deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...
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ANDREAS GRIESSINGER<br />
Abb. 3 Nach vorangegangenen Streiks in Ost-Berliner Betrieben versammelten sich am 17. Juni 1953<br />
Demonstranten in den Straßen von Berlin und in der ganzen DDR, um gegen das SED-Regime zu protestieren<br />
– hier wird ein sowjetischer Panzer am Potsdamer Platz mit Steinen beworfen. Sowjetische Truppen<br />
und die Nationale Volksarmee der DDR warfen den Volksaufstand in der DDR mit Waffengewalt nieder.<br />
© zb-archiv, picture alliance, 17.6.1953<br />
gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis in der indischen Unabhängigkeitsbewegung<br />
der 40er Jahre verweist, der gleichzeitig<br />
weltweit Vorbild und Katalysator für antikoloniale Proteste<br />
wurde. Er beeinflusste auch die Bürgerrechtsbewegung in den<br />
USA gegen Rassentrennung und -diskriminierung, die 1954 mit<br />
dem berühmten Urteil des Supreme Court im Fall »Brown v. Board<br />
of Education of Topeka, Kansas« zur Massenbewegung heranwuchs.<br />
Den Anstoß zu der Bewegung gaben fortbestehende Formen<br />
von Rassentrennung, obwohl der Oberste Gerichtshof der<br />
USA entschieden hatte, dass die Integration von Minderheiten für<br />
die öffentlichen Schulen eine Pflicht darstelle und die Rassentrennung<br />
an Schulen verfassungswidrig sei. Aus der amerikanischen<br />
Bürgerrechtsbewegung gingen nicht nur Martin Luther<br />
King als charismatischer Führer hervor, der 1968 ermordet wurde,<br />
sondern auch Stokely Carmichael und Malcolm X mit ihrer radikalen<br />
»Black Power«-Bewegung, die in die ebenfalls von den USA<br />
ausgehende 68er-Bewegung einmündete. Über sie ist später zu<br />
berichten, bleiben wir zunächst in der Frühphase der zivilgesellschaftlichen<br />
Bewegungen.<br />
Denn bürgerschaftlicher Protest war keineswegs ein Monopol des<br />
Westens: Auch in der DDR meldeten Bürger, ermutigt durch Stalins<br />
Tod, bereits in den 50er Jahren ihre Partizipationsforderungen<br />
unüberhörbar an, wenn auch – hier liegt der Unterschied zur<br />
Bundesrepublik – ohne Erfolg: Nach ersten Arbeiterstreiks am 11.<br />
und 12. Juni 1953 zogen Bauarbeiter der Ostberliner Stalinallee,<br />
des Vorzeigeprojekts sozialistischen Wohnungsbaus, am Morgen<br />
des 16. Juni vor das Haus der Ministerien: Forderungen nach Rücknahme<br />
der kurz zuvor verordneten Normerhöhungen und einem<br />
Generalstreik wurden laut. Wir wissen heute, dass die Wortführer<br />
und Organisatoren der Streikbewegung überwiegend ältere Arbeiter<br />
waren, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik gewerkschaftlich<br />
organisiert waren und auf Erfahrungen mit der<br />
Planung und Durchführung von Streiks zurückgreifen konnten –<br />
hier zeigt sich überdeutlich die Bedeutung bürgerschaftlicher<br />
Teilhabetraditionen als Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit.<br />
Am 17. Juni verbreitete sich die Protestbewegung flächenbrandartig<br />
und dehnte sich in den folgenden Tagen auf über<br />
560 Orte der DDR aus, wobei städtische Mittelschichten, Bauern<br />
und Intellektuelle hinzustießen. Allein am 17. Juni beteiligten sich<br />
über 500 000 Menschen an Streiks und über 400.000 an Demonstrationen.<br />
Dabei waren neben wirtschaftlichen und sozialpolitischen<br />
Forderungen auch Rufe nach freien Wahlen, deutscher Einheit<br />
und Rücktritt der Regierung zu hören (| M 5 |). Nachdem<br />
Volkspolizei und Stasi die Kontrolle über die Situation verloren<br />
hatten, wurde der Volksaufstand von sowjetischen Panzern niedergeschlagen,<br />
wobei mehr als 50 Protestierende erschossen und<br />
40 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung hingerichtet<br />
wurden. 3 000 Demonstranten wurden von der Sowjetarmee<br />
festgenommen, es folgten weitere 13 000<br />
Verhaftungen durch die zuständigen Organe<br />
