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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Abb. 4 Streikende Arbeiter der Renault-Werke in Boulogne-Billancourt schauen vom Dach aus auf die<br />

Studenten, die am 17. Mai 1968 mit einem Marsch zum Werk des Automobilherstellers ihre Solidarität<br />

mit den streikenden Arbeitern bekunden wollen. Die Regierung de Gaulle unterschätzte die soziale<br />

Unzufriedenheit breiter Schichten der französischen Bevölkerung. 1968 führten die Maiunruhen zu<br />

bürgerkriegs ähnlichen Zuständen, in Paris lieferten sich die Studenten Straßenschlachten mit der Polizei.<br />

Die Gewerkschaften riefen am 13. Mai zum Generalstreik auf. Am 30. Mai löste Staatspräsident de Gaulle<br />

die Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen aus. Diese wurden von den Gaullisten gewonnen, die<br />

Ära de Gaulle fand trotzdem ihr Ende: Am 28. April 1969 trat Charles de Gaulle nach einem verlorenen<br />

Referendum zurück. © upi, picture alliance, 13.5.1968<br />

schrumpfte und damit zur Bedeutungslosigkeit<br />

verurteilte parlamentarische Opposition<br />

sowie die von der Großen Koalition geplanten<br />

Notstandsgesetze. Ganz im Sinne Haydens<br />

forderte auch der deutsche SDS eine<br />

partizipativ erweiterte »soziale Demokratie«,<br />

so Hans-Jürgen Krahl in seiner Römerbergrede<br />

am 27.5.1968, auf der Grundlage einer<br />

»aufgeklärten Selbsttätigkeit der mündigen<br />

Massen« (| M 9 |).<br />

Auch in anderen westeuropäischen Ländern<br />

begannen zeitgleich Studentenproteste, insbesondere<br />

in Frankreich und Italien, wo der<br />

Studentenbewegung – anders als in der Bundesrepublik<br />

– Aktionsbündnisse mit der organisierten<br />

Industriearbeiterschaft z. B. bei<br />

Renault und Fiat gelangen. In Frankreich<br />

musste Präsident de Gaulle sogar das Land<br />

verlassen, weil im »Mai 1968« die Zeichen auf<br />

Revolution zu stehen schienen. Allerdings<br />

gingen nach seiner Rückkehr die Konservativen<br />

aus den Juni-Wahlen durch einen klaren<br />

Wahlsieg gestärkt hervor, der die revolutionären<br />

Träume der Mai-Bewegung wie Seifenblasen<br />

platzen ließ.<br />

In der Bundesrepublik hingegen folgte auf<br />

das rebellische Jahr 1968 ein Wahlsieg der sozialliberalen<br />

Koalition, die CDU wurde erstmals<br />

seit Bestehen der Bundesrepublik auf die Oppositionsbank<br />

verdrängt. In Reaktion auf die Partizipationsforderungen der 68er<br />

kündigte der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner<br />

Regierungserklärung im Oktober 1969 programmatisch an, die<br />

sozialliberale Koalition wolle »mehr Demokratie wagen«: »Die Regierung<br />

kann in der Demo kratie nur erfolgreich wirken, wenn sie<br />

getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger[…]<br />

wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden<br />

und mitverantworten.« (| M 11 |)<br />

Es folgte in den Jahren danach ein breit ausgefächertes Reformprogramm<br />

in der Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik, das die<br />

Bundesrepublik nicht zuletzt durch eine verstärkte Bürgerbeteiligung<br />

liberalisierte und modernisierte. Bezeichnenderweise erreichte<br />

die Wahlbeteiligung nach Ablauf der ersten sozialliberalen<br />

Legislaturperiode im Jahr 1972 mit 91,1 % den bislang höchsten<br />

Wert in der Geschichte der Bundesrepublik – ein Rekordwert, von<br />

dem wir heute nur noch träumen können. SPD-Wahlkampfparolen<br />

wie »Wir schaffen das moderne Deutschland« und »Modell<br />

Deutschland« brachten den innovativen Zeitgeist einer »partizipativen<br />

Demokratie«, die Tom Hayden 1962 und der SDS 1968 gefordert<br />

hatten, auf den Begriff.<br />

1968 wurde aber nicht nur in West<strong>europa</strong> zum »Wendejahr«, auch<br />

