In einer Partei<br />

mitarbeiten<br />

Nicht angemeldete<br />

Demonstration<br />

Abb. 2 Die Entwicklung ausgewählter Formen politischer Beteiligung in Deutschland, 1988–2008<br />

(Angaben: Prozentanteile).<br />

© Oscar W. Gabriel, Quelle: Allbus, eigene Auswertung. 1988 wurden nur in<br />

West<strong>deutschland</strong> Daten erhoben, für 1998 und 2008 sind die Daten für Ost- und<br />

West<strong>deutschland</strong> entsprechend Bevölkerungsverteilung repräsentativ gewichtet.<br />

Sozioökonomischer Status und Partizipation<br />

An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die sozioökonomische<br />

Stellung von Individuen zu nennen, die sich aus ihrem Bildungsniveau,<br />

ihrem Einkommen, der Art ihrer Berufstätigkeit und ihrer<br />

subjektiven Schichteinstufung ergibt. Die empirische Politikwissenschaft<br />

interessiert sich seit ihren Anfängen für die politische<br />

Bedeutung der soziökonomischen Schichtung und konnte zeigen,<br />

dass die gesellschaftliche Stellung von Individuen ihr politisches<br />

Verhalten und damit das politische Leben in modernen Gesellschaften<br />

in vielfältiger Weise prägt. In der Sozialstruktur angelegte<br />

Interessen und Wertvorstellungen führten in der Mitte des<br />

19. Jahrhunderts zur Bildung politischer Parteien, die sich der Vertretung<br />

der politischen Interessen bestimmter sozioökonomischer<br />

Gruppen widmeten und bei diesen bis zum heutigen Tage<br />

überdurchschnittlich starke Unterstützung finden (Lipset/Rokkan<br />

1967; neuere empirische Daten hierzu bei Elff/Roßteutscher<br />

2009). Auch das aktive politische Engagement der Menschen<br />

hängt stark von ihrer sozio-ökonomischen Position ab. Wie<br />

Schattschneider schon vor einem halben Jahrhundert anmerkte,<br />

singt der Chor im Himmel der pluralistischen Demokratien mit<br />

einem starken Oberschichtakzent (Schattschneider 1960).<br />

Unter den sozioökonomischen Charakteristika wird dem Bildungsniveau<br />

traditionell eine besonders wichtige Rolle als Antriebskraft<br />

politischen Engagements zugeschrieben. Im Laufe<br />

ihrer Bildungskarriere erwerben die Menschen diejenigen Wissensbestände,<br />

Kompetenzen, Wertorientierungen und Einstellungen,<br />

die sie zu einem sozialen und politischen Engagement<br />

befähigen oder motivieren. Zugleich öffnet eine qualifizierte Bildung<br />

den Zugang zu sozialen Netzwerken, was ebenfalls das politische<br />

Engagement erleichtert. Aus diesen Gründen erwies sich<br />

das Bildungsniveau in zahlreichen Studien als der wichtigste Bestimmungsfaktor<br />

der politischen Beteiligung. Je höher ihr formales<br />

Bildungsniveau ist, desto stärker engagieren sich Bürger in<br />

der Politik.<br />

Diese Annahme bestätigt sich auch für Deutschland. Wie | Abb. 3 |<br />

zeigt, steigt die Beteiligung an sämtlichen hier untersuchten politischen<br />

Aktivitäten mit dem formalen Bildungsabschluss. Allerdings<br />

stellt sich dieser Zusammenhang bei einzelnen Arten der<br />

Beteiligung unterschiedlich dar. Am schwächsten beeinflusst das<br />

21<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit


22<br />

OSCAR W. GABRIEL<br />

Bildungsniveau die Stimmabgabe bei Wahlen.<br />

Die Beteiligung an dieser Aktivität fällt<br />

bei Personen ohne abgeschlossene Schulbildung<br />

mit 67 Prozent wesentlich geringer aus<br />

als in den übrigen Bildungsgruppen. Diese<br />

unterscheiden sich im Niveau der Wahlbeteiligung<br />

aber kaum voneinander. Selbst Personen<br />

mit Hochschulreife beteiligen sich nur<br />

geringfügig stärker an Wahlen als die anderen<br />

Gruppen mit einer abgeschlossenen,<br />

aber weniger qualifizierten Schulbildung. In<br />

allen diesen Gruppen liegt die berichtete<br />

Wahlbeteiligung über 80 Prozent.<br />

Einen wesentlich größeren Unterschied<br />

macht das Bildungsniveau für die übrigen Arten<br />

politischer Beteiligung. In den für repräsentative<br />

Demokratien typischen Formen<br />

engagieren sich nur 13 Prozent der Befragten<br />

ohne Schulabschluss, aber fast jeder zweite<br />

Bürger mit Hochschulreife (44 %). Noch stärker<br />

wirkt sich das Bildungsniveau auf die Beteiligung<br />

an Protestaktivitäten aus. Nicht<br />

einmal jeder vierte Befragte ohne Schulabschluss<br />

(23 %) nimmt an Protestaktionen teil,<br />

dies tun aber fast drei Viertel der Bürger mit<br />

Hochschulreife (73 %). Für die meisten Personen<br />

mit mittleren oder höheren Bildungsabschlüssen<br />

sind Protestaktivitäten ein typisches<br />

Mittel zur politischen Einflussnahme. Dagegen setzt nur<br />

eine Minderheit der Befragten mit niedrigem Bildungsniveau auf<br />

diese Aktionen. Online-Proteste konnten sich in keiner Bildungsschicht<br />

als bedeutsame Beteiligungsform etablieren, aber auch<br />

hier gilt: Anders als bei den gut gebildeten gesellschaftlichen<br />

Gruppen spielen sie für Personen mit einem niedrigen formalen<br />

Bildungsniveau praktisch keine Rolle.<br />

Neben dem Bildungsniveau gelten die Merkmale Einkommen,<br />

subjektiv wahrgenommene Schichtzugehörigkeit und berufliche<br />

Stellung als weitere Indikatoren des sozialen Status von Individuen.<br />

Ihre Bedeutung für das politische Engagement wurde in<br />

zahlreichen Studien empirisch belegt und zeigt sich auch in unseren<br />

Daten (Vgl. | Abb. 4 |). Angehörige Akademischer Freier Berufe<br />

und Beamte, Personen die sich selbst der oberen Mittelschicht<br />

oder der Oberschicht zurechnen und die Bezieher hoher Einkommen<br />

weisen das höchste Niveau politischer Beteiligung auf, und<br />

zwar unabhängig von der gewählten Form des Engagements. Dagegen<br />

sind Personen ohne Beruf, Arbeiter, Unterschichtangehörige<br />

und die Bezieher kleiner Einkommen am wenigsten aktiv bei<br />

der Artikulation und Durchsetzung ihrer politischen Forderungen.<br />

Um dies an einigen Beispielen zu illustrieren: Während nur<br />

knapp 80 Prozent der Arbeiter angaben, sich an Bundestagswahlen<br />

zu beteiligen, waren dies bei den Angehörigen der Freien Berufe<br />

über 95 Prozent. Über Aktivitäten im Rahmen der repräsentativ-demokratischen<br />

Strukturen berichtete jeder vierte Befragte,<br />

der keinem Beruf nachgeht, aber fast zwei von drei Angehörigen<br />

der Freien Berufe. Im Vergleich mit Arbeitern haben sich nach eigenen<br />

Angaben doppelt so viele Beamte und Freiberufler an Protestaktivitäten<br />

beteiligt. Bei den Onlineprotesten beträgt die<br />

Relation zwischen der inaktivsten (ohne Beruf) und der aktivsten<br />

Gruppe (Freiberufler) sogar eins zu sechs. Ähnliche Strukturen<br />

zeigen sich beim Vergleich der Einkommensgruppen und der subjektiven<br />

Schichtkategorien. Auch wenn alle diese Faktoren eine<br />

wichtige Rolle für die Entscheidung von Individuen spielen, politisch<br />

aktiv zu werden oder passiv zu bleiben, ist keine dieser Größen<br />

für sich betrachtet für das politische Engagement so bedeutsam<br />

wie der formale Bildungsabschluss. Insofern hat die in<br />

Deutschland häufig kritisierte soziale Schieflage im Bildungssystem<br />

eine unmittelbare Konsequenz für den Zugang bildungsferner<br />

Schichten zum politischen System. Angehörige dieser Gruppen<br />

nutzen weniger als andere ihre Chance, sich im politischen<br />

Anteil Aktiver<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

ohne Abschluss<br />

Volks-/Hauptschule<br />

Mittlere Reife<br />

Bildungsabschluss<br />

Fachhochschulreife<br />

Leben Gehör zu verschaffen. Das Zusammenwirken von Einkommenssituation,<br />

Berufstätigkeit und Bildungsniveau verschärft die<br />

ungleiche Wahrnehmung der Beteiligungschancen durch einzelne<br />

gesellschaftliche Gruppen.<br />

Der Gender-Aspekt<br />

Hochschulreife<br />

Wahlbeteiligung<br />

Traditionell<br />

Protest<br />

Online<br />

Abb. 3 Bildungsabschluss und politische Beteiligung in Deutschland, 2008.<br />

© Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008<br />

Neben der sozioökonomischen Stellung von Individuen gehört<br />

die Geschlechtszugehörigkeit zu den besonders häufig untersuchten,<br />

seit einige Jahren politisch am stärksten diskutierten<br />

Bestimmungsfaktoren politischer Beteiligung. Der in den 1960er<br />

Jahren in den modernen Gesellschaften einsetzende Wertewan-<br />

Wahlbeteiligung<br />

Traditionell<br />

Protest<br />

Online<br />

Ohne Beruf 83,8 24,9 45,9 5,0<br />

Arbeiter 78,9 27,5 37,5 5,8<br />

Selbständige/Landwirte 85,9 39,0 57,0 7,9<br />

Angestellte 87,9 40,3 66,9 13,1<br />

Beamte 93,6 59,5 81,7 17,6<br />

Akad. Freie Berufe 95,5 62,2 80,0 31,1<br />

Ungleichheit min–max 1,21 2,50 2,18 6,22<br />

Unterschicht 68,4 22,0 41,4 6,8<br />

Arbeiterschicht 80,1 21,5 38,8 5,1<br />

Mittelschicht 87,5 35,5 57,5 9,0<br />

Obere Mittelschicht/OS 90,5 46,5 73,3 15,1<br />

Ungleichheit min–max 1,32 2,16 1,89 2,96<br />

Erstes Einkommensviertel 79,7 22,6 45,6 6,4<br />

Zweites Einkommensviertel 83,7 24,0 49,2 7,5<br />

Drittes Einkommensviertel 88,9 35,8 54,3 8,2<br />

Viertes Einkommensviertel 88,0 49,8 64,9 13,0<br />

Ungleichheit min–max 1,10 2,20 1,42 2,03<br />

Ungleichheit Bildung min–max 1,32 3,42 3,21 13,07<br />

Abb. 4 Sozioökonomische Merkmale und politische Beteiligung in Deutschland,<br />

2008 (Angaben: Prozentanteile).<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


del stellte die traditionelle Rollenverteilung<br />

100<br />

zwischen Männern und Frauen in Frage, nach<br />

der das öffentliche Engagement als Aufgabe<br />

83,1<br />

von Männern und die Regelung privater Angelegenheiten,<br />

insbesondere in der Familie<br />

80<br />

und bei der Kindererziehung, als Domäne der<br />

Frauen galt. Der verbesserte Zugang von<br />

60<br />

Mädchen zu Einrichtungen der tertiären Bildung<br />

(Gymnasium und Hochschulen) sowie<br />

die zunehmende Integration von Frauen ins<br />

Berufsleben verstärkten die mit dem Wertewandel<br />

verbundene Angleichung der Ge-<br />

40<br />

schlechterrollen. Daraus ergibt sich die Erwartung,<br />

dass sich insbesondere junge, gut<br />

20<br />

gebildete und berufstätige Frauen in ihrem<br />

politischen Engagement kaum noch von den<br />

Männern unterscheiden.<br />

0<br />

Wie | Abb. 5 | zeigt, hängt der Einfluss der<br />

Geschlechtszugehörigkeit auf das politische<br />

Engagement von der Beteiligungsform ab.<br />

Bei bei der Wahlbeteiligung und der Mitwirkung<br />

an Protestaktionen hat sich das politische<br />

Verhalten der Frauen dem der Männer<br />

angeglichen. Anders verhält es sich bei den<br />

traditionellen, repräsentativ-demokratischen Beteiligungsformen<br />

und der Teilnahme an Online-Protestaktionen. In diesen beiden<br />

Bereichen betätigen sich Männer nach wie vor stärker als Frauen.<br />

Dies ist insofern ein interessantes Ergebnis, als sich Muster von<br />

Geschlechterungleichheit sowohl bei einer traditionellen als auch<br />

bei einer modernen Beteiligungsform erkennen lassen. Moderne<br />

Partizipationsformen führen demnach nicht unbedingt zu mehr<br />

Gendergleichheit. Allerdings unterliegen die traditionellen, repräsentativ-demokratischen<br />

Aktivitäten wesentlich stärker dem<br />

Einfluss von Genderrollen als die Teilnahme an Online Protesten.<br />

Lebensalter<br />

Anteil Aktiver<br />

85,9<br />

37,0<br />

25,7<br />

52,4 51,6<br />

Wahlbeteiligung Traditionell Protest Online<br />

Beteiligungsform und Geschlecht<br />

10,3<br />

Mann<br />

Frau<br />

Abb. 5 Genderrolle und politische Beteiligung in Deutschland © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008<br />

Anteil Aktiver<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Mit dem demografischen Wandel ist ein Sozialstrukturmerkmal<br />

noch stärker als früher in den Fokus der Partizipationsforschung<br />

gerückt, nämlich das Lebensalter. Ein Einfluss des Alters auf die<br />

politische Beteiligung lässt sich aus zwei theoretischen Perspektiven<br />

heraus begründen. Nach dem Generationenansatz erhalten<br />

Menschen durch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen,<br />

unter denen sich ihre politischen<br />

Wertorientierungen und Einstellungen<br />

herausbilden, Anreize zur politischen Beteiligung<br />

oder diese wird ihnen erschwert. Dem<br />

entsprechend unterstellt der Generationenansatz<br />

bei den ausschließlich in der Bundesrepublik<br />

sozialisierten Altersgruppen ein<br />

stärkeres politisches Engagement als bei<br />

Personen, die ihre politische Sozialisation in<br />

den autoritären Regimen der Vorkriegszeit<br />

durchliefen. Ost<strong>deutschland</strong> nimmt in dieser<br />

Hinsicht eine besondere Position ein. Einerseits<br />

herrschten in diesem Teil des Landes bis<br />

zum Zusammenbruch des SED-Regimes autoritäre<br />

politische Verhältnisse, auf der anderen<br />

Seite enthielt das zu DDR-Zeiten propagierte<br />

Leitbild des sozialistischen Bürgers<br />

eine partizipative Komponente.<br />

Der zweite zur Interpretation der Bedeutung<br />

des Lebensalters für die politische Beteiligung<br />

herangezogene Ansatz, das Lebenszykluskonzept,<br />

bindet die Beteiligungsanreize<br />

an den von den Menschen typischerweise<br />

durchlaufenen Lebenszyklus. Demnach sind<br />

Menschen in der Mitte ihres Lebens besonders<br />

aktiv, weil ihre privaten Lebensumstände dies möglich und<br />

erforderlich machen. Sie haben sich in dieser Lebensphase ihre<br />

berufliche und familiale Existenz geschaffen, sodass Raum für<br />

politisches Engagement bleibt. Auf der anderen Seite sind sie als<br />

Arbeitnehmer und Steuerzahler, Eltern von Kindern in der Ausbildungsphase<br />

und Nutzer der öffentlichen Infrastruktur besonders<br />

stark von politischen Entscheidungen betroffen und beziehen<br />

von daher überdurchschnittlich starke Partizipationsanreize.<br />

Jenseits dieser traditionellen Erklärungsansätze haben altersspezifische<br />

Muster politischer Beteiligung eine zusätzliche Bedeutung<br />

durch die Alterung der deutschen Gesellschaft gewonnen.<br />

Dieser Prozess löste eine Diskussion über die Generationengerechtigkeit<br />

und die Anpassung der Infrastruktur an die Bedingungen<br />

des demographischen Wandels aus. Die sinkenden Geburtenraten<br />

und die steigende Lebenserwartung bewirken eine<br />

Zunahme des Anteils älterer Menschen, die ihre spezifischen Forderungen<br />

an die Politik richten und diese durchzusetzen versuchen.<br />

Die bessere gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung<br />

führt zudem zu einem längeren Erhalt der Gesundheit, was wiederum<br />

soziale Integration und politische Aktivität ermöglicht und<br />

fördert. Ältere Menschen sind heute wesentlich besser als in frü-<br />

6,3<br />

18–29 J. 30–44 J. 45–59 J. 60–74 J. 75 u.ä.<br />

Alter<br />

Wahlbeteiligung<br />

Traditionell<br />

Protest<br />

Online<br />

Abb. 6 Lebensalter und politische Beteiligung in Deutschland, 2008.<br />

© Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008<br />

23<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit


24<br />

OSCAR W. GABRIEL<br />

heren Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

dazu in der Lage, eine aktive Rolle<br />

im gesellschaftlichen und politischen Leben<br />

zu spielen.<br />

In | Abb. 6 | zeigen sich sowohl generationsspezifische<br />

und lebenszyklische Einflüsse auf<br />

das politische Engagement der Bundesbürger.<br />

Anders als früher steigt die Wahlbeteiligung<br />

mit dem Lebensalter. Möglicherweise<br />

haben ältere Menschen die Vorstellung, die<br />

Stimmabgabe gehöre zu den staatsbürgerlichen<br />

Pflichten, stärker verinnerlicht als jüngere<br />

und neigen deshalb stärker dazu, diese<br />

Pflicht zu erfüllen. Auf der anderen Seite haben<br />

sich in den letzten Jahrzehnten die Beteiligungsmöglichkeiten<br />

stark ausdiffe renziert.<br />

Anders als ältere Menschen, für die aktives<br />

politisches Engagement lange Zeit gleichbedeutend<br />

mit der Stimmabgabe bei Wahlen<br />

war, verfügen jüngere Personen über Erfahrungen<br />

mit dem breiten Beteiligungsangebot<br />

moderner Demokratien. Sie kennen es<br />

besser als ältere und sind eher dazu bereit<br />

und in der Lage, es zu nutzen. Auf Grund der<br />

vorhandenen Alternativen büßen Wahlen für jüngere ihre exponierte<br />

Stellung im Beteiligungssystem ein und werden von jüngeren<br />

weniger genutzt. Das Gegenstück hierzu bildet die Beteiligung<br />

an Onlineprotesten. Diese Verhaltensform ist in der<br />

jüngsten Altersgruppe relativ weit verbreitet, tritt bei den 45- bis<br />

59-Jährigen relativ selten auf und kommt bei den über 60-Jährigen<br />

praktisch nicht mehr vor. Dies reflektiert die unterschiedlichen<br />

Gewohnheiten der verschiedenen Altersgruppen bei der Informationsbeschaffung<br />

und Kommunikation. Je stärker das<br />

Internet generell zu diesen Zwecken genutzt wird, desto wahrscheinlicher<br />

ist sein Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele.<br />

Einem lebenszyklischen Muster folgt dagegen die Beteiligung an<br />

traditionellen, in die Strukturen der repräsentativen Demokratie<br />

eingebetteten Aktivitäten. Aus den genannten Gründen sind<br />

diese Aktivitäten in den mittleren Altersgruppen besonders weit<br />

verbreitet. Im Vergleich damit sind junge Menschen noch nicht so<br />

gut in die politische Gemeinschaft integriert und politisch inaktiver,<br />

während die politische Integration und Aktivität bei Menschen<br />

über 75 Jahren nachlässt. Andererseits verdeutlicht das<br />

politische Verhalten der zweitältesten Gruppe (60 bis 74 Jahre)<br />

den Wandel der Altersrolle in der deutschen Gesellschaft, denn<br />

sie weist das gleiche Aktivitätsniveau auf wie Personen in der<br />

Alters gruppe von 30 bis 44 Jahren. Dies unterstreicht auch die Beteiligung<br />

an Protestaktivitäten. Sie ist in vier der fünf Altersgruppen<br />

annähernd gleich weit verbreitet. Erst mit dem Erreichen<br />

des 75. Lebensjahres geht diese Form des Engagements stark<br />

zurück, liegt aber immer noch leicht über dem Niveau der traditionellen<br />

politischen Aktivitäten. Neben der Genderrolle haben<br />

sich auch die mit dem Lebensalter verbun denen politischen<br />

R ollen stark verändert. Der Rückgang des politischen Engagements<br />

scheint sich in die Phase der Hochaltrigkeit verschoben zu<br />

haben.<br />

Migration<br />

Neben dem demografischen Wandel hat die internationale Migration<br />

die Struktur der deutschen Gesellschaft stark verändert.<br />

Mittlerweile weist nahe jeder fünfte Einwohner Deutschlands einen<br />

Migrationshintergrund auf. Dies wirft die Frage auf, wie gut<br />

diese große Bevölkerungsgruppe ins politische Leben integriert<br />

ist. Da insbesondere eingebürgerte Zuwanderer und EU-Ausländer<br />

über die gleichen oder nahezu die gleichen Beteiligungsrechte<br />

verfügen wie deutsche Staatsangehörige sind einem großen<br />

Teil der Zuwanderer die meisten Beteiligungsmöglichkeiten<br />

Anteil Aktiver<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

87,5<br />

68,5<br />

34,4<br />

16,3<br />

56,6<br />

29,8<br />

Wahlbeteiligung Traditionell Protest Online<br />

Migrationshintergrund und Beteiligung<br />

rechtlich zugänglich. Das bedeutet aber nicht, dass sie von diesen<br />

tatsächlich Gebrauch machen.<br />

Die rechtliche Gleichstellung der Migranten mit den Deutschen<br />

ist für ihr Beteiligungsverhalten weitgehend unerheblich. Bei der<br />

Stimmabgabe bei Wahlen, die als einzige Beteiligungsform mit<br />

dem Staatsbürgerstatus verknüpft ist, besteht zwischen<br />

Migranten und Einheimischen keine größere Lücke als bei anderen<br />

Beteiligungsformen, die allen Einwohnern offen stehen. Unabhängig<br />

von der Partizipationsform liegt das Niveau der politischen<br />

Aktivität bei den Migranten um etwa zwanzig Prozentpunkte<br />

niedriger als bei den Einheimischen. Ob es sich dabei um verfasste<br />

oder nicht verfasste, mit dem Staatsbürgerstatus verknüpfte<br />

oder von ihm unabhängige Beteiligungsformen handelt,<br />

spielt keine Rolle. Nur bei den Onlineprotesten unterscheiden<br />

sich Einheimische und Migranten weniger voneinander. Dies lässt<br />

sich in erster Linie auf die Charakteristika der Onliner zurückführen.<br />

Wenn Personen jung und formal gut gebildet sind, dann nutzen<br />

sie unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit überdurchschnittlich<br />

stark das Internet, offenbar auch zu politischen<br />

Zwecken. Nach dem Bildungsniveau ist der Migrationshintergrund<br />

der wichtigste Faktor für die Entscheidung darüber, eine<br />

aktive politische Rolle zu übernehmen oder passiv zu bleiben.<br />

Zusammenfassung und Folgerungen<br />

Kein Zuwanderer<br />

Zuwanderer<br />

Abb. 7 Migrationshintergrund und politische Beteiligung in Deutschland, 2008<br />

© Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008<br />

Wie in anderen Demokratien beeinflusst die soziale Herkunft in<br />

Deutschland die politische Aktivität von Menschen. Nach den Ergebnissen<br />

zahlreicher empirischer Studien beteiligen sich formal<br />

gut gebildete, einkommensstarke, in Berufen mit einer selbstbestimmten<br />

Arbeit tätige Personen sowie im Inland Geborene stärker<br />

am politischen und gesellschaftlichen Leben als Angehörige<br />

der unteren Einkommens- und Bildungsschichten, abhängig Beschäftigte<br />

und Personen mit Migrationshintergrund. Keine große<br />

Rolle für die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten spielen dagegen<br />

die Geschlechtszugehörigkeit und die damit verbundenen<br />

Rollenerwartungen. Die meisten Zusammenhänge zwischen der<br />

sozialen Herkunft und dem politischen Verhalten sind nicht sehr<br />

stark ausgeprägt, gleichwohl sind sie erkennbar und konfrontieren<br />

die Wissenschaft und die politische Praxis mit der Frage, ob<br />

sich die sozialen Charakteristika der Aktiven und der Inaktiven in<br />

den öffentlich artikulierten Präferenzen der Bürger und in der<br />

Aufnahme der artikulierten Forderungen durch die politischen<br />

Entscheidungsträger niederschlagen. Da diese Frage bislang empirisch<br />

noch nicht hinlänglich breit und detailliert untersucht ist,<br />

8,8<br />

5,5<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


sollte man aus den Zusammenhängen zwischen der sozialen Herkunft<br />

von Individuen und ihrer Beteiligung an der Politik keine<br />

voreiligen Folgerungen in Bezug auf die Offenheit des politischen<br />

Systems für gruppenspezifische Interessen und Wertvorstellungen<br />

ableiten. Eines der wichtigsten Argumente für repräsentative<br />

Demokratien besteht ja gerade darin, dass repräsentative Institutionen<br />

nicht als Durchlauferhitzer für Gruppeninteressen funktionieren,<br />

sondern sich um einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen<br />

verschiedener Gruppen bemühen. Auch wenn dieser nicht<br />

immer gelingt, sind die repräsentativen Verfahren auf das Erreichen<br />

dieses Zieles ausgerichtet.<br />

Doch unabhängig vom Problem der Interessenberücksichtigung<br />

und der politischen Responsivität stellt der Einfluss der gesellschaftlichen<br />

Stellung und Rolle von Individuen eine Herausforderung<br />

des Ideals politischer Gleichheit dar. Zudem beeinträchtigen<br />

diese Strukturen möglicherweise die Repräsentationsleistung<br />

politischer Institutionen, um die es am besten bestellt sein dürfte,<br />

wenn alle sozialen Gruppen gleichermaßen versuchen, ihren Forderungen<br />

Gehör zu verschaffen. Insofern stellt eine Ausweitung<br />

der Beteiligungsmöglichkeiten nur eine unbefriedigende Lösung<br />

des Problems dar, wenn sie vornehmlich dazu führt, dass die ohnehin<br />

Aktiven zusätzliche Einflussmöglichkeiten erhalten, sich für<br />

die Inaktiven aber nichts ändert. Partizipative Reformen müssen<br />

der Mobilisierung der politikfernen Gruppen mehr Aufmerksamkeit<br />

widmen und diese über niedrigschwellige Beteiligungsangebote<br />

in lebensnahen Bereichen an den politischen Prozess heranführen.<br />

Nur unter dieser Bedingung bedeutet mehr Partizipation<br />

mehr Gleichheit.<br />

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University Press.<br />

25<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

5. Die europäische Bürgerinitiative und<br />

die Möglichkeiten und Grenzen der<br />

Bürgerbeteiligung in der EU<br />

FRANZ THEDIECK<br />

26<br />

Alle Gewalt geht vom Volke aus.« Das<br />

Grundgesetz formuliert in Art. 20<br />

Abs. 2 das Prinzip der Volkssouveränität<br />

anschaulich, nämlich wie man Demokratie,<br />

das griechische Lehnwort für Volksherrschaft,<br />

begreifen kann. Das Volk ist danach<br />

alleiniger Träger der Staatsgewalt, nur das<br />

Volk kann legitimerweise Macht auf die<br />

Staatsorgane übertragen (BVerfGE 89, 155,<br />

171ff.). Die politische Willensbildung soll<br />

sich von unten nach oben vollziehen (Alfred<br />

KATZ, Staatsrecht, 18. Aufl. Heidelberg 2012, Rdn.<br />

139). Manchem Kommentator der Verfassung<br />

ist dieses Bild zu anschaulich, der daraus<br />

abzuleitende demokratische Anspruch<br />

für die Bürger zu weitgehend,<br />

sodass er die Formulierung in den Bereich<br />

der Fiktion verweist oder doch die Herrschaft<br />

des Volkes als lediglich indirekt oder<br />

mittelbar darstellt. Die damit verbundene<br />

Verkürzung des Prinzips der Volkssouveränität<br />

besitzt im Grundgesetztext selbst<br />

keine Grundlage, sie wird »aus der Natur<br />

der Sache« abgeleitet. Aber das Grundgesetz<br />

wiederholt nur die klassische Formulierung aus der französischen<br />

Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von<br />

1789, die indes ernsthaft gemeint war: Das Volk sollte anstelle<br />

des Königs herrschen. Und diesen Prinzipien weiß sich auch<br />

die Europäische Union verpflichtet.<br />

Wer die Frage nach dem Inhalt der Demokratie an einen Mitbürger<br />

stellt, wird regelmäßig eine Antwort erhalten, die uns fast<br />

selbstverständlich vorkommt: Demokratie bedeutet die Abhaltung<br />

von freien Wahlen, so wie es der zweite Satz in Art. 20 Abs. 2<br />

Grundgesetz auszudrücken scheint: »Sie (die Demokratie) wird<br />

vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe<br />

… ausgeübt«. Der Wortlaut lässt keinen Zweifel daran, dass<br />

Instrumente zur Ausübung der Volkssouveränität, Wahlen und<br />

Abstimmungen, gleichgewichtig neben einander gestellt sind.<br />

Dennoch wird aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes<br />

abgeleitet, dass Abstimmungen nur dann zulässig seien, wenn<br />

sie ausdrücklich vom Grundgesetz zugelassen sind (A. KATZ,<br />

Staatsrecht, Rdn. 145). Diese Interpretation ist keineswegs zwingend,<br />

noch viel weniger überzeugt seine Begründung, die<br />

schlechten Erfahrungen während der Weimarer Republik hätten<br />

den Verfassungsgeber zu einer restriktiven Linie in Bezug auf direktdemokratische<br />

Elemente veranlasst. Entgegen dieser gebetsmühlenartig<br />

wiederholten Behauptung und ohne hier eine profunde<br />

historische Untersuchung zu versuchen, beruht die<br />

nationalsozialistische Machtergreifung weder auf einer Wahlentscheidung<br />

der Bürger, noch auf einer Abstimmung zugunsten der<br />

Nazis, sondern auf einer grundlegenden Fehlentscheidung des<br />

greisen Reichspräsidenten Hindenburg, der Adolf Hitler mittels<br />

seiner nichtdemokratischen Sondervollmacht nach Art. 48 der<br />

Weimarer Reichsverfassung mit der Kanzlerschaft betraut hat. Es<br />

kann also keine Rede davon sein, dass die Weimarer Demokratie<br />

durch direktdemokratische Elemente zerstört worden sei, diese<br />

Abb. 1 »Sollten wir vielleicht den da hinten mal befragen? « © Klaus Stuttmann, 26.6.2012<br />

Behauptung fällt in den Bereich der geschichtlichen Legendenbildung.<br />

Die während der Nazidiktatur mehrfach angewendeten<br />

Fälle von Volksbefragungen fanden unter völlig irregulären Bedingungen<br />

statt und können nicht als Gegenargument gegen Formen<br />

unmittelbarer Demokratie gelten. Leider leben wir in<br />

Deutschland mit diesem Mythos, der zu Unrecht die unmittelbare<br />

Demokratie klein macht.<br />

Das Demokratiedefizit der EU<br />

Wenn die regelmäßige Abhaltung von freien Wahlen dem demokratischen<br />

Anspruch der Bürger genügen würde, wäre an der politischen<br />

Organisation der Europäischen Union gar nichts auszusetzen,<br />

demokratischer Anspruch und Wirklichkeit würden<br />

identisch zusammenfallen. Mit einer solchen Meinung stände<br />

man aber allein unter den Fachleuten aus Juristen, Politologen<br />

und Europawissenschaftlern und würde nicht ernst genommen.<br />

Zu tief hat sich die Diagnose des Demokratiedefizits in der EU in<br />

unser Bewusstsein eingeprägt. Das Urteil Gerald HÄFNERs, Abgeordneter<br />

im Europäischen Parlament und »Vater« der EU-Bürgerinitiative,<br />

wird deshalb allgemein geteilt: »Die Aufgabe, die EU zu<br />

einer Union der Bürger zu machen, ist noch unerfüllt. Wir haben<br />

bis heute noch keine ausreichenden demokratischen Organe und<br />

Verfahren entwickelt.« (In einem Vortrag am 21.04. 2010 im Kehler Forum<br />

Zukunftsfragen, bestätigt am 10.01. 2013)<br />

Dieses Urteil wird von Martin SCHULZ, dem Präsidenten des EU<br />

Parlaments geteilt, der die Machtkonzentration beim Ministerrat<br />

und das Fehlen einer parlamentarischen Kontrolle seiner Mitglieder<br />

beklagt (Interview mit Martin SCHULZ, Contre la Dé-Démocratisation<br />

de l’UE, in: Paris, Berlin – Magazin für Europa, November 2012, S. 14f.).<br />

Die Defizite der Europäischen Demokratie beginnen bereits mit<br />

dem geltenden Wahlsystem zum Europäischen Parlament. Jedes<br />

Die europäische Bürgerinitiative D&E Heft 65 · 2013


Mitgliedsland besitzt sein eigenes Wahlgesetz<br />

mit unterschiedlichen Regelungen, wodurch<br />

das Prinzip der Wahlgleichheit verletzt<br />

wird. Aber auch das Gewicht einer Stimme,<br />

die der EU-Bürger in den einzelnen Mitgliedsländern<br />

bei der Europawahl abgibt, ist höchst<br />

ungleichgewichtig. Ursache hierfür ist die<br />

zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte<br />

Sitzverteilung im Europäischen Parlament.<br />

Im Ergebnis wird dadurch in Malta jede einzelne<br />

Stimme zur Europawahl zwölfmal höher<br />

bewertet als es in Deutschland der Fall ist:<br />

Der Repräsentant der maltesischen Bürger<br />

vertritt 67.000 Europäer, sein deutscher Kollege<br />

dagegen 854.000 EU-Bürger. (Melanie<br />

PIEPENSCHNEIDER: Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren,<br />

in: Informationen zur politischen<br />

Bildung (Heft 279), bpb, 2005, S. 23.) Beschönigend<br />

spricht man von dem »Prinzip<br />

fallender Proportionalität«, in Wahrheit handelt<br />

es sich um eine eklatante Verletzung des<br />

Gleichheitsprinzips.<br />

Die Tatsache, dass jedem in Deutschland gewählten<br />

EU-Abgeordneten mehr als 800.000 repräsentierte Bürger<br />

gegenüber stehen, impliziert die Frage nach seiner Überforderung.<br />

Zieht man einen Vergleich mit dem Bundestag, dann wird<br />

dem Europäischen Abgeordneten bei der Repräsentation des<br />

Wahlvolks eine um den Faktor 8-mal so intensive Aufgabe abverlangt.<br />

Natürlich verlangt die Arbeitsfähigkeit der Parlamente,<br />

dass die Anzahl der Abgeordneten nicht beliebig ausgeweitet<br />

werden kann. Würde man denselben Maßstab wie beim Deutschen<br />

Bundestag anlegen, dass ein Abgeordneter also etwa<br />

100.000 Bürger repräsentiert, so müsste das EU-Parlament auf<br />

etwa 4.000 Abgeordnete aufgebläht werden, was sicherlich auch<br />

keine gute Lösung wäre. Aber die Idee demokratischer Repräsentation<br />

wird bezüglich der deutschen EU-Abgeordneten ad absurdum<br />

geführt.<br />

Weitere demokratiekritische Argumente richten sich gegen die<br />

etatistische Konstruktion der Unionsorgane, welche die Macht<br />

beim Ministerrat bzw. beim Europäischen Rat und bei der Kommission<br />

konzentriert. Der Ministerrat besteht aus den Mitgliedern<br />

der jeweiligen nationalen Regierungen, der Europäische Rat<br />

aus den Staatschefs der Mitgliedsländer; diese Organe treffen die<br />

politischen Entscheidungen, die Kommission bereitet sie vor und<br />

bringt die Gesetzesinitiativen ein, wodurch sich die Gewaltenbalance<br />

zur Exekutive verschoben hat. Das EU-Parlament, als einziges<br />

Organ durch direkte Wahl legitimiert, besitzt nicht einmal die<br />

Kompetenz, Gesetzesinitiativen einzubringen, es ist im Vergleich<br />

mit den nationalen Parlamenten schwächer entwickelt. Wenn<br />

auch durch den Ausbau des Mitentscheidungsverfahrens und die<br />

Einbeziehung des Agrarhaushalts in das parlamentarische Budgetrecht<br />

eine spürbare Verbesserung eingetreten ist, so ist doch<br />

mit dem Bundesverfassungsgericht weiterhin von einer unzureichenden<br />

Repräsentation des Volkswillens auf europäischer Ebene<br />

auszugehen.<br />

Ein weiterer Kritikpunkt aus unionsfreundlicher Sicht besteht darin,<br />

dass bis auf Ausnahmen, wie in Irland, sich der Einigungsprozess<br />

als bürokratische Initiative ohne bürgerschaftliche Begleitung<br />

vollzieht. War es kein Gebot der Volkssouveränität, die<br />

Bürger zu beteiligen und ihren Willen zu den grundlegenden Veränderungen<br />

ihrer politischen Wirklichkeit zu erfragen? Wenn nur<br />

das Volk öffentlichen Organen demokratisch legitimierte Macht<br />

übertragen kann, wieso wurde es in Deutschland und anderen<br />

Mitgliedsländern systematisch davon abgehalten, über die einzelnen<br />

Etappen der Europäischen Einigung zu entscheiden? Und<br />

wenn die verantwortlichen Politiker so handelten, um Schaden<br />

von Europa abzuwenden, so macht es das nicht besser: Denn welches<br />

Demokratieverständnis spricht aus dieser Haltung, die die<br />

»richtige« Politik am Volk vorbei realisieren möchte? Was sind das<br />

Abb. 2 »Europa gestalten …« © Thomas Plaßmann, 24.8.2012<br />

für Politiker, die sich nicht einmal zutrauen, die Grundsätze ihrer<br />

Politik den Bürgern so verständlich zu erklären, dass diese den<br />

Prinzipien zustimmen und die erforderliche Legitimation vermitteln?<br />

Demokraten sind es sicher nicht, eher Vertreter eines elitären<br />

Politikverständnisses, welches Mahatma Gandhi treffend als<br />

demokratisch unwürdig bewertete: »Was du für mich tust, aber<br />

ohne mich, tust du gegen mich!«.<br />

Lösungsvorschläge<br />

Das in den Lissaboner Vertrag aufgenommene Bekenntnis der EU<br />

zum Subsidiaritätsprinzip sehen die meisten Kritikern als unzureichend<br />

an, um die demokratische Ordnung durch größere Bürgernähe<br />

zu stärken. Zwar können Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip<br />

von den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten<br />

gerügt werden, entscheidend ist jedoch, welche Institution über<br />

die Begründetheit der Rüge entscheidet. Die Forderung nach einem<br />

vom EuGH gesonderten Kompetenzgerichtshof fand keinen<br />

Eingang in den Lissaboner Vertrag; somit bleibt es bei der Zuständigkeit<br />

des Europäischen Gerichtshofs, dem nach den bisherigen<br />

Erfahrungen eine überzeugende Verteidigung der Kompetenzen<br />

der EU-Mitgliedstaaten kaum zugetraut wird.<br />

Mit der Forderung nach einem klaren Katalog der Gesetzgebungskompetenzen,<br />

der ausreichend Entscheidungsmasse bei<br />

den Mitgliedstaaten belässt, haben sich die Kritiker der überbordenden<br />

Europäischen Kompetenzen nur scheinbar durchgesetzt.<br />

Zwar sind in den Art. 3 – 6 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der<br />

Europäischen Union, kurz: Lissaboner Vertrag) nunmehr tatsächlich<br />

die Gesetzgebungskompetenzen der EU geregelt. Jedoch ist<br />

der Katalog der gemeinsamen Zuständigkeiten nach Art. 4 AEUV<br />

wiederum so weit gefasst, dass zwischen den Zuständigkeiten der<br />

EU und denjenigen der Mitgliedstaaten nicht effektiv unterschieden<br />

werden kann. Der Versuch, durch eine Beschneidung der<br />

EU-Kompetenzen die Demokratien auf der Ebene der Mitgliedstaaten<br />

vor Aushöhlung zu schützen, muss als fehlgeschlagen betrachtet<br />

werden.<br />

Was zur Lösung des Demokratiedefizits bleibt, wäre der Ausbau<br />

des EU-Parlaments zu einem vollwertigen Gesetzgebungsorgan.<br />

Die oben dargestellten Verbesserungen ändern aber nichts daran,<br />

dass das strukturelle Demokratiedefizit insoweit fortbesteht,<br />

als das Parlament nicht die Europäischen Völker insgesamt<br />

repräsentiert, sondern immer noch auf die nationalen Teilmengen<br />

bezogen ist.<br />

Der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang SCHÄUBLE fordert<br />

seit langem die Direktwahl des Präsidenten des Europäischen Ra-<br />

27<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Die europäische Bürgerinitiative


28<br />

FRANZ THEDIECK<br />

tes durch die Unionsbürger. Dies wäre eine effektive Kompensation<br />

des bemängelten Demokratiedefizits, weil dadurch die Bürger<br />

direkt an der Machtausübung beteiligt würden. Doch bislang<br />

ist das nur Zukunftsmusik.<br />

Die demokratische Ordnung der EU muss auch weiterhin als deren<br />

wesentlicher Mangel gelten, sodass vor allem der »Europäischen<br />

Bürgerinitiative« (EBI) die Funktion zukommt, das Demokratiedefizit<br />

abzumildern. Könnte der Bürger sich direkt an den<br />

politischen Entscheidungen der EU beteiligen, so würde das die<br />

demokratischen Mängel der EU-Institutionen kompensieren und<br />

das Gefühl des Bürgers mildern, der Europäischen Bürokratie<br />

ohnmächtig ausgeliefert zu sein. (Hans H. von ARNIM, Staat ohne<br />

Diener, München 1993, S. 336 und Das Europa-Komplott: wie EU-<br />

Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien<br />

2006)<br />

Die EU-Bürgerinitiative<br />

Nach Art. 11 Abs. 4 EUV können 1 Million EU Bürger aus mindestens<br />

7 Mitgliedstaaten die Möglichkeiten der Europäischen Bürgerinitiative<br />

(EBI) nutzen, um von der EU Kommission ein neues<br />

Gesetz zu verlangen. Im Falle eines Erfolges ist die Kommission<br />

gehalten, darauf angemessen zu reagieren. Seitdem die Regelung<br />

im April 2011 in Kraft getreten ist, sind 23 EBIs gestartet worden,<br />

zu Themen wie Umweltschutz, Gesundheit oder öffentliche Moral<br />

(Stand Februar 2013).<br />

a) Rechtsgrundlage<br />

Auf der Grundlage von Art 11 Abs. 4 EUV hat die EU-Verordnung<br />

Nr. 211/2011 vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative den<br />

Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich direkt mit der Aufforderung<br />

an die Europäische Kommission zu wenden, einen Vorschlag<br />

für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge zu unterbreiten.<br />

Das deutsche Bundesgesetz zur Durchsetzung Europäischer<br />

Bürgerinitiativen hat Zuständigkeiten und Verfahren<br />

festgelegt und ist am 1.4.2012 in Kraft getreten ist.<br />

b) Regelungsinhalt<br />

Eine Bürgerinitiative ist zu jeder Frage zulässig, in dem die Kommission<br />

befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen, etwa Umwelt,<br />

Landwirtschaft, Verkehr oder öffentliche Gesundheit (http://<br />

ec.<strong>europa</strong>.eu/citizens-initiative/public/competences, abgerufen<br />

am 10.01.2013).<br />

c) Verfahren<br />

(1.) Um eine EBI zu starten, muss ein »Bürgerausschuss« gebildet<br />

werden. Dieser muss aus mindestens sieben EU-Bürgerinnen<br />

und -Bürgern bestehen, die in mindestens sieben verschiedenen<br />

Mitgliedstaaten ansässig sind. Die Mitglieder müssen das<br />

Wahlrecht zu den Europäischen Parlamentswahlen besitzen.<br />

Eine EBI kann nicht von einer Organisation in Gang gesetzt<br />

werden, Organisationen dürfen die Initiative jedoch unterstützen.<br />

(2.) Der Bürgerausschuss muss seine Initiative auf einem von der<br />

EU hierfür eingerichteten Internetportal registrieren, bevor er<br />

mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen von Bürgerinnen<br />

und Bürgern beginnt. Die Kommission prüft binnen<br />

zwei Monaten, ob die Initiative zulässig ist, insbesondere ob<br />

sich ein Gesetzesvorschlag innerhalb der Gesetzgebungskompetenzen<br />

der EU bewegt.<br />

(3.) Will die Initiative auch online Unterschriften sammeln, so beantragt<br />

sie bei der Kommission die dafür bestimmte Open-<br />

Source-Software. Dafür ist eine Behörde aus dem Land verantwortlich,<br />

in dem der Server steht. Sie antwortet innerhalb<br />

eines Monats.<br />

(4.) Sobald die Registrierung bestätigt wurde, haben die Organisatoren<br />

ein Jahr Zeit für die Sammlung der erforderlichen 1<br />

Million Unterschriften, die aus mindestens 7 Mitgliedstaaten<br />

stammen müssen. Die Sammlung kann schriftlich oder online<br />

erfolgen.<br />

(5.) Sind 1 Million Unterschriften gesammelt worden, so legt die<br />

Initiative diese der Kommission vor.<br />

Nachdem die Unterschriften eingereicht wurden, prüfen die<br />

Mitgliedstaaten die Gültigkeit der Unterstützungsbekundungen<br />

ihrer Staatsbürger, wofür ihnen eine Frist von drei Monaten<br />

zur Verfügung steht. Je nach Mitgliedstaat gelten dabei<br />

andere Anforderungen, welche Informationen für die Gültigkeitsprüfung<br />

notwendig sind. So müssen Österreicher zur Unterzeichnung<br />

einer EBI die Nummer ihres Reisepasses oder<br />

Personalausweises angeben, während in Deutschland nach<br />

anfänglichen Überlegungen darauf verzichtet wurde.<br />

(6.) Binnen drei Monaten entscheidet die Kommission, wie sie mit<br />

der erfolgreichen Initiative verfährt.<br />

(Ronald Pabst, Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: md-magazin,<br />

Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff.)<br />

Konsequenzen einer erfolgreichen EBI<br />

Eine erfolgreiche EBI stellt zunächst lediglich eine Aufforderung<br />

an die Kommission dar, einen Rechtsakt zu einem Thema vorzuschlagen,<br />

zu dem es nach Ansicht der Initiatoren einer Regelung<br />

bedarf. Die Unionsbürger werden damit in Bezug auf das Aufforderungsrecht<br />

auf dieselbe Stufe gestellt wie das Europäische Parlament<br />

und der Rat der Europäischen Union, die dieses Recht<br />

nach Art. 225 bzw. Art. 241 AEUV genießen. Die Kommission prüft<br />

die Initiative innerhalb einer Dreimonatsfrist, während derer die<br />

Initiatoren von Vertretern der Kommission empfangen werden,<br />

um die Initiative zu erläutern. Sie erhalten ferner die Möglichkeit,<br />

das Anliegen der Initiative bei einer öffentlichen Anhörung im Europäischen<br />

Parlament vorzustellen. Die Kommission wiederum<br />

veröffentlich während dieser Frist eine formelle Antwort, in der<br />

sie erläutert, ob und welche Maßnahmen sie als Antwort auf die<br />

EBI vorschlägt und ebenso die Gründe für ihre – möglicherweise<br />

auch negative – Entscheidung.<br />

Die Europäische Kommission behält aber in jedem Fall weiterhin<br />

das alleinige Initiativrecht. Selbst wenn eine Bürgerinitiative alle<br />

Kriterien erfüllt, ist die Kommission nicht verpflichtet, eine Gesetzesinitiative<br />

auf der Grundlage der EBI vorzuschlagen.<br />

Die EBI in der Praxis<br />

Seit April 2012 wurden 23 Initiativen gestartet. Im Januar 2013 laufen<br />

14 Initiativen, 8 Initiativen wurden abgelehnt, eine wurde zurück<br />

gezogen.<br />

Wegen der Anlaufschwierigkeiten bei der praktischen Umsetzeng<br />

der EBI, insbesondere weil die von der Kommission zur Verfügung<br />

gestellte Software für die Online-Registrierung und -Sammlung<br />

nicht termingerecht funktionierte, wurde die Laufzeit der registrierten<br />

EBIs bis November 2013 verlängert.<br />

Die EBI wurde in Deutschland durchweg positiv aufgenommen.<br />

»Mehr Demokratie e. V.« begrüßt »das erste transnationale Instrument<br />

direkter Demokratie«. Die Europa-Union Deutschland bezeichnet<br />

die Europäische Bürgerinitiative als eine große Chance<br />

für das europäische Einigungsprojekt und setzt darauf, »dass das<br />

gemeinsame grenzüberschreitende Agieren der Bürgerinnen und<br />

Bürger längerfristig dazu beitragen wird, die Entwicklung einer<br />

europäischen Öffentlichkeit zu befördern«. Abgeordnete aller<br />

Fraktionen im Europäischen Parlament begrüßten die Einführung<br />

der Bürgerinitiative.<br />

Der Thüringische Justizminister Holger Poppenhäger erhofft sich<br />

durch die EBI eine höhere Wahlbeteiligung bei den Europawahlen.<br />

Mehr direkte Demokratie stärke »auch die Unionsbürgerschaft<br />

und damit die Europäische Identität.«<br />

Die europäische Bürgerinitiative<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Bewertung und Schluss<br />

Interviews mit MdEP Häfner (| M 4 |) und mit<br />

Tatjana Saranka (| M 2 |) vermitteln eine valide<br />

Einschätzung der EBI. Die Stärke der EBI<br />

liegt zweifelsohne in dem Potential, das sie<br />

für die Bildung einer Europäischen Zivilgesellschaft<br />

besitzt, und der Chance, dass sich<br />

der EU-Bürger aus seiner Zuschauerrolle lösen<br />

kann. Es ist andererseits auch richtig,<br />

dass die Konsequenzen einer erfolgreichen<br />

EBI formal noch deutlich zu gering sind. Das<br />

Bild vom »zahnlosen Tiger« scheint zu stimmen.<br />

Aber leicht wird es den EU-Institutionen nicht<br />

fallen, das Votum von 1 Million Bürgern zu ignorieren.<br />

Das EU-Parlament hört die Vertreter<br />

der erfolgreichen Initiative an und es liegt<br />

in seinem Ermessen und seiner politischen<br />

Klugheit, das Anliegen der EBI zu stärken.<br />

Auch besitzen die EU-Institutionen ein eigenes<br />

Interesse, die wachsende Europäische<br />

Lethargie zu durchbrechen und das bürgerschaftliche<br />

Engagement für Europäische<br />

Themen zu fördern.<br />

Das sieht Elmar BROK, Vorsitzender des Ausschusses<br />

für Auswärtige Angelegenheiten im EU Parlament, ähnlich:<br />

»Gerade in Zeiten der Staatsschuldenkrise, in der die EU –<br />

überwiegend negativ – in aller Munde ist, muss dem drohenden<br />

Vertrauensverlust der Bürger in die EU entgegengewirkt werden.<br />

Dies können wir nur schaffen, indem wir unseren Bürgern mehr<br />

Mitspracherecht geben und damit die Demokratie in Europa stärken<br />

…Die Europäische Bürgerinitiative könnte zu einem echten<br />

Bindeglied zwischen den Bürgern und den EU-Institutionen werden.<br />

Eine Million von 500 Millionen EU-Bürgern zu überzeugen ist<br />

eine Herausforderung, aber machbar – entscheidend ist dabei<br />

das richtige Projekt.«<br />

Die EBI ist damit ein Anfang, der in eine positive Richtung zur Stärkung<br />

der Zivilgesellschaft weist, ein Anfang, der Hoffnung macht.<br />

Literaturhinweise<br />

Arnim, Hans Herbert von (2006): Das Europa-Komplott: Wie EU-Funktionäre<br />

unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien.<br />

Efler, Michael/Häfner, Gerald/Huber, Roman/Vogel, Percy (2009): Europa:<br />

Nicht ohne uns! Abwege und Auswege der Demokratie in der Europäischen<br />

Union, Hamburg.<br />

Abb. 3 »Bloß nicht anrufen!« © Horst Haitzinger, 27.7.2012<br />

Heussner, Herrmann K./Jung,Otmar (2009): Mehr direkte Demokratie<br />

wagen – Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte, Praxis, Vorschläge,<br />

München.<br />

Hornung, Ulrike (2011): Die Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative<br />

– mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in<br />

Europa?. In: Recht und Politik. Nr. 2, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011,<br />

S. 94–102.<br />

Pabst,Roland (2012): Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: mdmagazin<br />

– Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff.<br />

Piepenschneider, Melanie (2005): Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren,<br />

in: Informationen zur politischen Bildung (Heft 279), bpb, 2005,<br />

S. 23<br />

Schiller, Theo/ Mittendorf, Volker (2002): Direkte Demokratie – Forschung<br />

und Perspektiven, Wiesbaden 2002<br />

Veil, Winfried (2007): Volkssouveränität und Völkersouveränität in der EU –<br />

Mit direkter Demokratie gegen das Demokratiedefizit? Baden-Baden.<br />

Weidenfeld, Werner: Geistige Ordnung auf der Baustelle Europa, Neue<br />

Zürcher Zeitung, 21.2.2013, S. 23<br />

Online-Leitfaden zur Europäischen Bürgerinitiative – Europa: ec.<strong>europa</strong>.<br />

eu/citizens-initiative/files/guide-eci-de.pdf<br />

29<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Die europäische Bürgerinitiative


30<br />

FRANZ THEDIECK<br />

MATERIALIEN<br />

M 1<br />

Das Bundesverfassungsgericht zur Rolle des EU-Parlaments<br />

nach dem Lissabon-Vertrag:<br />

»Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der<br />

Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon<br />

an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande<br />

gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit<br />

zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit<br />

zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation,<br />

in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung<br />

so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen<br />

zurückreicht und ein echter und für die Bürger<br />

transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition<br />

entstehen kann. Das Europäische Parlament ist auch nach der<br />

Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen<br />

dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem<br />

Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines<br />

souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, dass es<br />

als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen<br />

Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unionsbürger<br />

als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahlgleichheit<br />

angelegt ist.«<br />

BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, Az: 2 BvE 2/08 u. a., Rn. 284ff.<br />

M 2<br />

Interview mit Tatjana Saranka<br />

Thedieck: Was war Ihre Motivation für die Themenwahl Ihrer Bachelorarbeit?<br />

Saranka: Abgesehen von meinem großen Interesse für europäische<br />

Themen fiel meine Wahl auf die Europäische Bürgerinitiative<br />

(EBI), da die Diskussion über direktdemokratische Beteiligung<br />

der Bürger insbesondere auf europäischer Ebene immer relevanter<br />

wird. Das ist einerseits den immer lauter werdenden Stimmen<br />

über das Demokratiedefizit der EU und – damit zusammenhängend<br />

– der Abkehr der Bürger von der EU und ihrem mangelnden<br />

Vertrauen in die Politik geschuldet. EU Bürger haben das Gefühl,<br />

keine Stimme im europäischen Entscheidungsfindungsprozess zu<br />

haben und empfinden die Geschehnisse »in Brüssel« als bürgerund<br />

realitätsfern. Ein Indiz hierfür sind die sinkende Wahlbeteiligung<br />

bei den EU-Wahlen sowie diverse Eurobarometer-Umfragen.<br />

Thedieck: Wo sehen Sie die größte Schwachstelle bei der EBI?<br />

Saranka: Eine Schwäche der EBI ist ihre geringe verbindliche Wirkung<br />

bei der EU-Kommission. Eine Initiative, welche alle Voraussetzungen<br />

der Zustimmung bei den Bürgern findet, landet noch<br />

lange nicht auf der Agenda der EU-Kommission, auch wenn eine<br />

Ablehnung ausführlich begründet werden muss. Das macht die<br />

EBI zu einem »zahnlosen Tiger«.<br />

Thedieck: Worin besteht ihre Stärke?<br />

Saranka: Eine Stärke des Instruments sehe ich in der verhältnismäßig<br />

liberalen Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen. Die<br />

Zustimmenden müssen aus 7 Mitgliedstaaten kommen, in denen<br />

sie wiederum eine bestimmte Anzahl an Unterstützern finden<br />

müssen. Angesichts des ursprünglichen Vorschlags der Kommission<br />

(9 Länder) halte ich die beschlossene Zugangsschranke für<br />

einen guten Mittelweg, welcher es den Bürgern einerseits nicht<br />

unmöglich macht, die vorgegebene Mindestanzahl an Stimmen<br />

zu sammeln und andererseits nicht die Gefahr birgt, die Initiative<br />

zu missbrauchen.<br />

Tatjana Saranka schrieb 2011 ihre Bachelorarbeit an der Hochschule Kehl über »Direkte Demokratie<br />

auf Europäischer Ebene« und war dafür mit dem Zukunftspreis der Hochschule<br />

ausgezeichnet worden. Frau Saranka arbeitet derzeit im Europäischen Parlament als Assistentin<br />

des MdEP Elmar Brok. Datum der Befragung: 8. Januar 2013.<br />

M 3<br />

Die Europäische Bürgerinitiative – laufende Initiativen<br />

Bezeichnung<br />

Unconditional Basic<br />

Income (UBI) – Exploring a<br />

pathway towards emancipatory<br />

welfare conditions<br />

in the EU<br />

Single Communication<br />

Tariff Act<br />

Kündigung Personenfreizügigkeit<br />

Schweiz<br />

30 km/h – macht die Straßen<br />

lebenswert!<br />

European Initiative for<br />

Media Pluralism<br />

Stoppen wir den Ökozid in<br />

Europa: Eine Bürgerinitiative,<br />

um der Erde Rechte<br />

zu verleihen<br />

Central public online collection<br />

platform for the<br />

European Citizen Initiative<br />

Aussetzung des Energieund<br />

Klimapakets der EU<br />

Pour une gestion responsable<br />

des déchets, contre<br />

les incinérateurs<br />

Qualitativ hochwertige<br />

europäische Schulbildung<br />

für alle<br />

Stop Vivisection<br />

Let me vote<br />

EINER VON UNS<br />

Wasser und sanitäre<br />

Grundversorgung sind ein<br />

Menschenrecht! Wasser ist<br />

ein öffentliches Gut und<br />

keine Handelsware!<br />

verfügbare<br />

Sprachen<br />

Registrierungsdatum<br />

Frist für die<br />

Sammlung<br />

von Unterstützungsbekundungen<br />

EN* 03/12/2012 03/12/2013<br />

EN* BG CS<br />

DA NL ET FI<br />

FR DE HU GA<br />

IT LV LT PL<br />

RO SK SL ES<br />

SV MT PT EL<br />

03/12/2012 03/12/2013<br />

DE* 19/11/2012 19/11/2013<br />

EN* DE ES FI<br />

FR IT NL SV<br />

SL PL EL CS<br />

HU<br />

EN* FR IT RO<br />

NL HU ES<br />

EN* NL DE<br />

ET<br />

13/11/2012 13/11/2013<br />

05/10/2012 01/11/2013 **<br />

01/10/2012 01/11/2013 **<br />

EN* 16/07/2012 01/11/2013 **<br />

EN* CS PL<br />

HU IT DE DA<br />

LV BG ES FI<br />

FR LT NL PT<br />

SK SL RO<br />

08/08/2012 01/11/2013 **<br />

FR* 16/07/2012 01/11/2013 **<br />

EN* FR IT PL<br />

ES DE HU GA<br />

EL ET SV RO<br />

LT PT NL BG<br />

DA MT FI LV<br />

CS SK<br />

EN* IT FR DE<br />

ES NL DA ET<br />

FI GA SK SL<br />

SV BG RO EL<br />

FR* EN NL<br />

DE ES IT LV<br />

LT SV EL PT<br />

IT* EN FR DE<br />

ES RO PT LT<br />

HU SL PL EL<br />

DA LV SK FI<br />

SV ET NL<br />

EN* NL FR<br />

DE ES IT SV<br />

RO CS BG<br />

DA EL ET FI<br />

GA HU LT LV<br />

MT PL PT SK<br />

SL<br />

16/07/2012 01/11/2013 **<br />

22/06/2012 01/11/2013 **<br />

11/05/2012 01/11/2013 **<br />

11/05/2012 01/11/2013 **<br />

10/05/2012 01/11/2013 **<br />

Die europäische Bürgerinitiative<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Bezeichnung<br />

Fraternité 2020 – Mobilität.<br />

Fortschritt. Europa.<br />

verfügbare<br />

Sprachen<br />

EN* FR DE<br />

CS IT BG DA<br />

ES LT HU NL<br />

PL PT RO SK<br />

SL FI SV MT<br />

EL GA ET LV<br />

Registrierungsdatum<br />

Frist für die<br />

Sammlung<br />

von Unterstützungsbekundungen<br />

09/05/2012 01/11/2013 **<br />

*Bei der Registrierung verwendete Sprache<br />

**Aufgrund von Problemen während der Anlaufphase der Bürgerinitiative wurde eine neue<br />

Frist festgesetzt.<br />

Weitere Informationen und weiterführende Links zu den EBI unter:<br />

http://ec.<strong>europa</strong>.eu/citizens-initiative/public/initiatives/ongoing?lg=de<br />

M 4<br />

EU-Kommission: Abgelehnte Registrierungsanträge<br />

Nur die geplanten Initiativen, die den in Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung<br />

über die Bürgerinitiative festgelegten Bedingungen entsprechen,<br />

werden registriert und mithin auf diesem Internetportal<br />

veröffentlicht. Hier (Link vgl unten) finden Sie den Text der<br />

geplanten Initiativen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, und<br />

die abschlägigen Bescheide der Kommission an die betreffenden<br />

Bürgerausschüsse.<br />

Die Kommission begründet in ihrer Antwort, warum die Registrierung<br />

aufgrund der in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen<br />

abgelehnt wurde, und weist die Organisatoren auf die ihnen<br />

zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe hin.<br />

– Unconditional Basic Income<br />

– ONE MILLION SIGNATURES FOR<br />

“A EUROPE OF SOLIDARITY”<br />

– Création d›une Banque publique<br />

européenne axée sur le développement<br />

social, écologique et solidaire<br />

– Abolición en Europa de la tauromaquia<br />

y la utilización de toros en<br />

fiestas de crueldad y tortura por<br />

diversión.<br />

– Fortalecimiento de la participación<br />

ciudadana en la toma de decisiones<br />

sobre la soberanía colectiva<br />

– Recommend singing the European<br />

Anthem in Esperanto<br />

– My voice against nuclear power<br />

© Europäische Kommission: http://ec.<strong>europa</strong>.eu/citizens-initiative/public/initiatives/non-registered<br />

(Stand: 18.1.2013)<br />

Initiative Beiträge zur politischen Entwicklung leisten. Die EBI fördert<br />

das Entstehen einer europäischen Zivilgesellschaft und einer<br />

öffentlichen Debatte über EU-Themen, weil die Bürgerinnen und<br />

Bürger Europas ihre Anliegen benennen und sich für ihr Zustandekommen<br />

miteinander vernetzen. So kommen sie miteinander und<br />

mit den Institutionen ins Gespräch. Letztendlich führt die EBI<br />

auch dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU über ihren<br />

nationalen Tellerrand gucken, aktiv werden und voneinander lernen.<br />

Thedieck: Was sollte an der gegenwärtigen Regelung unbedingt verändert<br />

werden?<br />

Häfner: Die Europäische Bürgerinitiative ist das erste existierende<br />

transnationale Instrument direkter Demokratie in der Praxis.<br />

Damit ist die EBI bereits ein Erfolg. Jedoch muss die EBI dringend<br />

verbessert werden. Sie ist noch zu bürokratisch ausgestaltet<br />

und hinsichtlich der möglichen Themen sowie ihrer voraussehbaren<br />

Wirkung zu begrenzt. Die Tatsache, dass es allein im Ermessen<br />

der Europäischen Kommission liegt, ob sie einen Vorschlag<br />

für eine Gesetzesinitiative annimmt, schränkt die Wirkung dieses<br />

Instruments erheblich ein. Dass eine Million Bürgerinnen und<br />

Bürger aus sieben verschiedenen EU-Ländern den Vorschlag unterschreiben<br />

müssen, ist eine sehr hohe Hürde. Wer sie überwunden<br />

hat, sollte damit mehr bewirken können als nur eine völlig<br />

unverbindliche Anhörung. Wir müssen die EBI bürger- und praxisfreundlicher<br />

machen. Dabei setze ich auf die Lobbyarbeit von<br />

»Democracy International« und »Mehr Demokratie«, die die EBI<br />

maßgeblich mit ins Leben gerufen haben.<br />

Gerald HÄFNER war Vorsitzenden des Vereins »Mehr Demokratie« und den Gründungsvorsitzenden<br />

von »Democracy International«. Gerald Häfner engagiert sich seit über 20 Jahren<br />

für den Ausbau der direkten Demokratie. Er wurde dreimal in den Deutschen Bundestag<br />

gewählt und ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er die Initiative für die<br />

EBI lanciert hat. Datum der Befragung: 10. Januar 2013.<br />

31<br />

M 5<br />

Interview mit Gerald Häfner,<br />

MdEP<br />

Thedieck: Inwieweit erweitert nach Ihrer<br />

Auffassung die EU-Bürgerinitiative<br />

den Spielraum demokratischer Willensbildung?<br />

Häfner: Mit der Europäischen Bürgerinitiative<br />

(EBI) können die Bürgerinnen<br />

und Bürger Europas Themen<br />

auf die europäische Tagesordnung<br />

setzen und damit selbst aus eigener<br />

M 6 Website der europäischen Bürgerinitiative »30 km/h – macht die Straßen lebenswert!«, Stand 29.1.2013<br />

© http://de.30kmh.eu<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Die europäische Bürgerinitiative


32<br />

FRANZ THEDIECK<br />

M 7<br />

EU-Pläne zur Wasserversorgung: Sturm im Wasserglas<br />

oder Privatisierungswelle?<br />

In Deutschland wird derzeit kontrovers darüber diskutiert, ob EU-<br />

Pläne dazu führen, dass Kommunen die Versorgung ihrer Bürger<br />

mit Trinkwasser an private Unternehmen abgeben müssen und<br />

somit die Kontrolle über Preis und Qualität verlieren. Stimmt<br />

nicht, beharrt der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier.<br />

Doch Kritiker halten dem entgegen, die Details der Brüsseler<br />

Pläne könnten sehr wohl dazu führen, dass die Wasserversorgung<br />

in bestimmten Fällen öffentlich ausgeschrieben werden muss.<br />

Auslöser der Debatte ist das Vorhaben von Binnenmarktkommissar<br />

Barnier, in der gesamten EU einheitliche Regeln zur Vergabe<br />

von Konzessionen für Dienstleistungen wie die Wasserversorgung<br />

zu schaffen. Ziel sind der Kommission zufolge Wettbewerb<br />

und Chancengleichheit zwischen Unternehmen, aber in Zeiten<br />

leerer öffentlicher Kassen auch eine bessere Kontrolle über die<br />

Verwendung von Steuergeldern, »die in einer beunruhigenden<br />

Reihe von Fällen ohne Transparenz oder Rechenschaftspflicht<br />

ausgegeben werden«, wodurch sich »die Risiken der Günstlingswirtschaft,<br />

des Betrugs und sogar der Korruption erhöhen«.<br />

Inzwischen ist das EU-Gesetzgebungsverfahren der vor mehr als<br />

einem Jahr vorgestellten Pläne auf der Zielgeraden – und Barnier<br />

schlägt immer heftigerer Widerstand aus Deutschland entgegen.<br />

Der Vizechef der Unionsbundestagsfraktion, Johannes Singhammer,<br />

warnt davor, dass durch die neue EU-Regelung die Kommunen<br />

nicht mehr frei entscheiden könnten, wie sie die öffentliche<br />

Wasserversorgung organisieren und letzten Endes die Qualität<br />

leide: »Es besteht zu Recht die Befürchtung, dass nach einer Privatisierung<br />

nur noch die Erzielung von möglichst hohen Renditen<br />

im Vordergrund steht.«<br />

Die EU-Kommission weist Vorwürfe eines Zwangs zur Privatisierung<br />

der Trinkwasserversorgung entschieden zurück und spricht<br />

von »einer bewussten Fehlinterpretation« des Vorschlags. (…) Die<br />

Kritiker der Pläne sehen darin aber aufgrund von Sonderregeln<br />

nur die halbe Wahrheit. Denn etwa bei großen Stadtwerken, die<br />

zum Beispiel auch Strom und Gas anbieten und weniger als 80<br />

Prozent ihres Geschäfts vor Ort machen, müsste nach einer im<br />

Jahr 2020 endenden Übergangsfrist die Vergabe von Dienstleistungen<br />

ausgeschrieben werden. Zwar könnten sich städtische<br />

Unternehmen um den Auftrag bemühen, »bewerben können sich<br />

allerdings auch große, <strong>europa</strong>- und weltweit tätige private Konzerne<br />

mit all ihren Möglichkeiten «, gibt der EU-Abgeordnete Thomas<br />

Händel von der Linken zu Bedenken. Städtetagspräsident<br />

Christian Ude mahnt, dass es für eine qualitativ hochwertige<br />

Wasserversorgung »riesige Investitionen« brauche, die »ein auf<br />

kurzfristigen Gewinn orientiertes Privatunternehmen keineswegs«<br />

schätze. Barnier wolle tief in die kommunalen Strukturen<br />

einer »sehr gut organisierten und funktionierenden Wasserwirtschaft«<br />

eingreifen, warnt der Hauptgeschäftsführer des Verbandes<br />

kommunaler Unternehmen, Hans-Joachim Reck. »Die Bundesregierung<br />

muss jetzt die kommunale Wasserwirtschaft in den<br />

weiteren Beratungen der Richtlinie schützen, ansonsten kommt<br />

sie unter die Räder der Gleichmacher aus Brüssel.«<br />

Auch wenn Barnier sein Vorhaben durchbringt, dürfte die mögliche<br />

Privatisierung von Trinkwasser weiter Thema bleiben. Auf der<br />

Internetseite »www.right2water.eu« werden Unterschriften für<br />

ein EU-Volksbegehren gesammelt mit dem Ziel: »Die Versorgung<br />

mit Trinkwasser und die Bewirtschaftung der Wasserressourcen<br />

darf nicht den Binnenmarktregeln unterworfen werden.« Finden<br />

sich bis September eine Million Unterzeichner, können sie die EU-<br />

Kommission auffordern, sich mit dem Thema zu befassen – mehr<br />

als 600.000 Unterstützer gibt es bereits.<br />

© Jan Dörner, afp, Sturm im Wasserglas oder Privatisierungswelle?, Handelsblatt vom<br />

26.1.2013. Anmerkung: Ende Februar 2013 zog EU-Kommissar Barnier große Teile der bisher<br />

geplanten EU-Wasser-Richtlinie zurück.<br />

M 8 »Der Kommerz im Wasserwerk …« © Luis Murschetz, 2013<br />

M 9<br />

Teresa Fries (jetzt.de – Das Jugendmagazin der Süddeutschen<br />

Zeitung): »Privates Wasser«<br />

Brüssel will die Wasserversorgung künftig ausschreiben lassen.<br />

Seit Tagen werden wir deshalb auf Facebook mit Wasser-Videos<br />

und Einladungen zu einer Bürgerinitiative gegen die Privatisierung<br />

bombardiert. Wir haben die Debatte in sechs Antworten zusammengefasst.<br />

Wasser in privater Hand? Das lässt einen schon<br />

misstrauisch werden. Denn was die private Hand hält, kann sie<br />

auch nach ihrer privaten Laune verschenken oder eben teuer verkaufen.<br />

Wasser braucht jeder, doch was, wenn man es sich nicht<br />

mehr leisten kann? Es geht definitiv um ein wichtiges Thema,<br />

doch keiner versteht so genau, was da in der EU gerade passiert:<br />

Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinien<br />

zur Vergabe der Dienstleistungskonzessionen unter anderem<br />

für den Bereich der Trinkwasserversorgung gemacht. Der<br />

Binnenmarktausschuss hat diesem zugestimmt. Demnach wird er<br />

dem Parlament vorgelegt, das im April (2013) endgültig darüber<br />

entscheidet. Doch was heißt das denn nun bitteschön? »jetzt.de«<br />

hat mit ver.di-Mitarbeiter Mathias Ladstätter, dem deutschen<br />

Vertreter der Europäischen Bürgerinitiative »right2water«, gesprochen<br />

und beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema<br />

Wasserprivatisierung.<br />

1. Was würde eine Privatisierung der Wasserversorgung bedeuten?<br />

In Deutschland sind Städte und Kommunen für die Wasserversorgung<br />

und Abwasserentsorgung zuständig. Die Wasserversorgung<br />

liegt deshalb zum größten Teil in öffentlicher Hand. Privatisierung<br />

würde bedeuten, dass Wasserbetriebe von privaten Unternehmen<br />

übernommen werden würden. Bürger müssten dann<br />

diese für die Wasserversorgung bezahlen. Für Mathias Ladstätter<br />

ist die Gefahr ganz offensichtlich: Die Kommunen und Städte bestimmen<br />

den Preis nach dem Kostendeckungsprinzip. Sie verlangen<br />

nur so wiel, wie sie brauchen, um Qualität und Versorgung<br />

auch zukünftig sicher zu stellen. Anders ist das bei privaten Unternehmen,<br />

deren Zweck es ist, Gewinn zu erwirtschaften.<br />

2. Worum genau geht es bei dem Vorschlag der EU Kommission?<br />

Die Möglichkeit der Privatisierung beziehungsweise der Teilprivatisierung<br />

besteht bereits – auch in Deutschland. »Zwischen fünf<br />

und zehn Prozent der Wasserver- und Abwasserentsorgung sind<br />

bei uns privat«, erklärt Mathias Ladstätter. Im Vergleich zu anderen<br />

Ländern sei das allerdings sehr wenig. Auch gebe es Stadtwerke<br />

mit privaten Teilhabern. Solange deren Anteil unter 49 Prozent<br />

liegt, handele es sich immer noch um öffentlich-rechtliche<br />

Institutionen. Es sei also möglich, dass Stadtwerke neben Wasser<br />

auch zum Beispiel Strom anbieten und über die Grenzen des Versorgungsgebiets<br />

verkaufen würden. Damit wären sie zumindest<br />

in diesem Bereich auch gewinnorientierte Unternehmen.<br />

Die europäische Bürgerinitiative<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


M 10 Website der europäischen Bürgerinitiative »www.right2water.eu/de«, Stand 29.1.2013<br />

Mathias Ladstätter erklärt das Prinzip folgendermaßen:<br />

Die Städte und Gemeinden<br />

können mit solchen Stadtwerken Verträge<br />

abschließen. Sie vergeben sogenannte<br />

Dienstleistungskonzessionen. Damit übertragen<br />

sie ihre kommunale Aufgabe der Wasserversorgung<br />

ganz oder nur teilweise zum<br />

Beispiel an ein Stadtwerk. Diese Konzessionen<br />

sind an Bedingungen geknüpft. So kann<br />

die Stadt noch immer bestimmen, wie viel die<br />

Wasserversorgung den Bürger kosten darf,<br />

welche Qualitätsstandards eingehalten werden,<br />

wie viel die Mitarbeiter des Stadtwerks<br />

verdienen, welche Nachhaltigkeitsmaßnahmen<br />

getroffen werden müssen und so weiter.<br />

Im Moment können Städte und Kommunen<br />

entscheiden, an wen sie die Konzessionen<br />

vergeben. Ist ein Vertrag ausgelaufen, können<br />

sie ihn entweder verlängern, anderweitig<br />

vergeben oder kommunalisieren die Wasserversorgung<br />

wieder. Die EU-Kommission will<br />

die Richtlinien zur Vergabe dieser Dienstleistungskonzessionen<br />

ändern. Sie will, dass<br />

nicht mehr die Kommunen selbst einfach<br />

entscheiden können, sondern dass alle Konzessionen<br />

EU-weit für private Unternehmer<br />

ausgeschrieben werden. Das beste Angebot<br />

gewinnt. Das hätte zur Folge: Es könnte nicht<br />

mehr nur teilweise privatisiert werden und<br />

die Vergabe der Konzessionen wären nicht<br />

mehr an besondere Bedingungen – was Preis<br />

oder Qualität betrifft – geknüpft.<br />

3. Wie rechtfertigt die Kommission das?<br />

Laut einem Artikel in »Der Standard« weist<br />

der EU-Kommissar für Binnenmarkt und<br />

Dienstleistungen, Michel Barnier, die Kritik<br />

zurück. Es gehe nur um eine transparente Vergabe der Konzessionen.<br />

Er spricht von einer »bewussten Fehlinterpretation« durch<br />

Privatisierungsgegner. Der Richtlinienvorschlag enthalte keine<br />

Verpflichtung zur Vergabe der Leistungen am Markt. Was bedeuten<br />

würde, eine Privatisierung sei nach wie vor freiwillig. Mathias<br />

Ladstätter nennt die Rechtfertigung des Kommissars »eine falsche<br />

Beruhigungspille. Natürlich könnten die Kommunen sich<br />

auch innerhalb der EU-Ausschreibung bewerben, aber gegen die<br />

großen internationalen Konzerne könnten sie nicht ankommen.<br />

Denen stünde dann nichts mehr im Weg.«<br />

4. Was würde sich durch die neue Richtlinie für uns ändern?<br />

Für uns Verbraucher würde das bedeuten, dass immer mehr Betriebe<br />

der Wasserver- und Abwasserentsorgung in privaten Besitz<br />

übergehen würden. Damit wären die Preise nicht mehr gesichert<br />

und wir müssten mit Erhöhungen rechnen. Zudem könnte die<br />

Wasserqualität abnehmen, da die privaten Unternehmer nicht<br />

mehr allen heutigen Standards entsprechen müssten. Auch dazu,<br />

mit dem Wasser nachhaltig zu wirtschaften, wären die Unternehmer<br />

nicht verpflichtet. Ein Youtube-Video, in dem Nestle Konzernchef<br />

Peter Brabeck-Letmathe seine Ansichten über die Trinkwasserversorgung<br />

darlegt, lässt nichts Gutes ahnen: Wasser als<br />

öffentliches Recht wäre die eine Extremlösung, die andere – für<br />

die er sich natürlich ausspricht – wäre, dass Wasser einen Wert<br />

bekommt. Für den Teil der Bevölkerung, der dadurch keinen Zugang<br />

mehr zu Wasser hätte, für den gäbe es ja spezifische Möglichkeiten.<br />

5. In der Diskussion hört man immer wieder, dass der Zugang<br />

zu Wasser ein Menschenrecht sein soll. Da wir für das Wasser<br />

zahlen, ist das doch im Moment auch nicht der Fall?<br />

»Wir zahlen nicht für das Wasser, sondern nur für die Bereitstellung<br />

«, erklärt Mathias Ladstätter. Damit sind zum Beispiel Pumpen,<br />

Rohre, Qualitätstests und Mitarbeiter gemeint. Das Wasser<br />

an sich zahlen wir nicht. Das sei Allgemeingut. Doch mit den Privatisierungsvorhaben<br />

ginge das Menschenrecht auf Wasser noch<br />

viel weniger einher. Die UNO deklarierte 2012 zwar den Zugang zu<br />

Wasser als Menschenrecht, doch eine solche Deklaration hat<br />

keine rechtlichen Folgen. Die Europäische Bürgerinitiative »right-<br />

2water« fordert schon lange ein entsprechendes Gesetz der EU-<br />

Kommission, allerdings ohne Erfolg. Gäbe es ein Gesetz, das das<br />

Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung gewährleisten<br />

würde, hätte die Privatisierung weit weniger Chancen.<br />

6. Was kann eine Bürgerinitiative ausrichten?<br />

Die Europäische Bürgerinitiative »right2water« wird hauptsächlich<br />

von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes organisiert.<br />

Alle Bürgerinnen und Bürger, die in einem der 27 EU-Mitgliedstaaten<br />

aktives Wahlrecht haben, können die Initiative mit ihrer<br />

Unterschrift unterstützen. Kommen eine Million Unterschriften<br />

aus mindestens sieben Staaten zusammen, muss das Parlament<br />

sich mit den Vertretern auseinandersetzen und das Anliegen politisch<br />

behandeln. Im Klartext heißt das: Das Parlament muss zwar<br />

darüber reden und die Bürgerstimmen zur Kenntnis nehmen, ihr<br />

Vorhaben zur Privatisierung können sie trotzdem umsetzen.<br />

»Selbst wenn das Parlament dem Vorschlag zustimmt, werden wir<br />

die Bürgerinitiative weiterführen«, sagt Mathias Ladstätter. Er<br />

und seine Mitstreiter würden dann dafür kämpfen, dass die Richtlinien<br />

überdacht und geändert werden. »Es wäre in diesem Fall<br />

noch wichtiger als zuvor.«<br />

© Teresa Fries, Privates Wasser, 24.1.2013, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/<br />

anzeigen/564942/Privates-Wasser<br />

33<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Die europäische Bürgerinitiative


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

6. Mehr Demokratie? Zivilgesellschaftliche<br />

Bewegungen in Deutschland und<br />

Europa von 1945–1990<br />

ANDREAS GRIESSINGER<br />

34<br />

Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest – ein Thema, das<br />

kaum aktueller sein könnte. Wer auf die vergangenen<br />

Jahre zurückblickt, dem fallen spontan vielfältige Bilder von<br />

Menschen ein, die ihren Anspruch auf mehr politische Selbstbestimmung<br />

auf Straßen und Plätzen mutig und kompromisslos<br />

eingeklagt haben. Erst in jüngster Zeit zeigte der<br />

»arabische Frühling« die unbändige Kraft empörter Bürgerbewegungen<br />

gegenüber hochgerüsteten autoritären Regimen<br />

wie beispielsweise dem Gaddafis in Libyen. Aber nicht<br />

nur Diktaturen erfuhren den Zorn ihrer Bürger, die globale<br />

Finanz krise generierte Bürgerproteste auch in den demokratischen<br />

Staaten Nordamerikas und West<strong>europa</strong>s: Die<br />

»Occupy«-Bewegung trug den Ruf nach demokratischer Kontrolle<br />

der Börsen und Finanzmärkte sowie nach mehr Bürgerbeteiligung<br />

bei den finanzpolitischen Entscheidungen der Regierungen<br />

direkt vor unsere Haustür. Sie steht damit in der<br />

Tradition der global agierenden Bürgerproteste von NGOs wie<br />

»Amnesty International«, »Greenpeace«, »Attac« oder »Transparency<br />

International«. Auch im deutschen Südwesten haben<br />

»Wutbürger« im Zusammenhang mit »Stuttgart 21« ihre Kritik<br />

an bürgerfernen verkehrspolitischen Planungs- und Entscheidungsprozessen<br />

lautstark artikuliert, genauso wie regionale<br />

Initiativen wenig später gegen den umstrittenen Fluglärm-<br />

Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und der Schweiz<br />

sowie gegen Pläne der Landesregierung zur Einrichtung eines<br />

»Nationalparks Nordschwarzwald« protestiert haben. Und<br />

schließlich war die Unzufriedenheit überwiegend junger Wählerinnen<br />

und Wähler mit unzureichenden Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />

in den etablierten demokratischen Parteien<br />

eine Ursache für das Entstehen der »Piraten«-Partei und ihrer<br />

Forderung nach internetgestützter Direktbeteiligung an parteiinternen<br />

Meinungsbildungsprozessen, z. B. über elektronische<br />

»liquid feedback«-Methoden. »Liquid democracy« wurde<br />

zum provokanten Schlagwort der neuen Partei, die z. B. über<br />

ständige Mitgliederversammlungen unmittelbare Betei ligungs<br />

formen – ohne den Umweg über Delegierten-Parteitage<br />

– zu garantieren verspricht.<br />

All das sind spektakuläre Formen zivilgesellschaftlichen Engagements,<br />

die von den Medien gern aufgegriffen und in der politischen<br />

Öffentlichkeit breit diskutiert werden. Seit vielen Jahren<br />

gibt es aber auch »stillere« Formen von Bürgerbeteiligung, die<br />

Teil der politisch-administrativen Normalität geworden sind: Eltern<br />

engagieren sich in Schulkonferenzen, die mit erweiterten<br />

Kompetenzen ausgestattet werden, Anwohner beteiligen sich an<br />

der Stadtentwicklungsplanung, insgesamt gilt: Bürgerinnen und<br />

Bürger engagieren sich aktiv und selbstbewusst bei der Gestaltung<br />

ihres unmittelbaren Lebensumfeldes in der Nachbarschaft,<br />

dem Stadtviertel, der Kommune oder dem Landkreis. Sie nutzen<br />

Angebote der deliberativen Bürgerbeteiligung, die sich mittlerweile<br />

stark ausgeweitet haben: Bürgerkonferenzen, Zukunftswerkstätten,<br />

Szenario-Workshops usw. In diesem Zusammenhang<br />

hat sich im Verlauf der vergangenen 10 Jahre die Anzahl der<br />

Bürgerentscheide auf der Ebene der kommunalen Gebietskörperschaften<br />

verdreifacht. Weder Gemeinderäte noch Stadtverwaltungen<br />

können sich diesen Ansprüchen ihrer Bürger mehr entziehen,<br />

im Gegenteil: Sie haben die vielfältigen Vorteile einer<br />

Abb. 1. Die Pnyx in Athen war seit den Reformen des Kleisthenes der Tagungsort,<br />

wo bis 330 v. Chr. die Volksversammlungen der Athener abgehalten wurde.<br />

Im Vordergrund die Rednertribühne, die Bema, im Hintergrund die Akropolis.<br />

© John Hios,picture-alliance, akg<br />

kontinuierlichen Kooperation mit der interessierten Öffentlichkeit<br />

mittlerweile erkannt und in ihre Entscheidungsabläufe integriert.<br />

Die historischen Wurzeln des Anspruchs auf<br />

Bürgerbeteiligung<br />

Das Thema »Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest« hat aber keineswegs<br />

nur tagesaktuelle Aspekte, von denen einige kurz skizziert<br />

wurden. Wichtiger ist im Folgenden seine historische Tiefendimension,<br />

liegen die Wurzeln des Anspruchs auf politische<br />

Teilhabe doch in der europäischen Geschichte selbst. Mit grundsätzlich<br />

neuem Anspruch – deshalb sprach der Althistoriker Christian<br />

Meier mit Recht von einem »Neubeginn der Weltgeschichte« –<br />

wurde Bürgerpartizipation erstmals im Modell der attischen<br />

Demokratie praktiziert und in ein Verfahren überführt, das Politik<br />

als die »Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion herbeizuführen«<br />

(Moses Finley) verstand, und zwar vor allem über die<br />

direkte Beteiligung der Bürger in der Institution der Volksversammlung.<br />

Aber auch im europäischen Mittelalter galt Herrschaft<br />

nur dann als legitim, wenn sie auf dem Konsens mit den zur politischen<br />

Teilhabe berechtigten Untertanen beruhte. So erkämpfte<br />

sich das mittelalterliche Stadtbürgertum von den vormaligen<br />

adli gen oder geistlichen Stadtherren Formen politischer Selbstverwaltung<br />

und Bürgerfreiheit, die es sich durch verbriefte Privilegien<br />

garantieren ließ. »Stadtluft macht frei« stammt als Schlagwort<br />

zwar aus dem 19. Jahrhundert, trifft aber den Kern des<br />

städtischen Selbstbestimmungsanspruchs. Auch auf dem Land<br />

entstand im Spätmittelalter ein selbstbewusster partizipativer<br />

»Kommunalismus« (Peter Blickle), der immerhin der bäuerlichen<br />

Oberschicht gemeindliche Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber<br />

grundherrlicher und obrigkeitlicher Bevormundung garantierte.<br />

Dieser bildete die Basis nicht nur für den Widerstand<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa D&E Heft 65 · 2013


der Schweizer Eidgenossen seit 1291 gegen die habsburgischen<br />

Territorialisierungsabsichten, sondern auch für die kollektive Widerständigkeit<br />

des »gemeinen Mannes« im Bauernkrieg 1525. Die<br />

Wirkmächtigkeit solch kollektiver Beteiligungstraditionen in Europa<br />

zeigt sich übrigens in dem nur auf den ersten Blick paradoxen<br />

Sachverhalt, dass später selbst absolutistische und totalitäre<br />

Regimes ständische bzw. parlamentarische Mitbestimmungsgremien<br />

bezeichnenderweise auch dann nicht abgeschafft haben,<br />

wenn sie sie faktisch bereits entmachtet hatten.<br />

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die langen Traditionen<br />

direkter politischer Teilhaberechte in der Geschichte Europas<br />

nachzuzeichnen – gleichwohl sollten sie nicht in Vergessenheit<br />

geraten, weil diese phasenweise auch immer wieder verschütteten<br />

Traditionslinien eine normative Wirkung entfaltet haben, die<br />

bis in die Gegenwart reicht. Europa war und ist ein Raum zwar<br />

stets umkämpfter, aber gerade in diesen Kämpfen sich unaufhaltsam<br />

entfaltender Partizipationsformen. Sie mündeten im<br />

späten 18. Jahrhundert ins Programm einer »bürgerlichen Gesellschaft«:<br />

In ihrem Zentrum stand »das Ziel einer modernen, säkularisierten<br />

Gesellschaft freier, mündiger Bürger (citoyens), die<br />

ihre Verhältnisse friedlich, vernünftig und selbstständig regelten,<br />

ohne allzu viel soziale Ungleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche<br />

Gängelung, individuell und gemeinsam zugleich.« (Jürgen Kocka,<br />

vgl. | M 1 |). Dieser epochal neue Lebensentwurf artikulierte sich<br />

in den Revolutionen von 1776 in Amerika, 1789 in Frankreich und<br />

1848 in Deutschland und Europa. Im 20. Jahrhundert entwickelte<br />

sich aus dem sozial begrenzten Programm der »bürgerlichen Gesellschaft«<br />

das universale Konzept einer »Zivilgesellschaft« bzw.<br />

»civil society«, die sich insbesondere nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs in Nordamerika und Europa, schließlich zusehends<br />

auch global entfaltete. Diese zivilgesellschaftliche Ausweitungsbewegung<br />

soll im Folgenden für die Zeit zwischen 1945 und 1990<br />

nachgezeichnet werden.<br />

Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest seit 1945<br />

Beginnen wir mit einem Tatbestand, der auf den ersten Blick vielleicht<br />

überraschend erscheinen mag: Der »Zivilisationsbruch«<br />

(Dan Diner) der Jahre 1933–45 und der 1947 einsetzende »Kalte<br />

Krieg« etablierten mit der pluralistisch-repräsentativen Demokratie<br />

im Westen und der »Volksdemokratie« im Osten zwei einander<br />

diametral entgegengesetzte Demokratiemodelle, die direkte<br />

Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger gleichermaßen<br />

bewusst einhegten und in ihrer Entfaltung begrenzten, wenn<br />

auch aus gänzlich unterschiedlichen Begründungszusammenhängen<br />

heraus. Waren die Beweggründe im Westen einerseits die<br />

zuerst in den »Federalist Papers« der us-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung<br />

systematisch begründeten repräsentativen<br />

Traditionen der US-Verfassung, andererseits die vermeintlich<br />

schlechten Erfahrungen in Deutschland mit den plebiszitären Elementen<br />

der Weimarer Verfassung angesichts ihrer Instrumentalisierbarkeit<br />

für antidemokratische Bewegungen, so wirkten im<br />

Osten die auf Rousseau (»volonté générale«) zurückgehenden<br />

identitätstheoretischen Grundannahmen des sozialistischen Demokratiebegriffs<br />

