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52<br />
JAN-HINRIK SCHMIDT<br />
M 6<br />
Katja Bauer: »Die digitale Elite will<br />
die Welt retten. Berlin nach der<br />
Wahl«<br />
Sie sind jung, überwiegend männlich, lieben<br />
Nerdbrillen, Ziegenbärtchen und das Netz.<br />
Aber sie wollen nicht auf ein Klischee reduziert<br />
werden, sondern anders Politik machen.<br />
14 Männer und eine Frau sind die ersten Piraten<br />
in einem Landesparlament. (…) Transparenz<br />
– so heißt eines der Zauberwörter der<br />
Piraten. Alle Neuparlamentarier, die man danach<br />
fragt, was ihr wichtigstes politisches<br />
Ziel sei, antworten mit diesem Wort so zuverlässig<br />
wie Mädchen, die bei Misswahlen Weltfrieden<br />
sagen. (…) »Es ist ja alles noch sehr<br />
ungewohnt«, sagt Andreas Baum, der Spitzenkandidat,<br />
den die Partei per Los bestimmt<br />
hat. Schließlich sei die Arbeit im Parlament<br />
für sie alle ein Lernprozess. Wie locker die Piraten<br />
diesen Prozess nehmen, das konnte<br />
man im Wahlkampf beobachten. Es gab<br />
Kernthemen wie die Wirtschaftspolitik, bei<br />
denen der Spitzenkandidat mit den Achseln<br />
zuckte. Man habe sich noch nicht eingelesen<br />
– das hat offenbar nicht geschadet. Jetzt<br />
wollen sie von ihrem Lern- und Einleseprozess<br />
berichten. Denn natürlich macht die<br />
Partei, in der »wir grade unheimlich viel zum ersten Mal machen«,<br />
neue Erfahrungen. Keiner hat bisher jemals eine Kleine Anfrage<br />
gestellt oder einen Antrag zur Geschäftsordnung. Davon wollen<br />
die Piraten künftig berichten.<br />
»Das kann durchaus auch ein bisschen Sendung-mit-der-Mausmäßig<br />
sein«. Denn – Internetweisheit! – wenn man Lernprozesse teilt,<br />
dann wird man zusammen unter Umständen schneller schlauer.<br />
Da ist es wieder, das Internetwissen – und damit auch das Klischee<br />
einer Partei von den Nerds, die Tag und Nacht vor ihrem<br />
Rechner sitzen und eigentlich außer zensurfreiem Surfen und<br />
vielleicht noch straflosem Cannabiskonsum keine echten Ziele<br />
haben. Das nun wieder findet der Haufen junger, internetaffiner<br />
Männer, der da sitzt, nicht so lustig. (…) In der Zwischenzeit jedenfalls<br />
müssen sie sich erst einmal parlamentarischen Grundfragen<br />
zuwenden. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es<br />
bei uns einen Fraktionszwang geben wird«, sagt Andreas Baum.<br />
(…) Hier sitzen keine Politikprofis – die meisten haben lang nicht<br />
gedacht, dass Berufspolitiker aus ihnen werden. Und auch wenn<br />
sie es jetzt sind, sie wollen es nicht werden. »Endlich normale<br />
Menschen«, haben sie auf ihren Plakaten versprochen – eine Antiparteienpartei.<br />
© Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl«, Stuttgarter<br />
Zeitung vom 20.11.2011<br />
M 7<br />
Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie.<br />
Nicht nur die Piratenpartei will aus einer Kathedrale<br />
einen Basar machen«<br />
M 8 »Hoffnungsträger Piratenpartei …« © Gerhard Mester, 2012<br />
Der amerikanische Programmierer Eric Steven Raymond schrieb<br />
1997 mit seinem Essay »Die Kathedrale und der Basar« ein Manifest<br />
der »freien Software«. Er entwarf eine Computerwelt, die nicht<br />
von wenigen Konzernen, sondern von allen geschaffen werden<br />