der DDR. Nur das gewaltsame Vorgehen der<br />
»Roten Armee« hatte die SED vor dem Sturz<br />
durch die Volksbewegung gerettet. Die erste<br />
Massenerhebung gegen ein kommunistisches<br />
Regime nach 1945 war von Panzern niedergewalzt<br />
worden, der Westen war den Aufständischen<br />
nicht zu Hilfe gekommen. Drei<br />
Jahre später, im Jahr 1956, erfuhren die Aufständischen<br />
in Budapest dann dasselbe<br />
Schicksal, und auch der zu Unrecht weitgehend<br />
vergessene Posener Aufstand im selben<br />
Jahr wurde von der polnischen Armee blutig<br />
niedergeschlagen, diesmal allerdings ohne<br />
sowjetische Beteiligung – auch das sind<br />
deutliche Hinweise auf transnationale Zusammenhänge<br />
und Wechselwirkungen.<br />
Zurück zum Westen: Nach den ersten Erfolgen<br />
der bundesrepublikanischen Bürgerbewegung<br />
in der Mitte der 50er Jahre musste<br />
Adenauer weitere Niederlagen gegen eine<br />
zusehends kritischer werdende Öffentlichkeit hinnehmen, und<br />
zwar einerseits während der »Präsidentschaftskrise« 1959, in der<br />
er das Amt des Bundespräsidenten anstrebte, um die Politik seines<br />
designierten Nachfolgers Erhard kontrollieren zu können, andererseits<br />
beim »Fernsehstreit« 1960, während dem Adenauer ein<br />
zweites Fernsehprogramm unter Einfluss und Aufsicht der Bundesregierung<br />
schaffen wollte. Die wachsende öffentliche Kritik<br />
an seiner paternal-autoritären »Kanzlerdemokratie« führte bei<br />
der Bundestagswahl 1961 schließlich zum Verlust der absoluten<br />
Mehrheit für CDU und CSU. Das unwiderrufliche Ende der »Ära<br />
Adenauer« wurde dann 1962 durch die »SPIEGEL-Affäre« und die<br />
durch sie ausgelöste Regierungskrise eingeleitet: Ein in dem<br />
Hamburger Nachrichtenmagazin abgedruckter kritischer Artikel<br />
zur Verteidigungspolitik der CDU führte zur Verhaftung des Herausgebers<br />
Rudolf Augstein, mehrerer leitender Redakteure und<br />
des verantwortlichen Journalisten Conrad Ahlers, die Verteidigungsminister<br />
Franz-Josef Strauß persönlich veranlasst hatte. Die<br />
folgende Durchsuchung der »SPIEGEL«-Redaktionsräume begründete<br />
Adenauer angesichts heftiger öffentlicher Proteste mit<br />
einem »Abgrund von Landesverrat«, der sich aufgetan habe. Massenkundgebungen<br />
von Studierenden und Gewerkschaften waren<br />
die Folge, bei denen von massiven Eingriffen in die Presse- und<br />
Meinungsfreiheit gesprochen wurde. Als selbst der Koalitionspartner<br />
FDP den Rücktritt von Franz-Josef Strauß forderte, war<br />
Adenauer am Ende: Er gab nach, bildete ein neues Kabinett, dem<br />
Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für<br />
den Herbst 1963 an. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik<br />
war aus einer politischen Krise die kritische Öffentlichkeit als Siegerin<br />
hervorgegangen. Das sollte in den kommenden Jahren<br />
Schule machen.<br />
Wendejahr 1968<br />
Die nächste Etappe in der Verbreiterung politischer Bürgerbeteiliung<br />
bildete das Jahr 1968 in der Bundesrepublik, dessen Wurzeln<br />
wiederum in den USA lagen. Die 68er-Bewegung begann mit Protesten<br />
amerikanischer Studenten gegen den Vietnam-Krieg, die<br />
von dem 1960 gegründeten »Student Nonviolent Coordinating<br />
Committee« und den »Students for a Democratic Society« getragen<br />
wurden. Ihr Wortführer Tom Hayden formulierte schon 1962<br />
die Forderung nach einer »participatory democracy«. Diese Parole<br />
fiel in der Bundesrepublik rasch auf fruchtbaren Boden, wo<br />
die »Außerparlamentarische Opposition« angesichts der Großen<br />
Koalition eine »Transformation der Demokratie« (Johannes<br />
Agnoli) in Richtung eines technokratisch-autoritären Staats diagnostizierte.<br />
Als Indikatoren sah sie die auf die winzige FDP ge-<br />
Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa<br />
D&E<br />
Heft 65 · 2013