(z. B. »Einheitslisten«) und Lenins Parteitheorie<br />

(»Avantgarde des Proletariats«) restriktiv auf die ideologisch eigentlich<br />

propagierte »Entfaltung einer breiten Massenbewegung<br />

als der breitesten Zusammenfassung aller fortschrittlichen demokratischen,<br />

antinazistischen Kräfte« (Walter Ulbricht, Wilhelm<br />

Pieck und Anton Ackermann am 17.2.1945).<br />

Beginnen wir mit der jungen Bundesrepublik: Entgegen seiner dezidiert<br />

repräsentativ angelegten Grundtendenz entfaltete das<br />

Grundgesetz in der »Kanzlerdemokratie« Konrad Adenauers<br />

seine partizipationsbegrenzende Wirkung nur teilweise, was<br />

prima facie überraschen mag. Zum Katalysator der eigentlich systemfremden<br />

Selbstorganisation der oppositionellen Staatsbürger<br />

wurde die Verteidigungspolitik: Eine breite pazifistische Bewegung,<br />

die sich bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre unter der<br />

Abb. 2 Tausende von Demonstranten auf dem Trafalgar Square in London.<br />

1958 wurde der erste viertägige Marsch von London nach Aldermaston in Berkshire<br />

von der »Kampagne für nukleare Abrüstung« organisiert. Dieser »Alderston<br />

March« gilt als Beginn der europäischen Ostermärsche gegen atomare Bewaffnung.<br />

© Mary Evans Picture Library, 4.4.1958, picture alliance<br />

Parole »Ohne mich!« gegen Adenauers Wiederbewaffnungspolitik<br />

formiert hatte, schwoll weiter an, als 1956 Pläne zur Ausrüstung<br />

der eben erst gegründeten Bundeswehr mit Atomwaffen<br />

bekannt wurden. Der Protest wurde außer von der SPD auch<br />

von Kirchen, Gewerkschaften, Hochschulen, Studentenvertretungen,<br />

Künstlern und Schriftstellern getragen. Große Resonanz<br />

fand 1957 die »Göttinger Erklärung« (| M 2 |), in der 18 namhafte<br />

deutsche Atomforscher die Nuklearpläne Adenauers scharf kritisierten.<br />

Der 1958 gegründete Arbeitsausschuss »Kampf dem<br />

Atomtod« organisierte zahlreiche Massendemonstrationen in<br />

deutschen Städten, an denen Hunderttausende von Menschen<br />

teilnahmen, die Adenauers Pläne schließlich erfolgreich zu Fall<br />

brachten, nachdem auch bei den Westalliierten, insbesondere<br />

den USA, Bedenken laut geworden waren. Das war der erste spektakuläre<br />

Erfolg einer regierungskritischen Bürgerbewegung, die<br />

ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung in autonom organisierten<br />

Formen öffentlichen Protests artikulierte.<br />

Bereits diese erste zivilgesellschaftliche Bewegung der jungen<br />

Bundesrepublik war vernetzt mit pazifistischen Gruppen in Europa,<br />

insbesondere in Großbritannien: mit den »War Resisters›<br />

International«, dem »Direct Action Committee Against Nuclear<br />

War« und der »Campaign for Nuclear Disarmament«. Diese organisierte,<br />

unabhängig von den deutschen Protesten, an Ostern<br />

1958 den »Aldermaston March« von London zum Atomforschungszentrum<br />

Aldermaston mit 10.000 Teilnehmern, aus dem sich in<br />

den Folgejahren in ganz West<strong>europa</strong> die Ostermarsch-Bewegung<br />

entwickelte. Der erste deutsche Ostermarsch fand 1960 statt,<br />

nachdem Gerüchte über eine geplante Erprobung von Atomraketen<br />

in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-<br />

Belsen laut geworden waren. Er war als Sternmarsch organisiert<br />

und endete am Ostermontag 1960 beim Truppenübungsplatz<br />

Bergen-Hohne mit mehr als 1000 Teilnehmern. In diesen Aktivitäten<br />

kann man mit guten Gründen die Anfänge der neuen sozialen<br />

Bewegungen der 70er Jahre, insbesondere der <strong>europa</strong>weiten Friedensbewegung<br />

sehen, auf die später noch zurückzukommen ist.<br />

Auf eine weitere transnationale Vernetzung ist hinzuweisen: Träger<br />

des ersten deutschen Ostermarschs war der Hamburger<br />

»Aktions kreis für Gewaltlosigkeit«, dessen Name bereits auf den<br />

35<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


36<br />

ANDREAS GRIESSINGER<br />

Abb. 3 Nach vorangegangenen Streiks in Ost-Berliner Betrieben versammelten sich am 17. Juni 1953<br />

Demonstranten in den Straßen von Berlin und in der ganzen DDR, um gegen das SED-Regime zu protestieren<br />

– hier wird ein sowjetischer Panzer am Potsdamer Platz mit Steinen beworfen. Sowjetische Truppen<br />

und die Nationale Volksarmee der DDR warfen den Volksaufstand in der DDR mit Waffengewalt nieder.<br />

© zb-archiv, picture alliance, 17.6.1953<br />

gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis in der indischen Unabhängigkeitsbewegung<br />

der 40er Jahre verweist, der gleichzeitig<br />

weltweit Vorbild und Katalysator für antikoloniale Proteste<br />

wurde. Er beeinflusste auch die Bürgerrechtsbewegung in den<br />

USA gegen Rassentrennung und -diskriminierung, die 1954 mit<br />

dem berühmten Urteil des Supreme Court im Fall »Brown v. Board<br />

of Education of Topeka, Kansas« zur Massenbewegung heranwuchs.<br />

Den Anstoß zu der Bewegung gaben fortbestehende Formen<br />

von Rassentrennung, obwohl der Oberste Gerichtshof der<br />

USA entschieden hatte, dass die Integration von Minderheiten für<br />

die öffentlichen Schulen eine Pflicht darstelle und die Rassentrennung<br />

an Schulen verfassungswidrig sei. Aus der amerikanischen<br />

Bürgerrechtsbewegung gingen nicht nur Martin Luther<br />

King als charismatischer Führer hervor, der 1968 ermordet wurde,<br />

sondern auch Stokely Carmichael und Malcolm X mit ihrer radikalen<br />

»Black Power«-Bewegung, die in die ebenfalls von den USA<br />

ausgehende 68er-Bewegung einmündete. Über sie ist später zu<br />

berichten, bleiben wir zunächst in der Frühphase der zivilgesellschaftlichen<br />

Bewegungen.<br />

Denn bürgerschaftlicher Protest war keineswegs ein Monopol des<br />

Westens: Auch in der DDR meldeten Bürger, ermutigt durch Stalins<br />

Tod, bereits in den 50er Jahren ihre Partizipationsforderungen<br />

unüberhörbar an, wenn auch – hier liegt der Unterschied zur<br />

Bundesrepublik – ohne Erfolg: Nach ersten Arbeiterstreiks am 11.<br />

und 12. Juni 1953 zogen Bauarbeiter der Ostberliner Stalinallee,<br />

des Vorzeigeprojekts sozialistischen Wohnungsbaus, am Morgen<br />

des 16. Juni vor das Haus der Ministerien: Forderungen nach Rücknahme<br />

der kurz zuvor verordneten Normerhöhungen und einem<br />

Generalstreik wurden laut. Wir wissen heute, dass die Wortführer<br />

und Organisatoren der Streikbewegung überwiegend ältere Arbeiter<br />

waren, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik gewerkschaftlich<br />

organisiert waren und auf Erfahrungen mit der<br />

Planung und Durchführung von Streiks zurückgreifen konnten –<br />

hier zeigt sich überdeutlich die Bedeutung bürgerschaftlicher<br />

Teilhabetraditionen als Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit.<br />

Am 17. Juni verbreitete sich die Protestbewegung flächenbrandartig<br />

und dehnte sich in den folgenden Tagen auf über<br />

560 Orte der DDR aus, wobei städtische Mittelschichten, Bauern<br />

und Intellektuelle hinzustießen. Allein am 17. Juni beteiligten sich<br />

über 500 000 Menschen an Streiks und über 400.000 an Demonstrationen.<br />

Dabei waren neben wirtschaftlichen und sozialpolitischen<br />

Forderungen auch Rufe nach freien Wahlen, deutscher Einheit<br />

und Rücktritt der Regierung zu hören (| M 5 |). Nachdem<br />

Volkspolizei und Stasi die Kontrolle über die Situation verloren<br />

hatten, wurde der Volksaufstand von sowjetischen Panzern niedergeschlagen,<br />

wobei mehr als 50 Protestierende erschossen und<br />

40 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung hingerichtet<br />

wurden. 3 000 Demonstranten wurden von der Sowjetarmee<br />

festgenommen, es folgten weitere 13 000<br />

Verhaftungen durch die zuständigen Organe<br />

der DDR. Nur das gewaltsame Vorgehen der<br />

»Roten Armee« hatte die SED vor dem Sturz<br />

durch die Volksbewegung gerettet. Die erste<br />

Massenerhebung gegen ein kommunistisches<br />

Regime nach 1945 war von Panzern niedergewalzt<br />

worden, der Westen war den Aufständischen<br />

nicht zu Hilfe gekommen. Drei<br />

Jahre später, im Jahr 1956, erfuhren die Aufständischen<br />

in Budapest dann dasselbe<br />

Schicksal, und auch der zu Unrecht weitgehend<br />

vergessene Posener Aufstand im selben<br />

Jahr wurde von der polnischen Armee blutig<br />

niedergeschlagen, diesmal allerdings ohne<br />

sowjetische Beteiligung – auch das sind<br />

deutliche Hinweise auf transnationale Zusammenhänge<br />

und Wechselwirkungen.<br />

Zurück zum Westen: Nach den ersten Erfolgen<br />

der bundesrepublikanischen Bürgerbewegung<br />

in der Mitte der 50er Jahre musste<br />

Adenauer weitere Niederlagen gegen eine<br />

zusehends kritischer werdende Öffentlichkeit hinnehmen, und<br />

zwar einerseits während der »Präsidentschaftskrise« 1959, in der<br />

er das Amt des Bundespräsidenten anstrebte, um die Politik seines<br />

designierten Nachfolgers Erhard kontrollieren zu können, andererseits<br />

beim »Fernsehstreit« 1960, während dem Adenauer ein<br />

zweites Fernsehprogramm unter Einfluss und Aufsicht der Bundesregierung<br />

schaffen wollte. Die wachsende öffentliche Kritik<br />

an seiner paternal-autoritären »Kanzlerdemokratie« führte bei<br />

der Bundestagswahl 1961 schließlich zum Verlust der absoluten<br />

Mehrheit für CDU und CSU. Das unwiderrufliche Ende der »Ära<br />

Adenauer« wurde dann 1962 durch die »SPIEGEL-Affäre« und die<br />

durch sie ausgelöste Regierungskrise eingeleitet: Ein in dem<br />

Hamburger Nachrichtenmagazin abgedruckter kritischer Artikel<br />

zur Verteidigungspolitik der CDU führte zur Verhaftung des Herausgebers<br />

Rudolf Augstein, mehrerer leitender Redakteure und<br />

des verantwortlichen Journalisten Conrad Ahlers, die Verteidigungsminister<br />

Franz-Josef Strauß persönlich veranlasst hatte. Die<br />

folgende Durchsuchung der »SPIEGEL«-Redaktionsräume begründete<br />

Adenauer angesichts heftiger öffentlicher Proteste mit<br />

einem »Abgrund von Landesverrat«, der sich aufgetan habe. Massenkundgebungen<br />

von Studierenden und Gewerkschaften waren<br />

die Folge, bei denen von massiven Eingriffen in die Presse- und<br />

Meinungsfreiheit gesprochen wurde. Als selbst der Koalitionspartner<br />

FDP den Rücktritt von Franz-Josef Strauß forderte, war<br />

Adenauer am Ende: Er gab nach, bildete ein neues Kabinett, dem<br />

Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für<br />

den Herbst 1963 an. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik<br />

war aus einer politischen Krise die kritische Öffentlichkeit als Siegerin<br />

hervorgegangen. Das sollte in den kommenden Jahren<br />

Schule machen.<br />

Wendejahr 1968<br />

Die nächste Etappe in der Verbreiterung politischer Bürgerbeteiliung<br />

bildete das Jahr 1968 in der Bundesrepublik, dessen Wurzeln<br />

wiederum in den USA lagen. Die 68er-Bewegung begann mit Protesten<br />

amerikanischer Studenten gegen den Vietnam-Krieg, die<br />

von dem 1960 gegründeten »Student Nonviolent Coordinating<br />

Committee« und den »Students for a Democratic Society« getragen<br />

wurden. Ihr Wortführer Tom Hayden formulierte schon 1962<br />

die Forderung nach einer »participatory democracy«. Diese Parole<br />

fiel in der Bundesrepublik rasch auf fruchtbaren Boden, wo<br />

die »Außerparlamentarische Opposition« angesichts der Großen<br />

Koalition eine »Transformation der Demokratie« (Johannes<br />

Agnoli) in Richtung eines technokratisch-autoritären Staats diagnostizierte.<br />

Als Indikatoren sah sie die auf die winzige FDP ge-<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Abb. 4 Streikende Arbeiter der Renault-Werke in Boulogne-Billancourt schauen vom Dach aus auf die<br />

Studenten, die am 17. Mai 1968 mit einem Marsch zum Werk des Automobilherstellers ihre Solidarität<br />

mit den streikenden Arbeitern bekunden wollen. Die Regierung de Gaulle unterschätzte die soziale<br />

Unzufriedenheit breiter Schichten der französischen Bevölkerung. 1968 führten die Maiunruhen zu<br />

bürgerkriegs ähnlichen Zuständen, in Paris lieferten sich die Studenten Straßenschlachten mit der Polizei.<br />

Die Gewerkschaften riefen am 13. Mai zum Generalstreik auf. Am 30. Mai löste Staatspräsident de Gaulle<br />

die Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen aus. Diese wurden von den Gaullisten gewonnen, die<br />

Ära de Gaulle fand trotzdem ihr Ende: Am 28. April 1969 trat Charles de Gaulle nach einem verlorenen<br />

Referendum zurück. © upi, picture alliance, 13.5.1968<br />

schrumpfte und damit zur Bedeutungslosigkeit<br />

verurteilte parlamentarische Opposition<br />

sowie die von der Großen Koalition geplanten<br />

Notstandsgesetze. Ganz im Sinne Haydens<br />

forderte auch der deutsche SDS eine<br />

partizipativ erweiterte »soziale Demokratie«,<br />

so Hans-Jürgen Krahl in seiner Römerbergrede<br />

am 27.5.1968, auf der Grundlage einer<br />

»aufgeklärten Selbsttätigkeit der mündigen<br />

Massen« (| M 9 |).<br />

Auch in anderen westeuropäischen Ländern<br />

begannen zeitgleich Studentenproteste, insbesondere<br />

in Frankreich und Italien, wo der<br />

Studentenbewegung – anders als in der Bundesrepublik<br />

– Aktionsbündnisse mit der organisierten<br />

Industriearbeiterschaft z. B. bei<br />

Renault und Fiat gelangen. In Frankreich<br />

musste Präsident de Gaulle sogar das Land<br />

verlassen, weil im »Mai 1968« die Zeichen auf<br />

Revolution zu stehen schienen. Allerdings<br />

gingen nach seiner Rückkehr die Konservativen<br />

aus den Juni-Wahlen durch einen klaren<br />

Wahlsieg gestärkt hervor, der die revolutionären<br />

Träume der Mai-Bewegung wie Seifenblasen<br />

platzen ließ.<br />

In der Bundesrepublik hingegen folgte auf<br />

das rebellische Jahr 1968 ein Wahlsieg der sozialliberalen<br />

Koalition, die CDU wurde erstmals<br />

seit Bestehen der Bundesrepublik auf die Oppositionsbank<br />

verdrängt. In Reaktion auf die Partizipationsforderungen der 68er<br />

kündigte der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner<br />

Regierungserklärung im Oktober 1969 programmatisch an, die<br />

sozialliberale Koalition wolle »mehr Demokratie wagen«: »Die Regierung<br />

kann in der Demo kratie nur erfolgreich wirken, wenn sie<br />

getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger[…]<br />

wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden<br />

und mitverantworten.« (| M 11 |)<br />

Es folgte in den Jahren danach ein breit ausgefächertes Reformprogramm<br />

in der Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik, das die<br />

Bundesrepublik nicht zuletzt durch eine verstärkte Bürgerbeteiligung<br />

liberalisierte und modernisierte. Bezeichnenderweise erreichte<br />

die Wahlbeteiligung nach Ablauf der ersten sozialliberalen<br />

Legislaturperiode im Jahr 1972 mit 91,1 % den bislang höchsten<br />

Wert in der Geschichte der Bundesrepublik – ein Rekordwert, von<br />

dem wir heute nur noch träumen können. SPD-Wahlkampfparolen<br />

wie »Wir schaffen das moderne Deutschland« und »Modell<br />

Deutschland« brachten den innovativen Zeitgeist einer »partizipativen<br />

Demokratie«, die Tom Hayden 1962 und der SDS 1968 gefordert<br />

hatten, auf den Begriff.<br />

1968 wurde aber nicht nur in West<strong>europa</strong> zum »Wendejahr«, auch<br />

im Ostblock hofften Menschen angesichts des Aufbruchs im Westen<br />

auf die Chance einer Demokratisierung innerhalb der poststalinistischen<br />

Strukturen. Ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«,<br />

der – wie im Westen – auf einer breiteren Beteiligung der<br />

Menschen beruhen sollte (| M 12 |), wurde im Jahr 1968 in der CSSR<br />

von Alexander Dubcek, dem Ersten Sekretär der KPC, ausgerufen.<br />

Der folgende Reformprozess ist unter dem Namen »Prager Frühling«<br />

in die Geschichte der europäischen Demokratiebewegungen<br />

eingegangen und wurde, wie die Juni-Revolution 1953 in der<br />

DDR und der Budapester Aufstand 1956, von Panzern der Sowjetunion<br />

und anderer Staaten des Warschauer Pakts gewaltsam beendet.<br />

Während mit dem Jahr 1968 in der Bundesrepublik eine<br />

»Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) begonnen<br />

hatte, endete 1968 für die Menschen des Ostblocks mit einer weiteren<br />

bitteren Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf Liberalisierung<br />

und Demokratisierung. In der DDR zählten zu den Enttäuschten<br />

so prominente Oppositionelle wie der Physiker Robert Havemann<br />

und der Song-Schreiber Wolf Biermann, über die ein Lehr- bzw.<br />

Auftrittsverbot verhängt wurde. SED-Chef Walter Ulbricht forderte<br />

angesichts der liberalisierten Lebensformen im Westen<br />

eine »saubere Leinwand«, um die DDR als »sauberen Staat« von<br />

der Bundesrepublik abzugrenzen, und in der jugendlichen »Unkultur«<br />

von »Gammlern« und »Langhaarigen« sah er »Erscheinungen<br />

der amerikanischen Unmoral und Dekadenz«. Erweiterte Partizipationsmöglichkeiten<br />

waren in dieser Stimmung von Intoleranz<br />

und Engstirnigkeit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.<br />

Anders in der Bundesrepublik: Die breite Politisierung, die sich<br />

seit 1968 vollzogen hatte, mobilisierte nach den Studenten und<br />

Schülern immer neue Gruppen, die sich innerhalb der politischen<br />

Öffentlichkeit nicht vertreten fühlten und deshalb ihre Teilhaberechte<br />

lautstark einklagten. Schon 1968 artikulierten SDS-Studentinnen<br />

ihren Protest gegen die männliche Hegemonie in den<br />

Führungsgremien der antiautoritären Organisationen und bildeten<br />

zunächst in Berlin einen »Aktionsrat zur Befreiung der Frau«<br />

(| M 15 |), später »Weiberräte« in mehreren Städten. Ihre Isolierung<br />

innerhalb des akademischen Sozialmilieus durchbrach die<br />

»neue Frauenbewegung« allerdings erst mit der 1971 begonnenen<br />

Kampagne gegen den § 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibung<br />

mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedrohte. Selbstbezichtigungen<br />

(»Ich habe abgetrieben!«) von 374 Frauen, darunter<br />

viele Prominente, in der Illustrierten »Stern« lösten 1971 eine Lawine<br />

von Fraueninitiativen, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen<br />

unter der provokativen Parole »Mein Bauch gehört<br />

mir!« aus. Sie führten 1974 zu der von der sozialliberalen<br />

Koalition verabschiedeten »Fristenlösung« für Abtreibungen, die<br />

allerdings ein Jahr später vom Bundesverfassungsgericht für nichtig<br />

erklärt und deshalb 1976 durch eine Indikationslösung mit verpflichtenden<br />

Beratungen vor einem Schwangerschaftsabbruch<br />

ersetzt wurde.<br />

Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre dominierten weniger spektakuläre,<br />

aber umso wirkungsvollere Frauenförderungs- und<br />

Selbsthilfeprojekte (»Frauen helfen Frauen«, »pro familia« usw.),<br />

die die Einrichtung von Frauenhäusern, die Einführung von Frauenquoten<br />

(z. B. in Parteien) und Gleichstellungsbeauftragten (im<br />

öffentlichen Dienst), die Schaffung von universitären Projekten<br />

und Lehrstühlen zur Frauen- und Geschlechterforschung sowie<br />

eine Teilreform des koedukativen Schulunterrichts zur Folge hatten.<br />

Die »pragmatische Wende« der Frauenpolitik spiegelte einen<br />

allgemeinen Stimmungswandel wider, der schon seit der ersten<br />

Hälfte der 70er Jahre begonnen hatte und sich seit Willy Brandts<br />

37<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


38<br />

ANDREAS GRIESSINGER<br />

Abb. 5 Frauenbewegung: Demonstration aus Anlass des Internationalen Frauentags am 8. März 1982.<br />

© Klaus Rose, picture alliance<br />

Rücktritt und dem Ende seiner Reformpolitik 1974 verstärkte.<br />

Sein Nachfolger Helmut Schmidt verkörperte auch als Person das<br />

Ende der seit 1968 verbreiteten Aufbruchsstimmung, zumal seine<br />

Amtszeit im Zeichen von Ölkrisen, weltwirtschaftlicher Talfahrt<br />

und einer »neuen Eiszeit« in den internationalen Beziehungen<br />

stand.<br />

Politik des pragmatischen Krisenmanagements<br />

und neues Krisenbewusstsein<br />

An die Stelle kühner Zukunftsentwürfe trat seit Mitte der 70er<br />

Jahre eine Politik des pragmatischen Krisenmanagements, dem<br />

es angesichts der heraufziehenden globalen Gefahren und der<br />

schrumpfenden Verteilungsspielräume schon hinreichend, zunehmend<br />

sogar erstrebenswert erschien, den Status quo zu konsolidieren,<br />

um drohende Katastrophen zu vermeiden. Bücher mit<br />

hohen Verkaufszahlen trugen nun Titel wie »Ende oder Wende?«,<br />

»Ein Planet wird geplündert« oder »Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit«<br />

– unübersehbar spiegelten sie den Übergang wider<br />

von der Reform-Euphorie zu einem umfassenden Krisenbewusstsein,<br />

wenn nicht gar zu kollektiven Ängsten, die sich nach<br />

den apokalyptischen Warnungen des »Club of Rome« vor den<br />

»Grenzen des Wachstums« (1972) vor allem auf die Bedrohung der<br />

natürlichen Lebensgrundlagen durch den industriewirtschaftlichen<br />

Raubbau an der Umwelt und die durch ihn bedingte Verknappung<br />

der natürlichen Ressourcen richteten.<br />

Das sich damit andeutende Ende des »Goldenen Zeitalters« (Eric<br />

Hobsbawm) der Nachkriegszeit entmutigte bürgerschaftliches<br />

Engagement aber keineswegs, im Gegenteil: Mit der Gründung<br />

des »Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz« (BBU)<br />

1972 schufen sich ökologische Bürgerinitiativen, die sich bislang<br />

eher lokaler oder regionaler Umweltprobleme angenommen hatten,<br />

erstmals bundesweit eine Dachorganisation. Hervorgegangen<br />

aus der Idee Willy Brandts, durch eine breitere Partizipation<br />

der Bürger an politischen Entscheidungen »mehr Demokratie zu<br />

wagen«, wuchsen Bürgerinitiativen in den folgenden Jahren kontinuierlich<br />

an und erreichten Ende der 70er Jahre ca. 1,8 Millionen<br />

Mitglieder, was etwa der Mitgliederzahl in politischen Parteien<br />

entsprach.<br />

Ihr durch Demonstrationen und Bauplatzbesetzungen artikulierter<br />

Protest richtete sich zunächst gegen großtechnische Atomenergiekonzepte,<br />

insbesondere gegen die geplanten Kernkraftwerke<br />

in Wyhl 1975, Brokdorf 1976 sowie Gorleben, Grohnde und<br />

Kalkar 1977. Hinzu traten Bürgerinitiativen, die sich anderen Themen<br />

zuwandten: Im Mittelpunkt standen<br />

Probleme des Verkehrs (Lärm und Luftverschmutzung<br />

durch Straßen- und Flughafenausbau,<br />

Fahrpreiserhöhungen bei öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln), der Stadtentwicklung<br />

(Hausbesetzungen gegen Sanierung, Bodenund<br />

Wohnraumspekulation), des Lebensraums<br />

von Kindern (Spielplätze, Kinderläden)<br />

und Jugendlichen (selbstverwaltete<br />

Jugendzentren) sowie der Bildung (alternative<br />

Pädagogik, Elternmitbestimmung).<br />

Nach einer Anfangsphase, in der lokale »Ein-<br />

Punkt-Aktionen« dominiert hatten, strebten<br />

in der zweiten Hälfte der 70er Jahre »grüne<br />

Listen« den Einzug in Kommunalvertretungen<br />

und Landtage an: Ihr zunächst nur punktueller<br />

Protest gegen Formen friedlicher und<br />

militärischer Nutzung von Kernenergie erweiterte<br />

sich zusehends zu einem programmatischen<br />

Widerstand gegen industriegesellschaftliche<br />

Wachstumsideologien, gegen<br />

die Bürokratisierung und Bürgerferne der<br />

Parteien und Parlamente sowie – ab 1979 –<br />

gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss,<br />

was angesichts ihrer Unterstützung durch die Friedensbewegung<br />

(| M 16 |) schnell zu ersten Erfolgen bei Kommunal- und Landtagswahlen<br />

seit 1979 führte. Die 1980 als Bundespartei gegründeten<br />

»GRÜNEN« zogen mit ihrer Wahlkampfparole »ökologisch – sozial<br />

– basisdemokratisch – gewaltfrei« dann 1983 in den Bundestag<br />

ein und wurden von da an endgültig zu einem wesentlichen<br />

Faktor innerhalb der bundesrepublikanischen Demokratie<br />

(| M 17 |). Auch in den anderen westeuropäischen Ländern spielten<br />

die neuen sozialen Bewegungen eine wachsende Rolle, wenn<br />

auch der Einzug ökologisch-pazifistischer Protestparteien in die<br />

Parlamente länger dauerte als in der Bundesrepublik.<br />

Neue soziale Bewegungen in Mittel- und<br />

Ost<strong>europa</strong> bis zur Wende 1989<br />

Eine ganz neue Dynamik entstand hingegen in Ost<strong>europa</strong>, wo in<br />

den 70er Jahren die zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegungen in<br />

erstaunlichem Tempo erstarkten, allerdings erkannte man im<br />

Westen nur langsam, welch grundlegende Veränderungen sich<br />

damit im Übergang zu den 80er Jahren vollzogen. So bedeuteten<br />

die u. a. von Vaclav Havel verfasste »Charta 77« (| M 18 |) in der<br />

CSSR sowie die Arbeiterunruhen auf polnischen Werften seit dem<br />

Sommer 1980, aus denen die unabhängige Gewerkschaft »Solidarnosc«<br />

hervorging, eine direkte Gefahr für die innere Stabilität<br />

des Ostblocks insgesamt und der DDR im Besonderen. Während<br />

in den folgenden Jahren verschiedene Ostblock-Staaten den Weg<br />

der Reform beschritten, so etwa Ungarn ab 1982 und die Sowjetunion<br />

mit Gorbatschow ab 1985, reagierte die SED mit einer strikten<br />

Abgrenzungspolitik und betrat damit den Weg in die Selbstisolierung,<br />

der sie wenige Jahre später in den Abgrund führen<br />

sollte.<br />

Denn mit der Kombination von wachsenden Wirtschafts- und Versorgungsproblemen<br />

einerseits und Liberalisierungstendenzen im<br />

Umfeld der verbündeten Ostblock-Staaten andererseits nahm der<br />

innenpolitische Druck auf die SED von Jahr zu Jahr weiter zu. Die<br />

Zahl oppositioneller Gruppen, die sich vor allem im Schutz der<br />

Kirchen formierten, wuchs weiter an (| M 19 |). Sie verstanden sich<br />

einerseits als Teil der gesamteuropäischen Friedensbewegung<br />

und protestierten gegen das neue Wettrüsten in Ost und West:<br />

Schon 1981 trugen 100.000 DDR-Jugendliche den von dem Jugendpfarrer<br />

Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher »Schwerter<br />

zu Pflugscharen«. Andererseits wuchs – wie im Westen – auch die<br />

Ökologie-Bewegung in der DDR, insbesondere nach der Reaktorkatastrophe<br />

im ukrainischen Tschernobyl 1986 und der auf sie<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


folgenden Desinformationspolitik der SED.<br />

Die Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen<br />

agierten allerdings – isoliert<br />

und ständig von Stasi-Schikanen bedroht –<br />

eher an der Peripherie der DDR-Gesellschaft,<br />

zumal sie, abgesehen von einigen westlichen<br />

»GRÜNEN«-Politikern, aus der Bundesrepublik<br />

kaum unterstützt wurden.<br />

Stärker als die Minderheit der oppositionellen<br />

Gruppen trat bereits seit 1975, als die<br />

DDR-Führung die KSZE-Schlussakte unterzeichnet<br />

hatte, die wachsende Zahl von Ausreiseanträgen<br />

ins öffentliche Bewusstsein,<br />

deren Zahl sich trotz Schikanen und Diskriminierungen<br />

von 21.500 im Jahr 1980 auf<br />

125.000 im Jahr 1989 steigerte. Auch das<br />

muss im europäischen Kontext als Teil der<br />

wachsenden Menschenrechtsbewegungen<br />

seit den 70er Jahren gesehen werden. Diese<br />

Massenbewegung führte zu ersten Konzessionen<br />

der SED: 1984 wurde erstmals 30.000<br />

Antragstellern die Übersiedelung genehmigt,<br />

obwohl ihre Anträge als rechtswidrig<br />

eingestuft worden waren. Die Hoffnung des<br />

Regimes auf eine Ventilfunktion trog allerdings:<br />

Das Zurückweichen des Regimes ermutigte im Gegenteil<br />

weitere DDR-Bürger, Ausreiseanträge zu stellen, sodass 1988 erneut<br />

mehr als 25.000 Genehmigungen erteilt werden mussten.<br />

Außerdem bildeten sich unter Berufung auf den KSZE-Prozess zusehends<br />

mehr Selbsthilfegruppen; ab 1983 gab es erste Demonstrationen<br />

Ausreisewilliger sowie Versuche, über Botschaften die<br />

Ausreise zu erwirken. Der Zusammenbruch der DDR wurde<br />

schließlich durch das Zusammenwirken der anschwellenden Ausreisebewegung<br />

einerseits und der in den folgenden Jahren erstarkenden<br />

Oppositionsbewegung andererseits erzwungen. Ihr gemeinsam<br />

erkämpftes Ergebnis war die »friedliche Revolution« des<br />

Jahres 1989, der – abgesehen von Rumänien – weitere gewaltlose<br />

Revolutionen im Ostblock folgen sollten. Pars-pro-toto sei die<br />

»samtene Revolution« in Prag im Dezember 1989 genannt, die von<br />

Vaclav Havel angeführt wurde. Das Jahr 1989 steht somit für den<br />

Erfolg vielfältiger zivilgesellschaftlicher Bürgerbewegungen, die<br />

sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speisen und auf eine<br />

lange Tradition in der Geschichte Deutschlands und Europas zurückblicken<br />

können.<br />

Neue Herausforderungen<br />

Im Gegensatz zu dieser Erfolgsgeschichte haben die zivilgesellschaftlichen<br />

Bürgerbewegungen in der »Berliner Republik« seit<br />

1990 und im Europa des 21. Jahrhunderts ihre Bewährungsprobe<br />

noch nicht bestanden. Im Zeichen sich beschleunigender Globalisierungsprozesse<br />

einerseits und sich gegenläufig verengender<br />

Handlungsspielräume auf nationalstaatlicher Ebene andererseits<br />

stehen sie vor besonders großen Herausforderungen. Um nur ein<br />

Beispiel zu nennen: Da die sich unaufhaltsam beschleunigende,<br />

ressourcenintensive Expansion der Weltwirtschaft die Biosphäre<br />

und damit die natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden<br />

Generationen offenkundig zusehends weiter gefährdet, könnte<br />

es eine immer wichtigere zivilgesellschaftliche Zukunftsaufgabe<br />

werden, die nicht-intendierten Folgen eines tendenziell unbegrenzten,<br />

von globalen Märkten gesteuerten Wirtschaftswachstums<br />

zu kontrollieren. Ob partizipative Bewegungen in der Lage<br />

sein werden, eine solche am Gemeinwohl orientierte Kontrolle<br />

von global organisierter Marktmacht angesichts oft anonymer,<br />

jedenfalls schwer greifbarer Akteure (»global players«) zu gewährleisten,<br />

kann aus historischer Perspektive nicht beantwortet<br />

werden. Ähnliche Fragen stellen sich bei weiteren globalen Zukunftsthemen,<br />

wie z. B. der Flüchtlings- und Asylproblematik, der<br />

Abb. 6 Nahezu eine Million Bürger versammelten sich am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz<br />

und demonstrierten friedlich für Veränderungen in der DDR. Die Demonstranten forderten auf einem<br />

Transparent »Die Jugend geht, das Land wird kahl – wir fordern endlich Freie Wahl». Als im Frühjahr 1989<br />

bekannt wurde, dass die SED für die Fälschungen bei der Kommunalwahl verantwortlich war, gingen<br />

immer mehr Menschen auf die Straße. Vom September an bildeten sich immer neue zivilgesellschaftliche<br />

Gruppen, wie z. B. das »Neue Forum«, der »Demokratische Aufbruch«, die »SDP« und andere Oppositionsgruppen.<br />

© Reinhard Kaufhold dpa, picture alliance<br />

Arbeitsmigration und der Menschen- und Bürger rechtsthematik<br />

insgesamt. Auch wenn die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure in<br />

diesen und anderen Globalisierungsprozessen der Zukunft<br />

schwer einschätzbar ist, so kann eine historisch reflektierte<br />

Rückbesinnung auf die langen Traditionen und wechselnden Konjunkturen<br />

zivilgesellschaftlichen Engagements und Protests in<br />

Deutschland und Europa bei der Suche nach einem demokratischen<br />

Weg ins 21. Jahrhundert doch mit Sicherheit eine wichtige<br />

Orientierung bieten.<br />

Literaturhinweise<br />

Bauerkämper, Arnd (Hrsg.) (2003): Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure,<br />

Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt/Main, New<br />

York.<br />

Blickle, Peter (2000): Kommunalismus. 2 Bände (Band 1: Ober<strong>deutschland</strong>,<br />

Band 2: Europa). München.<br />

Diner, Dan (Hrsg.) (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main.<br />

Finley, Moses (1980): Antike und moderne Demokratie. Stuttgart.<br />

Gilcher-Holtey, Ingrid (2001): Die 68er Bewegung. Deutschland – West<strong>europa</strong><br />

– USA. München.<br />

Gransow, Volker/Jarausch, Konrad H.(Hrsg.) (1991), Die deutsche Vereinigung.<br />

Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln.<br />

Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.) (2009): Revolution und Wiedervereinigung<br />

1989/90. München.<br />

Hildermeier, Manfred/Kocka, Jürgen/Conrad, Christoph (Hrsg.) (2000): Europäische<br />

Zivilgesellschaft in Ost und West. Frankfurt/Main, New York.<br />

Meier, Christian (1993): Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin.<br />

Nolte, Paul (2012): Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München.<br />

Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) (2010): Die sozialen Bewegungen in<br />

Deutschland seit 1945. Frankfurt.<br />

39<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


40<br />

ANDREAS GRIESSINGER<br />

Materialien<br />

M 1<br />

Der Historiker Jürgen Kocka: Das<br />

»Programm der bürgerlichen Gesellschaft«<br />

(2008)<br />

Es wurde in den bürgerlich geprägten Logen<br />

und Lesegesellschaften, den Vereinen und<br />

Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts<br />

diskutiert, bald auch auf öffentlichen<br />

Versammlungen und Festen der sich ausbreitenden<br />

liberalen Bewegung. Es war ein zukunftsgerichteter<br />

Entwurf, zu dem sehr verschiedene<br />

Autoren beigetragen hatten – von<br />

John Locke und Adam Smith über Montesquieu<br />

und die Enzyklopädisten bis zu Immanuel<br />

Kant und den liberalen Denkern des<br />

19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieses Entwurfs<br />

stand das Ziel einer modernen, säkularisierten<br />

Gesellschaft freier, mündiger Bürger<br />

(»citoyens«), die ihre Verhältnisse friedlich,<br />

vernünftig und selbstständig regelten, ohne allzu viel soziale Ungleichheit,<br />

ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und<br />

gemeinsam zugleich. Dazu bedurfte es bestimmter Institutionen:<br />

des Marktes, einer kritischen Öffentlichkeit, des Rechtsstaates<br />

mit Verfassung und Parlament. In dieser gesellschaftlich-politischen<br />

Zielsetzung steckte ein neuer Daseinsentwurf, der auf Arbeit,<br />

Leistung und Bildung (nicht auf Geburt), auf Vernunft und<br />

ihrem öffentlichen Gebrauch (statt auf Tradition), auf individueller<br />

Konkurrenz wie auf genossenschaftlicher Gemeinsamkeit<br />

fußte und sich kritisch gegen zentrale Elemente des Alten Regimes<br />

wandte: gegen Absolutismus, gegen Geburtsprivilegien und<br />

gegen ständische Ungleichheit, auch gegen kirchlich-religiöse<br />

Orthodoxie. Dieses Programm hatte, wie gesagt, zwar seine Basis<br />

im sich neu formierenden Bürgertum (und in angrenzenden<br />

Schichten des niederen Adels und des Kleinbürgertums), aber der<br />

Tendenz nach war es ein Programm für alle, ein universales Modell,<br />

das auf Freiheit, Gleichheit und Teilnahme aller Bürger – im<br />

Sinne aller Staatsbürger – hindrängte und zugleich auf die Verallgemeinerung<br />

der bürgerlichen Kultur und Lebensweise über das<br />

Bürgertum hinaus abzielte. Durch Schulbildung, Literatur, Theater,<br />

Erziehung, Disziplin, Umgestaltung des öffentlichen Lebens<br />

sollte es alle prägen: der Bürger auf dem Weg vom bourgeois zum<br />

citoyen. Dies war ein imponierender Entwurf, durchaus utopisch<br />

und besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit von der Wirklichkeit<br />

entfernt.<br />

© Jürgen Kocka, Das Programm der bürgerlichen Gesellschaft in: Aus Politik und Zeitgeschichte<br />

9–10/2008, S. 3–9, hier: S. 4f.<br />

M 2<br />

M 3<br />

»Göttinger Erklärung« der 18 Atomwissenschaftler vom<br />

12.4.1957<br />

Eine Gruppe von Demonstranten führt ein Transparent mit der Parole »Kampf dem Atomtod« mit.<br />

Unter diesem Motto stand die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1958<br />

in Frankfurt am Main gegen Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung. © picture alliance, 1958<br />

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen<br />

die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von<br />

ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken<br />

schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte<br />

über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen<br />

sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen,<br />

die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch<br />

nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.<br />

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler<br />

Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um auszudrücken,<br />

dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen,<br />

sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden<br />

sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat<br />

eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima<br />

zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in<br />

großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung<br />

im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man<br />

diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen<br />

entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.<br />

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung<br />

der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche<br />

Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine<br />

kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe oder einen<br />

Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar<br />

machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität<br />

könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der<br />

Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir<br />

kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen<br />

vor dieser Gefahr sicher zu schützen.<br />

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen<br />

Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die<br />

Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der<br />

reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir<br />

viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber<br />

mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit.<br />

Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.<br />

Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche<br />

Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass<br />

die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen<br />

wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen<br />

Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber<br />

diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer<br />

für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens<br />

für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge<br />

für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines<br />

Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch<br />

am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert,<br />

wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen<br />

jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden<br />

bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem<br />

Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.<br />

Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche<br />

Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern,<br />

und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.<br />

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, u. a., www.hdg.de/lemo/html/dokumente/<br />

JahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungGoettingerErklaerung/index.html<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


M 4<br />

M 5<br />

Telegramm des Streikkomitees Bitterfeld an die DDR-<br />

Regierung vom 16.6.1953<br />

An die sogenannte Deutsche Demokratische Regierung in Berlin-<br />

Pankow:<br />

Wir Werktätigen des Kreises Bitterfeld fordern von Ihnen:<br />

1. Sofortigen Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokratischen<br />

Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht<br />

gebracht hat.<br />

2. Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen<br />

Werktätigen.<br />

3. Zulassung sämtlicher großer demokratischer Parteien West<strong>deutschland</strong>s.<br />

4. Freie und geheime direkte Wahlen spätestens in vier Wochen.<br />

5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangener (direkt politischer,<br />

sogenannter »Wirtschaftsverbrecher« und konfessionell<br />

Verfolgter)<br />

6. Sofortige Abschaffung der Zonengrenzen und Zurückziehung<br />

der Volkspolizei.<br />

7. Sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards.<br />

8. Sofortige Auflösung der sogenannten »National-Armee«.<br />

9. Keine Repressalien gegen auch nur einen Streikenden.<br />

© Der Morgen, Beilage vom 16./17.6.1953; zit. nach T. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR.<br />

Berlin 1991, S. 227f.<br />

M 6<br />

Volksaufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 in Ostberlin. Bauarbeiter riefen<br />

auf ihrem Marsch zum Haus der Ministerien den Generalstreik aus<br />

und forderten den Rücktritt der SED-Regierung. Der Volksaufstand in der<br />

DDR wurde von sowjetischen Panzern und der Nationalen Volksarmee der<br />

DDR niedergeschlagen. © picture alliance, 1953<br />

Lorant Rácz über die Diskussionen im Petöfi-Klub,<br />

Budapest 1956,<br />

M 7<br />

Teilnehmer einer Massendemonstration in Budapest (Ungarn) passieren in<br />

der Innenstadt einen sowjetischen Panzer. Im Hintergrund liegt der Torso<br />

des von der Menge gestürzten Stalindenkmals auf der Straße. Am<br />

23.10.1956 fielen bei einer zunächst friedlichen Kundgebung in Budapest<br />

erste Schüsse. Arbeiter, Studenten und Jugendliche bewaffneten sich in der<br />

Folge und nahmen den Kampf gegen die einrückenden sowjetischen Truppen<br />

auf. Grund für die Unruhen war die wachsende Unzufriedenheit der<br />

Bevölkerung mit dem Dogmatismus der Parteiführung, die in der Hand<br />

von Alt-Stalinisten lag. Mit dem Ausbruch der Revolution schien sich der<br />

Traum von der Unabhängigkeit zu erfüllen, der neu ernannte Regierungschef<br />

Imre Nagy kündigte sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer<br />