sollte, mit einer für alle Internetnutzer frei zugänglichen Programmiersprache.<br />
Jeder sollte sich daran beteiligen können, niemand<br />
das Monopol für eine Software haben. Doch Raymond ging es um<br />
mehr. Freie Software (»Open Source«) war für ihn eine Weltanschauung.<br />
Seit ein paar Jahren ist sie in der Politik angekommen.<br />
Die alte Welt habe aus Kathedralen bestanden, schrieb Raymond,<br />
der selbst der Hackerszene entstammt. Die neue sei wie ein Basar.<br />
Kathedralen seien sorgsam Stein für Stein gemeißelt worden,<br />
von Druiden ersonnen, von exklusiven Bauhütten ausgeführt, das<br />
Werk kleiner Gruppen disziplinierter Handwerker und Hohepriester,<br />
die in großer Abgeschiedenheit wirkten. Die Kathedrale der<br />
Gegenwart war damals Microsoft, der Basar war das Betriebssystem<br />
Linux. Jedermann konnte an der Weiterentwicklung von Linux<br />
teilnehmen, die Linux-Gemeinde war in den Augen von Raymond<br />
wie »ein großer, wild durcheinander plappernder Basar, geschaffen<br />
von Tausenden über den ganzen Planeten verstreuten Nebenerwerbs-Hackern«.<br />
»Linux ist subversiv«, schrieb Raymond. (…)<br />
Wie aber wird aus solchen politischen Maximen ein Betriebssystem?<br />
Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur die Piratenpartei,<br />
sondern die Internetgemeinde als ganze, die es damit immerhin<br />
schon bis in den Deutschen Bundestag schaffte. In der Enquetekommission<br />
des Bundestags »Internet und digitale Gesellschaft«<br />
kam es von Anfang an nicht nur über Datenschutz und Urheberrechte<br />
zum Streit, sondern vor allem darüber, wie die Öffentlichkeit<br />
einzubeziehen sei. Der Vorschlag, im Reichstag »liquid democracy«<br />
einkehren zu lassen, stieß an die Grenzen repräsentativer<br />
Demokratie und der Gepflogenheiten des Parlaments. Unter dem<br />
Schlagwort »liquid democracy« ist eine Mischung aus direkter und<br />
indirekter Demokratie zu verstehen: Jeder wählt und delegiert<br />
selbst, was er für richtig hält, beteiligt sich, woran er will und wie<br />
es ihm gefällt. Der Futurologe Alvin Toffler hatte dafür 1970 den<br />
Namen »Adhokratie« (von Lateinisch ad hoc) erfunden – als Gegenwelt<br />
zur statischen Welt der Bürokratie, zur hierarchisch geordneten<br />
Partizipation und zu jeglicher Form zentraler Planung.<br />
(…) Nicht nur die Piratenpartei experimentiert mit solchen neuen<br />
Formen unmittelbarer Beteiligung. Sie hat den Versuch, der seit<br />
langem in den Volksparteien an Zuspruch gewinnt, auch Nichtmitglieder<br />
an den Personal- und Sachentscheidungen der Partei<br />
teilhaben zu lassen, auf die Spitze getrieben. Jeder kann mitmachen,<br />
wann er will und wie er will. Politik soll »freie Software« der<br />
Gesellschaft sein und nach dem Linux-Prinzip funktionieren.<br />
Besonders auf junge Leute hat das eine Anziehungskraft, die sich<br />
aus den Erfahrungen speist, die im Internet als einem »kollaborativen<br />
Projekt« gesammelt werden können. Es wird sich angesichts<br />
der chaotischen Verfassung der Piratenpartei aber noch zeigen<br />
müssen, ob auch das Parteiensystem eine Kathedrale oder ein<br />
Basar ist.<br />
© Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie, FAZ 12.9.2011, S. 10<br />
Soziale Medien und das Partizipationsparadox<br />
D&E<br />
Heft 65 · 2013