im Ostblock hofften Menschen angesichts des Aufbruchs im Westen<br />

auf die Chance einer Demokratisierung innerhalb der poststalinistischen<br />

Strukturen. Ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«,<br />

der – wie im Westen – auf einer breiteren Beteiligung der<br />

Menschen beruhen sollte (| M 12 |), wurde im Jahr 1968 in der CSSR<br />

von Alexander Dubcek, dem Ersten Sekretär der KPC, ausgerufen.<br />

Der folgende Reformprozess ist unter dem Namen »Prager Frühling«<br />

in die Geschichte der europäischen Demokratiebewegungen<br />

eingegangen und wurde, wie die Juni-Revolution 1953 in der<br />

DDR und der Budapester Aufstand 1956, von Panzern der Sowjetunion<br />

und anderer Staaten des Warschauer Pakts gewaltsam beendet.<br />

Während mit dem Jahr 1968 in der Bundesrepublik eine<br />

»Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) begonnen<br />

hatte, endete 1968 für die Menschen des Ostblocks mit einer weiteren<br />

bitteren Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf Liberalisierung<br />

und Demokratisierung. In der DDR zählten zu den Enttäuschten<br />

so prominente Oppositionelle wie der Physiker Robert Havemann<br />

und der Song-Schreiber Wolf Biermann, über die ein Lehr- bzw.<br />

Auftrittsverbot verhängt wurde. SED-Chef Walter Ulbricht forderte<br />

angesichts der liberalisierten Lebensformen im Westen<br />

eine »saubere Leinwand«, um die DDR als »sauberen Staat« von<br />

der Bundesrepublik abzugrenzen, und in der jugendlichen »Unkultur«<br />

von »Gammlern« und »Langhaarigen« sah er »Erscheinungen<br />

der amerikanischen Unmoral und Dekadenz«. Erweiterte Partizipationsmöglichkeiten<br />

waren in dieser Stimmung von Intoleranz<br />

und Engstirnigkeit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.<br />

Anders in der Bundesrepublik: Die breite Politisierung, die sich<br />

seit 1968 vollzogen hatte, mobilisierte nach den Studenten und<br />

Schülern immer neue Gruppen, die sich innerhalb der politischen<br />

Öffentlichkeit nicht vertreten fühlten und deshalb ihre Teilhaberechte<br />

lautstark einklagten. Schon 1968 artikulierten SDS-Studentinnen<br />

ihren Protest gegen die männliche Hegemonie in den<br />

Führungsgremien der antiautoritären Organisationen und bildeten<br />

zunächst in Berlin einen »Aktionsrat zur Befreiung der Frau«<br />

(| M 15 |), später »Weiberräte« in mehreren Städten. Ihre Isolierung<br />

innerhalb des akademischen Sozialmilieus durchbrach die<br />

»neue Frauenbewegung« allerdings erst mit der 1971 begonnenen<br />

Kampagne gegen den § 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibung<br />

mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedrohte. Selbstbezichtigungen<br />

(»Ich habe abgetrieben!«) von 374 Frauen, darunter<br />

viele Prominente, in der Illustrierten »Stern« lösten 1971 eine Lawine<br />

von Fraueninitiativen, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen<br />

unter der provokativen Parole »Mein Bauch gehört<br />

mir!« aus. Sie führten 1974 zu der von der sozialliberalen<br />

Koalition verabschiedeten »Fristenlösung« für Abtreibungen, die<br />

allerdings ein Jahr später vom Bundesverfassungsgericht für nichtig<br />

erklärt und deshalb 1976 durch eine Indikationslösung mit verpflichtenden<br />

Beratungen vor einem Schwangerschaftsabbruch<br />

ersetzt wurde.<br />

Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre dominierten weniger spektakuläre,<br />

aber umso wirkungsvollere Frauenförderungs- und<br />

Selbsthilfeprojekte (»Frauen helfen Frauen«, »pro familia« usw.),<br />

die die Einrichtung von Frauenhäusern, die Einführung von Frauenquoten<br />

(z. B. in Parteien) und Gleichstellungsbeauftragten (im<br />

öffentlichen Dienst), die Schaffung von universitären Projekten<br />

und Lehrstühlen zur Frauen- und Geschlechterforschung sowie<br />

eine Teilreform des koedukativen Schulunterrichts zur Folge hatten.<br />

Die »pragmatische Wende« der Frauenpolitik spiegelte einen<br />

allgemeinen Stimmungswandel wider, der schon seit der ersten<br />

Hälfte der 70er Jahre begonnen hatte und sich seit Willy Brandts<br />

37<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Zivilgesellschaft liche Bewegungen in Deutschland und Europa

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