Pakt an. Am 4. November 1956 griffen jedoch rund 1.000 sowjetische<br />

Panzer und Bomber die Stadt von allen Seiten an – der Aufstand wurde<br />

blutig niedergeschlagen.<br />

© picture alliance<br />

Die vom Parteiführer Rákosi gegen die aufmüpfigen Schriftsteller<br />

geführten öffentlichen Angriffe, verbunden mit Drohungen und<br />

Repressalien, wurden von allen als Rückschlag in der politischen<br />

Entwicklung des Landes empfunden. In dieser gespannten Situation<br />

wirkte die aus Moskau eingelangte Nachricht über den im<br />

Februar 1956 abgehaltenen XX. Kongress der Kommunistischen<br />

Partei der Sowjetunion wie ein Paukenschlag. Die gefassten Kongress-Beschlüsse,<br />

so schien es, bestätigten das Juniprogramm<br />

1953 von Imre Nagy und das im Herbst 1955 veröffentlichte Memorandum<br />

der ungarischen Schriftsteller, Wissenschaftler und<br />

Künstler. Aufhorchen ließ der Beschluss des Kongresses, demzufolge<br />

aus dem Kapitalismus nicht nur ein Weg, der sowjetische,<br />

zum Sozialismus führen kann. Da kam auch schon die noch größeres<br />

Aufsehen verursachende Meldung über die am 25. Februar<br />

von Nikita Chruschtschow in einer geheimen Sitzung des Kongresses<br />

gehaltene sog. »Geheimrede«. In dieser Rede gab er unumwunden<br />

Stalin und dem mit seiner Person verbundenen Personenkult<br />

die Schuld für die blutigen Verbrechen der 30er und 40er<br />

Jahre. Trotz Geheimhaltung sickerte diese Rede durch und das<br />

ganze Land sprach nur noch vom XX. Kongress und der Rede<br />

Chruschtschows. Der seit dem Memorandum in der Presse geführte<br />

lockere Ton wurde immer schärfer und die von Imre Nagy<br />

angeführte Opposition fühlte sich bestätigt und bekam immer<br />

mehr Zulauf aus der Bevölkerung. In diesem Stadium rückten die<br />

Probleme aus Politik und Wirtschaft immer stärker in den Mittelpunkt<br />

der Diskussionen. Die Parteijugend erfasste am schnellsten<br />

die Situation und rief Anfang März 1956, unter der Schirmherrschaft<br />

ihrer eigenen Jugendorganisation (DISZ), eine anfangs lose<br />

Runde ins Leben, die sich einerseits aus aktiven Parteimitgliedern<br />

aus Politik, Wissenschaft und Kunst, anderseits aus der seit 1948<br />

verstoßenen Elite und aus Interessenten der Universitäten bildete.<br />

Zweck dieser ins Leben gerufenen Runde war, einem größeren<br />

Publikum die Gelegenheit zu bieten, außerhalb der Parteigremien<br />

die Thesen des XX. Kongresses auf breiterer Basis zu<br />

diskutieren. Der Kreis entwickelte sich unter dem Namen »Petöfi<br />

Kör«, das heißt »Petöfi Kreis«, zu einer Institution der vorrevolutionären<br />

Jugend, so wie seinerzeit anno 1848. Auch seitens der Bevölkerung<br />

fand der Kreis große Zustimmung und wurde von der<br />

Presse kommentiert und begeistert begrüßt. Er wurde zur Plattform<br />

für die sich um Imre Nagy versammelte Opposition aus Wissenschaftlern,<br />

Künstlern und den vom ZK der Partei geächteten<br />

Schriftstellern.<br />

© Lorant Rácz, Ein Requiem auf den Sozialismus. Ungarn 1953 bis 1956, Norderstedt 2003,<br />

S. 32–39, www.ungarn1956.de/site/40208613/default.aspx<br />

41<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


ANDREAS GRIESSINGER<br />

42<br />

M 8<br />

M 9<br />

In München demonstrierten 1962 Studenten gegen die Polizei-Maßnahmen<br />

in der Hamburger »SPIEGEL«-Redaktion. Etwa 300 Teilnehmer marschierten<br />

mit Spruchtafeln von der Universität zum Königsplatz, wo ein<br />

Sprecher die Forderung der Studenten nach Pressefreiheit unterstrich. Im<br />

Zuge der »SPIEGEL«-Affäre mussten sich Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins<br />

»Spiegel« wegen eines kritischen Artikels gegen eine Anklage wegen<br />

Landesverrats zur Wehr setzen, zeitweise waren der Herausgeber Rudolf<br />

Augstein und mehrere Redakteure inhaftiert. Am Ende musste der damalige<br />

Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, CSU, der die Verhaftungen<br />

veranlasst hatte, zurücktreten. © Klaus-Dieter Heirler, picture alliance<br />

»Römerbergrede« des SDS-Bundesvorstandsmitglieds<br />

Hans-Jürgen Krahl am 27.5.1968 in Frankfurt am Main<br />

vor 12.000 Menschen angesichts der bevorstehenden<br />

Bundestagsdebatte zu den Notstandsgesetzen<br />

Wir haben nur eine einzige Antwort auf die Notstandsgesetze zu<br />

geben: wenn Staat und Bundestag die Demokratie vernichten,<br />

dann hat das Volk das Recht und die Pflicht, auf die Straße zu gehen<br />

und für die Demokratie zu kämpfen. Wenn die Volksvertreter<br />

die Interessen des Volkes nicht mehr vertreten, dann wird das<br />

Volk seine Interessen selbst vertreten. […]<br />

Eine soziale Demokratie lebt nur durch die aufgeklärte Selbsttätigkeit<br />

der mündigen Massen. Daraus haben die Studentenbewegung<br />

und die außerparlamentarische Opposition die politische<br />

Konsequenz gezogen: auf die Bürokratien der Parteien und der<br />

Gewerkschaften können wir uns nicht verlassen, wenn wir nicht<br />

selbst anfangen zu handeln. Erst die oft herausfordernden Demonstrationen<br />

der Studenten haben viele Themen, welche die<br />

Herrschenden lieber verschwiegen hätten, zur öffentlichen Diskussion<br />

gestellt; so den Krieg in Vietnam […]. Unsere Aufklärungs-<br />

und Machtmittel sind geradezu lächerlich gering, gemessen<br />

an den gewaltigen Funk- und Fernseheinrichtungen sowie<br />

den mächtigen Staats- und Parteiverwaltungen. Aber mit den<br />

Mitteln des Flugblatts, der ständigen Diskussion und unseren Demonstrationen<br />

haben wir erreicht, dass immer mehr Menschen<br />

lernten, wie notwendig es ist, für seine Interessen selbst und aktiv<br />

einzutreten. Entgegen der Manipulation von Presse und Regierung,<br />

die uns von der Bevölkerung mit aller Gewalt isolieren wollen,<br />

hat die außerparlamentarische Opposition ihre Basis ständig<br />

erweitert: zunächst waren es die Studenten, dann die Schüler,<br />

jetzt sind es junge Arbeiter und auch immer mehr ältere Kollegen.<br />

Unsere Demokratie ist direkt und unmittelbar. Es gibt keine Sprecher<br />

und keine Gruppen, die sich nicht den Entscheidungen der<br />

Anwesenden unterwerfen müssten; es gibt keine Funktionäre, die<br />

einen Posten auf Lebenszeit einnehmen; alle unmittelbar Beteiligten<br />

entscheiden in direkter Abstimmung über die politischen<br />

Aktionen und Ziele. […]<br />

Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze steht die Uhr auf<br />

fünf Minuten vor 12. […] Die Losung für die nächsten Tage kann<br />

M 10<br />

nur sein: Politischer Streik! Nur eine Welle von Streiks ermöglicht<br />

schließlich den Generalstreik. Politischer Streik am Dienstag, politischer<br />

Streik am Mittwoch, politischer Streik in den Betrieben,<br />

an der Universität und in den Schulen. Es lebe die praktische Solidarität<br />

der Arbeiter, Studenten und Schüler!<br />

© D. Claussen/R. Dermitzel (Hg.), Universität und Widerstand. Frankfurt/Main (Europäische<br />

Verlagsanstalt) 1968, S. 34–41<br />

M 11<br />

Eine der Initialzündungen der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland war der »Internationale Vietnamkongress« des SDS 1968 in<br />

Berlin, bei dem u.a. Herbert Marcuse, Peter Weiss und Erich Fried als<br />

Referenten auftraten. Am Rednerpult der SDS-Vorsitzende Rudi<br />

Dutschke. © Klaus Rose, picture alliance, 17.2.1968<br />

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt,<br />

SPD, 28.10.1969<br />

I. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise<br />

öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information<br />

Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhörungen<br />

im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den<br />

repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende<br />

Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die<br />

Möglichkeit erhält, an der Reform vom Staat und Gesellschaft<br />

mitzuwirken.<br />

Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen,<br />

die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und<br />

belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim<br />

Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müssen<br />

aber verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft<br />

Verpflichtungen haben. Wir werden dem Hohen Hause ein<br />

Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18,<br />

das passive von 25 auf 21 herabgesetzt wird. Wir werden auch die<br />

Volljährigkeitsgrenze überprüfen.<br />

Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen<br />

unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden<br />

Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie<br />

schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet<br />

und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das<br />

Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verantwortung<br />

tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissenschaft<br />

und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen der Gesellschaft.<br />

Dies gilt nicht zuletzt für die Gewerkschaften, um deren<br />

vertrauensvolle Zusammenarbeit wir uns bemühen. Wir brauchen<br />

ihnen ihre überragende Bedeutung für diesen Staat, für seinen<br />

weiteren Ausbau zum sozialen Rechtsstaat nicht zu bescheinigen.<br />

Wenn wir leisten wollen, was geleistet werden muss, brauchen wir<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


alle aktiven Kräfte unserer Gesellschaft.<br />

[…] Wir werden uns ständig<br />

darum bemühen, dass sich die begründeten<br />

Wünsche der gesellschaftlichen<br />

Kräfte und der politische Wille<br />

der Regierung vereinen lassen. […]<br />

XV. Die Regierung kann in der Demokratie<br />

nur erfolgreich wirken, wenn<br />

sie getragen wird vom demokratischen<br />

Engagement der Bürger. Wir<br />

haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung,<br />

wie unser Volk Bedarf hat<br />

an gespreizter Würde und hoheitsvoller<br />

Distanz. Wir suchen keine Bewunderer;<br />

wir brauchen Menschen,<br />

die kritisch mitdenken, mitentscheiden<br />

und mitverantworten.<br />

Das Selbstbewusstsein dieser Regierung<br />

wird sich als Toleranz zu erkennen<br />

geben. Sie wird daher auch jene<br />

Solidarität zu schätzen wissen, die<br />

sich in Kritik äußert. Wir sind keine<br />

Erwählten; wir sind Gewählte. Deshalb<br />

suchen wir das Gespräch mit allen,<br />

die sich um diese Demokratie<br />

mühen. In den letzten Jahren haben manche in diesem Lande befürchtet,<br />

die zweite deutsche Demokratie werden den Weg der<br />

ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute<br />

weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie,<br />

wir fangen erst richtig an.«<br />

© Rainer A. Müller (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 11. Stuttgart<br />

(Reclam) 1996, S. 35–37, 41, 43f., 45f., 50f.<br />

M 12<br />

M 13<br />

»Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der<br />

Tschechoslowakei« (KPC), angenommen auf der<br />

Plenar tagung der ZK der KPC am 5.4.1968:<br />

Ihre Fähigkeit, die Gesellschaft zu leiten, hat die [Kommunistische]<br />

Partei besonders in der gegenwärtigen Zeit bewiesen, als<br />

sie aus eigener Initiative den Demokratisierungsprozess ausgelöst<br />

und seinen sozialistischen Charakter gesichert hat. […] Sie<br />

verwirklicht ihre führende Rolle nicht dadurch, dass sie die Gesellschaft<br />

beherrscht, sondern dadurch, dass sie der freien, fortschrittlichen<br />

und sozialistischen Entwicklung am treuesten dient.<br />

Sie kann sich ihre Autorität nicht erzwingen, sondern muss sie<br />

immer aufs Neue durch ihre Taten gewinnen. Ihre Linie kann sich<br />

nicht durch Verordnungen durchsetzen, sondern nur durch die<br />

Arbeit ihrer Mitglieder und die Wahrhaftigkeit ihrer Ideale.<br />

Die führende Rolle der Partei wurde in der Vergangenheit oft als<br />

Monopol, als Konzentration der Macht in der Hand der Parteiorgane<br />

aufgefasst. Das entsprach der falschen These, dass die Partei<br />

das Instrument der Diktatur des Proletariats sei. Diese schädliche<br />

Auffassung schwächte die Initiative und Verantwortung der<br />

staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen<br />

[…]. Die Partei will und wird die gesellschaftlichen Organisationen<br />

nicht ersetzen, sie muss im Gegenteil dafür sorgen, dass sich<br />

deren Initiative und politische Verantwortung für die Einheit unserer<br />

Gesellschaft erneuert und weiter entfaltet. Aufgabe der Partei<br />

ist es, einen solchen Weg der Befriedigung verschiedener Interessen<br />

zu suchen, der die gesamtstaatlichen Interessen nicht<br />

gefährdet, sondern ihnen im Gegenteil nützt und neue progressive<br />

Interessen schafft. Die Politik der Partei darf nicht dazu führen,<br />

dass die nicht-kommunistischen Bürger das Gefühl haben, in<br />

ihren Rechten und Freiheiten durch die Partei eingeschränkt zu<br />

werden, sondern dass sie vielmehr in der Tätigkeit der Partei die<br />

Garantie ihrer Rechte, Freiheiten und Interessen sehen. […]<br />

Demonstranten mit tschechoslowakischen Flaggen versuchen am 21. August 1968, russische Panzer und<br />

Fahrzeugkolonnen an der Weiterfahrt durch Prag zu hindern. Reformpolitiker innerhalb der Kommunistischen<br />

Partei unter der Führung Alexander Dubceks hatten seit dem Frühjahr 1968 versucht, in der Tschechoslowakei<br />

einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Die Truppen des Warschauer Pakts<br />

marschierten unter Führung der UdSSR in der Tschechoslowakei ein und beendeten den »Prager Frühling«<br />

schließlich mit Waffengewalt. © picture alliance, 21.8.1968<br />

Grundlage der Aktionsfähigkeit der Partei unter den neuen Bedingungen<br />

ist die ideelle und organisatorische Einheit, die auf der<br />

Basis breiter innerparteilicher Demokratie entsteht. Die wirksamste<br />

Waffe gegen das Eindringen von Methoden des bürokratischen<br />

Zentralismus in die Partei ist die Stärkung des Einflusses<br />

der Parteimitglieder auf die politische Linie, die Stärkung der<br />

Rolle aller wirklich demokratischen Organe. Die gewählten Organe<br />

der Partei sind vor allem dafür verantwortlich, dass alle<br />

Rechte der Mitglieder gewährleistet, dass Entscheidungen kollektiv<br />

getroffen werden und die Macht nicht in einer Hand konzentriert<br />

wird. […] Die Partei ist sich dessen bewusst, dass es in<br />

unserer Gesellschaft keine tiefgreifendere Entwicklung der Demokratie<br />

geben kann, wenn nicht demokratische Grundsätze<br />

konsequent im inneren Leben und der Arbeit der Partei selbst unter<br />

Kommunisten zur Anwendung kommen. Die Entscheidungen<br />

über alle wichtigen Fragen und die Kaderbesetzung von Funktionen<br />

muss nach demokratischen Regeln der Behandlung und<br />

durch geheime Abstimmung erfolgen. […] Dennoch aber haben<br />

sich bis zur heutigen Zeit in unserem ganzen politischen System<br />

die schädlichen Einflüsse der zentralistischen Entscheidung und<br />

Leitung erhalten. In den Beziehungen zwischen Partei, Staat und<br />

gesellschaftlichen Organisationen, in den inneren Beziehungen<br />

und Methoden dieser Komponenten, in den Beziehungen staatlicher<br />

und anderer Institutionen zu den Bürgern, in der Auffassung<br />

der Bedeutung der öffentlichen Meinung und der Informiertheit<br />

aller, in der Praxis der Kaderpolitik – überall dort kommen viele<br />

Dinge zum Ausdruck, die den Menschen das Leben vergällen […].<br />

Die Politik der Partei geht von der Forderung aus, dass es im ganzen<br />

Staatsmechanismus zu keiner allzu großen Konzentration der<br />

Macht innerhalb eines Gliedes, eines Apparates oder bei einer<br />

Einzelperson kommen darf. Man muss eine derartige Aufteilung<br />

der Machtbefugnisse und ein System gegenseitiger Kontrolle zwischen<br />

den einzelnen Gliedern festsetzen, dass die Fehler und<br />

Übergriffe des einen Gliedes beizeiten durch die Tätigkeit eines<br />

anderen korrigiert werden können. Dem müssen nicht nur die Beziehungen<br />

zwischen den gewählten und ausführenden Organen<br />

entsprechen, sondern auch die Beziehungen innerhalb des Mechanismus<br />

der staatlichen Exekutivmacht und Verwaltung und<br />

ebenso die Stellung und Funktion der Gerichte.<br />

© Zdenek Mlynar, Nachtfrost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen Sozialismus.<br />

Köln (EVA) 1978, S. 325–327, 329, 340<br />

43<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


ANDREAS GRIESSINGER<br />

M 14<br />

Menschenkette der »Friedensbewegung« am 22.10.1983 in Neu-Ulm. Über 200.000 Menschen<br />

demonstrierten an diesem Tag mit ihrer Menschenkette von Neu-Ulm bis Stuttgart gegen die Stationierung<br />

von atomaren US-Mittelstreckenraketen in Europa als Antwort der NATO auf die vorhergegangene<br />

Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 durch die Sowjetunion.<br />

Europa und besonders das geteilte Deutschland, so die Kritiker, drohten zum Schauplatz<br />

eines atomaren Schlagabtauschs der Supermächte zu werden.<br />

© Karin Hill, picture alliance<br />

Die Emanzipation der Frau ist ein Gradmesser der gesamtgesellschaftlichen<br />

Emanzipation. Es gibt keine Befreiung der Menschheit<br />

ohne die soziale, emotionale sowie ökonomische Unabhängigkeit<br />

und Gleichstellung von Mann und Frau. […]<br />

Kleine Mädchen werden rosa gekleidet, kleine Jungen hellblau.<br />

Kleine Mädchen werden zu haushaltsorientiertem Spiel angehalten,<br />

kleine Jungen wegen der Puppe ausgelacht. Die Jungen sollen<br />

das Haus verlassen, sollen selbstständig werden und Erfahrungen<br />

machen. Sich ruhig austoben, auch sexuell. Mädchen lernen bald,<br />

die Männer zu erwarten, wenn Vater und Brüder abends heimkommen<br />

und wenn das Essen vorbereitet sein muss. Sie identifizieren<br />

sich bald mit der Mutter, die über Lob des Vaters glücklich,<br />

über seine Unzufriedenheit schuldbewusst ist. […]<br />

In ihrer Vorbereitung auf die nie zu erreichende Illusion wird die<br />

Frau vorwiegend partnerorientiert. Die kapitalistische Gesellschaft<br />

unterstützt sie dabei mit Werbung und Entertainment. Von<br />

einer aufkommenden Bewusstheit ihrer Situation wird die Frau<br />

systematisch abgelenkt. Kleidung, Gehabe, Emotionen der Frau<br />

sind schließlich Ausdruck ihrer hochgradigen Partner-Erwartung.<br />

Für den Mann zeigt sich diese erregte Frau als erregendes Lustobjekt.<br />

In Filmen und Illustrierten wird ihm diese angeboten. Da er<br />

in seiner Erziehung und Beeinflussung zur überwiegenden Sachorientierung<br />

gebracht wurde, entspricht das Auswählen, Begutachten,<br />

Verbrauchen und Ablegen vom Konsumgut Frau durchaus<br />

seiner Art. Unsere Gesellschaft erzieht zwei Geschlechter, die<br />

durch unterschiedliche Lernprozesse voneinander im Sinne einer<br />

Arbeitsteilung materiell abhängig sind: Das Mädchen lernt vieles,<br />

was mit Haushalt zu tun hat. Der Junge wird davon ferngehalten.<br />

Er wird sich später in Haushaltsdingen so dumm anstellen, dass er<br />

eine Frau braucht. Das Mädchen wird umgekehrt in allem dumm<br />

gehalten, was nicht mit Haushalt zu tun hat. Deswegen braucht<br />

sie später einen Mann, der für sie sorgt.<br />

Emotional jedoch sind beide einander entgegengesetzt geworden:<br />

der Mann der kapitalistischen Gesellschaft ist ein emotionsloses<br />

Arbeitstier, die Frau ein gefühlshaftes Objekt. Ihre gegenseitigen<br />

Rollenerwartungen sind kaum vereinbar: […] Die starke<br />

Fixierung der Frau an den Mann bestätigt und befriedigt einerseits<br />

den Machtanspruch des Mannes, andererseits<br />

wird er durch ihre unerschöpflichen<br />

Zärtlichkeits- und Sinnlichkeitsansprüche<br />

stark belastet. […] Er ist außenorientiert, arbeitet<br />

an sachlichen Problemen, kann sich<br />

weiterentwickeln und lernen, während die<br />

Frau noch in eine Empfindungsdifferenzierung<br />

bis zur Schmerzhaftigkeit verstrickt ist.<br />

[…]<br />

Lassen wir uns zudem nicht vormachen,<br />

Emanzipation bedeute: dem Mann entsprechend<br />

zu werden. Würden wir der vermeintlichen<br />

Emanzipation des Mannes in einer autoritären<br />

Gesellschaft nacheifern, so wäre das<br />

Resultat gesteigerter Konkurrenzkampf, Aggressivität,<br />

Brutalität, Selbstunterdrückung.<br />

Denken wir daran, dass sich der Mann ebenso<br />

wie die Frau aus seiner Rollenfixierung emanzipieren<br />

muss.<br />

© Lutz Schulenburg (Hg.), Das Leben ändern, die Welt verändern.<br />

1968 – Dokumente und Berichte. Hamburg (Edition Nautilus)<br />

1998, S. 303 – 307<br />

M 16<br />

Krefelder Appell: »Der Atomtod<br />

bedroht uns alle – Keine Atomraketen<br />

in Europa« (16.11.1980)<br />

44<br />

M 15<br />

Aktionsrat zur Befreiung der Frau (1968): Emotionale<br />

Probleme der Frau – Politische Probleme<br />

Immer offensichtlicher erweist sich der Nachrüstungsbeschluss<br />

der NATO vom 12. Dezember 1979 als verhängnisvolle Fehlentscheidung.<br />

Die Erwartung, wonach Vereinbarungen zwischen den<br />

USA und der Sowjetunion zur Begrenzung der eurostrategischen<br />

Waffensysteme noch vor der Stationierung einer neuen Generation<br />

amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen in West<strong>europa</strong><br />

erreicht werden könnten, scheint sich nicht zu erfüllen. Ein<br />

Jahr nach Brüssel ist noch nicht einmal der Beginn solcher Verhandlungen<br />

in Sicht. […]<br />

Die Teilnehmer am Krefelder Gespräch vom 15. und 16. November<br />

1980 appellieren daher gemeinsam an die Bundesregierung,<br />

– die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II-Raketen<br />

und Marschflugkörpern in Mittel<strong>europa</strong> zurückzuziehen;<br />

– im Bündnis künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land<br />

nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen,<br />

vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens<br />

sein zu wollen.<br />

© Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1980, S. 1513; zit. nach Georg Fülberth,<br />

Geschichte der Bundesrepublik in Quellen und Dokumenten. Köln (Pahl-Rugenstein) 1983,<br />

S. 388f.<br />

M 17<br />

Der Soziologe Jörg Bopp 1983 über die »Grünen«<br />

Ohne Zweifel hat die Bundesrepublik seit dem Ende der 60er Jahre<br />

trotz aller Rückschläge einen kräftigen Demokratisierungsschub<br />

erlebt, der vor allem von Jugendlichen in Gang gesetzt wurde. […]<br />

Im Moment erleben wir einen neuen Versuch vorwiegend engagierter<br />

Jugendlicher, die bundesrepublikanische Gesellschaft zu<br />

demokratisieren. Waren 1968 vor allem die Sozialdemokraten mit<br />

Willy Brandt der politische »Hoffnungsträger«, so sind es heute<br />

die Grünen […].<br />

Um nun der Abschottung von neuen gesellschaftlichen Entwicklungen<br />

vorzubeugen, haben sich die Grünen auf einige Grundsätze<br />

des alltäglichen politischen Handelns festgelegt. Die damit<br />

anvisierten Handlungsstile sind zugleich politisches Programm:<br />

Rotation der Abgeordneten, imperatives Mandat, knappe Diäten,<br />

paritätische Aufteilung der Ämter zwischen den Geschlechtern,<br />

größtmögliche Veröffentlichung der parlamentarischen Arbeit,<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


Unterstützung außerparlamentarischer Oppositions-<br />

und Protestbewegungen, Relativierung<br />

des Legalitätsprinzips, legere Umgangsformen,<br />

Respektlosigkeit gegenüber<br />

den Ritualen des politischen Betriebs. Gegen<br />

die Versteinerung der politischen Parteien<br />

soll Basisdemokratie gestellt werden.<br />

© Christian Graf von Krockow (Hg.), Brauchen wir ein neues<br />

Parteiensystem? Frankfurt/Main (Fischer) 1983, S. 57f.<br />

M 18<br />

Die »Charta 77«, verfasst von Vaclav<br />

Havel u. a. (1977)<br />

Charta 77 ist eine freie informelle und offene<br />

Gemeinschaft von Menschen verschiedener<br />

Überzeugungen, verschiedener Religionen<br />

und verschiedener Berufe, verbunden durch<br />

den Willen, sich einzeln und gemeinsam für<br />

die Respektierung von Bürger- und Menschenrechten<br />

in unserem Land und in der<br />

Welt einzusetzen – jener Rechte, die den<br />

Menschen von beiden kodifizierten internationalen<br />

Pakten, von der Abschlussakte der<br />

Konferenz in Helsinki, von zahlreichen weiteren<br />

internationalen Dokumenten gegen<br />

Krieg, Gewaltanwendung und soziale und<br />

geistige Unterdrückung zugestanden werden<br />

und die zusammenfassend von der »Allgemeinen Erklärung der<br />

Menschenrechte« der UN zum Ausdruck gebracht werden.<br />

Charta 77 fußt auf dem Boden der Solidarität und Freundschaft<br />

von Menschen, die von der gemeinsamen Sorge um das Geschick<br />

der Ideale bewegt werden, mit denen sie ihr Leben und ihre Arbeit<br />

verbunden haben und verbinden. (…)<br />

Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit.<br />

Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in<br />

verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also<br />

nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Reformen<br />

oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem Wirkungsbereich<br />

einen konstruktiven Dialog mit der politischen und<br />

staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, dass sie auf verschiedene<br />

konkrete Fälle von Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte<br />

hinweist, deren Dokumentation verbreitet, Lösungen<br />

vorschlägt, die auf Vertiefung dieser Rechte und ihrer Garantien<br />

abzielen, und als Vermittler in anfallenden Konfliktsituationen<br />

wirken, die durch Widerrechtlichkeit verursacht werden können.<br />

Durch ihren symbolischen Namen betont Charta 77, dass sie an<br />

der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte politisch<br />

Gefangener erklärt wurde und in dessen Verlauf die Belgrader<br />

Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prüfen<br />

soll. (…) Wir glauben daran, dass Charta 77 dazu beitragen<br />

wird, dass in der Tschechoslowakei alle Bürger als freie Menschen<br />

arbeiten und leben können.<br />

© FAZ vom 7.1.1977, offizielle deutsche Veröffentlichung des Gründungstextes<br />

M 19<br />

M 20<br />

Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom<br />

1.6.1989 über oppositionelle Gruppen in der DDR in den<br />

80er Jahren<br />

Seit Beginn der 80er Jahre anhaltende Sammlungs- und Formierungsbestrebungen<br />

[…] führten zur Bildung entsprechender<br />

Gruppierungen und Gruppen. Diese sind fast ausschließlich in<br />

Strukturen der evangelischen Kirchen in der DDR eingebunden<br />

bzw. können für ihre Aktivitäten die materiellen und technischen<br />

Möglichkeiten dieser Kirchen umfassend nutzen. […] Gegenwärtig<br />

bestehen in der DDR ca. 160 derartige Zusammenschlüsse. […]<br />

Etwa zehntausend Demonstranten nahmen bereits am 4. November 1989 in Potsdam an einer bis<br />

dahin einmaligen, weil nicht vom Staat und seinen Massenorganisationen angeordneten Großdemonstration<br />

in der Innenstadt Potsdams teil und zeigten Transparente mit weitreichenden demokratischen<br />

Forderungen. Nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung und dem<br />

Besuch des sowjetischen Parteichefs Michael Gorbatschow entluden sich die Proteste schließlich<br />

am 9. November 1989, an dem Tag, als die Maueröffnung das Ende der DDR einleitete.<br />

© Bernd Blumrich, picture alliance<br />

Sie gliedern sich in knapp 150 sog. Kirchliche Basisgruppen, die<br />

sich selbst […] bezeichnen als »Friedenskreise« (35), »Ökologiegruppen«<br />

(39), gemischte »Friedens- und Umweltgruppen«<br />

(23), »Frauengruppen« (7), »Ärztekreise« (3); »Menschenrechtsgruppen«<br />

(10) bzw. »2/3-Welt-Gruppen« (39) und sogen. Regionalgruppen<br />

von Wehrdienstverweigerern. […]<br />

Ableitend aus sog. Gründungserklärungen und Strategiepapieren<br />

[…] bilden besonders folgende antisozialistische Inhalte/Stoßrichtungen<br />

die Schwerpunkte im Wirksamwerden feindlicher, oppositioneller<br />

Kräfte:<br />

1. Gegen die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus<br />

gerichtete Angriffe finden ihren konzentrierten Ausdruck<br />

in Forderungen nach Änderung der sozialistischen Staats- und<br />

Gesellschaftsordnung und nach »Erneuerung des Sozialismus«.<br />

Dabei berufen sich diese Kräfte immer stärker auf die<br />

Umgestaltungsprozesse und die damit verbundenen Entwicklungen<br />

in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern. Demagogisch<br />

werden Begriffe wie Glasnost, Demokratisierung,<br />

Dialog, Bürgerrechte, Freiheit für »Andersdenkende« oder<br />

Meinungspluralismus missbraucht […].<br />

2. Gegen die Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerichtete<br />

Angriffe konzentrierten sich unter dem Deckmantel der »Entmilitarisierung«<br />

der Gesellschaft auf Forderungen nach Beseitigung<br />

der vormilitärischen Erziehung und Ausbildung der Jugend<br />

(u. a. Unterrichtsfach Wehrerziehung), Abschaffung der<br />

Wehrpflicht, Einrichtung des sozialen bzw. zivilen »Friedensdienstes«<br />

als gleichwertiger Ersatz für den Wehrdienst und auf<br />

Gewährung des Rechtes auf Wehrdiensttotalverweigerung<br />

aus Gewissensgründen.<br />

3. Gegen die kommunistische Erziehung der Jugend gerichtete<br />

Angriffe beinhalten u. a. Forderungen nach Aufgabe des »Totalitätsanspruches«<br />

der marxistisch-leninistischen Weltanschauung<br />

(…).<br />

4. Probleme des Umweltschutzes bilden ein breites Feld zur Diskreditierung<br />

der Politik der Partei in Umweltfragen […].<br />

© Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung,<br />

Annäherung und Beitritt. Köln (Verlag Wissenschaft und Politik) 1991, S. 54<br />

45<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

7. Soziale Medien und das Partizipationsparadox<br />

JAN-HINRIK SCHMIDT<br />

46<br />

In der öffentlichen Wahrnehmung werden mit dem Internet<br />

zahlreiche Hoffnungen und Befürchtungen verbunden.<br />

Ganz wesentlich sind in diesem Zusammenhang Vorstellungen<br />

darüber, welche Auswirkung die wachsende Verbreitung<br />

der digitalen vernetzten Medien auf gesellschaftliche Teilhabe<br />

und politische Partizipation hat. Positive Stimmen prophezeien,<br />

dass sie politische Prozesse transparenter machen,<br />

Macht- und Medienmonopole brechen und marginalisierten<br />

Gruppen Gehör verschaffen können. Kritiker warnen hingegen<br />

vor Vereinzelung und Desinformation, aber auch vor der<br />

bloßen Simulation von Teilhabe und Fehlformen wie dem<br />

»Clicktivism«, bei denen sich Partizipation im Anklicken eines<br />

Buttons erschöpfe, ohne wirkliche gesellschaftliche Veränderungen<br />

zu bewirken. Ein Blick in die Mediengeschichte zeigt,<br />

dass wohl alle neuen Medien jeweils in ihrer Zeit solche widerstreitenden<br />

Diagnosen und Annahmen über ihre Folgen<br />

hervor riefen (vgl. Schrape 2012). Hoffnung und Sorge sind gewissermaßen<br />

Ausdruck der Unsicherheit, auf welchen gesellschaftlichen<br />

Boden die neuen Informations- und Medientechnologien<br />

fallen: Welche Praktiken und Normen werden sich<br />

neu herausbilden, welche etablierten Verhaltensweisen und<br />

Routinen werden bestehen bleiben und welche verschwinden,<br />

wie greifen diese Veränderungen in Machtverhältnisse ein –<br />

wer gewinnt, wer verliert? Das Internet macht in dieser Hinsicht<br />

keine Ausnahme, ist dennoch aber etwas Besonderes: Es<br />

ist ein Universalmedium, das Funktionen der klassischen<br />

Massenmedien wie Rundfunk oder Presse genauso erfüllen<br />

kann wie den direkten oder zeitverzögerten Austausch, den<br />

wir vorher beispielsweise über Telefongespräche und Briefe<br />

geführt haben. Dadurch greift das Internet in nahezu alle Lebensbereiche<br />

ein – und es entwickelt sich zudem in einer bisher<br />

ungekannten Geschwindigkeit weiter, sodass sich beim<br />

Einzelnen wie auch gesellschaftlich das Gefühl verfestigen<br />

kann, mit den technischen Innovationen und Weiterentwicklungen<br />

nicht mehr Schritt halten zu können.<br />

Soziale Medien (»social media«)<br />

Als jüngste (aber sicher nicht letzte) Stufe dieser Entwicklung<br />

lässt sich das Aufkommen der »sozialen Medien« begreifen, also<br />

von Plattformen wie Facebook oder YouTube, von Wikipedia, Twitter<br />

oder Blogs (vgl. zum Folgenden u. a. Münker 2009; Schmidt<br />

2011). Sie sind überwiegend in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre<br />

entstanden und haben sich inzwischen – wenn auch auf unterschiedlichem<br />

Niveau – unter den Internetnutzern etabliert. Ein<br />

verbreiteter Sammelbegriff für die verschiedenen Angebotsgattungen<br />

ist das »Mitmachnetz«, in der sich bereits das Versprechen<br />

von gesteigerter Teilhabe und Partizipation ausdrückt. So böten<br />

Blogs und Twitter den Dissidenten in China oder Kuba die Möglichkeit,<br />

eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlich gelenkten Medien<br />

aufzubauen. Über Video- und Fotoplattformen wie YouTube<br />

oder Flickr könnten Demonstrationen oder staatliche Übergriffe<br />

in autoritären Regimen dokumentiert und für ein weltweites Publikum<br />

zugänglich gemacht werden können. Beim arabischen<br />

Frühling 2011 oder den Demonstrationen im Iran 2009 dienten Internetplattformen<br />

sogar als Namensgeber für politische Proteste<br />

und sozialen Wandel, wenn von »Facebookrevolution« oder »Twitterrevolution«<br />

gesprochen wurde.<br />

Abb. 1 Social Media – Apps auf einem Smart-Phone © Jürgen Kalb, 2013<br />

Aber auch innerhalb von Deutschland haben die sozialen Medien<br />

in den letzten Jahren die politische Kommunikation beeinflusst.<br />

Im Jahr 2009 mündete der Protest gegen ein Vorhaben der Bundesministerin<br />

Ursula von der Leyen, kinderpornographische<br />

Inhalte durch ein Stoppschild zu kennzeichnen, in der bis dato<br />

größten Online-Petition, die mehr als 130.000 Personen unterzeichneten.<br />

Getragen und koordiniert wurde dieser Widerstand<br />

maßgeblich über netzpolitische Blogs und Twitter-Accounts, wo<br />

der Ministerin auch der Beiname »Zensursula« verpasst wurde. Jedoch<br />

beschränkte er sich nicht auf die sozialen Medien, sondern<br />

wurde auch in journalistisch-publizistischen Medien debattiert<br />

sowie auf Demonstrationen vertreten. Ähnliche Muster der Verschränkung<br />

unterschiedlicher medialer Öffentlichkeiten mit dem<br />

politischen Handeln »auf der Straße« zeigten sich auch bei den<br />

heftigen Debatten um den Bahnhofsumbau in Stuttgart. Auf Facebook<br />

entstanden zahlreiche Diskussionsgruppen für wie auch<br />

wider »S21«, auf denen über Protestaktionen informiert und –<br />

nicht immer zivilisiert – gestritten wurde. Über Demonstrationen<br />

vor Ort wurde wiederum in den journalistischen Medien berichtet,<br />

während man auf YouTube auch heute noch zahlreiche Amateuraufnahmen<br />

von den Blockaden im Schlossgarten findet, neben<br />

Werbevideos der Deutschen Bahn zum gleichen Projekt.<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox D&E Heft 65 · 2013


Persönliche Öffentlichkeiten<br />

Diese Ereignisse und Entwicklungen sind Anzeichen<br />

eines grundlegenden Strukturwandels<br />

von Öffentlichkeit. Er wird durch technische<br />

Innovationen angetrieben, wenngleich<br />

nicht vorherbestimmt: Digitale vernetzte<br />

Medien, mit dem Internet als Basistechnologie<br />

für den Datenaustausch zwischen Rechnern,<br />

senken die Hürden, Informationen aller<br />

Art zugänglich zu machen und in Echtzeit zu<br />

verbreiten. Auf Grundlage dieser Infrastruktur<br />

entstehen zahlreiche Plattformen und<br />

Dienste, die spezifische Funktionen bieten<br />

oder sich an bestimmte Zielgruppen wenden.<br />

Für ihre Nutzerinnen und Nutzer dienen<br />

diese Werkzeuge dazu, alltägliche Kommunikations-<br />

und Informationsbedürfnisse zu befriedigen,<br />

wobei eine zentrale neue Entwicklung<br />

darin liegt, dass ein eigener Typ von<br />

Öffentlichkeit entsteht: Die persönliche Öffentlichkeit,<br />

in der Menschen Informationen<br />

von persönlicher Relevanz auswählen und<br />

mitteilen (also sich nicht unbedingt an Objektivität<br />

oder gesellschaftlicher Relevanz<br />

orientieren müssen, wie es der Journalismus tut) und sich damit<br />

an ein Publikum wenden, das aus Freunden, Bekannten, beruflichen<br />

Kontakten o. ä. besteht, also nicht völlig Unbekannte umfasst.<br />

Über Verlinkungen oder das Weiterleiten und Empfehlen<br />

von interessanten Inhalten können sich Informationen schneeballartig<br />

verbreiten und große Aufmerksamkeit bekommen. Doch<br />

in der Regel haben die persönlichen Öffentlichkeiten keine Massenreichweite,<br />

sondern liegen zwischen der Reichweite von Gesprächen<br />

am Stammtisch oder auf dem Schulhof einerseits und<br />

den Massenmedien andererseits. In ihnen herrscht daher ein anderer<br />

Kommunikationsmodus: Nicht das »Publizieren«, das journalistische<br />

Medien auszeichnet, sondern die »Konversation«<br />

steht im Mittelpunkt. Der Austausch und Dialog, möglicherweise<br />

aber auch Kritik und Beleidigungen, werden über Kommentare<br />

oder den »Gefällt mir«-Knopf von Facebook technisch unterstützt.<br />

Kommunikation in den persönlichen Öffentlichkeiten ist<br />

dadurch vor allem eine Form von Selbstpräsentation und Beziehungspflege<br />

– es handelt sich also auch im wörtlichen Sinn um<br />

»soziale Medien«.<br />

Politische Themen – hier breit verstanden als Fragen von gesellschaftlichem<br />

Belang – werden in persönlichen Öffentlichkeiten<br />

durchaus auch angesprochen und diskutiert, insoweit sie von den<br />

Nutzerinnen und Nutzern als persönlich relevant und (mit-)teilenswert<br />

angesehen werden. Aus diesem Grund zeigen in den<br />

letzten Jahren politische Akteure, von den Parteien und Abgeordneten<br />

über staatliche Einrichtungen und Behörden bis hin zu Bürgerinitiativen<br />

oder gemeinnützigen Organisationen, so ein großes<br />

Interesse, sich in den sozialen Medien zu positionieren: Sie<br />

wollen dort präsent sein, für ihre politischen Ansichten und Ziele<br />

werben und Unterstützung gewinnen, wo sich eine wachsende<br />

Zahl der Bürgerinnen und Bürger aufhält – alleine auf Facebook<br />

sind inzwischen wohl mehr als zwanzig Millionen Deutsche aktiv.<br />

Sie sind nicht nur Empfänger, sondern können auch zu Multiplikatoren<br />

für Informationen und politische Botschaften werden, wenn<br />

sie diese in ihrem eigenen Kontaktnetzwerk verbreiten und empfehlen.<br />

Und weil auch publizistische Medienangebote in den sozialen<br />

Medien präsent sind, kann es zu regelrechten Informationskaskaden<br />

kommen – zur positiven Mundpropanda genauso wie<br />

zum negativ-kritischen »Shitstorm«, bei dem sich Kritik oder<br />

Häme über eine Person oder Organisation ergießt.<br />

Abb. 2 »Das alles wird einmal dir gehören …« © Gerhard Mester, 2012<br />

Teilhabe »in«, »mit Hilfe der« und »an«<br />

den sozialen Medien<br />

Dieser Wandel von Öffentlichkeit, den die sozialen Medien mit<br />

sich bringen, ist für politische Partizipation aber auch deswegen<br />

relevant, weil er Bürgerinnen und Bürgern neue Modi der gesellschaftlichen<br />

Teilhabe eröffnet.<br />

Erstens praktizieren Menschen Teilhabe in den sozialen Medien,<br />

wenn sie sich auf den entsprechenden Plattformen aufhalten und<br />

informieren, mit ihrer Hilfe ihre persönlichen Interessen ausdrücken<br />

und Beziehungen pflegen – also Erfahrungen von sozialer<br />

Einbindung und Austausch machen (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel<br />

2009). Diese Teilhabe umfasst das »Sich-Positionieren« zu bestimmten<br />

Themen im Sinne eines Signals an die eigene persönliche<br />

Öffentlichkeit, was einem wichtig ist oder worüber man nachdenkt.<br />

Zur Teilhabe in den sozialen Medien gehört aber auch das<br />

»Sich-Einbringen« in Debatten und Gespräche, die die eigene Lebenswelt<br />

berühren, zum Beispiel indem man sich in den Kommentaren<br />

zu einem Weblogeintrag über seine eigenen Erfahrungen<br />

zu einem politischen Thema austauscht.<br />

Die Grenzen zum zweiten Modus von Teilhabe sind dabei fließend:<br />

Teilhabe mit Hilfe der sozialen Medien geschieht dann,<br />

wenn die sozialen Medien als Werkzeug oder Kanal genutzt werden,<br />

um auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche<br />

Debat ten außerhalb des Internets Einfluss zu nehmen. Zudem<br />

lassen sich gerade aufgrund der geschilderten einfachen Möglichkeiten,<br />

Information zu verbreiten und zu multiplizieren, auch<br />

vergleichsweise leicht andere Menschen aktivieren, beispielsweise<br />

durch das Verbreiten von Veranstaltungsinformationen,<br />

Demonstrationsaufrufen oder Hinweisen auf Unterschriftensammlungen.<br />

Digitale Medientechnologien spielen daher inzwischen<br />

eine wichtige Rolle für die Mobilisierung, den Wissensaustausch<br />

und die Koordination politischen Handelns, in Deutschland<br />

und weltweit.<br />

Den genannten Erfolgsbeispielen stehen aber auch Beobachtungen<br />

gegenüber, dass der Schritt von der »Teilhabe im Netz« zur<br />

»Teilhabe mit Hilfe des Netzes« nicht immer gelingt. Vielfach<br />

bleibt es bei Ansätzen oder Artikulationen von politischen Interessen<br />

innerhalb onlinebasierter Räume, die aber nicht an Debatten<br />

und Entscheidungen im politischen System angebunden sind.<br />

Unter dem Stichwort des »Slacktivism« (Morozov 2009) wird beispielsweise<br />

kritisch diskutiert, dass sich für viele Nutzer politisches<br />

Engagement bereits im Klicken des »Gefällt mir«-Buttons<br />

auf Facebook oder dem Weiterleiten eines Links zu einer Online-<br />

47<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox


48<br />

JAN-HINRIK SCHMIDT<br />

Abb. 3 Gefangen im (Google-)Netz © Gerhard Mester, 2012<br />

Petition erschöpfe, ohne dass es es zu weiterführenden (und<br />

letztlich politisch folgenreichen) Formen von Teilhabe käme.<br />

Der dritte Modus schließlich ist die Teilhabe an den sozialen Medien<br />

im Sinne einer möglichst selbstbestimmten Technikgestaltung.<br />

Sie artikuliert sich unter anderem in der Netzpolitik, einem<br />

Politikfeld, das sich in den vergangenen Jahren auch in Deutschland<br />

konturiert und etabliert hat. Dafür stehen beispielsweise die<br />

Wahlerfolge (und damit einhergehende große mediale Aufmerksamkeit)<br />

für die Piratenpartei oder die Einrichtung der Enquete-<br />

Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Deutschen<br />

Bundestags. Politische Debatten um Datenschutz, Netzneutralität<br />

oder das Leistungsschutzrecht für Presseverleger drehen sich<br />

zwar auf den ersten Blick um spezifische Details der medien- oder<br />

technologiepolitischen Regulierung des Internets, berühren bei<br />

näherem Hinsehen aber wesentliche Fragen der Gestaltung von<br />

bürgerlichen Freiheiten oder des Mediensystems unter Bedingungen<br />

einer rasanten technischen Konvergenz von Medien- und<br />

Kommunikations-technologien (vgl. Stöcker 2012).<br />

Das Internet und speziell die sozialen Medien stellen also Kommunikationsräume<br />

für gesellschaftliche Öffentlichkeit zur Verfügung<br />

und unterstützen verschiedene Modi von Teilhabe. Allerdings<br />

wirft diese Entwicklung Widersprüche auf, die sich als<br />

»Partizipationsparadox« beschreiben lassen.<br />

Die Infrastruktur und die Regeln dieser neuen Kommunikationsräume<br />

werden derzeit von einigen wenigen global agierenden Unternehmen<br />

bereitgestellt und gestaltet. Diese haben letztlich<br />

kommerzielle Interessen, wodurch der Grad an Teilhabe, den Nutzerinnen<br />

und Nutzer an den Infrastrukturen der sozialen Medien<br />

ausüben können, in aller Regel eingeschränkt ist (vgl. Wagner/<br />

Gerlicher/Brüggen 2011). Die Plattformbetreiber ermutigen zu<br />

»Mitwirkung«, weil erst die Aktivitäten der Nutzerinnen und Nutzer<br />

– das Teilen von persönlichen Informationen und Neuigkeiten,<br />

von Fotos und Videos – den Wert einer Plattform ausmachen. Auf<br />

den ersten Blick nehmen sie dabei eine reine Mittlerrolle zwischen<br />

den Nutzern ein, doch faktisch lassen sie sich meist weit<br />

reichende Rechte an den Daten und Inhalten einräumen und behalten<br />

sich auch vor, bestimmte Inhalte oder Profile zu sperren,<br />

die nicht den Allgemeinen Geschäftsbedingungen entsprechen.<br />

Hierbei kommt eine zweite Facette von Partizipation ins Spiel: Die<br />

»Mitbestimmung«, die sich zum einen in den Möglichkeiten äußert,<br />

das eigene Profil anzupassen und zu<br />

personalisieren. Zum anderen werden Nutzerinnen<br />

und Nutzer aber auch zur Mithilfe aufgefordert,<br />

zum Beispiel wenn es um die Moderation<br />

oder Kontrolle von Inhalten geht.<br />

Auf Plattformen wie YouTube oder Facebook<br />

kann aufgrund der schieren Menge der nutzergenerierten<br />

Inhalte keine vollständige redaktionelle<br />

(Vor-)Prüfung stattfinden. Zu den<br />

Moderationsteams sowie den immer wichtiger<br />

werdenden technischen Filtersystemen<br />

tritt daher die »community«, die Betreiber<br />

auf extremistische, gewaltverherrlichende<br />

oder anderweitig problematische Inhalte<br />

hinweisen soll. Die Teilhabe der Nutzerschaft<br />

wird als Form der unentgeltlichen Arbeit im<br />

Geschäftsmodell einkalkuliert und steigert<br />

letztlich den Wert einer Plattform.<br />

Doch echte Selbstbestimmung, also das eigenverantwortliche<br />

Gestalten von Strukturen<br />

und Regeln, ist bei den großen Social-<br />

Media-Plattformen nicht vorgesehen. Mit<br />

dem Registrieren bei einem Angebot akzeptiert<br />

man zugleich die Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />

und begibt sich dadurch<br />

in ein Vertragsverhältnis zu den Anbietern, wird also zum Kunden.<br />

Für den Einzelnen ist dies möglicherweise auf den ersten Blick gar<br />

nicht ersichtlich: Man kann in der Regel die Plattformen ja kostenlos<br />

nutzen, und die genauen Bedingungen und Pflichten, die<br />

man eingeht, sind für den juristischen Laien aus den umfangreichen<br />

und komplexen Dokumenten kaum zu erschließen. Dennoch<br />

findet ein Tausch von Leistung und Gegenleistung statt,<br />

denn man zahlt mit seinen persönlichen Daten und seiner Aufmerksamkeit,<br />

die wiederum vor allem gegenüber Werbetreibenden<br />

vermarktet werden. Zynisch formuliert ist man also noch<br />

Das Partizipationsparadox<br />

Abb. 4<br />

»Schalt jetzt endlich die verfluchte Spielkonsole aus!«<br />

© Ritsch-Renn.com, 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


nicht einmal Kunde von Facebook und anderen<br />

Plattformen, sondern selbst das Produkt.<br />

Das Verhältnis zwischen Nutzerschaft und<br />

Betreibern der Plattformen ist in mehrfacher<br />

Hinsicht problematisch. Erstens hat man als<br />

Nutzer kaum Möglichkeiten, etwaigen Änderungen<br />

in der Gestaltung, im Funktionsumfang<br />

oder in den Geschäftsbedingungen einer<br />

Plattform zu widersprechen oder sie im<br />

Vorfeld zu beeinflussen, weil es keine oder<br />

nur rudimentäre Prozeduren der Nutzeranhörung<br />

oder der Abstimmung zwischen unterschiedlichen<br />

Varianten gibt. Und selbst,<br />

wenn man sich zum Verlassen einer Plattform<br />

entscheiden sollte, bauen sich Hürden auf.<br />

Diese können sozialer Art sein, weil zumindest<br />

in bestimmten Altersgruppen oder Szenen<br />

die Präsenz auf einer Netzwerkplattform<br />

wie Facebook derzeit unerlässlich ist, um<br />

sich nicht sozial zu isolieren. Aber auch technische<br />

Hürden bestehen, denn man kann die<br />

aufwändig eingestellten und zusammengetragenen<br />

Informationen zum eigenen Kontaktnetzwerk<br />

nicht einfach zu einem anderen<br />

Konkurrenznetzwerk transferieren. Diese Interoperabilität,<br />

die zum Beispiel auf dem Telefonmarkt<br />

ermöglicht, auch zwischen zwei unterschiedlichen<br />

Betreibern telefonieren oder seine Nummer mitnehmen zu können,<br />

ist im Bereich der sozialen Medien noch nicht etabliert.<br />

Dies wiederum ist eng mit einem zweiten Problem verbundenen:<br />

Die Anbieter von Social-Media-Plattformen sammeln immense<br />

Datenmengen, die von den personenbezogenen Informationen<br />

im engeren Sinne (wie Geschlecht, Geburtsdatum oder Kontaktadresse)<br />

bis zu eher beiläufig bei der Nutzung anfallenden Informationen<br />

über Vorlieben, Interessen, Aktivitäten und räumliche<br />

Bewegung reichen. Zudem erfassen sie die soziale Verortung einer<br />

Person im Geflecht einander überlappender Beziehungs- und<br />

Interaktionsnetzwerke. Aus diesen Informationen lassen sich wiederum,<br />

eine genügend große Datenmenge vorausgesetzt, relativ<br />

treffsichere Vorhersagen über Präferenzen oder Verhalten des<br />

einzelnen Nutzers machen.<br />

Aus der Sicht der Betreiber entstehen hier neue Möglichkeiten für<br />

zielgerichtete, personalisierte Ansprache und Werbung, die für<br />

den Einzelnen relevanter und damit wertvoller sein kann. Aus<br />

Sicht des Datenschutzes hingegen ist dies eher ein Albtraum, weil<br />

sich die sozialen Medien eben auch für überwachende oder kontrollierende<br />

Zwecke nutzen lassen, und weil die auf ihnen basierenden<br />

Öffentlichkeiten gefiltert, zensiert oder automatisch und<br />

verdeckt durchsucht werden können. Vorschläge zu einer stärkeren<br />

Regulierung, zum Beispiel zur Novellierung der EU-Datenschutzrichtlinie,<br />

sind daher auch als Versuch zu sehen, diesen<br />

potenziell freiheitsgefährdenden Datensammlungen Grenzen zu<br />

setzen.<br />

Zusammengefasst besteht das Partizipationsparadox der sozialen<br />

Medien also darin, dass sie einerseits bisher ungekannte Möglichkeiten<br />

eröffnen, sich an gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu<br />

beteiligen, was wiederum bestehende Machtstrukturen des professionell-publizistischen<br />

Systems tiefgreifend verändert. Andererseits<br />

verschließen sie sich selbst aber der Teilhabe und etablieren<br />

neue machtvolle Strukturen, in denen in beispiellosem<br />

Abb. 5 Schule der Zukunft: 20 Jahre nach dem Kruzifix-Urteil © Gerhard Mester, 2012<br />

Ausmaß und unter Mitwirken von uns Nutzerinnen und Nutzern –<br />

Informationen über unseren Alltag erhoben und verarbeitet werden.<br />

Teilhabe in, mit Hilfe der und an den sozialen Medien muss<br />

sich diesem Paradox stellen und letztlich darauf hinarbeiten, alternative<br />

Modelle für digitale vernetzte Öffentlichkeiten zu fördern,<br />

die auf dezentralen Infrastrukturen, offenen Standards für<br />

den Datenaustausch und frei verfügbaren Softwaretechnologien<br />

beruhen.<br />

Literaturhinweise<br />

Morozov, Evgeny (2009): From slacktivism to activism. Hg. v. Foreign Policy.<br />

Online verfügbar unter: http://neteffect.foreignpolicy.com/<br />

posts/2009/09/05/from_slacktivism_to_activism.<br />

Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten: Die sozialen<br />

Medien im Web 2.0. Frankfurt am Main.<br />

Schrape, Jan-Felix (2012): Wiederkehrende Erwartungen: Visionen, Prognosen<br />

und Mythen um neue Medien seit 1970. Hülsbusch.<br />

Schmidt, Jan (2011): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des<br />

Web 2.0. 2. überarbeitete Auflage. Konstanz.<br />

Stöcker, Christian (2012): Governance des digitalen Raumes: aktuelle netzpolitische<br />

Brennpunkte. In: APuZ 62 (7), S. 9–14.<br />

Wagner, Ulrike/ Brüggen, Niels/Gebel, Christa (2009): Web 2.0 als Rahmen<br />

für Selbstdarstellung und Vernetzung Jugendlicher. München. Online verfügbar:<br />

http://www.jff.de/dateien/Bericht_Web_2.0_<br />

Selbstdarstellungen_JFF_2009.pdf<br />

Wagner, Ulrike/Gerlicher, Peter /Brüggen, Niels (2011): Partizipation in und<br />

mit dem Social Web – Herausforderungen für die politische Bildung. München.<br />

49<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox


50<br />

JAN-HINRIK SCHMIDT<br />

MATERIALIEN<br />

M 1<br />

Bloggerkolumne von Johnny Haeusler: »Die Jugendverdrossenen«<br />

Vor etwa zwei Jahren twitterte Max Winde alias »@343max«: »Ihr<br />

werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen.« Er<br />

erntete damit jede Menge Applaus und Weiterverbreitung. Zu<br />

Recht, denn die Aussage kehrt den ewigen Vorwurf des politischen<br />

Desinteresses der Jugend in eine mittlerweile sehr wahr<br />

gewordene Prognose um.<br />

Als jüngste Umfragen der größtenteils von jungen Menschen geprägten<br />

Piratenpartei bessere Ergebnisse vorhersagten als der<br />

FDP, vor allem aber einen möglichen Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus,<br />

da reagierte das politische Establishment mit Warnungen<br />

durch Klaus Wowereit und einem mäßig gelungenen<br />

Witzchen von Renate Künast. Die grüne Spitzenkandidatin sagte,<br />

sie wolle die Piraten »resozialisieren«. Und auch, dass in dieser<br />

Woche ein kleines Wunder in Sachen politischer Bürgerbeteiligung<br />

geschehen ist, als innerhalb weniger Tage die noch fehlenden<br />

25.000 Mitzeichner einer Petition gegen die Vorratsdatenspeicherung<br />

im Internet mobilisiert werden konnten, ruft bei der<br />

Politik keine hörbare Begeisterung hervor, sondern allenfalls betretenes<br />

Schweigen. Da wird der Bürger also aktiv, und dann ist es<br />

anscheinend auch wieder nicht richtig.<br />

Stattdessen: Debatten über Facebook-Buttons und Rufe nach<br />

mehr Kontrolle im Netz. Wenn sich beachtenswerte Teile einer<br />

Generation mithilfe ihres wichtigsten Mediums, dem Internet,<br />

politisch äußern und engagieren, dann sollte das für die Etablierten<br />

jedoch kein Anlass zur Sorge, sondern zur Begeisterung sein.<br />

Es braucht Unterstützung statt Restriktion. Man könnte fast meinen,<br />

die Politik sei jugendverdrossen.<br />

© Johnny Haeusler, 16.9.2011, Die Jugendverdrossenen, www.tagesspiegel.de/medien/<br />

bloggerkolumne-die-jugendverdrossenen/v_print/4617572.html?p=<br />

Der Autor betreibt das Weblog www.spreeblick.com und ist Mitveranstalter der jährlichen<br />

Konferenz re:publica.<br />

M 2<br />

Macmagazin: » Wer ist eigentlich Max Winde?«<br />

Max Winde ist in der Blogszene kein Unbekannter, mischt er doch beim<br />

Spreeblick mit und ist Mitbegründer von AdNation. Im Interview erzählt<br />

er, wie Twitter frischen Wind in die Szene weht und wie die Welt zum<br />

Twitter-Stoff wird.<br />

macmagazin.de: Welches aktuelle Tagesereignis hat Sie in letzter Zeit<br />

besonders bewegt?<br />

Max Winde: Ich glaube und hoffe, dass das Jahr 2009 als die Geburtsstunde<br />

einer neuen Bürgerbewegung gelten wird, die die<br />

Chancen des Übermediums Internet auch nutzt. Die Verabschiedung<br />

des »Zugangserschwerungsgesetzes« im Bundestag, aber<br />

auch Begriffe wie »Killerspiele« und der Kampf gegen die vermeintlichen<br />

»Kostenloskultur des Internet« zeigen, wie wenig die<br />

politische und wirtschaftliche Führungsschicht das Internet und<br />

die digitale Kultur bisher verstanden haben. Und es zeigt, wie<br />

dringend es nötig ist, dass netzaffine Menschen sich stärker in<br />

die aktuellen Diskussionen einmischen, um für Verständnis zu<br />

werben und für die eigenen Ziele zu kämpfen. Wenn ich zum Beispiel<br />

im Wahlprogramm der CDU das Internet nur als Gefahr und<br />

nie als Chance erwähnt finde, dann ist dies ein Zeichen für mich,<br />

dass wir uns dringend einmischen müssen.<br />

macmagazin.de: Gezwitscher auf allen Kanälen – Hand auf’s Herz, wie<br />

viel Zeit verbringen Sie mit Twitter und Blogs?<br />

Max Winde: Twitter ist für mich der Kommunikationskanal Nummer<br />

Eins. Ich habe meinen Job über Twitter gefunden und meine<br />

Freundin über Twitter kennengelernt. Sogar eine von meinen beiden<br />

Katzen habe ich über Twitter adoptiert. Gerade an diesem<br />

Wochende habe ich ein paar Freunde auf eine Geburtstagssause<br />

M 3<br />

Twitter-Profil von Max Winde, Pionier der »Social media«<br />

© Max Winde,@343max, 2013<br />

in Brandenburg eingeladen: Gerade mal 3 von 17 Leuten habe ich<br />

nicht direkt oder indirekt über Blogs und Twitter kennengelernt.<br />

Wenn ich also betrachte, wie mein gesamtes Leben von Blogs und<br />

Twitter zusammengehalten wird, dann muss ich sagen: Ja, ich verbringe<br />

immer noch viel zu wenig Zeit mit Twitter und Blogs.<br />

macmagazin.de: Sie haben die technische Leitung beim Spreeblick, eines<br />

der großen Blogs im deutschen Sprachraum. Vor einigen Jahren konnte<br />

man von Blogprominenz sprechen, der Begriff A-Blogger geisterte umher.<br />

Wie ist die Situation heute, hat sie sich – vielleicht durch Twitter – entspannt?<br />

Max Winde: Und ob sich die Lage entspannt hat! Bis vor wenigen<br />

Jahren gab es eine handvoll A-Blogger, die die gesamte Aufmerksamkeit<br />

absorbierten wie ein schwarzes Loch das Licht. Dank<br />

Rivva und Twitter finden nun auch viele der kleineren Blogs endlich<br />

die Beachtung, die sie verdienen. Endlich können wir sehen,<br />

dass der ganze Himmel voll mit kleinen Sternen ist und nicht nur<br />

von einigen wenigen großen Sonnen dominiert wird. Die deutsche<br />

Blogosphäre hat sich viel zu lange nur als Gegenpol der klassischen<br />

Medien gesehen und konnte ihr wirkliches Potential nicht<br />

entfalten – dies wird jetzt nachgeholt.<br />

macmagazin.de: Verändert das Bloggen und Twittern die Sicht auf die<br />

Welt, wird sie zum Stoff für (Micro-)Blogging?<br />

Max Winde: Oh ja! Es gibt diese Tage, an denen ich alles auf Twitterbarkeit<br />

abscanne. Kleine Banalitäten des Alltags werden zu<br />

kleinen Geschichten im Netz.<br />

macmagazin.de: Mit AdNation habt Ihr die Werbung in Blogs professionalisiert<br />

und bildet auch Rücklagen für Rechtsstreitigkeiten. Davon haben<br />

auch einige Blogger Gebrauch gemacht, wie ist die Tendenz? Wie gefährlich<br />

ist es, derzeit ein Blog zu führen? Und wann können sich Blogs<br />

wieder bei Euch bewerben?<br />

Max Winde: Nach meinem Gefühl hat die Zahl der Abmahnungen<br />

in letzter Zeit etwas abgenommen. Zum einen hat sich vielleicht<br />

bei vielen Unternehmen langsam mal herumgesprochen, dass ein<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


kritischer Blogbeitrag nicht gleich das Ende<br />

der Welt bedeutet. Vermutlich sind viele<br />

Blogger auch etwas vorsichtiger geworden.<br />

Solange man Augenmaß bewahrt und im<br />

Zweifelsfall noch mal eine Nacht vor dem Veröffentlichen<br />

über einen kritischen oder polemischen<br />

Artikel schläft, ist die Gefahr, vor<br />

Gericht zu landen, sicherlich recht gering.<br />

Dennoch halte ich es für ratsam, eine Rechtsschutzversicherung<br />

abgeschlossen zu haben:<br />

(…)<br />

macmagazin.de: Wann sind Sie glücklich?<br />

Max Winde: Glück ist für mich, mein Leben<br />

selbst gestalten zu können. So ist es für mich<br />

als leidenschaftlicher Langschläfer ein großes<br />

Glück, nicht um 9 Uhr morgens produktiv<br />

sein zu müssen, nur weil mir eine Uhr dies befohlen<br />

hat. Ich liebe es, statt in einem muffigen<br />

Büro in meinem Garten arbeiten zu können.<br />

Diese flexible Arbeitsweise ist durch das<br />

Internet überhaupt erst möglich geworden,<br />

worüber ich mich jeden Tag auf’s Neue freue.<br />

Den Rest überlasse ich gern dem Zufall.<br />

M 5 »Seht Ihr denn auch irgendwelche Gefahren, ….« © Thomas Plaßmann, 17.6.2012<br />

© Macmagazin. de (13.6.2012): Wer ist eigentlich Max Winde?,<br />

www.giga.de/webapps/twitter/tipps/wer-ist-eigentlichmax-winde<br />

M 4<br />

Johannes Weyrosta: »Ihr werdet euch noch wünschen,<br />

wir wären politikverdrossen!«<br />

Im Grunde mangelt es den heutigen Jugendgenerationen nicht an<br />

Feindbildern und Problemstellungen, dennoch haftet an den jungen<br />

Menschen ein apolitisches und unkritisches Image. Nur selten<br />

überraschen wir unsere wutbürgerliche Elterngenerationen<br />

durch politisches Aufbegehren und zivilgesellschaftliche Partizipation.<br />

Während unsere Eltern auf der Straße gegen überdimensionierte<br />

Tiefgaragen der Deutschen Bahn zu demonstrieren versuchen,<br />

einverleiben wir uns Billigflüge, technologische Neuheiten<br />

und kostengünstige Kleidung im Dauerlauf. Vor wenigen Monaten<br />

kollabierte das Atomkraftwerk in Fukushima, dessen Folgen<br />

bis heute nicht geklärt sind, den dramatischen Auswirkungen von<br />

Tschernobyl jedoch in nichts nachstehen werden.<br />

Vor den Küsten Europas sterben zu Tausenden junge Afrikaner,<br />

die den Diktaturen ihrer Heimatländer entfliehen möchten, im<br />

reichen Westen jedoch nicht geduldet werden. In Libyen fliegt die<br />

westliche Staatengemeinschaft Luftangriffe gegen einen Führer,<br />

der lange Zeit als gern gesehener Gast durch Europa reiste, um an<br />

unserem Wohlstand mitzuwirken und selbst daran zu verdienen.<br />

Schon der Irak-Einsatz der US-Regierung stand unter fragwürdigen<br />

Vorzeichen und ist nicht erst heute als völkerrechtswidrig einzustufen.<br />

In vielen Teilen Europas wird der Tonfall gegenüber<br />

Migranten und Andersgläubigen rauer und feindseliger, Dänemark<br />

denkt bereits öffentlich über Grenzschließungen nach.<br />

Doch wo bleibt der Widerstand unserer Generation? Wir schauen<br />

ohnmächtig zu, die Ereignisse schnellen an uns vorbei und ersticken<br />

fundierte Gegenwehr schon im Keim.<br />

taz und der Freitag überschlagen sich in Berichterstattungen und<br />

Reportagen über die Energiewende, nachhaltiges Wirtschaften<br />

und alternative Lebensformen. Wer Peter Unfried, Chefreporter<br />

der taz, auf seinem Streifzug durch das französische Viertel in Tübingen<br />

und den Entdeckungsreisen durch das wohlstandsbesoffene<br />

aber dennoch energiebewusste Hohenlohe folgt, müsste mit<br />

Stolz erfüllt sein. Deutschland reflektiert kritisch und mit offenem<br />

Ausgang seine eigene Haltung zu Paradigmen der zurückliegenden<br />

Dekaden. Sollten wir uns wirklich nur von ökonomischen<br />

Zielen leiten lassen? Wo können wir noch ressourcenschonender<br />

und nachhaltiger agieren?<br />

Endlich kann auch die Jugendgeneration froh sein, in diesen Zeiten<br />

zu leben. Es geschieht etwas – so zumindest der Eindruck. Von<br />

unseren Eltern und Großeltern bekamen wir frühzeitig vermittelt,<br />

dass große Schlachten und Errungenschaften zurückliegen, die<br />

ganze Generationen zu Kämpfern gegen Faschismus, Autoritäten,<br />

Kriegseinsätze und Atomkraft werden ließen. Die Gegenfrage<br />

liegt nicht weit: Und was ist mit euch? Wogegen kämpft ihr?<br />

Meiner Generation mangelte es schlichtweg an Feindbildern. Antiautoritär<br />

und mit liberalen Weltansichten großgezogen sind wir<br />

nun Wohlstandskinder mit klaren Problemen vor Augen:<br />

Klimawandel, Wirtschaftsmigration und die neoliberale Ausrichtung<br />

der Wirtschaft für immer mehr Wachstum. Sie wurden uns<br />

quasi auf dem Silbertablett präsentiert, wir mussten sie nur noch<br />

greifen. Doch noch ist vieles der Gegenwehr nur heiße Luft. Zusammenhänge<br />

zwischen persönlichem Konsumverhalten und<br />

weltpolitischen Auseinandersetzungen werden nicht oder unzureichend<br />

gezogen. Konsumgesellschaften haben keine Zeit und<br />

keinen Platz für Fragen nach Menschenrechten, Produktionsbedingungen<br />

und Umweltauswirkungen, insofern diese nur in anderen<br />

Teilen der Erde spürbar sind. Die heutige Jugend muss asketischer<br />

werden. Verzicht, Reflektion und Kontrolle müssen die<br />

Maxime unseres Konsumverhaltens werden. Kompromisse darf<br />

es nicht geben. Flüge für 19 Euro nach London sind nicht mit Fairtrade-Kaffee<br />

aufzuwiegen, Klamotten aus Biobaumwolle verlieren<br />

ihre Tragkraft wenn der Körper, der darin steckt, sich täglich<br />

von Fleisch ernährt.<br />

Der Netzaktivist Max Winde prägte mit dem Ausruf »Ihr werdet<br />

euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen« unser Leitmotiv.<br />

Es bedarf einer Bewusstwerdung von Folgen und Verantwortung<br />

unseres Konsumverhaltens. An Verzicht geht kein Weg vorbei.<br />

(…) Wir müssen aufwachen, schon jetzt schwinden Fukushima<br />

und der Libyen-Einsatz aus unseren Köpfen, wir verdauen politisches<br />

Verbrechen wie Junkfood und verlieren dabei den Bezug zu<br />

ihrer Tragweite. Dabei ist es doch so erstrebenswert, eine Generation<br />

mit Gesicht zu sein. Und dieses Gesicht sollte wahrlich<br />

nicht die Form eines angebissenen Apfels haben.<br />

© Johannes Weyrosta (13.6.2011): www.freitag.de/autoren/weilmeldung/ihrwerdet-euch-noch-wunschen-wir-waren-politikverdrossen<br />

51<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox


52<br />

JAN-HINRIK SCHMIDT<br />

M 6<br />

Katja Bauer: »Die digitale Elite will<br />

die Welt retten. Berlin nach der<br />

Wahl«<br />

Sie sind jung, überwiegend männlich, lieben<br />

Nerdbrillen, Ziegenbärtchen und das Netz.<br />

Aber sie wollen nicht auf ein Klischee reduziert<br />

werden, sondern anders Politik machen.<br />

14 Männer und eine Frau sind die ersten Piraten<br />

in einem Landesparlament. (…) Transparenz<br />

– so heißt eines der Zauberwörter der<br />

Piraten. Alle Neuparlamentarier, die man danach<br />

fragt, was ihr wichtigstes politisches<br />

Ziel sei, antworten mit diesem Wort so zuverlässig<br />

wie Mädchen, die bei Misswahlen Weltfrieden<br />

sagen. (…) »Es ist ja alles noch sehr<br />

ungewohnt«, sagt Andreas Baum, der Spitzenkandidat,<br />

den die Partei per Los bestimmt<br />

hat. Schließlich sei die Arbeit im Parlament<br />

für sie alle ein Lernprozess. Wie locker die Piraten<br />

diesen Prozess nehmen, das konnte<br />

man im Wahlkampf beobachten. Es gab<br />

Kernthemen wie die Wirtschaftspolitik, bei<br />

denen der Spitzenkandidat mit den Achseln<br />

zuckte. Man habe sich noch nicht eingelesen<br />

– das hat offenbar nicht geschadet. Jetzt<br />

wollen sie von ihrem Lern- und Einleseprozess<br />

berichten. Denn natürlich macht die<br />

Partei, in der »wir grade unheimlich viel zum ersten Mal machen«,<br />

neue Erfahrungen. Keiner hat bisher jemals eine Kleine Anfrage<br />

gestellt oder einen Antrag zur Geschäftsordnung. Davon wollen<br />

die Piraten künftig berichten.<br />

»Das kann durchaus auch ein bisschen Sendung-mit-der-Mausmäßig<br />

sein«. Denn – Internetweisheit! – wenn man Lernprozesse teilt,<br />

dann wird man zusammen unter Umständen schneller schlauer.<br />

Da ist es wieder, das Internetwissen – und damit auch das Klischee<br />

einer Partei von den Nerds, die Tag und Nacht vor ihrem<br />

Rechner sitzen und eigentlich außer zensurfreiem Surfen und<br />

vielleicht noch straflosem Cannabiskonsum keine echten Ziele<br />

haben. Das nun wieder findet der Haufen junger, internetaffiner<br />

Männer, der da sitzt, nicht so lustig. (…) In der Zwischenzeit jedenfalls<br />

müssen sie sich erst einmal parlamentarischen Grundfragen<br />

zuwenden. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es<br />

bei uns einen Fraktionszwang geben wird«, sagt Andreas Baum.<br />

(…) Hier sitzen keine Politikprofis – die meisten haben lang nicht<br />

gedacht, dass Berufspolitiker aus ihnen werden. Und auch wenn<br />

sie es jetzt sind, sie wollen es nicht werden. »Endlich normale<br />

Menschen«, haben sie auf ihren Plakaten versprochen – eine Antiparteienpartei.<br />

© Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl«, Stuttgarter<br />

Zeitung vom 20.11.2011<br />

M 7<br />

Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie.<br />

Nicht nur die Piratenpartei will aus einer Kathedrale<br />

einen Basar machen«<br />

M 8 »Hoffnungsträger Piratenpartei …« © Gerhard Mester, 2012<br />

Der amerikanische Programmierer Eric Steven Raymond schrieb<br />

1997 mit seinem Essay »Die Kathedrale und der Basar« ein Manifest<br />

der »freien Software«. Er entwarf eine Computerwelt, die nicht<br />

von wenigen Konzernen, sondern von allen geschaffen werden<br />

sollte, mit einer für alle Internetnutzer frei zugänglichen Programmiersprache.<br />

Jeder sollte sich daran beteiligen können, niemand<br />

das Monopol für eine Software haben. Doch Raymond ging es um<br />

mehr. Freie Software (»Open Source«) war für ihn eine Weltanschauung.<br />

Seit ein paar Jahren ist sie in der Politik angekommen.<br />

Die alte Welt habe aus Kathedralen bestanden, schrieb Raymond,<br />

der selbst der Hackerszene entstammt. Die neue sei wie ein Basar.<br />

Kathedralen seien sorgsam Stein für Stein gemeißelt worden,<br />

von Druiden ersonnen, von exklusiven Bauhütten ausgeführt, das<br />

Werk kleiner Gruppen disziplinierter Handwerker und Hohepriester,<br />

die in großer Abgeschiedenheit wirkten. Die Kathedrale der<br />

Gegenwart war damals Microsoft, der Basar war das Betriebssystem<br />

Linux. Jedermann konnte an der Weiterentwicklung von Linux<br />

teilnehmen, die Linux-Gemeinde war in den Augen von Raymond<br />

wie »ein großer, wild durcheinander plappernder Basar, geschaffen<br />

von Tausenden über den ganzen Planeten verstreuten Nebenerwerbs-Hackern«.<br />

»Linux ist subversiv«, schrieb Raymond. (…)<br />

Wie aber wird aus solchen politischen Maximen ein Betriebssystem?<br />

Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur die Piratenpartei,<br />

sondern die Internetgemeinde als ganze, die es damit immerhin<br />

schon bis in den Deutschen Bundestag schaffte. In der Enquetekommission<br />

des Bundestags »Internet und digitale Gesellschaft«<br />

kam es von Anfang an nicht nur über Datenschutz und Urheberrechte<br />

zum Streit, sondern vor allem darüber, wie die Öffentlichkeit<br />

einzubeziehen sei. Der Vorschlag, im Reichstag »liquid democracy«<br />

einkehren zu lassen, stieß an die Grenzen repräsentativer<br />

Demokratie und der Gepflogenheiten des Parlaments. Unter dem<br />

Schlagwort »liquid democracy« ist eine Mischung aus direkter und<br />

indirekter Demokratie zu verstehen: Jeder wählt und delegiert<br />

selbst, was er für richtig hält, beteiligt sich, woran er will und wie<br />

es ihm gefällt. Der Futurologe Alvin Toffler hatte dafür 1970 den<br />

Namen »Adhokratie« (von Lateinisch ad hoc) erfunden – als Gegenwelt<br />

zur statischen Welt der Bürokratie, zur hierarchisch geordneten<br />

Partizipation und zu jeglicher Form zentraler Planung.<br />

(…) Nicht nur die Piratenpartei experimentiert mit solchen neuen<br />

Formen unmittelbarer Beteiligung. Sie hat den Versuch, der seit<br />

langem in den Volksparteien an Zuspruch gewinnt, auch Nichtmitglieder<br />

an den Personal- und Sachentscheidungen der Partei<br />

teilhaben zu lassen, auf die Spitze getrieben. Jeder kann mitmachen,<br />

wann er will und wie er will. Politik soll »freie Software« der<br />

Gesellschaft sein und nach dem Linux-Prinzip funktionieren.<br />

Besonders auf junge Leute hat das eine Anziehungskraft, die sich<br />

aus den Erfahrungen speist, die im Internet als einem »kollaborativen<br />

Projekt« gesammelt werden können. Es wird sich angesichts<br />

der chaotischen Verfassung der Piratenpartei aber noch zeigen<br />

müssen, ob auch das Parteiensystem eine Kathedrale oder ein<br />

Basar ist.<br />

© Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie, FAZ 12.9.2011, S. 10<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


M 9<br />

Barbara Zehnpfennig: »Strukturlose Öffentlichkeit.<br />

Warum mehr Transparenz per Internet zu<br />

weniger Demokratie führen kann«<br />

Seit sich das Prinzip der Öffentlichkeit als politische Forderung<br />

etablierte – also seit dem Aufkommen der bürgerlichen<br />

Gesellschaft –, war es mit einem Paradox behaftet.<br />

Die Forderung, der politische Prozess solle sich<br />

öffentlich und damit für alle zugänglich vollziehen, war<br />

gegen die Geheimpolitik des Hofes gerichtet; was sich<br />

im Geheimen vollzog, war schon als solches verdächtig.<br />

Doch die Rechte, die das Bürgertum nun in Anspruch<br />

nahm, standen den eigenen Forderungen zum Teil entgegen:<br />

Das Recht auf Eigentum, das Recht auf geheime<br />

Wahl, die Religionsfreiheit und viele andere sind Rechte<br />

des Privatmanns, der über ihre Ausfüllung nicht unbedingt<br />

öffentlich Rechenschaft geben will. Was man der<br />

Politik verwehrte, nahm man für sich selbst also durchaus<br />

in Anspruch. Daran zeigte sich, dass Öffentlichkeit<br />

kein absoluter Wert sein konnte. Heute hingegen wird<br />

oft behauptet, Öffentlichkeit sei bereits ein Wert an sich.<br />

Weil man durch das Internet eine nie gekannte Dimension<br />

des Öffentlichen erreicht hat, wird mit dieser neuen Möglichkeit<br />

bürgerlicher Teilhabe eine Heilserwartung verbunden, die<br />

näherer Überprüfung kaum standhält. Schon auf den ersten Blick<br />

wird erkennbar, dass sich das oben genannte Paradox auf neuer<br />

Ebene wiederholt. Im Medium Internet, das sich ganz und gar der<br />

Publizität verschrieben hat, ist ein erheblicher Teil der Nutzer anonym<br />

unterwegs. Für das, was man öffentlich macht, will man<br />

öffentlich nicht einstehen. Dafür mag es gute Gründe geben,<br />

wenn man in einer Diktatur lebt und die Inanspruchnahme von<br />

Freiheitsrechten Gefahr für Leib und Leben nach sich zieht. In einer<br />

Demokratie hingegen sieht die Sache anders aus. Hier muss<br />

man sich Freiheitsrechte nicht erkämpfen, hier sind sie verfassungsmäßig<br />

garantiert. Sie sind es deshalb, weil man im liberalen<br />

System davon ausgeht, dass die gewährleisteten Individualrechte<br />

auch von Individuen wahrgenommen werden. An anonyme<br />

Schwärme, wie sie sich im Internet bewegen, hatte man nicht unbedingt<br />

gedacht. (…)<br />

Wie demokratieverträglich ist das Internet überhaupt? Nicht nur<br />

die Anhänger der Piratenpartei sind der Ansicht, dass mit dem Internet<br />

eine neue Ära demokratischer Teilhabe eingeleitet wurde.<br />

Informationen in unvorstellbarem Umfang sind allen und jederzeit<br />

zugänglich, unüberschaubar viele Foren bieten die Möglichkeit<br />

zur Meinungsäußerung und Diskussion, organisierte Nutzer<br />

bilden eine Meinungsmacht, die das Handeln von Unternehmen,<br />

einzelnen Politikern und ganzen Regierungen massiv beeinflussen<br />

kann. Ist das nicht der Inbegriff des Demokratischen, die direkte<br />

Mitwirkung der Bürger auf allen denkbaren Ebenen? Und ist<br />

die Transparenz, die mit der Offenlegung selbst bisher völlig unzugänglicher<br />

Daten einhergeht, nicht ein Faktor, der ungemein<br />

demokratisierend wirkt?<br />

Schon der letzt genannte Zusammenhang ist mehr als zweifelhaft.<br />

Öffentlichmachen ist nicht identisch mit Transparenz. Denn<br />

transparent werden Daten nur dem, der sie versteht. Wer kann<br />

kompetent beurteilen, was von Wikileaks veröffentlichtes geheimdienstliches<br />

Material tatsächlich bedeutet – außer den geschulten<br />

Mitarbeitern der Geheimdienste? Wer weiß, was das von<br />

irgendjemandem ins Internet gestellte Bild zeigt, auf dem ein<br />

Kind zu sehen ist, das in Syrien zu Tode kam? Wurde es von der<br />

syrischen Armee als menschlicher Schutzschild missbraucht, ist<br />

es das Opfer eines Angriffs der Aufständischen, starb es durch einen<br />

Unfall? Mit Bildern und Daten kann man manipulieren, mit<br />

einer Überfülle veröffentlichter Bilder und Daten kann man desinformieren.<br />

Öffentlichkeit als solche ist ambivalent. Ihr Wert liegt allein im<br />

vernünftigen Gebrauch. (…) Im Internet findet nur der Orientierung,<br />

der sie in gewissem Umfang bereits mitbringt. Für alle anderen<br />

vergrößert der gigantische Umfang an Information und<br />

M 10 »Vor und nach Wikileaks …« © Klaus Stuttmann, 6.12.2010<br />

Desinformation, welche das Internet bietet, die Schwierigkeit,<br />

Brauchbares von Unbrauchbarem, Nützliches von Schädlichem zu<br />

sondern. (…) In der Politik sind die Entstehung und der Erfolg der<br />

Piratenpartei Zeichen eines Einstellungswandels. Damit ist nicht<br />

gemeint, dass eine Partei unter dem Namen einer Verbrechergruppe<br />

firmiert und damit großen Anklang findet, was als solches<br />

natürlich auch ein interessantes Phänomen ist.<br />

Gemeint ist der neue Politikstil, der mit der Piratenpartei Einzug<br />

in die Demokratie hielt: von der Repräsentation zur Präsenz. Mittels<br />

des Präsenzmediums Internet halten die Politiker der Piratenpartei<br />

einen fortwährenden Kontakt mit ihren Wählern, der die<br />

Grenzen zwischen Wählern und Gewählten verschwimmen lässt.<br />

Das personale Prinzip, das in der repräsentativen Demokratie mit<br />

gutem Grund die Wahl des Abgeordneten bestimmt, wird damit<br />

geradezu ausgehebelt: Der Abgeordnete ist das Sprachrohr seiner<br />

– immer wieder wechselnden – Basis, jedenfalls derjenigen,<br />

die gerade online ist. Wer in dieser Partei als Person besonders in<br />

Erscheinung tritt, bekommt den geballten Unmut der Nutzer zu<br />

spüren. Hier soll es nicht um Personen, sondern um Verfahren gehen,<br />

was dazu führt, dass die Inhalte genauso fluktuieren wie die<br />

Teilnehmer an dem Verfahren. (…)<br />

Zweifellos bietet das Internet große Chancen der Horizonterweiterung,<br />

des Gedankenaustauschs, ja sogar der Mitwirkung an der<br />

Überwindung autoritärer Regime. Doch ein per se demokratisches<br />

Medium ist es nicht – wenn denn die Demokratie als Herrschaft<br />

der Gleichen in besonderem Maße auf Unterscheidung und<br />

Struktur angewiesen ist. Nicht das Internet macht demokratisch,<br />

sondern nur ein Umgang mit ihm, der nach qualitativ gesicherten<br />

Maßstäben verfährt.<br />

Deshalb sollte demokratische Politik schon um der Selbsterhaltung<br />

des Systems willen in der Bildung ihre entscheidende Aufgabe<br />

sehen. In der Demokratie sind die Bürger die maßgebliche<br />

Ressource. Ihnen müssen per Bildung die Mittel an die Hand gegeben<br />

werden, sich auch in einer immer unübersichtlicher werdenden<br />

Welt, wie sie sich exemplarisch im Internet widerspiegelt,<br />

eigenständig Pfade durch das Dickicht zu schlagen.<br />

Das klassische Konzept der Öffentlichkeit setzte auf eine quasiautomatische<br />

Fortschrittsbewegung durch den öffentlichen Vernunftgebrauch.<br />

Doch Vernunft ist nichts Gegebenes, sie ist etwas<br />

immer wieder neu Hervorzubringendes. Und da die Vernunft<br />

nicht in den Institutionen liegt, nicht in der Öffentlichkeit und<br />

auch nicht in einem Medium wie dem Internet, bleibt nur eines:<br />

durch entsprechende Bildungsanstrengungen dafür zu sorgen,<br />

dass es Menschen gibt, die Vernunft in das hineintragen, was in<br />

sich zunächst einmal ohne Vernunft ist.<br />

© Barbara Zehnpfennig: Strukturlose Öffentlichkeit. Warum mehr Transparenz per Internet<br />

zu weniger Demokratie führen kann, FAZ, 21.1.2013, S. 7<br />

53<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

8. Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender<br />

als die Aktivität selbst«<br />

D&E-INTERVIEW MIT PROF. DR. KLAUS HURRELMANN ZUM »WAHLALTER MIT 16«<br />

54<br />

Klaus Hurrelmann ist seit 1979 Professor<br />

an der Universität Bielefeld. Seit<br />

seiner Emeritierung arbeitet er als Senior<br />

Professor of Public Health and Education<br />

an der Hertie School of Governance in Berlin.<br />

Er studierte Soziologie, Psychologie<br />

und Pädagogik an den Universitäten Freiburg,<br />

Berkeley (USA) und Münster und promovierte<br />

in der Sozialisationsforschung.<br />

1975 habilitierte er mit der Arbeit »Erziehungssystem<br />

und Gesellschaft«. 2003 erhielt<br />

er von der Schweizer Egnér-Stiftung<br />

einen hoch dotierten Preis für herausragende<br />

wissenschaftliche Forschungsarbeiten.<br />

Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind<br />

die Sozialisations- und Bildungsforschung<br />

mit den Schwerpunkten Familie, Kindheit,<br />

Jugend und Schule sowie die Gesundheitsund<br />

Präventionsforschung. In diesen Gebieten<br />

hat er eine Vielzahl von Aufsätzen<br />

und Büchern publiziert und herausgegeben, zuletzt das<br />

»Handbuch der Sozialisationsforschung« und das »Handbuch<br />

Gesundheitswissenschaften«. Zusammen mit seinen Lehrbüchern<br />

»Einführung in die Sozialisationstheorie«, »Gesundheitssoziologie«,<br />

»Lebensphase Jugend«, »Einführung in die<br />

Kindheitsforschung«, »Kinder stark machen für das Leben«,<br />

»Prävention und Gesundheitsförderung«, »Geschlecht, Gesundheit<br />

und Krankheit« und »Gewalt an Schulen« haben sie<br />

zusammen eine Auflage von 150.000 Exemplaren weit überschritten.<br />

Klaus Hurrelmann leitete zudem die letzten »Shell<br />

Jugendstudien« und »World Vision Kinderstudien«. Das Interview<br />

mit ihm führte Jürgen Kalb, verantwortlicher Redakteur<br />

von »D&E«, am 20.2.2013.<br />

Abb. 1 »Zeitreihe: Politisches Interesse Jugendlicher im Alter von 15 bis 24 Jahren«, Angaben in %<br />

© 16. Shellstudie, 2010, S. 131, TN Infratest Sozialforschung<br />

Das ist für mich das Hauptargument und auch das Hauptmotiv zu<br />

überlegen, ob das Alter »18« heute noch angemessen ist. Außerdem<br />

ist es ein Alter, das im historischen Rückblick schon mehrfach<br />

nach unten korrigiert wurde.<br />

»Man wird heute früher<br />

zu einem jungen Mann und<br />

zu einer jungen Frau.«<br />

D&E: Herr Prof. Hurrelmann, Sie treten seit Jahren für die Herabsetzung<br />

des Wahlalters für Jugendliche auf 16 ein, auch mit dem Argument, die<br />

Lebenssituation der Jugendlichen habe sich verändert. Hat sich in den<br />

letzten Jahrzehnten denn tatsächlich die Lebenssituation der Jugendlichen<br />

gravierend verändert?<br />

Hurrelmann: Das ist so, weil sich nämlich die Entwicklung beschleunigt<br />

hat. Man kann das am anschaulichsten sehen am Datum<br />

der Pubertät, d. h. der Geschlechtsreife. Das wandert im Lebenslauf<br />

immer weiter nach vorne. Bei den Mädchen ist das heute<br />

im Durchschnitt etwa mit 11 ½ Jahren anzusetzen, bei den Jungen<br />

mit 12 ½ Jahren.<br />

Und da merkt man Unterschiede im historischen Vergleich. Das<br />

war um 1900 rund 2 ½, ja manche Untersuchungen sagen sogar<br />

3 Jahre später. Und das war wahrscheinlich um 1800 noch einmal<br />

zwei oder drei Jahre später. Also da ist eine Beschleunigung der<br />

Entwicklung zu verzeichnen, die zunächst körperliche Dimensionen<br />

hat, aber sie bleibt ein komplexes Geschehen. Das bedeutet,<br />

es ist nicht nur eine körperliche Vorverlagerung, nicht nur die Geschlechtsreife,<br />

sondern wie immer schon ist sie verbunden mit<br />

einer Bewusstseinsveränderung, einer sozialen Einschätzungsveränderung,<br />

einer intellektuellen Entwicklung, die insgesamt<br />

bedeutet, man wird heute früher zu einem jungen Mann und zu<br />

einer jungen Frau. Und entsprechend dürfen wir das als das entscheidende<br />

Kriterium heranziehen, wenn wir dann überlegen,<br />

welche Kompetenzen wir Jugendlichen in dieser Altersspanne zusprechen<br />

können und welche Rechte sich daraus ableiten sollten.<br />

D&E: Können Sie mit Ihren Studien belegen, dass sich Jugendliche von<br />

16–17 Jahren ausgegrenzt fühlen, wenn sie noch nicht das aktive Wahlrecht<br />

besitzen?<br />

Hurrelmann: Das ist nach Ansicht der Jugendlichen selbst nicht<br />

der Fall. Wir machen seit 1996 regelmäßig Untersuchungen und<br />

Befragungen von Jugendlichen in dieser Altersgruppe, wie sie<br />

selbst zu dieser Entwicklung stehen. Und da zeigen z. B. die letzten<br />

Shell-Jugendstudien, dass die 12- bis 17-Jährigen selbst zurückhaltend<br />

sind. Da ist eine knappe Mehrheit sogar dagegen,<br />

dass sie so früh, wie sie meinen, in eine sehr anspruchsvolle politische<br />

Verantwortung gezogen werden.<br />

Wir fragen dann nach und dann stellt sich heraus, die haben wirklich<br />

ein unheimlich komplexes Bild davon, was es bedeutet, das<br />

Wahlrecht auszuüben. Sie glauben, sie müssten die Wahlprogramme<br />

der Parteien kennen, sie genau zu unterscheiden vermögen.<br />

Sie haben den Eindruck, sie müssten die Wahlmechanismen<br />

auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene genau kennen, dass<br />

sie wissen müssten, wie komplexe politische Prozesse funktionierten.<br />

Und das sei ihnen doch alles sehr, sehr fremd, ebenso wie<br />

die Parteien selbst, wie die Studien zeigen.<br />

Also ich denke, der Grund für die Zurückhaltung der Jugendlichen<br />

selbst liegt darin, dass sie sich dem politischen System gegenüber<br />

ziemlich entfremdet haben. Und das kann man nicht ihnen<br />

allein zuschreiben, sondern das liegt auch am politischen System.<br />

Sodass ich, obwohl ich ansonsten sehr auf die Stimmen der jungen<br />

Leute selbst höre, sonst bräuchten wir solche Untersuchun-<br />

Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst« D&E Heft 65 · 2013


gen nicht zu machen, in diesem Fall mit der<br />

Minderheit, also der etwa 30 % der Jugendlichen,<br />

dafür plädiere, dass sie dieses Wahlrecht<br />

ab 16 eingeräumt bekommen.<br />

D&E: Bedeutet das, dass Sie die Herabsetzung des<br />

Wahlalters als stärkere Motivation für die Bereitschaft<br />

der Jugendlichen betrachten, sich an der politischen<br />

Meinungs- und Willensbildung zu beteiligen?<br />

Hurrelmann: Ja, so dürfen wir das einschätzen.<br />

Denn nichts ist natürlich aktivierender<br />

als die Aktivität selbst. Wir haben das zuletzt<br />

sehr anschaulich gesehen bei der Bremer Bürgerschaftswahl. Da<br />

war zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung ein<br />

ganz interessantes Programm angesetzt worden, nämlich dass in<br />

den Schulen über die sogenannte »Juniorwahl«, manchmal auch<br />

»U-18-Wahl« genannt, schon vom Grundschulalter an, in den weiterführenden<br />

Schulen dann ganz systematisch »Wahlkampf« gemacht<br />

wurde. Da kamen die Kandidatinnen und Kandidaten in<br />

die Schulen. Und man durfte wählen, auch wenn man noch nicht<br />

das Wahlrecht hatte. Und für die, die dann das erste Mal mit 16 an<br />

der Wahl teilnehmen durften in Bremen, gab es dann besondere,<br />

systematische, spannend aufgebaute Unterrichtseinheiten. Und<br />

da konnte man jetzt sehen, dass die Bedenken der Jugendlichen<br />

selbst, dass sie überfordert sein könnten durch das früher eingeräumte<br />

Wahlrecht, plötzlich wie zerstoben waren. Da war die<br />

Wahlbeteiligung der jungen Leute auch ungeheuer hoch. Und<br />

auch nach der Wahl, soweit man das aus den Untersuchungen in<br />

Bremen ablesen konnte, blieb das auf einem hohen Beteiligungsund<br />

Interessenniveau. Das ist also eine wirklich wichtige Botschaft,<br />

dass durch das Beteiligen an einem Wahlvorgang und<br />

dann natürlich erst recht, wenn man ein förmliches Wahlrecht<br />

%-Angaben (Erhebungsjahr/<br />

Zeile)<br />

Fehlende zu 100 = Nie<br />

Ich bin aktiv für<br />

Eine sinnvolle Freizeitgestaltung<br />

von Jugendlichen<br />

Die Interessen von Jugendlichen<br />

Hilfebedürftige ältere Menschen<br />

Den Umwelt- oder Tierschutz<br />

Ein besseres Zusammenleben<br />

mit Migranten<br />

Ein besseres Zusammenleben<br />

am Wohnort<br />

Sicherheit und Ordnung am<br />

Wohnort<br />

Oft<br />

Abb. 2 »Aktivitäten nach Bereichen«, Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in %<br />

© 16. Shellstudie, 2010, S. 153, TN Infratest Sozialforschung<br />

Abb. 3 »Wählen mit 16?« Befragt wurden Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in %<br />

© 16. Shellstudie, 2010, S. 146, TN Infratest Sozialforschung<br />

2002 2006 2010<br />

Oft<br />

und einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat,<br />

dass dadurch auch ein richtiger Aktivitätsschub entsteht.<br />

»Die jungen Leute kritisieren,<br />

dass sich die etablierten<br />

Parteien einigeln.«<br />

Oft<br />

nahme. Aber auch das schwächt sich schon<br />

wieder deutlich ab.<br />

Die jungen Leute kritisieren, dass sich die<br />

etablierten Parteien einigeln, dass sie ihre<br />

Themen nicht transportieren, dass sie Ihnen<br />

so apparathaft erscheinen, als in sich geschlossene,<br />

funktionierende Systeme, die sie<br />

nicht von außen beeinflussen können. Sie<br />

wünschen sich also vielmehr Transparenz<br />

und viel mehr direkte Einflussmöglichkeiten.<br />

Man kann erkennen, dass gegenüber den<br />

etablierten Parteien eine Skepsis besteht.<br />

Aber zugleich kann man erkennen, dass sich<br />

junge Leute spontan politisch so stark betätigen,<br />

wie sie das schon vor 20 Jahren getan<br />

haben. Dies bedeutet z. B. an einer Demonstration<br />

teilnehmen, Unterschriftensammlungen<br />

machen, neuerdings auch immer stärker<br />

über das Internet an Aktivitäten teilnehmen,<br />

sich im sozialen Bereich engagieren. Das ist<br />

auf einem hohen Niveau geblieben. Und<br />

wenn wir das beides zusammenrechnen,<br />

dann ist das abgesunkene Interesse an der,<br />

ich sage mal, »formalen Demokratie«, bei<br />

gleichgebliebenem Interesse an der lebendigen,<br />

alltäglichen Demokratie und Politik,<br />

dann ist der Einbruch nicht so stark. Und es<br />

stimmt insgesamt nicht, dass die jungen<br />

Leute unpolitisch sind. Und es stimmt nicht,<br />

dass sie neben ihrer eindeutig genussvollen<br />

Umgangsform mit Medien und mit Freizeitaktivitäten<br />

– das gehört zu ihrem Lebensstil<br />

– nicht auch noch den Kopf frei haben für<br />

diesen politischen Bereich. Aber wie gesagt,<br />

schmal wird das Interesse im formalen politi-<br />

Gelegentlich<br />

Gelegentlich<br />

Gelegentlich<br />

13 35 13 31 15 33<br />

12 38 10 36 13 38<br />

8 35 8 34 10 37<br />

8 29 7 24 8 28<br />

8 25 6 22 8 25<br />

6 23 6 18 6 22<br />

6 20 6 16 6 20<br />

Behinderte Menschen 6 16 5 13 5 18<br />

Sozial schwache Menschen 5 29 5 29 7 32<br />

Menschen in den armen<br />

Ländern<br />

4 24 4 24 6 27<br />

Die Pflege der deutschen<br />

Kultur und Tradition<br />

4 17 3 15 6 17<br />

Soziale und politische<br />

2 15 2 14 3 17<br />

Veränderungen<br />

Sonstiges 5 25 7 24 7 25<br />

2002 2006 2010<br />

Spalten in % Unter 18 Ab 18 Unter 18 Ab 18 Unter 18 Ab 18<br />

Wählen mit 16<br />

Gute Idee 29 20 33 19 30 17<br />

Keine gute Idee 34 54 37 63 45 65<br />

Ist mir egal 36 25 30 18 24 18<br />

Keine Angabe 1 1 – – 1 –<br />

D&E: Und trotzdem behaupten Kritiker dieser Wahlrechtsreform immer<br />

wieder, dass gerade Jugendliche in der heutigen Zeit ganz besonders durch<br />

Medien und die Konsumgesellschaft geprägt, ja dadurch beeinflussbar,<br />

wenn nicht manipulierbar seien. Zu einer sachlichen politischen Urteilsbildung<br />

seien sie unter 18 Jahren kaum in der Lage.<br />

Hurrelmann: In dieser Form ist das ein Vorurteil. Es ist zwar richtig,<br />

dass die jungen Leute den etablierten Parteien gegenüber<br />

zurückhaltend sind. Einige Zeit sah es dann so aus, als mache die<br />

Partei der »Piraten« hier eine deutliche Aus-<br />

55<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst«


56<br />

D&E-INTERVIEW MIT PROF. DR. KLAUS HURRELMANN ZUM »WAHLALTER MIT 16«<br />

Abb. 4 »Wie und wo man (oft oder gelegentlich) gesellschaftlich aktiv ist, Jugendliche von 12–25 Jahren,<br />

Angaben in %<br />

© 16. Shellstudie, 2010, S. 156, TN Infratest Sozialforschung<br />

schen Sektor. Und wer da immer nur auf die jungen Leute schaut<br />

und sagt, die hätten kein politisches Interesse, der macht den<br />

Fehler zu übersehen, dass das ja beiderseitig ist, dass die Parteien<br />

ihrerseits sehr wenig Themen und Stil finden, um junge Leute anzusprechen.<br />

Und insofern, denke ich, müssen wir hier aufpassen,<br />

das ist ein grundsätzliches politisches Thema.<br />

D&E: Welche jugendaffine Themen ergeben denn Ihre Untersuchungen,<br />

die Jugendliche von sich aus, und nicht nur durch Politiker bedient, bevorzugen?<br />

Hurrelmann: Das ist natürlich sehr interessant. Hier liegen seit<br />

vielen Jahren ganz klare Untersuchungsergebnisse vor. Die jungen<br />

Leute interessieren sich für die großen Fragen. In den letzten<br />

10 Jahren standen deutlich wirtschaftliche Themen und berufliche<br />

Perspektiven im Vordergrund. Es geht ihnen um eine sichere<br />

Zukunft. Wenn sie die freie Wahl hätten, würden sie sich wünschen,<br />

wenigstens die Garantie zu haben, eine abgeschlossene<br />

Ausbildung zu bekommen und vielleicht auch für eine bestimmte<br />

Zeit den ersten Schritt in einem Beruf machen zu können.<br />

Es stehen bei ihnen dann an zweiter Stelle – das war bis vor zehn<br />

Jahren an erster Stelle und es bewegt sich auch wieder in diese<br />

Richtung – Umwelthemen, eine sichere, klimatisch intakte Welt,<br />

saubere Bedingungen für Essen und Trinken. Der Wunsch nach<br />

internationaler Abstimmungen spielt zudem eine große Rolle.<br />

Und das dritte große Thema sind internationale Konflikte, sind<br />

internationale Spannungen, also die Sicherung des Friedens. Das<br />

sind die drei großen Themenkomplexe, die junge Leute beschäftigen<br />

und danach kommen die etwas kleineren, alltäglicheren Probleme,<br />

von denen man denkt, diese würde ganz im Vordergrund<br />

stehen. Also z. B., wie sieht das Bildungssystem<br />

aus, wie gut sind die Schulen, wie sieht<br />

es mit guten Freizeitangeboten aus. Man<br />

kann auch hieraus erkennen, dass wir eine<br />

durchaus nicht unpolitische junge Generation<br />

haben. Aber sie fühlt sich insgesamt<br />

wohl, sie hat sich auch mit den demokratischen<br />

Strukturen eingerichtet. Man kann<br />

zwar kritisieren, dass sie diese nicht aktiv unterstützen<br />

mag, wie soeben besprochen,<br />

aber sie lebt mit ihnen, sie findet sie richtig<br />

und sie sieht keinen Grund zu einer politischen<br />

Auflehnung. Das muss man einfach so<br />

hinnehmen. Dies ist ja auch ein Kompliment<br />

an das politische Leben in der Bundesrepublik.<br />

D&E: Welche Rolle spielen denn die Elternhäuser<br />

bei der Herausbildung des politischen Interesses,<br />

aber auch bei der politischen Urteilsbildung Jugendlicher?<br />

Ist nicht die Gefahr gegeben, dass z. B.<br />

sogenannte bildungsferne Gruppen oder Gruppen<br />

mit Migrationshintergrund bei solchen Partizipationsansätzen<br />

kaum oder nur am Rande angesprochen<br />

werden?<br />

Hurrelmann: Ja, das ist der Fall. Der Bildungsgrad<br />

der Eltern und auch der Bildungsgrad<br />

der Jugendlichen selbst entscheidet<br />

ganz stark darüber, ob man sich und wie<br />

stark man sich für Politik interessiert. Je höher<br />

der Bildungsgrad, desto höher das Interesse,<br />

sich stärker politisch zu beteiligen. Da<br />

ist ein ganz deutlicher Zusammenhang zu<br />

verzeichnen. Und das zeigt uns eben auch,<br />

dass heute die politische Beteiligung an bestimmte<br />

Kompetenzen gebunden ist. Das ist<br />

in einem komplexer gewordenen politischen<br />

System mit komplizierten Themen, internationalen<br />

Verflechtungen, in dem man merkt,<br />

dass auch manche Spitzenpolitiker die Übersicht<br />

nicht behalten können, auch nicht verwunderlich. Und dies<br />

ist natürlich auch bei jungen Leuten der Fall. Das könnte mit ein<br />

Grund dafür sein, dass zurückhaltend gegenüber der organisierten<br />

Politik agiert wird. Wir müssen das, glaube ich, sehr ernst<br />

nehmen.<br />

Das heißt dann aber auch im Umkehrschluss, je mehr wir in Bildung<br />

investieren, desto höher wird die Chance, dass wir politisch<br />

sensible und engagierte junge Leute haben werden.<br />

»Es wäre ganz wichtig,<br />

dass in der Schule Themen<br />

aufgenommen werden, die<br />

die jungen Leute beschäftigen.«<br />

D&E: Können Sie daraus Forderungen an schulische Bildung ableiten?<br />

Wie müsste Schule aussehen, damit z. B. die oben beschriebenen Differenzen<br />

aus den Elternhäusern ausgeglichen werden?<br />

Hurrelmann: Es wäre ganz wichtig, dass in der Schule die Themen<br />

aufgenommen werden, die die jungen Leute beschäftigen. Ich<br />

halte es nicht für begründbar, dass heute, in Zeiten nicht nur einer<br />

Berufskrise, die, wie es aussieht, ja langsam in Deutschland abklingt,<br />

sondern auch in Zeiten einer weltweiten Wirtschafts- und<br />

Finanzkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, dass diese the-<br />

Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst«<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


matischen Felder in der Schule eine untergeordnete, wenn nicht<br />

manchmal sogar gar keine Rolle spielen. Es ist unverständlich,<br />

dass ein Fach Wirtschaft, wie auch immer zugeschnitten, nur an<br />

wenigen Schulen angeboten wird. Im Fach Politik, im Fach Sozialoder<br />

Gemeinschaftskunde, wird häufig diese Thematik zwar hin<br />

und da, aber selten systematisch bearbeitet.<br />

D&E: Die 16 Bundesländer in der Bundesrepublik setzen mit der politischen<br />

und ökonomischen Bildung oft recht unterschiedlich ein. Was würden<br />

Sie denn den Bildungsplanreformern raten? An wann sollte die politische<br />

Bildung beginnen?<br />

Hurrelmann: Es ist auf alle Fälle nicht klug, spät zu beginnen.<br />

Denn, auch das zeigen Kinder- und Jugendstudien, das politische<br />

Interesse in einer intuitiven und auf das soziale Umfeld bezogenen<br />

Weise – nicht gleich als Parteipolitik – das beginnt sehr früh,<br />

es beginnt bereits im Grundschulalter. Und entsprechend sollte<br />

schon in der Grundschule – und dann aber sofort auf den weiterführenden<br />

Schulen in einer systematischen pädagogischen Art<br />

und Weise politischer Unterricht in den Schulen charakteristisch<br />

sein. Es sollte aber nicht nur der politische Unterricht wichtig<br />

sein, der die Themen aufnimmt, die die jungen Leute interessiert,<br />

wie z. B. das Umweltthema, die internationalen Spannungen, Medien<br />

spielen eine wichtige Rolle. Es ist das gesamte Unterrichtsgeschehen,<br />

es ist das gesamte Schulleben, das von den Schülerinnen<br />

und Schülern als gestaltbar, beeinflussbar, aber auch in ihrer<br />

Verantwortung liegend wahrgenommen werden muss.<br />

Hier haben inzwischen viele Schulen tolle Ansätze gemacht. Das<br />

sollten wir verbreitern, damit die Schule selbst quasi als ein Feld<br />

für die Alltagsgestaltung erlebt wird, um den Schülerinnen und<br />

Schüler die Möglichkeit zu bieten, gezielt mit sozialer Verantwortung,<br />

Teilhabe an den sozialen Regeln, an den Umgangsformen,<br />

an den Stilen, dann aber auch an der Unterrichtsorganisation und<br />

an bestimmten Unterrichtsabfolgen und dergleichen mitzuwirken.<br />

D&E: Wenn wir die Situation der politischen Bildung in Deutschland mit<br />

der Situation in anderen europäischen oder außereuropäischen Ländern<br />

vergleichen, wo steht Deutschland in diesem Bereich?<br />

Hurrelmann: Insgesamt recht gut. Also wir können uns im internationalen<br />

Vergleich sehen lassen. Wenn die oben angesprochen<br />

Punkte systematischer in den politischen, aber, wie gesagt, auch<br />

in den gesamten Unterricht und das Schulleben einbezogen werden,<br />

dann würden wir noch besser dastehen. Es gibt inzwischen,<br />

etwa nach dem Pisa-Modell, auch international vergleichende<br />

Studien, die versuchen herauszuarbeiten, wie in Europa oder den<br />

hoch entwickelten Ländern die politischen Kompetenzen und Fähigkeiten<br />

der jungen Leute beschaffen sind. Und da sieht man,<br />

Deutschland steht nicht schlecht da, wir müssten aber als ein<br />

ökonomisch so hoch entwickeltes Land da noch ein paar Stufen<br />

klettern können.<br />

Abb. 5 »Juniorwahl.de«. Die bundesweite Initiative Juniorwahl ist eine Initiative<br />

des Kumulus e. V. – Der Kumulus e. V. ist ein gemeinnütziger und überparteilicher<br />

eingetragener Verein. Seit 1999 führt er in Zusammenarbeit mit zumeist<br />

Kultusministerien simulative Wahlen parallel zu offiziellen Wahlen an Schulen<br />

für Schülerinnen und Schüler unter 18 Jahren durch. Bei der Bundestagswahl<br />

2009 beteiligten sich insgesamt 1.043 Schulen und 246.616 Schülerinnen und<br />

Schüler, womit die Juniorwahl zu den größten Schulprojekten in Deutschland<br />

zählt. Im Jahr 2013 parallel zur Bundestagswahl sollen es bundesweit 5.000<br />

Schulen und damit 25 Prozent aller weiterführenden Schulen in Deutschland werden.<br />

© www.Juniorwahl.de<br />

D&E: Zurück zu unserer Ausgangsfrage. Welche Impulse erhoffen Sie sich<br />

aus der beabsichtigten Herabsetzung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre<br />

in diesem Prozess.<br />

Hurrelmann: Abschließend könnte man sagen, eine Herabsetzung<br />

des Wahlalters kann dadurch begründet werden, dass man<br />

sieht, man kann im Alter von 16 Jahren heute einschätzen, was es<br />

bedeutet, eine Stimme abzugeben. Man hat in diesem Alter die<br />

intellektuelle, aber auch die soziale Urteilsfähigkeit. Das halte ich<br />

für das entscheidende Argument. Da bedeutet nicht etwa die allgemeine<br />

Reife, wie oft gesagt wird. Die wird ja auch bei anderen<br />

Menschen, die vielleicht psychische Probleme haben, nicht eingefordert.<br />

In einer Demokratie entscheidet das Volk. Und jede<br />

Gruppe der Bevölkerung, die wir ausgrenzen, gehört dann nicht<br />

dazu. Dies muss sehr sorgfältig begründet und immer wieder neu<br />

überprüft werden. Und das spricht eben dafür, dass wir überprüfen,<br />

wenn sich junge Leute verändern in ihrem Verhalten und in<br />

ihrer ganzen Entwicklung, wie es nun mit dem Mindestwahlalter<br />

ist.<br />

Literaturhinweise<br />

Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2012, 11. Auflage): Lebensphase<br />

Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung.<br />

Beltz Juventa. Weinheim, München<br />

Shell Deutschland Holding (Hrsg.)(2010): Jugend 2010. Eine pragmatische<br />

Generation behauptet sich. Konzeption & Koordination: Albert, Mathias/<br />

Hurrelmann, Klaus, u. a. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/Main.<br />

Für 2016 plant die IEA (International Association for the Assessment of Educational<br />

Achievement) eine internationale Studie zu politischen Einstellungen<br />

und Kompetenzen bei Jugendlichen (ICCS 2016). Erste Informationen<br />

dazu unter: www.iea.nl/fileadmin/user_upload/Studies/ICCS_2016_<br />

Brochure.pdf<br />

57<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst«


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

9. »Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung<br />

der Politikverdrossenheit?<br />

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />

58<br />

Bei den Kommunalwahlen 2014 sollen in Baden-<br />

Württemberg erstmals 16- und 17-Jährige<br />

wählen können. Die grün-rote Landesregierung in<br />

Baden-Württemberg hat nach Auskunft des Ministerpräsidenten<br />

Kretschmann (Grüne) am 6.11.2012<br />

eine Senkung des Mindestwahlalters bei Kommunalwahlen<br />

von 18 auf 16 Jahre beschlossen. Laut Innenminister<br />

Reinhold Gall (SPD) können nach Inkrafttreten<br />

der Gesetzesänderungen in zwei<br />

Jahren 212.000 Jugendliche erstmals über die Besetzung<br />

von Gemeinderäten oder Kreistagen abstimmen.<br />

Kretschmann sagte, durch die Senkung<br />

des Wahlalters bekämen Jugendliche künftig mehr<br />

Einfluss auf die Gestaltung ihres unmittelbaren<br />

Lebensumfeldes. Die Grünen und die SPD setzen<br />

damit eines ihrer Wahlziele um, wie zuvor schon in<br />

sechs anderen Bundesländern. In Bremen konnte<br />

die Ökopartei vor zwei Jahren eine entsprechende<br />

Wahlrechtsreform sogar für die Wahl zur Bürgerschaft<br />

durchsetzen. Am 22. Mai 2011 durften deshalb<br />

in Bremen zum ersten Mal auch 16- und 17-Jährige<br />

an einer Wahl auf Landesebene teilnehmen.<br />

Eine Senkung des Wahlalters auf Bundesebene, die<br />

ebenfalls von den Grünen beantragt worden war,<br />

scheiterte dagegen schon zweimal an der Mehrheit<br />

des Bundestages, zuletzt am 2. Juli 2009. Jürgen<br />

Kalb, Chefredakteur von D&E, befragte dazu<br />

im Januar 2013 den Kommunikationswissenschaftler<br />

Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim,<br />

der sich bereits mit dem Thema in verschiedenen wissenschaftlichen<br />

Studien beschäftigt hat.<br />

10<br />

0<br />

5,6<br />

n.s.**<br />

Persönl. Bedeutung<br />

von Politik<br />

Ergebnisse: Politisches Interesse (0–10)<br />

5,9<br />

5,1 5,2<br />

n.s.**<br />

Informationsorientierte<br />

Mediennutzung<br />

Gespräche<br />

über Politik<br />

Unter 18<br />

18 und älter<br />

D&E: In Baden-Württemberg hat die grün-rote Landesregierung die Herabsetzung<br />

des aktiven Wahlalters für die Kommunalwahl 2014 auf 16<br />

Jahren in Gang gebracht. In Österreich gilt diese Regelung auch bei Nationalratswahlen<br />

seit 2008. Andere Bundesländer in Deutschland wie z. B.<br />

Bremen, NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Rheinland- Pfalz<br />

kennen diese Regelung ebenfalls. Sehen Sie persönlich darin eine Möglichkeit,<br />

junge Menschen näher an das parlamentarische System heranzuführen?<br />

Jan Kercher: Potenziell ja. Allerdings<br />

sollte man bei der Einführung solcher<br />

Regelungen sehr bedacht und keinesfalls<br />

überstürzt vorgehen. Sonst fühlen<br />

sich viele Jugendliche überfordert<br />

von der neuen Verantwortung. Das<br />

war zum Beispiel in Österreich so.<br />

In einer Studie, die anlässlich der<br />

Wahlalter senkung dort durchgeführt<br />

wurde, stellte sich heraus, dass die Jugendlichen<br />

von der Schule erwarten, auf ihr Wahlrecht vorbereitet<br />

zu werden. Denn die Schule wurde von den befragten Jugendlichen<br />

als ein Ort für eine sachliche Informationsvermittlung<br />

wahrgenommen. Gleichzeitig stellte sich jedoch heraus, dass die<br />

Jugendlichen nicht zufrieden waren mit der schulischen Vorbereitung<br />

auf ihre erste Wahlteilnahme, weil das Thema zu wenig oder<br />

zu spät im Unterricht behandelt wurde. Es zeigte sich auch, dass<br />

damit eine wichtige Chance vertan wurde, denn Schülerinnen und<br />

Schüler, die im Unterricht über die Wahl diskutiert hatten, gingen<br />

signifikant häufiger zur Wahl als andere Schülerinnen und Schüler.<br />

Für mich ergibt sich als Fazit aus diesen Befunden, dass man<br />

einer Wahlaltersenkung eine entsprechende Änderung der Bildungspläne<br />

voranstellen sollte. Damit diejenigen Jugendlichen,<br />

die es betrifft, dann auch schon in den Genuss einer entsprechenden<br />

schulischen Vorbereitung gekommen sind, wenn sie ihr Wahlrecht<br />

erlangen. Leider habe ich den Eindruck, dass diesem Vorbereitungsaspekt<br />

von der Politik häufig zu wenig Aufmerksamkeit<br />

geschenkt wird, vermutlich auch, weil er mit sehr viel mehr Aufwand<br />

verbunden ist als eine einfache Gesetzesänderung zum<br />

Wahlalter. Das führt dann zu einem Ergebnis wie in Österreich, wo<br />

der SPÖ-Politiker Walter Steidl nach der Wahl zugab, dass man<br />

die Vorbereitung der Jugendlichen verschlafen habe. Wenn man in<br />

Deutschland aus diesen Fehlern lernt<br />

und die Jugendlichen umfassend vorbereitet,<br />

dann sehe ich eine Wahlaltersenkung<br />

allerdings durchaus als<br />

Chance an, jugendliche Menschen an<br />

politische Themen heranzuführen.<br />

Denn wenn einem durch die Schule<br />

vermittelt wird, wie wichtig politische<br />

Teilhabe ist und man dann auch noch<br />

während seiner Schulzeit das Wahlrecht<br />

erlangt, dann ist das bestimmt eine gute Grundlage für eine<br />

positiv geprägte politische Sozialisation.<br />

D&E: Sie haben das Politikverständnis, d. h. das politische Interesse, das<br />

politische Wissen sowie die Fähigkeit junger Menschen, politische Zusammenhänge<br />

in Politikerreden zu erfassen, bei unter 18- sowie über 18-jährigen<br />

empirisch untersucht und analysiert. Was ist denn eine »Experimentalanalyse«<br />

eigentlich genau und warum haben Sie diese durchgeführt?<br />

Jan Kercher: Eine Experimentaluntersuchung ist eine Untersuchung,<br />

bei der die Versuchsbedingungen gezielt manipuliert oder<br />

8,8<br />

n.s.**<br />

N = 134 N = 134 N = 134<br />

Abb. 1 Politikverständnis und Wahlalter, Studie Jan Kercher.<br />

Interesse = Durchschnittliche Selbsteinstufung der Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10<br />

(Wichtigkeit von Politik für das eigene Leben, Häufigkeit der Mediennutzung als politische<br />

Informationsquelle, Häufigkeit von Gesprächen über Politik).<br />

** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch signifikant, n. s. = nicht signifikant<br />

© Jan Kercher: Politikverständnis und Wahlalter<br />

»Schüler erwarten von der<br />

Schule, auf ihr Wahlrecht<br />

vorbereitet zu werden.«<br />

5,5<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E Heft 65 · 2013


kontrolliert werden, um ihren Einfluss besser<br />

untersuchen zu können als in einer natürlichen<br />

Situation, bei der immer sehr viele Störfaktoren<br />

vorhanden sind. Wenn sich Menschen<br />

z. B. zu Hause eine politische Talk-Show<br />

anschauen, dann sind sie vielleicht abgelenkt,<br />

weil nebenher jemand redet. Wenn<br />

man ihnen dann Verständnisfragen zur Talkshow<br />

stellen würde, dann würden sie vermutlich<br />

ziemlich schlecht abschneiden. Das muss<br />

aber nicht daran gelegen haben, dass sie die<br />

Politiker wirklich nicht verstehen konnten,<br />

sondern vielleicht einfach nur daran, dass sie<br />

abgelenkt wurden. Deshalb kontrolliert man<br />

die Versuchsbedingungen in einem Experiment<br />

und sorgt zum Beispiel dafür, dass solche<br />

Ablenkungsfaktoren nicht vorhanden<br />

sind. Wenn dann immer noch Verständnisprobleme<br />

auftreten, dann ist es sehr wahrscheinlich,<br />

dass diese wirklich dadurch zu<br />

erklären sind, dass sich die Politiker nicht<br />

verständlich genug ausdrücken. Oder dadurch,<br />

dass die Zuschauer zu wenig Vorwissen<br />

haben, das kommt auf den Standpunkt<br />

an. Das ist im Übrigen ein grundlegendes<br />

14,7<br />

67,2<br />

16,9<br />

Problem beim Thema Politik und Verständlichkeit: Wem gibt man<br />

die Schuld, wenn man auf Verständnisprobleme trifft? Den Bürgern,<br />

die zu wenig Vorwissen haben oder den Politikern, die sich<br />

nicht verständlich genug ausdrücken? Die Bürger selbst neigen<br />

natürlich dazu, den Politikern die Schuld zu geben, während diese<br />

häufig das Gefühl haben, sich gar nicht anders ausdrücken zu<br />

können, ohne das Thema zu stark zu vereinfachen. Das nennt<br />

man übrigens den »Fluch des Wissens«. Wenn man sehr viel über<br />

ein Thema gelernt hat und dieses Wissen auch schon eine ganze<br />

Weile besitzt, dann wird es immer schwieriger, sich noch in andere<br />

Leute hinein zu versetzen, die nicht dasselbe Vorwissen haben.<br />

In der Sprache führt das dann dazu, dass schwierige Wörter<br />

nicht mehr als solche wahrgenommen<br />

werden. Das ist aber ein ganz<br />

natürlicher Prozess und passiert<br />

nicht nur Politikern, sondern zum<br />

Beispiel auch Wissenschaftlern<br />

oder sonstigen Experten. Besonders<br />

problematisch ist das dann,<br />

wenn man nicht direkt mit den eigentlichen<br />

Adressaten der eigenen<br />

Botschaften konfrontiert ist, wie<br />

eben in einer Talkshow. Da richten sich die Teilnehmer ja eigentlich<br />

an die Fernsehzuschauer, nicht an die anderen Gäste. Aber<br />

von den Fernsehzuschauern kann ja niemand nachfragen, wenn<br />

er oder sie etwas nicht versteht. Allerdings: Das trauen sich viele<br />

auch dann nicht, wenn der Politiker oder die Politikerin direkt vor<br />

einem steht. Man will dann eben lieber nicht zugeben, dass einem<br />

viele Begriffe nicht geläufig sind und ärgert sich doch gleichzeitig<br />

über den abgehobenen Sprachstil des Politikers.<br />

D&E: Wie sah Ihre Untersuchung denn genau aus und zu welchen Ergebnissen<br />

sind Sie darin gekommen?<br />

Jan Kercher: Wir haben 134 junge Stuttgarterinnen und Stuttgarter<br />

im Alter von 16 bis 21 Jahren befragt und sie mit kurzen Politiker-Reden<br />

konfrontiert. Das waren etwa fünfminütige Video-Podcasts<br />

von Angela Merkel, Kurt Beck, Guido Westerwelle und<br />

Oskar Lafontaine. Vor dem Anschauen der Videos haben wir das<br />

politische Interesse und Wissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

erfasst. Und nach dem Anschauen jedes Videos haben wir sie<br />

dann gefragt, wie verständlich sie die Podcasts subjektiv fanden<br />

und ihnen auch noch Verständnisfragen zu den Inhalten der Videos<br />

gestellt. Dabei haben wir auch erfasst, wie sicher sich die<br />

Befragten bei ihren Antworten waren. Entscheidend war, dass wir<br />

10,7<br />

62,1<br />

26,1<br />

8,4<br />

47,7<br />

42,9<br />

2,7<br />

35,5<br />

61,5<br />

14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre<br />

bis 25%<br />

25%–50%<br />

50%–75%<br />

über 75%<br />

1.714 Befragte<br />

Abb. 2 Politisches Wissen von Jugendlichen, Rheinland-Pfalz 2005<br />

© Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien.<br />

Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen<br />

in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 86<br />

»Einer Wahlaltersenkung<br />

sollte man eine Änderung der<br />

Bildungspläne voranstellen.«<br />

17,7<br />

77,8<br />

bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gezielt unterschiedliche<br />

Bildungsgrade und Altersstufen abgedeckt haben.<br />

Zum einen haben wir 16- und 17-jährige Neuntklässler auf der<br />

Hauptschule und im Gymnasium befragt. Und zum anderen 18-<br />

bis 21-jährige Berufsschüler und Studienanfänger.<br />

Betrachtet man unsere Ergebnisse, so stellt sich heraus, dass das<br />

Alter tatsächlich einen deutlichen Einfluss auf das Abschneiden<br />

der Befragten bei den Wissens- und Verständnisfragen hatte. Und<br />

zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Sowohl die volljährigen Berufsschüler<br />

als auch die Studienanfänger schnitten sehr viel besser<br />

ab als die Neuntklässler in der Hauptschule und auf dem Gymnasium.<br />

Das ist unserer Interpretation nach eine Folge der<br />

bisherigen Bildungspläne in Baden-<br />

Württemberg, die den Großteil der<br />

politischen Bildung erst in den höheren<br />

Schulstufen vorsehen und<br />

nicht schon vor Erreichen des 16.<br />

Lebensjahres. Mit anderen Worten:<br />

Sie sind offensichtlich ausgerichtet<br />

auf ein Wahlrecht ab 18, das ja bislang<br />

in Baden-Württemberg auch<br />

so gilt. Interessant war für uns aber<br />

auch, dass es beim politischen Interesse zwischen den älteren<br />

und den jüngeren Befragten kaum Unterschiede gab. Die Jüngeren<br />

interessierten sich also fast genauso stark für Politik wie die<br />

Älteren. Das bedeutet, dass sich die 16- und 17-Jährigen durchaus<br />

für Politik interessieren, aber bislang offensichtlich deutlich weniger<br />

von Politik verstehen als volljährige Schüler und Studienanfänger.<br />

D&E: Können Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie auch Konsequenzen<br />

für die politische Bildung junger Menschen sowie für die Bildungspläne<br />

der Schulen ableiten?<br />

Jan Kercher: Ja. An unseren Ergebnissen lässt sich ja recht deutlich<br />

der Effekt der bisherigen Bildungspläne in Baden-Württemberg<br />

ablesen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, dass ein Vorziehen<br />

der politischen Bildung in den Schulen – und zwar in allen<br />

weiterführenden Schulen – dazu führen würde, dass sich die Altersunterschiede,<br />

die wir in unserer Studie feststellen konnten,<br />

deutlich verringern würden. Auf diese Weise könnte man eine<br />

Überforderung vieler Jugendlicher, wie man sie in Österreich beobachten<br />

konnte, vermutlich vermeiden. Ich finde, dass man das<br />

Ganze recht gut mit der Diskussion über die Einführung des Euro<br />

vergleichen kann. Damals gab es zwei Lager, die Anhänger der so-<br />

2,9<br />

59<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?


60<br />

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />

Abb. 3<br />

24<br />

24<br />

11<br />

21<br />

10<br />

1<br />

24 23 23<br />

16-jährige<br />

Befragte<br />

23<br />

23<br />

15<br />

21<br />

17-jährige<br />

Befragte<br />

genannten »Lokomotiv-Theorie« und die Anhänger der »Kronen-<br />

Theorie«. Die Anhänger der Lokomotiv-Theorie, die sich letztlich<br />

auch durchgesetzt haben, argumentierten, dass der Euro die finanzpolitische<br />

Integration Europas unterstützen und beschleunigen<br />

würde und deshalb ein wichtiger erster Schritt hierfür sei.<br />

Dem hielten die Anhänger der Kronen-Theorie entgegen, dass es<br />

unverantwortlich sei, eine gemeinsame Währung einzuführen,<br />

bevor die Finanzpolitik der Europäischen Union nicht stärker vereinheitlicht<br />

sei. Blickt man heute zurück und betrachtet die<br />

Schulden-Krise, mit der wir es gerade zu tun haben, dann wirkt es,<br />

als hätten die Anhänger der Kronen-Theorie vielleicht doch Recht<br />

gehabt. Und aus meiner Sicht gibt<br />

es viele gute Gründe, auch bei der<br />

Wahlaltersenkung eine Kronen-<br />

Strategie zu wählen. Das heißt: Erst<br />

die Änderung der Bildungspläne,<br />

dann die Wahlaltersenkung. Nicht<br />

andersherum.<br />

3<br />

18-jährige<br />

Befragte<br />

29,3<br />

10,4<br />

17,5<br />

10,7<br />

6,1<br />

Wahlergebnis<br />

D&E: Seit einigen Jahren organisiert der<br />

Berliner Verein »Kumulus e. V.«, zum Teil<br />

mit großer Unterstützung der jeweiligen<br />

Kultusbürokratie vor zentralen Europa-,<br />

Bundestags- oder Landtagswahlen mit der »Juniorwahl« Wahlsimulationen<br />

vor dem tatsächlichen Wahlgang. Reichen solche oder andere<br />

Initiativen nicht völlig aus, muss es gleich die Herabsenkung des Wahlalters<br />

auf 16, oder wie der Bundes- sowie zahlreiche Landesjugendringe fordern,<br />

gar auf 14 Jahre sein?<br />

Jan Kercher: Das ist letztlich eine Frage, die die Politik entscheiden<br />

muss, nicht die Wissenschaft. Wir als Wissenschaftler können<br />

nur darauf hinweisen, dass es aktuell deutliche Wissens- und Verständnisunterschiede<br />

zwischen heutigen Erstwählern und potenziellen<br />

zukünftigen Erstwählern gibt. Gleichzeitig aber kaum Unterschiede<br />

beim politischen Interesse.<br />

Ich persönlich bin der Meinung, dass jedes Wahlalter letztlich<br />

willkürlich ist. Ob nun 18 Jahre, 16 Jahre, 14 Jahre, 12 Jahre oder<br />

vielleicht sogar 0 Jahre, wie es die Grüne Jugend fordert: Niemand<br />

kann sagen, was »objektiv« das richtige Wahlalter ist. Das muss<br />

man gesellschaftlich diskutieren und dann so festlegen, wie es<br />

die Mehrheit nach dem Austausch aller relevanten Argumente für<br />

sinnvoll hält. Früher lag das Wahlalter ja mal bei 21 Jahren. Dann<br />

kam Willy Brandt und überzeugte die Deutschen, dass es sinnvoll<br />

sei, »mehr Demokratie zu wagen«. Daraufhin wurde das Wahlalter<br />

auf 18 Jahre gesenkt, erst das aktive Wahlalter und dann auch das<br />

17<br />

17<br />

17<br />

12<br />

6<br />

5<br />

Nationalratswahl in Österreich: Wahlverhalten nach Alter<br />

© Sora-Studie »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008<br />

26<br />

»Eine Wahlaltersenkung<br />

bietet die Chance, jugendliche<br />

Menschen an politische<br />

Themen heranzuführen.«<br />

passive Wahlalter. Aktuell beobachten wir<br />

eine ähnliche Entwicklung hin zum Wahlalter<br />

ab 16. Allerdings hat sich bislang kein ähnlich<br />

prominenter und einflussreicher Bundespolitiker<br />

wie damals Willy Brandt für solch eine<br />

Wahlaltersenkung ausgesprochen. Und deshalb<br />

dauert das Ganze deutlich länger als da-<br />

SPÖ<br />

ÖVP<br />

mals. Außerdem betrifft die Diskussion bislang<br />

auch kaum die Bundesebene, sondern<br />

Grüne<br />

FPÖ<br />

vor allem die Landes- und Kommunalebene.<br />

Die Grünen haben zwar auch schon entsprechende<br />

Gesetzesentwürfe in den Bundestag<br />

BZÖ<br />

Sonstige<br />

eingebracht, aber die sind bislang sehr klar<br />

keine Angabe<br />

gescheitert, weil sie von fast allen anderen<br />

Parteien abgelehnt wurden. Was mich wundert,<br />

ist, dass bislang – anders als zur Zeit<br />

von Willy Brandt – kaum über eine Senkung<br />

des passiven Wahlalters gesprochen wird.<br />

Das bedeutet, dass jemand mit 16 Jahren<br />

zwar in der Lage sein soll, eine Partei zu wählen,<br />

aber noch nicht in der Lage sein soll, als<br />

Kandidat für eine Partei anzutreten. Das<br />

kann man ja durchaus so richtig finden. Nur<br />

sollte man das dann auch entsprechend diskutieren<br />

und begründen. Und das kommt mir<br />

in der aktuellen Diskussion zu kurz.<br />

Aber um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Juniorwahlen<br />

sind natürlich eine sehr gute Möglichkeit der Vorbereitung<br />

auf das »echte« Wahlrecht. Aber sie werden natürlich immer<br />

eine Simulation sein und haben letztlich keinen Einfluss auf die<br />

Zusammensetzung der Parlamente. Bestimmt kann man auch auf<br />

diese Weise Jugendliche für Politik begeistern. Aber das zentrale<br />

Argument der Befürworter einer Wahlaltersenkung lautet ja gerade,<br />

dass nur ein echtes Wahlrecht eine Verantwortung mit sich<br />

bringt, die dann auch zu einer größeren Relevanz der Politik im<br />

Alltag der Jugendlichen führt. Deshalb würde ich Juniorwahlen<br />

und Wahlaltersenkung nicht als Alternativen<br />

sehen, sondern eher als<br />

zwei Ansätze, die sich gegenseitig<br />

gut ergänzen können: Denn Juniorwahlen<br />

könnten ja gerade für 14-<br />

und 15-Jährige eine gute Vorbereitung<br />

auf ein Wahlrecht ab 16 sein.<br />

D&E: In Rheinland-Pfalz gab es detaillierte<br />

Schülerbefragungen zum Thema<br />

Wahlalter mit 16, die in dem Band »Jugend,<br />

Politik und Medien« von Jens Tenscher<br />

und Philipp Scherer 2012 veröffentlicht wurden. Was sind Ihrer Meinung<br />

nach die zentralen Befunde der Befragung und was ziehen Sie<br />

daraus für Schlüsse?<br />

Jan Kercher: Die Befragungen bestätigten zunächst einmal einen<br />

Befund, den wir schon bei vielen anderen Wahl-Umfragen mit Jugendlichen<br />

oder Juniorwahlen beobachten konnten: Jugendliche<br />

tendieren häufiger zu den Grünen und leider auch häufiger zu<br />

rechtsradikalen Parteien als ältere Wählerinnen und Wähler. So<br />

lag der Anteil derjenigen, die eine Wahlpräferenz für DVU, Republikaner<br />

oder NPD äußerten, bei den 14- bis 18-jährigen Befragten<br />

bei insgesamt 5,3 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2005, die<br />

etwa zeitgleich stattfand, lag der Anteil dieser drei Parteien zusammengenommen<br />

jedoch nur bei 2,4 Prozent. Also weniger als<br />

halb so hoch.<br />

Was sich ebenfalls bestätigte, waren die großen Wissensunterschiede<br />

zwischen den verschiedenen Altersgruppen. So stieg das<br />

politische Wissen in den Befragungen von Jens Tenscher und Philipp<br />

Scherer zwischen 14 und 18 Jahren jedes Jahr deutlich an. Der<br />

größte Sprung beim Wissen lag jedoch zwischen dem 15. und dem<br />

16. Lebensjahr. Das könnte man aus Sicht der Befürworter einer<br />

Wahlaltersenkung als Zeichen dafür interpretieren, dass 16 mög-<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


licherweise wirklich ein sinnvolles Wahlalter darstellt.<br />

Allerdings bräuchte man hierfür möglichst<br />

noch weitere Befunde, die zu ähnlichen Erkenntnissen<br />

kommen. Denn wie ich bereits gesagt habe,<br />

hängt die Entwicklung des politischen Wissens ja vor<br />

allem auch mit den jeweiligen Bildungsplänen zusammen.<br />

Und diese sahen in Rheinland-Pfalz, wo die<br />

Befragung von Tenscher und Scherer durchgeführt<br />

wurde, natürlich etwas anders aus als in Baden-<br />

Württemberg, wo wir unsere Untersuchung durchgeführt<br />

haben. Hätte man vergleichbare Studien aus<br />

mehreren Bundesländern, könnte man auf deren Basis<br />

auch besser beurteilen, welche Form von politischer<br />

Bildung zu welchem Ergebnis führt. Leider ist<br />

dies aber bislang nicht der Fall, was für mich auch<br />

wieder zeigt, dass dem Bildungs- und Vorbereitungsaspekt<br />

bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt<br />

wird.<br />

Die dritte wichtige Erkenntnis aus der »Jugend, Politik<br />

und Medien«-Studie ist, dass es nur bei den 14-jährigen<br />

Befragten eine Mehrheit für ein Wahlrecht ab<br />

16 gab. Und die fiel auch noch sehr knapp aus: 38,2<br />

Prozent waren für ein Wahlrecht ab 16 und 37,6 Prozent<br />

waren für ein Wahlrecht ab 18 – also die Beibehaltung<br />

des jetzigen Zustands. In allen anderen<br />

Altersgruppen, also zwischen 15 und 18 Jahren, gab<br />

es eine Mehrheit für das Wahlrecht ab 18 – erstaunlicherweise<br />

also auch bei den 16- und 17-Jährigen, die ja von der Wahlaltersenkung<br />

direkt betroffen wären. Bei den 16-Jährigen sprachen sich<br />

aber 51,7 Prozent für ein Wahlrecht ab 18 aus, bei den 17-Jährigen<br />

sogar 60,4 Prozent. Für ein Wahlrecht ab 16 plädierten hingegen<br />

nur 38,4 bzw. 32,0 Prozent. Man sieht also, dass die Zustimmung<br />

zu einer Wahlaltersenkung zwar mit sinkendem Alter zunimmt.<br />

Aber trotzdem lehnt eine Mehrheit der 15- bis 18-Jährigen eine<br />

Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ab. Das fand ich schon sehr<br />

überraschend. Und ich finde, dass man darüber mit den Befürwortern<br />

einer Wahlaltersenkung sprechen muss. Denn diese argumentieren<br />

ja gerade damit, dass sie sich für die Interessen der<br />

Jugendlichen einsetzen, die bislang noch kein Wahlrecht besitzen,<br />

weil sie diese ernst nehmen wollen. Wenn man sich die Umfrage-Ergebnisse<br />

aus Rheinland-Pfalz aber anschaut, dann würde<br />

ein Ernstnehmen der Befragten eher zu dem Ergebnis führen,<br />

dass man das mit der Wahlaltersenkung lieber sein lässt. Denn<br />

möglicherweise würde man da etwas<br />

einführen, was die Mehrheit der Betroffenen<br />

gar nicht will. Zumindest<br />

bislang noch nicht. Um dies zu ändern,<br />

müssen die Befürworter vermutlich<br />

noch deutlich mehr Überzeugungsarbeit<br />

bei den betroffenen<br />

leisten – gerade, um diese ernst zu<br />

nehmen und der Wahlaltersenkung<br />

damit auch eine breitere Legitimationsbasis<br />

zu verschaffen.<br />

100%<br />

D&E: Kritische Stimmen aus dem Unionslager<br />

und aus der FDP in Baden-Württemberg<br />

betonen, die grün-rote Landesregierung möchte das Wahlalter vor<br />

allem deshalb senken, um sich bei zukünftigen Wahlen Vorteile zu verschaffen.<br />

Bei der Landtagswahl werde dies deshalb in Baden-Württemberg<br />

nicht möglich sein, weil dazu die Verfassung mit 2/3 Mehrheit geändert<br />

werden müsste. Teilen Sie diese Bedenken, wenn Sie z. B. einen Blick<br />

auf die bisherigen Wahlergebnisse in Österreich oder auf die betroffenen<br />

Bundesländer in Deutschland werfen?<br />

Jan Kercher: Ich finde es zunächst einmal erfreulich, wenn offen<br />

darüber gesprochen wird, dass die Parteien mit einer Wahlaltersenkung<br />

natürlich nicht nur selbstlose Motive verfolgen, sondern<br />

sehr wohl auch darauf achten, wie sich solch eine Gesetzesänderung<br />

auf ihre Stimmenanteile auswirken würde. In Bezug auf die<br />

0%<br />

Abb. 4<br />

34,9<br />

sig.**<br />

Politikverständnis und Wahlalter, Experimentaluntersuchung<br />

© Jan Kercher, Universität Hohenheim, 2012<br />

»Die Entwicklung des<br />

politischen Wissens hängt<br />

vor allem mit den jeweiligen<br />

Bildungsplänen<br />

zusammen.«<br />

Ergebnisse: Politisches Interesse (in %)<br />

56,4<br />

36,2<br />

sig.**<br />

76,1<br />

30,3<br />

sig.**<br />

N = 134 N = 80 N = 56<br />

Alle Gymn./Studienanf. Haupts./Berufs.<br />

Objektives Wissen = Anteil der im Wissenstest erzielten Punkte an allen Punkten (0–16 mögliche<br />

Punkte), unter Berücksichtigung einer Ratekorrektur.<br />

** sig. = Gruppenunterschiede sind statistische signifikant, n.s. = nicht signifikant<br />

Unter 18<br />

18 und älter<br />

Grünen hätte eine Wahlaltersenkung wohl auch tatsächlich positive<br />

Auswirkungen für die Wahlergebnisse. Denn die Grünen erzielen<br />

bei Umfragen unter 16- bis 17-Jährigen, bei Juniorwahlen<br />

und auch bei tatsächlichen Wählern im Alter von 16 und 17 Jahren<br />

immer deutlich bessere Ergebnisse als beim Rest der Wählerschaft.<br />

Das war übrigens auch in Österreich so. Und in Baden-<br />

Württemberg haben die Grünen bei der Juniorwahl 2011 stolze<br />

34,0 Prozent erzielt, im Vergleich zu 24,2 Prozent bei der eigentlichen<br />

Landtagswahl. Ähnlich sah es in Bremen 2011 aus: Hier lagen<br />

die Grünen insgesamt bei 22,5 Prozent. Laut einer Wahltagsbefragung<br />

der Forschungsgruppe Wahlen lag ihr Stimmenanteil bei<br />

den 16- und 17-Jährigen aber bei 33,0 Prozent. Ich unterstelle den<br />

Grünen zwar keineswegs, dass sie aus rein wahltaktischen Gründen<br />

für eine Wahlaltersenkung sind. Dagegen spricht schon allein<br />

die geringe Zahl der 16- und 17-Jährigen, die nur zu einer relativ<br />

geringen Änderung der Wahlergebnisse führen würde. Aber ich<br />

denke andererseits auch, dass es kein Zufall ist, dass sich mit den<br />

Grünen eine Partei besonders für eine<br />

Wahlaltersenkung einsetzt, die auch<br />

in besonderem Maße davon profitieren<br />

würde. Genauso wie ich denke,<br />

dass es kein Zufall ist, dass sich die<br />

CDU bislang vehement gegen solch<br />

eine Gesetzesänderung sperrt. Denn<br />

sie schneidet bei den 16- und 17-Jährigen<br />

regelmäßig deutlich schlechter<br />

ab als im Rest der Wählerschaft. Genauso<br />

wie CDU und FDP also dem rotgrünen<br />

Lager vorwerfen, sich nur aus<br />

Eigeninteresse für eine Wahlaltersenkung<br />

einzusetzen, könnte man ihnen<br />

vorwerfen, sich nur aus Eigeninteresse gegen eine Wahlaltersenkung<br />

einzusetzen. Letztlich ist es vermutlich bei allen Parteien<br />

eine Mischung aus echtem Interesse oder Des interesse an der<br />

Beteiligung der Jugend und einer gewissen Portion Eigeninteresse,<br />

die die Haltung zur Wahlaltersenkung bestimmt.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens v. a. das Verhalten<br />

der SPD. Denn die SPD kann nach den bisherigen Erkenntnissen<br />

keinesfalls mit einer Erhöhung ihrer Stimmenanteile durch<br />

eine Wahlaltersenkung rechnen. Eher im Gegenteil: In Bremen lag<br />

sie bei den 16- und 17-Jährigen bei 28,5 Prozent, insgesamt aber<br />

bei 38,6 Prozent. Anders als bei Grünen und CDU kann man hier<br />

also eigentlich kein Eigeninteresse unterstellen. Trotzdem unter-<br />

41,1<br />

61<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?


62<br />

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />

39,0<br />

17,2<br />

23,1 23,0 24,2 34,0<br />

CDU SPD B’90/Die<br />

Grünen<br />

5,3 4,4<br />

2,8 3,4 2,1<br />

Landtagswahl<br />

FDP Die Linke Piraten NPD Sonstige<br />

U18-Wahl<br />

Abb. 5 Landtagswahl 2011 in Baden- Württemberg und U-18 Wahl des Landesjugendrings<br />

Ba-Wü © Landeswahlleiter Baden-Württemberg, Landesjugendring Baden-Württemberg e. V.<br />

stützt die SPD auf Landes- und Kommunalebene meistens die Initiativen<br />

der Grünen für eine Senkung des Wahlalters. Es handelt<br />

sich dabei also entweder um echte Überzeugung – die sogar so<br />

groß ist, dass dafür mögliche Verluste bei den Stimmanteilen in<br />

Kauf genommen werden – oder um große Solidarität mit dem bevorzugten<br />

Koalitionspartner.<br />

D&E: Kritiker sagen auch, dass insbesondere männliche Jugendliche mit<br />

einer Wahl ab 16 »ihr Mütchen kühlen« wollten und rechtsradikal wählten.<br />

Sind solche Tendenzen zu befürchten?<br />

Jan Kercher: Wenn auf eine angemessene Vorbereitung der Jugendlichen<br />

verzichtet wird, auf jeden Fall. Das zeigen die Wahlergebnisse<br />

aus Österreich und die Juniorwahl-Ergebnisse aus Baden-Württemberg<br />

recht deutlich. Betrachtet man die Ergebnisse<br />

der Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer, so zeigt<br />

sich, dass die vergleichsweise hohen Anteile der rechtsradikalen<br />

Parteien bei den Jungwählern fast ausschließlich auf die Präferenzen<br />

der männlichen Jugendlichen zurückzuführen sind. Hier lag<br />

der Anteil von DVU, Republikanern<br />

und NPD bei 8 %., bei den weiblichen<br />

Jugendlichen hingegen nur bei<br />

8,7<br />

1,0<br />

3,9<br />

2,5<br />

5,4<br />

»Es ist kein Zufall, dass sich<br />

mit den Grünen eine Partei<br />

besonders für eine<br />

Wahlaltersenkung einsetzt,<br />

die auch in besonderem Maße<br />

davon profitieren würde.«<br />

2 %. Gerade die männlichen Jugendlichen<br />

müsste man im Vorfeld<br />

einer Wahlaltersenkung also verstärkt<br />

in den Blickpunkt nehmen.<br />

Was ich dabei besorgniserregend<br />

finde, ist, dass selbst in Bremen, wo<br />

zahlreiche Projekte zur Vorbereitung<br />

der Jugendlichen durchgeführt<br />

wurden, der Stimmenanteil der NPD<br />

bei den 16- und 17-Jährigen mit 4,5<br />

Prozent fast exakt dreimal so hoch<br />

war wie bei allen Wählerinnen und<br />

Wählern. Ich habe mir daraufhin die<br />

verschiedenen Projekte noch einmal genauer angeschaut. Und<br />

musste feststellen, dass zwar durchaus der Wille vorhanden war,<br />

die Jugendlichen auf ihr Wahlrecht vorzubereiten. Dass diese Vorbereitungen<br />

aber fast ausnahmslos wenige Wochen oder sogar<br />

Tage vor der Wahl starteten. Auch hier wurde also keine langfristige<br />

Vor bereitung anhand der Bildungspläne vorgenommen, sondern<br />

eine recht kurzfristige Vorbereitung anhand verschiedener,<br />

außerplanmäßiger Schulprojekte. Das ist zwar durchaus löblich<br />

und teilweise durchaus erfolgreich – was v. a. die hohe Wahlbeteiligung<br />

bei den Jungwählern zeigt. Trotzdem sollte man sich angesichts<br />

der Ergebnisse der Wahltagsbefragung Gedanken<br />

darüber machen, ob solche kurzfristigen und<br />

außerplanmäßigen Projekte wirklich eine ausreichende<br />

Begleitung einer so tiefgreifenden Veränderung<br />

des Wahlsystems sind.<br />

D&E: Forschungen im Bereich des Wertewandels in modernen<br />

Gesellschaften betonen häufig den an postmateriellen<br />

Werten ausgerichteten Wunsch insbesondere junger Menschen<br />

nach mehr Möglichkeiten der politischen Partizipation.<br />

Ist diese Tendenz nach wie vor stabil und gibt es Unterschiede,<br />

was die soziale Herkunft, die besuchte Schulform<br />

bzw. den erreichten Bildungsabschluss sowie das Geschlecht<br />

betreffen?<br />

Jan Kercher: Bei den prominenten und teilweise privat<br />

finanzierten Jugendstudien, die immer wieder in<br />

den Medien diskutiert werden, muss man sehr vorsichtig<br />

sein. Teilweise hapert es da ganz erheblich bei<br />

der Erhebungsmethodik und teilweise lösen sich die<br />

angeblichen Besonderheiten bei den politischen Einstellungen<br />

von Jugendlichen bei genauerem Hinsehen<br />

in Luft auf. Nicht umsonst haben Edeltraud Roller,<br />

Frank Brettschneider und Jan W. van Deth ihrem<br />

Sammelband zum Thema »Jugend und Politik«, der<br />

den Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung<br />

untersucht, den Titel »Voll normal!« gegeben.<br />

Denn was man bei einer seriösen Auswertung der vorhandenen<br />

Daten immer wieder feststellt, ist, dass sich die Jugendlichen in<br />

ihren Einstellungen gar nicht so sehr von den Älteren unterscheiden.<br />

So handelt es sich bei vielen Veränderungen, die sich bei den<br />

Jugendlichen im Zeitverlauf zeigen um allgemeine Veränderungen,<br />

die auch für die gesamte Bevölkerung nachweisbar sind. Die<br />

drei erwähnten Forscher kommen also zu dem Ergebnis, dass die<br />

jugendspezifischen Muster, wie sie vielfach auf der Basis von Jugendstudien<br />

ermittelt werden, offenbar wegen des fehlenden<br />

Vergleichs über alle Altersgruppen und über die Zeit überschätzt<br />

werden. Zum Thema Wertewandel: Was sich nach Roller und Kollegen<br />

ebenfalls feststellen lässt, ist, dass im Zuge allgemeiner<br />

gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in den letzten zehn bis<br />

fünfzehn Jahren in Deutschland eine neue Generation von Jugendlichen<br />

herangewachsen ist, die sich von den Jugendlichen<br />

der 1970er und 1980er Jahre unterscheidet. Nach der Theorie des<br />

postmaterialistischen Wertewandels von Inglehart sind Jugendliche<br />

ja vor allem postmaterialistisch<br />

orientiert, präferieren Themen und<br />

Positionen der Neuen Politik, wählen<br />

grün-alternative Parteien und<br />

sind politisch aktiv. Dieses Bild der<br />

Jugend ist in der Politischen Soziologie<br />

auch heute noch sehr verbreitet.<br />

Es trifft aber offenbar nicht<br />

mehr uneingeschränkt auf die heutige<br />

Jugend zu. Der Trend zeigt sogar<br />

in eine andere Richtung. Die Jugend<br />

von heute unterscheidet sich<br />

von der Jugend der 1970er und<br />

1980er Jahre zum Beispiel dadurch,<br />

dass sie eine höhere politische<br />

Kompetenz besitzt, in geringerem<br />

Ausmaß postmaterialistisch orientiert ist und Gleichheit als<br />

rechtfertigende Gerechtigkeitsideologie befürwortet. Zudem<br />

zeichnet sie sich durch eine geringere Wahlbeteiligung aus, identifiziert<br />

sich weniger häufig mit einer politischen Partei und wählt<br />

auch seltener die Grünen als früher. Zusammenfassend lässt sich<br />

also feststellen: Die heutige Jugend ist im Vergleich zu ihren Vorgängergenerationen<br />

politisch kompetenter, konservativer in ihren<br />

Wertorientierungen und ihrer Wahlentscheidung, weniger<br />

stark an politische Parteien gebunden und geht seltener zur<br />

Wahl.<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


12,2<br />

38,2<br />

37,6<br />

Was die Einflüsse von Geschlecht, sozialer<br />

Herkunft und Bildung angeht: Generell lässt<br />

sich sagen – und das zeigt sich auch in der<br />

bereits erwähnten Untersuchung von Tenscher<br />

und Scherer –, dass männliche und höher<br />

gebildete Jugendliche mehr Interesse an<br />

Politik und politischer Partizipation bekunden<br />

als weibliche und geringer gebildete Jugendliche.<br />

Auch das politische Interesse der<br />

Eltern spielt eine sehr wichtige Rolle: Je stärker<br />

sich die Eltern für Politik interessieren,<br />

desto höher fällt auch das politische Interesse<br />

ihrer Kinder aus. Die politische Sozialisation<br />

ist also sehr stark von Geschlecht, sozialer<br />

Herkunft und dem Bildungsweg<br />

abhängig. Zum Beispiel zeigen sich auch<br />

deutliche Bildungseinflüsse bei der Frage,<br />

welche Ebenen von Politik für die Jugendlichen<br />

interessant sind. Gymnasiasten bekunden<br />

hier deutlich häufiger ein Interesse an<br />

internationaler Politik als Hauptschüler, die<br />

sich dafür mehr für kommunale Politik interessieren<br />

als Gymnasiasten. Auch die subjektive<br />

politische Kompetenz, die sich die Jugendlichen<br />

selbst zumessen, nimmt mit dem Bildungsgrad<br />

eindeutig zu. Zudem schätzen sich Jungen hier meistens deutlich<br />

höher ein als Mädchen. Bezüglich der Wertorientierungen lässt<br />

sich sagen, dass männliche Jugendliche häufig etwas materialistischer<br />

orientiert sind als weibliche Jugendliche und dass die materialistischen<br />

Orientierungen mit zunehmendem Bildungsgrad<br />

eher abnehmen. Aber auch hier gilt: Das kann man ebenso im<br />

Rest der Gesellschaft beobachten. Die Jugendlichen sind letztlich<br />

also wirklich »voll normal«.<br />

10,4 9,1 5,3 7,1 5,8<br />

14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre<br />

Abb. 6 Einstellungen zum Wahlalter, Rheinland-Pfalz 2005<br />

© Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien.<br />

Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 177<br />

»Die heutigen Jugendlichen<br />

weisen eine deutlich geringere<br />

Bereitschaft auf, sich langfristig<br />

an institutionalisierte Formen<br />

der politischen Partizipation<br />

zu binden.«<br />

7,1<br />

37,2<br />

45<br />

2,5*<br />

38,4<br />

51,7<br />

5<br />

32<br />

60,4<br />

23,3<br />

69,4<br />

ab 14 Jahren<br />

ab 16 Jahren<br />

ab 18 Jahren<br />

ist mir egal<br />

1.714 Befragte<br />

D&E: Welche weiteren Par ti zi pations<br />

formen als das aktive Wahlrecht<br />

bevorzugen denn Jugendliche und<br />

junge Erwachsene? Wächst gerade<br />

eine aktive Generation, die eine moderne<br />

Zivilgesellschaft erst möglich<br />

macht, heran?<br />

Jan Kercher: Die heutigen Jugendlichen<br />

weisen eine deutlich<br />

geringere Bereitschaft auf, sich<br />

langfristig an institutionalisierte<br />

Formen der politischen Partizipation<br />

zu binden. Das betrifft zum<br />

Beispiel Partei-Mitgliedschaften<br />

oder auch die Wahlbeteiligung.<br />

Das bedeutet aber nicht zwangsläufig,<br />

dass weniger politisch partizipiert wird. Sondern eben vor<br />

allem weniger institutionell, sondern eher spontan, kurzfristig<br />

und anlassbezogen. Zum Beispiel durch die Teilnahme an Online-<br />

Petitionen, durch Flashmobs oder Shitstorms. Auch die Occupy-<br />

Bewegung ist für mich ein Beispiel dafür, dass institutionelle Formen<br />

der politischen Partizipation für viele jüngere Menschen<br />

keine attraktive Option mehr sind. Denn die Idee der Occupy-Bewegung<br />

war ja gerade, dass sie keine festen Strukturen und vor<br />

allem auch kein Führungspersonal hat. Für die Parteien bedeutet<br />

das natürlich, dass es immer schwieriger wird, neue Mitglieder zu<br />

gewinnen, die auch langfristig aktiv bleiben. Das sieht man ja an<br />

den sinkenden Mitgliederzahlen fast aller Parteien: Die ausscheidenden<br />

Mitglieder können schon lange nicht mehr durch neue<br />

Mitglieder kompensiert werden – wie das früher immer der Fall<br />

war. Das führt dazu, dass die Parteien hier umdenken müssen –<br />

auch, um ihre Finanzierungsbasis zu sichern, die ja zu einem großen<br />

Teil auf den Mitgliedsbeiträgen aufgebaut ist.<br />

Das Aufkommen der Piratenpartei hat die etablierten Parteien<br />

hier zusätzlich aufgescheucht: Im gerade beginnenden Bundestagswahlkampf<br />

kann man das ganz deutlich sehen. Nun versuchen<br />

sich alle Parteien als Mitmach-Parteien darzustellen, um<br />

neue Anhänger und Mitglieder zu gewinnen. Dieser Prozess wurde<br />

durch die Piratenpartei sicherlich stark beschleunigt. Denn bei<br />

der Piratenpartei kann – oder konnte man zumindest bis vor Kurzem<br />

– auch als Neumitglied relativ schnell wichtige Funktionen<br />

übernehmen. Das sieht bei den etablierten Parteien anders aus,<br />

schon allein aufgrund der größeren Mitgliederzahl. Da muss man<br />

sich im Normalfall erstmal einige Jahre beweisen und hocharbeiten,<br />

bevor man eine hervorgehobene Position einnehmen kann.<br />

Und das schreckt viele Jugendliche<br />

ab. Bei der Piratenpartei<br />

funktionierte das hingegen bis<br />

vor Kurzem eher wie bei einer<br />

Bürgerinitiative: Wer genügend<br />

Engagement mitbrachte, der<br />

konnte ganz schnell Sprecher<br />

oder Vorsitzender sein. Mittlerweile<br />

stößt die Partei hier aber<br />

auch an gewisse Grenzen, was<br />

man gerade beim letzten Parteitag<br />

in Bochum miterleben konnte.<br />

Denn wenn alle immer überall<br />

mitmachen und mitreden dürfen,<br />

dann führt das zwangsläufig zu<br />

Problemen bei der Effizienz. Und<br />

die ist bei einer so schnell wachsenden Organisation auch nicht<br />

ganz unwichtig.<br />

Andererseits zeigt die Piratenpartei ja gerade, dass institutionalisierte<br />

Formen der politischen Partizipation auch heute noch junge<br />

Menschen ansprechen können – wenn sie zeitgemäß organisiert<br />

sind, eine hohe Offenheit ausstrahlen und auch unverbindlichere<br />

Partizipationsmöglichkeiten – quasi als »Schnupperkurs« – anbieten.<br />

Mein Gefühl ist, dass die Attraktivität der Piraten für Jugendliche<br />

vor allem durch ihr offenes und unarrogantes Auftreten zu<br />

erklären ist. Damit meine ich vor allem die Ehrlichkeit, auch zuzugeben,<br />

wenn man zu einem Thema einmal nichts oder noch nichts<br />

zu sagen hat. Natürlich kann man das gerade bei zentralen politischen<br />

Themen nicht ewig so machen. Aber gerade bei Problemen,<br />

die neu auftreten und vielleicht auch noch sehr komplex sind, ist<br />

es ja häufig ehrlicher, als Politiker auch einmal zuzugeben, dass<br />

man dazu noch keine fundierte Meinung hat. Das erlebt man bei<br />

den etablierten Parteien aber sehr selten. Stattdessen flüchten<br />

sich deren Politiker dann häufig in Wortwolken, abgedroschene<br />

Phrasen oder Politiker-Chinesisch, häufig gepaart mit einem sehr<br />

63<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?


64<br />

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />

arroganten und selbstgewissen Auftreten. Und genau das wirkt<br />

meiner Einschätzung nach auf viele Jugendliche sehr abschreckend.<br />

Insofern hat die Piratenpartei hier sicherlich schon einen<br />

positiven Beitrag zur Veränderung der politischen Kultur geleistet<br />

– auch bei den etablierten Parteien.<br />

D&E: Was könnte und sollte die politische Bildung innerhalb und außerhalb<br />

des Schulunterrichts für Angebote zur Stärkung der Partizipationsbereitschaft<br />

Jugendlicher machen und wie kann sie am besten Jugendliche<br />

erreichen?<br />

Jan Kercher: Ein guter und vor allem ansprechender Politik-Unterricht<br />

in der Schule ist für mich nach wie vor das beste Mittel,<br />

um Jugendlichen die Bedeutung von politischer Partizipation näherzubringen.<br />

Denn die Schule ist der einzige Ort, an dem man<br />

alle Jugendlichen erreichen kann. Und sie genießt bei den Jugendlichen<br />

nachweislich einen Ruf als Ort für eine objektive Informationsvermittlung.<br />

Weshalb die Jugendlichen von der Schule auch<br />

erwarten, dass sie ihnen die Informationen und Fähigkeiten vermittelt,<br />

die für ein Verständnis der politischen Prozesse und<br />

Beteiligungsformen nötig sind. Darüber hinaus halte ich Projekte,<br />

wie sie zum Beispiel zur Vorbereitung der Wahlaltersenkung in<br />

Bremen durchgeführt wurden, für<br />

sehr begrüßenswert. Also etwa<br />

Juniorwahlen, Workshops, Projekttage,<br />

Planspiele oder auch<br />

Podiumsdiskussionen, die sich<br />

speziell an Jugendliche richten.<br />

Gerade die Methode des Planspiels<br />

halte ich für sehr gut geeignet,<br />

um Jugendlichen die komplexen<br />

Prozesse zu vermitteln, die im<br />

politischen Alltag relevant sind.<br />

Ich war selbst früher als Teamer<br />

im »Juniorteam Europa« aktiv, einem<br />

Peer-Group-Education-Projekt,<br />

das von der LMU München ins Leben gerufen wurde. Die Idee<br />

ist hier, dass junge Menschen anderen jungen Menschen die Bedeutung<br />

der europäischen Institutionen vermitteln. Und zwar vor<br />

allem durch die Teilnahme an Planspielen, in denen unterschiedliche<br />

europäische Szenarien durchgespielt werden. Meine Erfahrungen<br />

mit dieser Methode waren immer sehr positiv. Nach der<br />

Teilnahme an den Planspielen konnten die Jugendlichen sehr viel<br />

besser verstehen, was Politik im Alltag häufig so mühsam macht<br />

und warum am Ende eben oft »nur« Kompromisse herauskommen,<br />

die auf den ersten Blick vielleicht unbefriedigend erscheinen.<br />

Durch die Teilnahme an einem Planspiel lernt man nämlich<br />

relativ schnell, dass solche Kompromisse ein Wesensmerkmal von<br />

demokratischen oder partizipativen Abstimmungsprozessen sind<br />

und beurteilt sie deshalb dann nicht mehr so negativ wie davor.<br />

Und: Man kann danach auch sehr viel besser einschätzen, was Politiker<br />

täglich leisten. Auch die Politik- oder Politikerverdrossenheit<br />

kann also auf diese Weise – zumindest bei einigen Jugendlichen<br />

– gesenkt werden.<br />

D&E: Die Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Sie bisher gearbeitet<br />

haben, hat verschiedene Untersuchungen zu Verständlichkeit von Politikersprache<br />

und Wahlprogrammen gemacht. Neigen nicht gerade junge<br />

Menschen dazu, für personalisierte und emotionalisierte Wahlkämpfe,<br />

vielleicht nach us-amerikanischem Vorbild, besonders empfänglich zu sein?<br />

Anders ausgedrückt: Droht nicht das Niveau der Wahlkampfauseinandersetzung<br />

durch die Senkung des Wahlalters noch weiter herabzusinken?<br />

Jan Kercher: Zunächst einmal: Die Jugendlichen im Alter von 16<br />

und 17 Jahren würden bei einer Wahlaltersenkung nur einen sehr<br />

kleinen Teil der Wählerschaft ausmachen. Es ist also kaum zu erwarten,<br />

dass die Entwicklung der Wahlkampfführung durch solch<br />

eine Änderung entscheidend beeinflusst würde. Auch die Themen<br />

der Wahlkämpfe werden sich deshalb meiner Einschätzung nach<br />

nicht grundlegend ändern. Denn die Masse der Wähler befände<br />

sich auch nach einer Wahlaltersenkung noch immer im älteren<br />

»Die Methode des Planspiels<br />

halte ich für sehr gut geeignet,<br />

um Jugendlichen die komplexen<br />

Prozesse zu vermitteln, die im<br />

politischen Alltag relevant sind.«<br />

Teil der Bevölkerung. Und diese Masse beeinflusst – zumindest<br />

bei den beiden Volksparteien – natürlich in erster Linie die Themensetzung.<br />

Kleinere Parteien wie die Grünen oder die Piraten<br />

wenden sich hingegen mit ihrer Themensetzung heute schon<br />

häufiger auch an jüngere Wählergruppen – auch da würde sich<br />

also nur bedingt etwas ändern. Am ehesten wären aus meiner<br />

Sicht also Änderungen bei den Themensetzungen der FDP und der<br />

Linken zu erwarten. Denn beides sind Parteien, die sich bislang<br />

nicht durch eine gezielte Ansprache von Jungwählern hervorgetan<br />

haben, bei denen aber gleichzeitig auch kleinere Wählergruppen<br />

wie die 16- und 17-Jährigen durchaus wahlentscheidende Bedeutung<br />

haben können.<br />

Selbiges gilt leider auch für die rechtsradikalen Parteien. Was<br />

mich hier besonders nachdenklich stimmt, sind die Befunde aus<br />

der bereits erwähnten Sora-Studie zur österreichischen Nationalratswahl<br />

2008, die u. a. vom Bundeskanzleramt und vom<br />

österreichischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Nach den<br />

Befunden dieser Studie bewerteten die befragten Jugendlichen<br />

schon allein das Herausstellen eines klaren, von der Mehrheitsmeinung<br />

abweichenden Standpunktes durch eine Partei positiv.<br />

Selbst dann, wenn dieser Standpunkt von der eigenen Meinung<br />

abweicht. So lehnte zum Beispiel<br />

eine Mehrheit der befragten Jugendlichen<br />

den Standpunkt der<br />

FPÖ zur Einwanderungspolitik<br />

ab – bewertete aber gleichzeitig<br />

die klare Selbst-Positionierung<br />

der Partei in dieser Frage positiv.<br />

Eventuell sind es also gar nicht<br />

unbedingt immer die Themen<br />

selbst, die entscheidend sind für<br />

die Ansprache jüngerer Wähler –<br />

sondern v. a. auch die Art und<br />

Weise, wie diese Standpunkte<br />

kommuniziert und vertreten werden.<br />

Die österreichischen Forscher stellten nämlich auch fest,<br />

dass die Themen, die von den beiden Rechtsparteien FPÖ und<br />

BZÖ propagiert wurden, auf der Prioritätenliste der Jugendlichen<br />

eigentlich ganz unten standen. Trotzdem wurden sie gerade von<br />

den 16-Jährigen überproportional gewählt.<br />

Das ist aus meiner Sicht auch nicht ganz überraschend: Für jemanden,<br />

der gerade erst beginnt, sich mit dem Thema Politik auseinanderzusetzen,<br />

kann das typische Auftreten von Parteien und<br />

Politikern sehr leicht abschreckend wirken. Teilweise, weil man<br />

die Sprache einfach nicht versteht und teilweise vielleicht auch,<br />

weil man das Gefühl hat, dass die Politiker vieles unnötig verkomplizieren.<br />

Denn auf den ersten Blick wirkt die Lösung vieler Probleme<br />

ja sehr einfach – erst auf den zweiten Blick merkt man dann<br />

häufig, dass es nicht ganz so einfach ist. Leider gibt es aber Parteien,<br />

die den Wählerinnen und Wählern vorgaukeln wollen, dass<br />

es sehr wohl so einfach ist. Und diese bewegen sich eben meistens<br />

an den politischen Rändern. Gerade hier sehe ich also eine<br />

Hauptaufgabe der politischen Bildung. Also darin, den Jugendlichen<br />

zu vermitteln, dass das Auftreten einer Partei nie wichtiger<br />

sein sollte als deren politische Ziele. Und dass man immer misstrauisch<br />

sein sollte, wenn eine Partei allzu einfache Lösungen verspricht.<br />

Denn in unserer heutigen, hoch entwickelten und pluralistischen<br />

Gesellschaft gibt es nur noch für wenige politische<br />

Probleme wirklich einfache Lösungen.<br />

Eine klare und einfache Politikersprache ist deshalb natürlich<br />

nicht falsch – ganz im Gegenteil. Ich halte es gerade für die Ansprache<br />

von Jugendlichen für sehr wichtig, sich nicht in unnötigem<br />

Politiker-Chinesisch zu ergehen. Aber die klare Sprache<br />

sollte eben nicht einhergehen mit einer unzulässigen Simplifizierung<br />

politischer Zusammenhänge. Denn auch komplexe Zusammenhänge<br />

lassen sich meistens mit recht einfacher Sprache beschreiben,<br />

wenn man sich entsprechend bemüht. Bei links- und<br />

rechtsradikalen Parteien geht die einfache Sprache aber häufig<br />

mit einer unzulässigen Vereinfachung der politischen Probleme<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


einher. Und das muss man Jugendlichen innerhalb<br />

und außerhalb der Schule vermitteln.<br />

38,6<br />

D&E: Häufig heißt es, dass sich Jugendliche von elektronischen<br />

Medien, wozu neben den privaten TV-Stationen insbesondere<br />

auch die digitalen Angebote des Internets zählen,<br />

sehr stark manipulativ bestimmen ließen. Denken Sie, dass<br />

über die Herabsenkung des Wahlalters sowie eine verstärkte<br />

verpflichtende politische Bildung in den Schulen<br />

dieser Tendenz Einhalt geboten werden kann und Jugendliche<br />

in ihrem Alter bereits erkennen können, wann eine politische<br />

Frage Zukunftsthemen aufwirft, um die im GG (Art.<br />

20 a) als Staatsziel geforderte Generationengerechtigkeit<br />

umzusetzen?<br />

Jan Kercher: Meiner Einschätzung nach sollte man<br />

von mit einer Absenkung des Wahlalters keine unrealistischen<br />

Erwartungen verbinden. Häufig wird zum<br />

Beispiel behauptet, eine Wahlaltersenkung würde zu<br />

einem Anstieg der Wahlbeteiligung führen – was<br />

nicht stimmt. Natürlich wird durch eine Wahlaltersenkung<br />

die absolute Zahl der abgegebenen Stimmen<br />

steigen – woraus man möglicherweise eine stärkere<br />

Legitimationsfunktion der Wahl ableiten kann,<br />

weil ein größerer Teil der Bevölkerung durch die Wahl<br />

repräsentiert wird. Aber relativ betrachtet wird sich<br />

kaum etwas an der Wahlbeteiligung ändern, weil auch bei den<br />

neuen Erstwählern keine höheren Beteiligungsraten zu erwarten<br />

sind als bei den heutigen Erstwählern. Das sieht man ganz deutlich,<br />

wenn man sich einmal Wahlen anschaut, bei denen das<br />

Wahlalter bereits gesenkt wurde.<br />

Was die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen betrifft: Auch mit einem<br />

niedrigeren Wahlalter und verstärkter politischer Bildung<br />

werden Jugendliche immer etwas leichter zu beeinflussen sein als<br />

ältere Menschen. Das ist auch vollkommen natürlich: Als junger<br />

Mensch verfügt man einfach über einen sehr viel geringeren Erfahrungsschatz<br />

– sowohl im politischen Bereich als auch im unpolitischen<br />

Bereich – als ältere Menschen<br />

und auch über weniger<br />

gefestigte Einstellungen. Das macht<br />

zwangsläufig anfälliger für Beeinflussung<br />

durch persuasive Kommunikation<br />

– sei es nun durch Parteien oder<br />

die kommerzielle Werbeindustrie.<br />

Natürlich kann man Jugendliche<br />

durch entsprechende politische Bildung<br />

auf solche Beeinflussungs- oder<br />

Manipulationstechniken vorbereiten<br />

und sie damit auch etwas besser<br />

schützen als dies bislang der Fall ist.<br />

Aber den Effekt der Lebenserfahrung wird man damit natürlich<br />

nicht komplett kompensieren können. Das wäre zu viel erwartet.<br />

Ebenfalls zu viel erwartet wäre aus meiner Sicht deshalb übrigens<br />

auch die Wunschvorstellung, dass sich Jugendliche durch eine<br />

Wahlaltersenkung von heute auf morgen brennend für Rentenpolitik<br />

interessieren werden. Denn es ist schlicht und einfach<br />

menschlich, dass man sich – angesichts eines begrenzten Zeitbudgets<br />

– zunächst einmal mit den Dingen beschäftigt, die einen<br />

aktuell betreffen – und nicht erst in 40 oder 50 Jahren. Daran wird<br />

man auch durch noch so frühe politische Bildung nur bedingt etwas<br />

ändern können. Natürlich kann und sollte man in der politischen<br />

Bildung von jungen Menschen trotzdem versuchen, die<br />

»versteckte« Bedeutung bestimmter Themen zu vermitteln, deren<br />

konkrete Auswirkungen sich für die heutigen Jugendliche vielleicht<br />

erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten bemerkbar machen.<br />

Das ist aus meiner Sicht aber eine generelle Aufgabe von politischer<br />

Bildung und nicht etwas, das ich in erster Linie von einer<br />

Wahlaltersenkung erwarte.<br />

Wenn man sie richtig und mit dem nötigen Vorlauf umsetzt, dann<br />

denke ich, dass eine Wahlaltersenkung ein wichtiger Beitrag sein<br />

28,5<br />

»Man sollte mit einer<br />

Absenkung des Wahlalters<br />

keine unrealistischen<br />

Erwartungen verbinden«<br />

Landtagswahl 2011 in Bremen: Wahlverhalten nach Alter<br />

20,3<br />

11,2<br />

22,5<br />

33,0<br />

CDU SPD B’90/Die<br />

Grünen<br />

kann, um Jugendliche bereits vor dem Verlassen der Schule an politische<br />

Themen heranzuführen und ihnen die Relevanz politischer<br />

Prozesse und politischer Diskussionen – auch für ihr eigenes<br />

Leben – zu verdeutlichen. Wenn das gelingen würde, dann<br />

wäre das schon einmal sehr erfreulich. Denn solche frühen, positiven<br />

Erfahrungen prägen die politische Sozialisation auf entscheidende<br />

Weise und haben auch eine sehr langfristige Wirkung<br />

auf das generelle politische Interesse. Sie werden sich also auch<br />

dann noch bemerkbar machen, wenn die heutigen Jugendlichen<br />

einmal nicht mehr ganz so jung sind. Auf diese Weise könnte<br />

sich – ebenfalls langfristig betrachtet – auch die gesellschaftliche<br />

Wahrnehmung von Politik insgesamt<br />

verbessern. Mit anderen Worten: Die<br />

»Politikverdrossenheit«, von der<br />

heute so oft zu lesen ist, könnte möglicherweise<br />

gesenkt werden. Das bedeutet<br />

im Umkehrschluss übrigens<br />

auch, dass sich die Politik dann auf<br />

eine anspruchsvollere und beteiligungsstärkere<br />

Bürgerschaft einstellen<br />

sollte. Man kann ja nicht erwarten,<br />

dass die Leute sich mehr für<br />

Politik interessieren, aber trotzdem<br />

immer alles brav abnicken, was die<br />

Regierenden beschließen.<br />

Diese indirekten und langfristigen Wirkungen einer Wahlaltersenkung<br />

sollte man meiner Meinung nach aber mit gewisser Vorsicht<br />

behandeln. Denn ob und wann sie wirklich eintreffen, lässt<br />

sich heute noch nicht sagen.<br />

Literaturhinweise<br />

5,6 7,3 2,4 4,2 3,7<br />

2,0 1,9<br />

6,0<br />

Alle<br />

FDP Die Linke Piraten NPD Sonstige<br />

16- bis 17-Jährige<br />

4,5 3,4 3,3<br />

1,6<br />

Abb. 7 Landtagswahlen 2011 in Bremen, nach Wahlalter © Jan Kercher, Daten: Landeswahlleiter<br />

Kercher, Jan: Fit fürs Wählen. Ergebnisse einer experimentellen Studie zum<br />

Wahlrecht ab 16. www.politische-bildung-rlp.de/fileadmin/download/<br />

Schupp-Kuehl/Vortrag_LpB_RLP_mit_Zusatzauswertungen.pdf<br />

Kozeluh, Ulrike, u. a. (2009): »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur<br />

Nationalratswahl 2008. Befragung – Fokusgruppen – Tiefeninterviews.<br />

http://images.derstandard.at/2009/05/15/studie.pdf<br />

Tenscher, Jens/Philipp Scherer, Philipp (2012): Jugend, Politik und Medien.<br />

Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz.<br />

LIT Verlag, Münster u. a.<br />

65<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?


66<br />

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />

MATERIALIEN<br />

M 1<br />

Christoph Faisst: »Konsequenter Schritt«<br />

Wählen mit 16? Aber selbstverständlich. Denn was<br />

die grün-rote Landesregierung zunächst für das<br />

Kommunalwahlrecht und später auch für die Landtagswahl<br />

plant, ist angesichts der gesellschaftlichen<br />

Veränderung nur konsequent: Jugendliche werden<br />

schneller durch die Schule getrieben, um so früh wie<br />

ihre Konkurrenten aus anderen europäischen Ländern<br />

auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anzukommen.<br />

Sie dürfen mit 17 ans Steuer eines Kraftfahrzeugs.<br />

Sie werden, ob sie es wollen oder nicht, fit<br />

gemacht für eine Leistungsgesellschaft, die sich ihrer<br />

künftigen Mitglieder immer früher bemächtigt. Sie<br />

müssen überall mithalten – doch die entsprechende<br />

politische Teilhabe bleibt ihnen verwehrt.<br />

Die Debatte wird nicht lange auf sich warten lassen:<br />

Wie steht es um die politische Reife dieser jungen<br />

Wähler? Kann es sein, dass Menschen, die noch nicht<br />

unbeschränkt geschäftsfähig sind, mitentscheiden,<br />

wenn es um die Zusammensetzung gesetzgebender Organe geht?<br />

Solche Fragen sind verständlich, doch ein wenig Gelassenheit ist<br />

angebracht. Schließlich werden wir heute auch ganz selbstverständlich<br />

mit 18 Jahren volljährig, bis immerhin 1975 waren es<br />

noch 21 Jahre.<br />

Umstellen müssen sich dagegen die Parteien, die sich verstärkt<br />

mit der Lebenswelt junger Menschen beschäftigen müssen – wollen<br />

sie nicht riskieren, per Wahlrechtsänderung mit leichter Hand<br />

den Piraten 20 Prozent zuzuschanzen.<br />

© Christoph Faisst, Südwestpresse Ulm, Online-Dienst, 1.11.2012<br />

M 2<br />

Beschluss der Vollversammlung des Landesjugendrings<br />

Baden-Württemberg am 25. März 2006<br />

Der Landesjugendring Baden-Württemberg fordert eine Absenkung<br />

des aktiven Wahlalters für Kommunal- und Landtagswahlen<br />

auf 14 Jahre. Diese Absenkung des Wahlalters muss von einer Verstärkung<br />

der schulischen und außerschulischen politischen Bildung<br />

flankiert und durch eine Verbesserung der gesellschaftlichen<br />

Partizipation junger Menschen ergänzt werden. (…)<br />

Eine Absenkung des Wahlalters ist aus mehreren Gründen<br />

dringend geboten. Als Interessensvertretung von Kindern und<br />

Jugend lichen trägt der Landesjugendring mit einer solchen Forderung<br />

dazu bei, mehr Gerechtigkeit zu Gunsten der jungen Generation<br />

herzustellen und gleichzeitig zu einem größeren Gleichgewicht<br />

zwischen den Generationen beizutragen.<br />

Darüber hinaus bewirkt eine Absenkung des Wahlalters auch,<br />

dass junge Menschen die Möglichkeit haben, sich am politischen<br />

Willensbildungsprozess zu beteiligen. Diese Beteiligung halten<br />

wir für wichtig – nicht nur, aber auch bei Wahlen. Nicht zuletzt<br />

können junge Menschen dadurch besser in demokratische Strukturen<br />

hineinwachsen. (…)<br />

• Durch die demographische Entwicklung werden junge Menschen<br />

immer mehr zur Minderheit. Für Baden-Württemberg<br />

prognostiziert das Statistische Landesamt, dass der Anteil der<br />

unter 20-Jährigen bis 2050 von 22 % auf 16 % fallen wird, während<br />

gleichzeitig der Anteil der über 60-Jährigen von heute<br />

23 % auf gut 36 % steigen wird. Dadurch werden Wahlen in<br />

Zukunft noch stärker als bisher von älteren Menschen entschieden.<br />

Es besteht die Gefahr, dass sich Politik deshalb zunehmend<br />

an den Interessen der älteren Generation orientiert.<br />

(…)<br />

• Eine Absenkung des Wahlalters ist mit einer Steigerung der<br />

Relevanz von politischer Bildung verbunden. Damit bekommt<br />

M 3 »Total unpolitisch …« © Gerhard Mester 10.3.2013 (gezeichnet für D&E)<br />

z. B. der Gemeinschaftskundeunterricht eine andere Dimension,<br />

weil er mit stattfindenden Wahlen verbunden werden<br />

kann, an denen sich die Jugendlichen beteiligen können. Auch<br />

in der außerschulischen Jugendbildung gäbe es einen direkteren<br />

Anlass, mit Jugendlichen über das Wahlsystem und die<br />

Auswirkungen einer Wahlentscheidung zu kommunizieren.<br />

Dadurch würden Jugendliche besser in unser demokratisches<br />

System hinein wachsen. Die Auswertung der Beteiligung bei<br />

der Bundestagswahl zeigt, dass dies dringend nötig ist. (…)<br />

• Das Argument, dass viele junge Menschen zu wenig Ahnung<br />

von politischen Themen haben, spricht für die Notwendigkeit<br />

einer besseren politischen Bildung. Es spricht aber nicht gegen<br />

eine Absenkung des Wahlalters. In jeder Altersstufe gibt<br />

es Menschen, die an Politik interessiert sind und solche, die<br />

sich nicht für Politik interessieren. Auch die Möglichkeit der<br />

Beeinflussung der Wahlberechtigten durch die Parteien ist in<br />

allen Generationen gegeben. Die wahlkämpfenden Parteien<br />

geben ja nicht umsonst viel Geld dafür aus, Menschen zu beeinflussen.<br />

(…) Dass viele Jugendliche sich selber als noch<br />

nicht reif zum Wählen einschätzen, bringt deren Respekt vor<br />

der Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit von Wahlen zum Ausdruck<br />

und kann nicht gegen eine Absenkung des Wahlalters vorgebracht<br />

werden. Es geht darum, dass junge Menschen überhaupt<br />

die Möglichkeit haben, sich an Wahlen zu beteiligen.<br />

(…)<br />

• Jede Altersgrenze ist beliebig und bringt neue Ungerechtigkeiten<br />

mit sich. Für die Altersgrenze bei 14 Jahren spricht, dass<br />

sich bereits jetzt an dieser Altersschwelle einige gesetzlichen<br />

Rechte und Pflichten ändern. Mit diesem Alter beginnt die Religions-<br />

und Strafmündigkeit. Das bedeutet, dass der Staat<br />

Menschen in diesem Alter schon viel zutraut. Mit anderen<br />

Worten: Wem zugetraut wird, dass er/sie die Religionszugehörigkeit<br />

frei wählen kann und Verantwortung für das eigene<br />

Handeln übernehmen muss, ist auch in der Lage, eine politische<br />

Wahlentscheidung zu treffen.<br />

• Dies wird unterstützt durch entwicklungspsychologische Erkenntnisse<br />

in den Sozialwissenschaften. Ab dem Alter von 12<br />

Jahren geht der Blick über das eigene enge Lebensumfeld hinaus,<br />

die Urteilsfähigkeit auch über Vorgänge, die einen nicht<br />

selbst direkt betreffen, wächst. In den letzten Jahren wird beobachtet,<br />

dass Jugendliche über diese Fähigkeiten immer früher<br />

verfügen. Nicht umsonst nehmen Kinder und Jugendliche<br />

in vielen Jugendverbänden schon viel früher an den innerverbandlichen<br />

Entscheidungsprozessen teil.<br />

© Beschlossen von der Vollversammlung des Landesjugendrings Baden-Württemberg e. V.<br />

am 25. März 2006<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


M 4<br />

Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit<br />

und Politikinteresse?<br />

Immer wieder wird in Deutschland über eine<br />

Absenkung des Wahlalters als Mittel gegen<br />

eine angenommene »Politikverdrossenheit«<br />

bei Jugendlichen diskutiert. Zuletzt hat der<br />

Landtag in Brandenburg im Dezember 2011<br />

mit den Stimmen von SPD, LINKEN, Grünen<br />

und FDP gegen die Stimmen der CDU das<br />

Wahlalter auf 16 Jahre festgelegt. Der oft<br />

emotional geführten Debatte mangelt es allerdings<br />

meist an einer nüchternen Bewertung<br />

der Fakten. Insbesondere sind bei der<br />

Entscheidung über das Wahlalter folgende<br />

Gesichtspunkte zu beachten (…):<br />

Artikel 38 des Grundgesetzes legt in Absatz 2<br />

zur Wahlberechtigung für die Wahlen zum<br />

Deutschen Bundestag fest: »Wahlberechtigt<br />

ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet<br />

hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat,<br />

mit dem die Volljährigkeit eintritt.« Für eine<br />

Änderung dieser Regelung wäre ein 2/3-Mehrheit<br />

im Deutschen Bundestag erforderlich.<br />

Zwar können die Bundesländer das jeweiligen<br />

Landtags- und Kommunalwahlrecht<br />

grundsätzlich autonom regeln, aber sie orientieren sich meist am<br />

Bundestagswahlrecht. Zwölf von 16 Bundesländern regeln das<br />

Wahlalter für Landtagswahlen und landesweite Volksabstimmungen<br />

in ihren Landesverfassungen. Da diese nur mit einer 2/3-Mehrheit<br />

bzw. teilweise nur durch Volksabstimmungen geändert<br />

werden können, ist eine Änderung des Wahlrechtes vor parteitaktischen<br />

Überlegungen geschützt. In den Landesverfassungen von<br />

Bayern (Art 14), Baden-Württemberg (Art. 73), Berlin (Art. 39),<br />

Hessen (Art. 73), Niedersachsen (Art. 8), Nordrhein-Westfalen<br />

(Art. 30), Rheinland-Pfalz (Art. 76), dem Saarland (Art. 64), Sachsen<br />

(Art. 4) Sachsen-Anhalt (Art. 42) und Thüringen (Art. 46), ist<br />

das Wahlalter ausdrücklich auf die Vollendung des 18. Lebensjahres<br />

festgelegt. (…)<br />

Auch im europäischen Ausland gilt generell die Wahlberechtigung<br />

ab 18 Jahren – mit Ausnahme von Österreich, wo 2007 das<br />

Wahlalter bei nationalen Wahlen auf 16 Jahre gesenkt wurde. International<br />

lassen bisher außerdem lediglich Brasilien, Nicaragua<br />

und Kuba (wo man von Wahlen gar nicht sprechen kann) ein<br />

Wahlrecht ab 16 Jahren zu. (…)<br />

Die Forderung nach einer Senkung des Wahlalters wirft die Frage<br />

auf, nach welchen Kriterien das Wahlalter festgelegt werden soll.<br />

Bisher galt das Erreichen der Volljährigkeit dafür als entscheidender<br />

Maßstab. So kündigte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner<br />

Regierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« vom 28. Oktober<br />

1969 miteinander verbunden Gesetzesinitiativen zur Absenkung<br />

des Wahlalters und der Volljährigkeit an. Die Umsetzung<br />

erfolgte zur Bundestagswahl 1972 mit der Absenkung des aktiven<br />

Wahlalters und (wegen der Vielzahl rechtlicher Folgeregelungen<br />

zeitlich verzögert) 1975 mit der Herabsetzung der Volljährigkeit<br />

(und damit der passiven Wahlberechtigung) auf 18 Jahre.<br />

Der Vorschlag nach einer weiteren Senkung des Wahlalters wird<br />

allerdings nicht mit der Forderung nach einer weiteren Absenkung<br />

der Volljährigkeitsgrenze verbunden. Die sich daraus ergebende<br />

Entkoppelung von Wahlberechtigung und Volljährigkeit<br />

führt zur grundsätzlichen Problematik, ob Bürgerrechte wie das<br />

Wahlrecht nicht an die Bürgerpflichten gebunden sein sollten, die<br />

zur Volljährigkeit gehören.<br />

Der innere Zusammenhang zwischen Wahlalter und Volljährigkeit<br />

konkretisiert sich in der Frage, warum jemand über die Geschicke<br />

der Gesellschaft mitentscheiden soll, den diese Gesellschaft noch<br />

nicht für reif genug hält, seine eigenen Lebensverhältnisse zu regeln:<br />

M 5 »… Jugendliche reifen heute wesentlich früher …« © Gerhard Mester, 2012<br />

16-Jährige dürfen in Deutschland Mofa fahren, aber nicht ohne<br />

Begleitung eines Erwachsenen ein Auto lenken. Sie dürfen in der<br />

Öffentlichkeit Bier trinken, aber keine hochprozentigen Alkoholika.<br />

Ohne Erlaubnis der Eltern dürfen sie eine Diskothek nur bis<br />

Mitternacht besuchen. Bei Gesetzesverstößen fallen 16-Jährige<br />

unter das Jugendstrafrecht. Heiraten darf man zwar ab 16, aber<br />

nur wenn ein Familiengericht dazu die Genehmigung erteilt und<br />

der Ehepartner bereits volljährig ist. Kaufverträge, die von Jugendlichen<br />

unter 18 Jahren ohne Zustimmung des gesetzlichen<br />

Vertreters geschlossen werden – zum Beispiel der Kauf eines<br />

Computers – sind nur wirksam, wenn sie aus Mitteln bezahlt werden,<br />

die ihnen vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zustimmung<br />

von einem Dritten überlassen worden sind.<br />

Dieser sog. »Taschengeldparagraph« (§ 110 des Bürgerlichen Gesetzbuches)<br />

gilt bis zur vollen Geschäftsfähigkeit mit Erreichen<br />

des 18. Lebensjahres.<br />

Es ist auffällig, dass auch die Befürworter einer Absenkung des<br />

Wahlalters nicht vorschlagen, dass an diesen Alterseinschränkungen<br />

etwas geändert wird. Sie plädieren nicht für eine Absenkung<br />

der Volljährigkeit. So gesehen ist die Wahlberechtigung für Minderjährige<br />

ein Widerspruch in sich, weil es das Wahlrecht von der<br />

Lebens- und Rechtswirklichkeit abkoppelt.<br />

Wenn das Wahlrecht von der Volljährigkeit entkoppelt wird, sind<br />

andere Altersgrenzen willkürlich, weil sie an kein objektives Kriterium<br />

geknüpft sind. Nach der Volljährigkeit ist im deutschen<br />

Rechtssystem allenfalls die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebensjahr<br />

(§ 19 Strafgesetzbuch) ein wesentlicher Einschnitt. Mit dem<br />

Erreichen des 16. Lebensjahres werden hingegen nur einige Einschränkungen<br />

des Jugendschutzes gelockert (z. B. Ausgang ohne<br />

Erwachsenenbegleitung bis 24 Uhr). (…)<br />

Oft wird als Begründung für eine Senkung des Wahlalters das vermeintlich<br />

hohe Politikinteresse von minderjährigen Jugendlichen<br />

angeführt. Dafür gibt es keine empirischen Belege. Im Gegenteil<br />

stimmen die vorliegenden Studien darin überein, dass das Politikinteresse<br />

von 16/17-Jährigen deutlich geringer ausgeprägt ist als<br />

das von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen.<br />

© Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse?, (Konrad-Adenauer-Stiftung),<br />

www.kas.de/wf/de/33.29980/, Stand: 18.10.2012, vgl. auch Blog:<br />

buergerbeteiligung.wordpress.com<br />

67<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?


BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA<br />

10. »Projekt Grenzen-Los!«<br />

Trinationale Zusammenarbeit für eine<br />

Engagementkultur<br />

JEANNETTE BEHRINGER<br />

68<br />

Das Projekt »Grenzen-Los! Freiwilliges Engagement<br />

in Deutschland, Österreich und der<br />

Schweiz« wurde im Jahr 2007 durch die Landeszentrale<br />

für politische Bildung Baden-Württemberg<br />

ins Leben gerufen. »Grenzen-Los« ist eine trinationale<br />

und trisektorale Kooperation, die Organisationen<br />

aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft<br />

aus Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst.<br />

In ihr arbeiten acht Organisationen aus<br />

Deutschland, Österreich und der Schweiz zum<br />

Thema des zivilgesellschaftlichen, freiwilligen Engagements<br />

grenzüberschreitend zusammen. Seit<br />

Beginn der Kooperation haben sich umfassende<br />

Möglichkeiten des Austauschs zu länderspezifischen<br />

Lösungsansätzen und Akteuren entwickelt.<br />

Die Kooperation möchte sich zu einem Netzwerk<br />

weiterentwickeln, das neue Formen des grenzüberschreitenden,<br />

spezifischen Austauschs zur<br />

Thematik der weiteren Entwicklung einer demokratischen<br />

Zivilgesellschaft, des freiwilligen Engagements<br />

und partizipativer Strukuren sowie deren<br />

gesellschaftlichen Auswirkungen erarbeiten wird. Dabei sollen<br />

zunehmend die Rolle des Staates und der Unternehmen<br />

sowie die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Strukturen<br />

grenzüberschreitend diskutiert werden.<br />

Abb. 1 Kongress »Grenzen-Los!«, 2009 in Konstanz © Andreas Kaier, Esslingen<br />

(SGG) sowie »MIGROS Kulturprozent«. Sind in Deutschland und<br />

Österreich Organisationen der öffentlichen Hand Trägerinnen<br />

von »Grenzen-Los!«, bearbeiten in der Schweiz vor allem zivilgesellschaftliche<br />

und wirtschaftliche Träger diese Aufgabe auf nationaler<br />

Ebene.<br />

Warum ein grenzüberschreitendes Projekt zum<br />

freiwilligen Engagement?<br />

Freiwilliges Engagement spielt in vielfältiger Form eine zentrale<br />

Rolle in unserer Gesellschaft: Als Träger von Lebensqualität, als<br />

Ausgangspunkt für ein gutes Zusammenleben, als Feld, in dem<br />

wichtige kommunale Aufgaben übernommen werden oder wenn<br />

es darum geht zu diskutieren, wie wir uns als Gesellschaft organisieren<br />

und weiterentwickeln. Das Netzwerk »Grenzen-Los!«, das<br />

Organisationen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus<br />

Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst, widmete sich<br />

deshalb in einer Tagungsreihe der Frage »Wie gelingt es, dieses<br />

wichtige Engagement in unserer Gesellschaft bestmöglich zu unterstützen<br />

und zu fördern?«. Ziel der Kooperation ist der länderübergreifende<br />

Wissenstransfer sowie die Identifizierung gemeinsamer<br />

Fragestellungen und die Entwicklung von Lösungsansätzen.<br />

Nach einer Tagung in Konstanz (2009) und in Zürich (2010) beschäftigte<br />

sich die dritte Tagung des Netzwerks in Dornbirn, Österreich<br />

(2011), mit der Wechselwirkung von Beteiligung und Selbstorganisation<br />

als wesentlicher Aspekte bürgerschaftlichen<br />

Engagements.<br />

Die »Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg«<br />

lud für diese Konferenzen Vertreter des »Bundesministeriums für<br />

Familie, Senioren, Frauen und Jugend« (BMFSFJ), des »Bundesnetzwerks<br />

Bürgerschaftliches Engagement« (BBE) sowie des damaligen<br />

»Ministeriums für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg«<br />

ein. Aus Österreich sind das »Lebensministerium« sowie<br />

das »Büro für Zukunftsfragen des Landes Vorarlberg« beteiligt,<br />

aus der Schweiz die »Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft«<br />

Was kann Beteiligung und Selbstorganisation<br />

für die Förderung von Engagement leisten?<br />

Leitend für die Zusammenarbeit war der Gedanke, die Bedeutung<br />

des freiwilligen Engagements im deutschsprachigen Raum in seinen<br />

unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungen als zentrales<br />

Element einer lebendigen Zivilgesellschaft und Demokratie, für<br />

sozialen Zusammenhalt und Stabilität sowie als Voraussetzung<br />

für eine Nachhaltige Entwicklung deutlich zu machen.<br />

Dazu trat der transdisziplinäre Wissensaustausch: Wissenschaft<br />

soll von Erfahrungen und drängenden offenen Fragen aus der<br />

Praxis Kenntnis erhalten, erfahrene Personen aus dem Feld erhalten<br />

eine »komprimierte Gelegenheit«, sich mit wissenschaftlichen<br />

Befunden zu Entwicklungen des freiwilligen Engagements<br />

auf gesellschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen. Des Weiteren<br />

steht der Gedanke der grenzüberschreitenden Vernetzung im<br />

Zentrum: Menschen sollen sich begegnen, austauschen, vernetzen.<br />

Die erste Tagung (2009) hatte, ausgehend von der bundesdeutschen<br />

Diskussion, das Ziel, grundlegende und aktuelle Fragestellungen<br />

des Diskurses zum freiwilligen Engagement wie Ausmaß,<br />

aktuelle Erscheinungsformen, Akteure und Motivationen des freiwilligen<br />

Engagements, oder auch Voraussetzungen und Zugänge,<br />

Wirkungen von Engagement am Beispiel der interkulturellen Integration<br />

aufzugreifen. Die zweite Tagung hatte die in der schweizerischen<br />

Diskussion wichtige Frage nach der Rolle des freiwilligen<br />

Engagements als einen Beitrag für lokale Demokratie und<br />

sozialen Zusammenhalt in den Mittelpunkt gerückt. Diese wurden<br />

anhand spezifischer Fragestellungen weiter vertieft, zum Bei-<br />

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur D&E Heft 65 · 2013


spiel in der Frage nach den Potenzialen des Engagements in der<br />

Integrations- und Inklusionsförderung oder im Rahmen von Generationenbeziehungen.<br />

Die dritte Tagung in Dornbirn tagte im<br />

Format einer Open Space Anordnung zum Thema »Engagement,<br />

politische Partizipation und Nachhaltige Entwicklung«.<br />

Gemeinsame Motivationen, unterschiedliche<br />

Kulturen<br />

In einer Zeit, in der das europäische Zusammenwachsen groß geschrieben<br />

wird, wird eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />

gern eingefordert. Dennoch: Was ist der »Mehrwert« eines solchen<br />

Projekts? Welche Erfahrungen und Erkenntnisse wurden bisher<br />

gesammelt? Und was können Entwicklungsperspektiven sein?<br />

Eine der wichtigsten Erkenntnisse war bisher: Je länger die Zusammenarbeit<br />

andauerte, je mehr voneinander gelernt und erfahren<br />

wurde, desto deutlicher traten auch die länderspezifische<br />

Unterschiede zutage. Da sich die Kooperation bislang im deutschsprachigen<br />

Raum bewegt, haben sich die Partnerorganisationen<br />

häufig in der unbewussten Annahme »ertappt«, dass sich freiwilliges<br />

Engagement in den drei Ländern mehr oder weniger ähnlich<br />

darstellt. Die Unterschiede sind jedoch größer als angenommen.<br />

Bereits bei der Suche nach einer gemeinsamen Begrifflichkeit hat<br />

die Diskussion zwischen den in der Schweiz eher gebräuchlichen<br />

Begriffen »Freiwilligkeit«, »Freiwilligenarbeit« und dem vor allem<br />

in Deutschland durch die Enquete-Kommission des Bundestags<br />

»Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« geprägten Begriffs<br />

»Bürgerschaftliches Engagement« höchst unterschiedliche<br />

Auffassungen und Entwicklungen der politischen Kultur und deren<br />

Bedeutung für Zivilgesellschaft und Demokratie zutage gefördert.<br />

In der Schweiz sind die Gesellschaft und der Staat auf die freiwillige<br />

Tätigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger wesentlich stärker<br />

angewiesen als in Österreich oder Deutschland. Insbesondere die<br />

staatliche Unterstützung auf der Ebene des Bundes ist strukturell<br />

weit weniger ausgeprägt. Aufgrund des stärkeren Föderalismus<br />

ist sie regional und lokal sehr unterschiedlich und wird stärker<br />

durch Kantone und Gemeinden wahrgenommen.<br />

Hingegen wird in den stärker repräsentativ-demokratischen Kulturen<br />

in Österreich und Deutschland die Rolle und der Charakter<br />

des freiwilligen Engagements nicht in erster Linie für den sozialen<br />

Zusammenhalt diskutiert, sondern wesentlich stärker in seiner<br />

Funktion als zusätzliches politisches Engagement wahrgenommen.<br />

Diese Diskussion wird durch die aktuelle Krise der Legitimation<br />

politischer Parteien und durch die Krise der Repräsentation<br />

verstärkt. So sind in Deutschland und in Österreich vermehrt<br />

staatliche Strukturen für die Förderung des freiwilligen Engagements<br />

vorhanden – gleichzeitig ist damit eine höhere Steuerung<br />

durch staatliche Instanzen vorgezeichnet.<br />

Länderstudien erfassen deshalb das, was als »freiwilliges Engagement«<br />

gilt, zum Teil unterschiedlich. Dennoch zeichnen sich auch<br />

gemeinsame Trends und Entwicklungen ab, wie zum Beispiel die<br />

zunehmende »Monetarisierung« im freiwilligen Engagement, ihre<br />

Multi-Funktionalisierung oder auch die immer größere Inanspruchnahme<br />

der Individuen durch den Arbeitsmarkt, die Zeitressourcen<br />

für freiwilliges Engagement geringer werden lassen.<br />

Gleichzeitig sind Seniorinnen und Senioren in allen Ländern eine<br />

Zielgruppe, deren Kompetenz, Gestaltungswille und auch deren<br />

Zeitressourcen in den kommenden Jahren erheblich mehr Gewicht<br />

gewinnen werden.<br />

Ausblick<br />

Geprägt durch diese Erfahrung von Gemeinsamkeit, aber auch<br />

Unterschieden im freiwilligen Engagement, ist es das Ziel des<br />

Netzwerks, nicht nur in einer Art »Länder-Benchmarking« die sich<br />

verändernden Nuancen eines »Wo engagieren sich die meisten in<br />

Abb. 2 Flipchart aus der Open-Space Konferenz »Grenzen-Los!« vom<br />

21./22. November 2011 in Dornbirn, Österreich © Jeannette Behringer<br />

welchen Themenfeldern?« zu betrachten. Vielmehr liegt das Interesse<br />

darin, in einer nächsten Phase spezifische Fragestellungen,<br />

die länderspezifisch einzigartig oder auch länderübergreifend<br />

beobachtet werden, vertieft zu diskutieren. Dies soll die Möglichkeit<br />

und die Chance bieten, sich gegenseitig zu unterstützen, länderübergreifende<br />

Lösungswege zu entwickeln, d. h. kollegiale<br />

Beratung zu leisten.<br />

Die Erweiterung um Organisationen aus anderen Ländern wäre<br />

deshalb nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert. Die Herausforderung<br />

in dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

besteht aktuell vor allem darin, einerseits einer naiven Ȇbertragungs-<br />

und Transferlogik« eines länderspezifisch gewachsenen<br />

Projektes zu entgehen, andererseits, trotz bestehender Unterschiede,<br />

Potenziale für die je eigene Kultur zu erkennen. Als wichtige<br />

Voraussetzung für dieses Ziel wird deshalb aktuell der qualitative<br />

Ansatz eines »Verstehen statt Vergleichen« (Rita Trattnigg)<br />

diskutiert.<br />

Literaturhinweise<br />

Europäisches Netzwerk Freiwilliges Engagement (Hrsg.) (2009): Grenzen-<br />

Los!. Freiwilliges Engagement in Deutschland, Österreich und der Schweiz.<br />

Dokumentation zur Internationalen Vernetzungskonferenz Konstanz,<br />

16./17. Februar 2009<br />

Der Bürger im Staat (BIS), Bürgerschaftliches Engagement, Nr. 4–2007.<br />

Gensicke, Thomas/Picot, Sybille/Geiss, Sabine: Freiwilliges Engagement in<br />

Deutschland 1999–2004, Wiesbaden, 2006.<br />

69<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur


70<br />

JEANNETTE BEHRINGER<br />

MATERIALIEN<br />

M 1<br />

Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engagements<br />

in Deutschland«<br />

Freiwilliges beziehungsweise bürgerschaftliches Engagement hat<br />

in Deutschland eine lange Tradition. So haben etwa im Verlaufe<br />

des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Formen des bürgerschaftlichen<br />

Engagements (bürgerliche Sozialreform, Frauenbewegung,<br />

christliche Bewegungen sowie die Stein-Hardenberg’sche Kommunalreform)<br />

zur Entstehung des deutschen Sozialstaates beigetragen.<br />

Dennoch führten Formen des freiwilligen beziehungsweise<br />

bürgerschaftlichen Engagements in der Folgezeit ein<br />

Schattendasein, was nicht zuletzt mit der Expansion des deutschen<br />

Sozialstaates zusammenhängt. Erst in der zweiten Hälfte<br />

der 1970er Jahre stieg angesichts der Grenzen des Wachstums des<br />

Wohlfahrtsstaates die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen<br />

Formen des freiwilligen Engagements wieder an. Mit dem Internationalen<br />

Jahr der Freiwilligen (IJF) im Jahre 2001 und der Enquete-Kommission<br />

des Deutschen Bundestages »Zukunft des<br />

bürgerschaftlichen Engagements« (1999 bis 2002) erhielt das freiwillige<br />

Engagement sogar eine prominente öffentliche Sichtbarkeit,<br />

die mit der Initiative Zivil-Engagement (IZE) des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und<br />

dem Nationalen Forum für Engagement und Demokratie einen<br />

vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.<br />

In Deutschland gibt es bis heute keinen Konsens hinsichtlich der<br />

Begrifflichkeit. Traditionell werden unentgeltliche und freiwillige<br />

Tätigkeiten im öffentlichen Raum mit dem Begriff des »Ehrenamtes«<br />

belegt. Inzwischen werden neben dem klassischen Begriff<br />

des Ehrenamtes insbesondere die Termini »freiwilliges Engagement«<br />

und »bürgerschaftliches Engagement« gebraucht. So verständigte<br />

sich die Enquete-Kommission im Jahr 1999 auf den Begriff<br />

des »bürgerschaftlichen Engagements«, um im Anschluss an<br />

republikanische Denktraditionen die gesellschaftspolitische Dimension<br />

freiwilligen Handelns zu betonen. Der erstmalig im Jahre<br />

1999 in Auftrag gegebene Freiwilligensurvey spricht relativ neutral<br />

von »freiwilligem Engagement«. Hinsichtlich der operativen<br />

Dimension gibt es allerdings Konsens dahingehend, dass es sich<br />

bei (freiwilligem beziehungsweise bürgerschaftlichem) Engagement<br />

um freiwillige, nicht auf materiellen Gewinn gerichtete, gemeinwohlorientierte<br />

und im öffentlichen Raum statt findende<br />

Tätigkeiten handelt, die in der Regel gemeinschaftlich beziehungsweise<br />

kooperativ ausgeübt werden. (…) International vergleichende<br />

Angaben lassen sich (…) aus dem ESS (»European Social<br />

Survey«) ableiten. Danach liegt der prozentuale Anteil<br />

ehrenamtlich Aktiver mit 24,6 Prozent in Deutschland deutlich<br />

über dem internationalen Durchschnitt (der bei 17,6 Prozent<br />

liegt). Die höchsten Beteiligungsquoten weisen Norwegen (36,6<br />

Prozent), Schweden (34,7 Prozent) und die Niederlande (30,6 Prozent)<br />

auf, die niedrigsten dagegen Italien (4,6 Prozent), Polen (5,6<br />

Prozent) und Portugal (6,1 Prozent). (…) Was die Tätigkeitsbereiche<br />

anbelangt, so bleibt der Bereich »Sport und Bewegung« nach<br />

wie vor der mit Abstand größte Bereich, gefolgt von »Schule/ Kindergarten«,<br />

»Kirche und Religion« sowie »Kultur und Musik« sowie<br />

dem »sozialen Bereich«. In dem Zeitraum zwischen 1999 und<br />

2004 sind insbesondere die Bereiche »Kindergarten/Schule«, »außerschulische<br />

Jugendarbeit und Erwachsenenbildung« sowie<br />

der »soziale Bereich« gewachsen. Dabei geht diese Zunahme in<br />

den beiden erstgenannten Bereichen auf das Konto der jungen<br />

Leute (14 bis 30 Jahre), während das Wachstum des »sozialen Bereichs«<br />

vor allem durch Menschen ab 40 Jahre getragen wird. (…)<br />

Das quantitative Ausmaß des freiwilligen Engagements ist in<br />

Deutschland mit 36 Prozent durchaus (für manche überraschend)<br />

hoch; mit dieser Engagementquote befindet sich Deutschland im<br />

internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld. Allerdings gibt es<br />

eine hohe soziale Selektivität nach Bildungsstand, sozialer Vernetzung,<br />

ethnischer Zugehörigkeit, beruflicher Tätigkeit, etc.;<br />

M 2<br />

(…) Viele Organisationen klagen dennoch über einen Rückgang<br />

ehrenamtlicher Beteiligung und schwindender Bereitschaft zur<br />

Ausübung langfristig bindender Engagements etwa im Führungsund<br />

Leitungsbereich; hier erweist sich ein weiteres Mal, dass freiwilliges<br />

Engagement eine schwer zu bindende Ressource ist, die<br />

entsprechender Rahmenbedingungen bedarf<br />

© Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engagements in Deutschland«, in: Grenzen-<br />

Los!, a. a. O., S. 22ff., www.lpb-bw.de/6014.html<br />

M 3<br />

Organisatorinnen, Organisatoren, Referentinnen und Referenten des Kongresses<br />

»Grenzen-Los!« in Konstanz 2009: (von links): Dr. Jeannette<br />

Behringer, Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Professor Dr. Thomas Olk, Eva<br />

More-Hollerweger, Lothar Frick, Direktor der LpB Baden-Württemberg<br />

© Andreas Kaier, Esslingen<br />

Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des<br />

freiwilligen Engagements in der Schweiz«<br />

Rund ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung ist innerhalb<br />

von Vereinsstrukturen freiwillig engagiert. Hierbei können die bereits<br />

in früheren Untersuchungen festgestellten Unterschiede<br />

zwischen der Romandie beziehungsweise dem Tessin und der<br />

Deutschschweiz bestätigt werden. In der Deutschschweiz sind<br />

substantiell mehr Personen freiwillig tätig, als dies in der lateinischen<br />

Schweiz der Fall ist. Dies gilt nicht nur für freiwillige Tätigkeiten<br />

im Allgemeinen, sondern ebenso für die Übernahme von<br />

Ehrenämtern im Besonderen. Mit einem Bevölkerungsanteil von<br />

gut zehn Prozent sind die meisten der formell Freiwilligen in<br />

Sport- und Freizeitvereinen tätig. Umgekehrt engagieren sich weniger<br />

als zwei Prozent in politischen Parteien oder in Menschenrechts-<br />

und Umweltverbänden.<br />

Darüber hinaus ist ein hoher sozialer Status, das heißt eine hohe<br />

Bildung, ein hohes Haushaltseinkommen und eine gute beru iche<br />

Stellung dem freiwilligen Engagement grundsätzlich förderlich.<br />

Demgegenüber ist die verfügbare Zeit nicht das wesentliche<br />

Merkmal formell Freiwilliger (…). Gerade Bevölkerungsgruppen,<br />

die im Prinzip über zeitliche Ressourcen verfügen, um sich in Vereinen<br />

und Organisationen freiwillig zu betätigen, wie etwa Rentner,<br />

Arbeitslose oder Teilzeiterwerbstätige, engagieren sich nicht<br />

so stark wie erwartet. Vielmehr ist die soziale Integration – sei es<br />

über den Beruf oder über familiäre Beziehungen und Freunde –<br />

von zentraler Bedeutung für ein freiwilliges oder ehrenamtliches<br />

Engagement. (…)<br />

In der Schweiz sind insgesamt über 37 Prozent der Bevölkerung<br />

informell, also außerhalb von Vereinen und Organisationen, freiwillig<br />

tätig. Ähnlich wie beim formell freiwilligen Engagement ergeben<br />

sich dabei erhebliche regionale Unterschiede. Vor allem in<br />

den Kantonen der Ost- und Zentralschweiz ist das informelle En-<br />

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013


gagement ausgeprägt, während in der Romandie und im Tessin<br />

ein deutlich geringerer Anteil von Personen informelle Freiwilligentätigkeit<br />

ausübt. Die informelle Freiwilligkeit kann dabei<br />

überwiegend mit persönlichen Hilfeleistungen für Freunde und<br />

Bekannte beschrieben werden: Rund zwei Drittel der informell<br />

Freiwilligen gehen im Rahmen ihres Engagements anderen Menschen<br />

zu Hilfe. (…) Das freiwillige Engagement der Schweizerinnen<br />

und Schweizer ist mehr als altruistisches Verhalten. Dies spiegelt<br />

sich auch in den wichtigsten Motiven der Ausübung formell<br />

freiwilliger Tätigkeiten wider. Während uneigennützige, wohltätige<br />

Aspekte zwar eine wichtige Rolle für die Übernahme von freiwilligen<br />

und ehrenamtlichen Aufgaben spielen, sind stärker<br />

selbstbezogene Argumente wie das Zusammensein mit Freunden<br />

oder der Spaß an der Tätigkeit für viele der Hauptgrund ihres freiwilligen<br />

Engagements. Obwohl der Ausübung freiwilliger Tätigkeiten<br />

damit in erster Linie persönliche Motive zu Grunde liegen,<br />

kommt der Anstoß für die Übernahme freiwilliger Arbeiten dennoch<br />

häufig von außen. Hier bilden persönliche Kontakte und<br />

Netzwerke den hauptsächlichen Beweggrund für freiwillige Tätigkeiten<br />

in Vereinen und Organisationen. Allgemeine Hinweise<br />

aus den Medien oder durch Informations- und Kontaktstellen<br />

geben nur in Einzelfällen den Anstoß für ein freiwilliges Engagement.<br />

© Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des freiwilligen Engagements in der<br />

Schweiz«, a. a. O.,S. 26ff., www.lpb-bw.de/6014.html<br />

M 4<br />

Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen<br />

Engagements in Österreich«<br />

Freiwilligenarbeit findet in Österreich – wie in vielen Ländern – in<br />

unterschiedlichsten Bereichen und Formen statt. Ebenso vielfältig<br />

und facettenreich wie die Tätigkeiten sind die Personen, die<br />

sich ehrenamtlich engagieren und ihre Motive. Freiwilligenarbeit<br />

wird gerne als niederschwellige Möglichkeit gesehen, sich am gesellschaftlichen<br />

Leben zu beteiligen, die grundsätzlich allen Menschen<br />

offen steht. Empirische Ergebnisse zeigen jedoch, dass<br />

diese Möglichkeit nicht von allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen<br />

genutzt wird. Beispielsweise weisen erwerbstätige, besser<br />

gebildete Personen auch einen höheren Beteiligungsgrad bezüglich<br />

Freiwilligenarbeit auf. Die Entscheidung, sich freiwillig zu engagieren,<br />

ist nicht nur auf individuelle Präferenzen zurückzuführen,<br />

sondern wird durch verschiedenste Faktoren beeinflusst. Der<br />

Überblick über das freiwillige Engagement in Österreich beleuchtet<br />

die gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen.<br />

Dabei wird auf Daten zurückgegriffen, die im<br />

Rahmen einer Zusatzerhebung zum Mikrozensus Ende 2006 erhoben<br />

wurden und Aufschluss über das Ausmaß des freiwilligen Engagements<br />

und die Beteiligungsstruktur in Österreich geben. (…)<br />

Für die Erhebung wurde folgende Definition gewählt: Freiwilligenarbeit<br />

ist »eine Arbeitsleistung, die freiwillig (das heißt ohne<br />

gesetzliche Verpflichtung) geleistet wird, der kein monetärer Gegenfluss<br />

gegenübersteht (die also unbezahlt geleistet wird) und<br />

deren Ergebnis Konsumentinnen und Konsumenten außerhalb<br />

des eigenen Haushalts zufließt«. (…). Im Gegensatz zu anderen<br />

Studien wurde in dieser Erhebung auch informelle Freiwilligenarbeit<br />

in Betracht gezogen, also auch jene Form von Freiwilligenarbeit,<br />

die in keinem organisationellen Kontext stattfindet. Dabei<br />

handelt es sich vor allem um die Nachbarschaftshilfe.<br />

Durch die Art der Befragung ist es jedoch möglich, zwischen informeller<br />

und formeller Freiwilligenarbeit zu unterscheiden.<br />

Bereich<br />

Stunden pro Woche<br />

Katastrophenhilfsdienste 1.575.932<br />

Kultur, Kunst, Freizeit und Unterhaltung 1.761.588<br />

Umwelt-, Natur- und Tierschutz 349.906<br />

Kirchliche und religiöse Dienste 1.026.121<br />

Soziales und Gesundheit 564.689<br />

Politische Arbeit und Interessensvertretung 640.905<br />

Gemeinwesen 278.223<br />

Bildung 302.910<br />

Sport und Bewegung 1.418.408<br />

Summe formelle FWA 7.918.683<br />

Informelle FWA/Nachbarschaftshilfe 6.773.996<br />

Gesamt 14.692.679<br />

M 5<br />

Wöchentliches Arbeitsvolumen der Freiwilligenarbeit nach Tätigkeitsbereichen<br />

in Österreich © Eva More-Hollerweger, Topographie des freiwilligen<br />

Engagements in Österreich, in: Grenzen-Los! (2009); S. 32<br />

Demnach beteiligen sich 44 Prozent der österreichischen Bevölkerung<br />

über 15 Jahren in irgendeiner Weise an Freiwilligenarbeit,<br />

28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher beteiligen<br />

sich an formeller Freiwilligenarbeit, 27 Prozent der Österreicherinnen<br />

und Österreicher leisten informelle Freiwilligenarbeit (…).<br />

Ehrenamtliche Arbeit ist per Definition eine Leistung für andere.<br />

Diese wird zwar nicht am Markt verkauft und hat daher keinen<br />

Preis, wohl aber einen ökonomischen Wert. Wie andere Aktivitäten<br />

jenseits des Marktes wurde ehrenamtliche Arbeit lange Zeit<br />

kaum als Beitrag zur Wohlfahrt wahrgenommen. Sie geht beispielsweise<br />

nicht in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts<br />

ein, das als wesentlicher Wohlfahrtsindikator gilt und gemeinhin<br />

zur Darstellung der wirtschaftlichen Situation eines Landes herangezogen<br />

wird. Zwar existieren mittlerweile alternative Systeme<br />

an Kennzahlen, deren Ziel es ist, ein stärker ganzheitliches Bild<br />

der ökonomi schen Lage von Ländern zu zeichnen beziehungsweise<br />

gibt es Bestrebungen, Nicht-Marktleistungen in das »system<br />

of national accounts« zu integrieren. Derlei Ansätze sind jedoch<br />

im Alltagsgebrauch wirtschaftlicher Kennzahlen noch wenig<br />

verbreitet. (…)<br />

Dies ist insofern problematisch, als unbezahlte Arbeit einen wesentlichen<br />

Beitrag für das Funktionieren einer Gesellschaft und<br />

damit auch für die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes<br />

leistet.<br />

Insgesamt werden von Freiwilligen in Österreich<br />

– hochgerechnet aus den Daten der Mikrozensuszusatzerhebung<br />

– wöchentlich knapp 14,7 Millionen Arbeitsstunden geleistet,<br />

knapp 8 Millionen unter Einbindung in eine Organisation, also<br />

in Form von formeller Freiwilligenarbeit, 6,7 Millionen Arbeitsstunden<br />

werden in Form von informeller Freiwilligenarbeit geleistet<br />

(| M 4 |). In Summe entspricht dies der Arbeit von rund<br />

425.000 Vollzeitäquivalenten (40 Stunden). In Österreich<br />

kommt dies dem Arbeitsvolumen von 10,7 Prozent der unselbstständigen<br />

Erwerbstätigen gleich.<br />

© Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich«, in:<br />

Grenzen-Los!, a. a. O. S. 30ff., www.lpb-bw.de/6014.html<br />

71<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur


DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN<br />

D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65<br />

»Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa«<br />

Abb. 1 Gisela Erler, Staatsrätin für<br />

Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung<br />

im Staatsministerium der<br />

baden-württembergischen Landesregierung<br />

Abb. 2 Professorin Dr. Patrizia<br />

Nanz, Professorin für Politische<br />

Theorie an der Universität Bremen<br />

und Vorsitzende des 2009 gegründeten<br />

»European Institute for Public<br />

Participation« (EIPP)<br />

Abb. 3 Dr. Jan-Hendrik Kamlage,<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

Kulturwissenschaftlichen Institut<br />

Essen im Bereich Verantwortungskultur<br />

Abb. 4 Professor em. Dr. Oscar W.<br />

Gabriel, bis 2012 Leiter der Abteilung<br />

»Politische Systeme und Politische<br />

Soziologie« an der Universität Stuttgart<br />

72<br />

Abb. 5 Professor Dr. Franz Thedieck,<br />

Hochschule für öffentliche<br />

Verwaltung Kehl<br />

Abb. 6 Studiendirektor Dr. Andreas<br />

Grießinger, Fachreferent für<br />

Geschichte am Regierungspräsidium<br />

Freiburg (Gymnasien)<br />

Abb. 7 Dr. Jan-Hinrik Schmidt,<br />

Wissenschaftlicher Referent für<br />

Digitale Interaktive Medien und<br />

Politische Kommunikation, Hans-<br />

Bredow-Institut für Medienforschung,<br />

Hamburg<br />

Abb. 8 Professor em. Dr. Klaus Hurrelmann,<br />

Jugendforscher, 1979–2009<br />

Professor an der Universität Bielefeld.<br />

Seit seiner Emeritierung arbeitet er als<br />

Senior Professor of Public Health and<br />

Education an der Hertie School of<br />

Governance in Berlin.<br />

Abb. 9 Dr. Jan Kercher, Kommunikationswissenschaftler,<br />

Universität<br />

Stuttgart-Hohenheim, seit 2013<br />

Referent beim Deutschen Akademischen<br />

Austausch Dienst (DAAD)<br />

Abb. 10 Dr. Jeannette Behringer,<br />

bis 2009 Fachreferentin für Bürgerschaftliches<br />

und ehrenamtliches<br />

Engagement der LpB Ba-Wü; seither<br />

Studienleiterin für Gesellschaftsethik<br />

am ev. Studienzentrum Boldern in<br />

Männedorf/Zürich (CH)<br />

Abb. 11 Studiendirektor Jürgen<br />

Kalb, Fachreferent LpB, Fachberater<br />

für Geschichte, Gemeinschaftskunde<br />

und Wirtschaft am RP Stuttgart,<br />

Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium<br />

Stuttgart – Bad Cannstatt<br />

D&E – Autorinnen und Autoren D&E Heft 65 · 2013


Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart<br />

Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77<br />

lpb@lpb-bw.de, www.lpb-bw.de<br />

Direktor: Lothar Frick -60<br />

Büro des Direktors:<br />

Sabina Wilhelm -62<br />

Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40<br />

Stabsstelle Kommunikation und Marketing<br />

Leiter: Werner Fichter -63<br />

Felix Steinbrenner -64<br />

Abteilung Zentraler Service<br />

Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10<br />

Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12<br />

Personal: N. N. -13<br />

Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14<br />

Klaudia Saupe -49<br />

Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137<br />

Abteilung Demokratisches Engagement<br />

Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30<br />

Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser* -20<br />

Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25<br />

Robby Geyer -26<br />

Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32<br />

Jugend und Politik: Angelika Barth* -22<br />

Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35<br />

Alexander Werwein-Bagemühl* -36<br />

Charlotte Becher*, Stefan Paller* -34, -37<br />

Abteilung Medien und Methoden<br />

Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40<br />

Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde<br />

Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42<br />

Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43<br />

Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:<br />

Siegfried Frech -44<br />

Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47<br />

E-Learning: Susanne Meir -46<br />

Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,<br />

Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136<br />

Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier -49/-46<br />

Abteilung Haus auf der Alb<br />

Tagungszentrum Haus auf der Alb,<br />

Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach<br />

Telefon 07125/152-0, Fax -100<br />

www.hausaufderalb.de<br />

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik:<br />

Dr. Markus Hug -146<br />

Schule und Bildung/Integration und Migration:<br />

Robert Feil -139<br />

Internationale Politik und Friedenssicherung/<br />

Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140<br />

Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147<br />

Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121<br />

Hausmanagement: Nina Deiß -109<br />

Außenstellen<br />

Regionale Arbeit<br />

Politische Tage für Schülerinnen und Schüler<br />

Veranstaltungen für den Schulbereich<br />

Außenstelle Freiburg<br />

Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg<br />

Telefon: 0761/20773-0, Fax -99<br />

Leiter: Dr. Michael Wehner -77<br />

N. N. -33<br />

Außenstelle Heidelberg<br />

Plöck 22, 69117 Heidelberg<br />

Telefon: 06221/6078-0, Fax -22<br />

Leiter: Wolfgang Berger -14<br />

N. N. -13<br />

Außenstelle Tübingen<br />

Die Außenstelle Tübingen wurde zum 1.5.2012 aufgelöst.<br />

Projekt Extremismusprävention<br />

Stuttgart: Stafflenbergstraße 38<br />

Leiterin: Regina Bossert -81<br />

Assistentin: Friederike Hartl -82<br />

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart<br />

Telefon: 0711/164099-0, Fax -55<br />

LpB-Shops/Publikationsausgaben<br />

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0<br />

Montag bis Freitag<br />

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Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10<br />

Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr<br />

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11<br />

Dienstag, 9.00–15.00 Uhr<br />

Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr<br />

Stuttgart Stafflenbergstraße 38,<br />

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Mittwoch 14.00–17.00 Uhr<br />

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