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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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M 9<br />

Barbara Zehnpfennig: »Strukturlose Öffentlichkeit.<br />

Warum mehr Transparenz per Internet zu<br />

weniger Demokratie führen kann«<br />

Seit sich das Prinzip der Öffentlichkeit als politische Forderung<br />

etablierte – also seit dem Aufkommen der bürgerlichen<br />

Gesellschaft –, war es mit einem Paradox behaftet.<br />

Die Forderung, der politische Prozess solle sich<br />

öffentlich und damit für alle zugänglich vollziehen, war<br />

gegen die Geheimpolitik des Hofes gerichtet; was sich<br />

im Geheimen vollzog, war schon als solches verdächtig.<br />

Doch die Rechte, die das Bürgertum nun in Anspruch<br />

nahm, standen den eigenen Forderungen zum Teil entgegen:<br />

Das Recht auf Eigentum, das Recht auf geheime<br />

Wahl, die Religionsfreiheit und viele andere sind Rechte<br />

des Privatmanns, der über ihre Ausfüllung nicht unbedingt<br />

öffentlich Rechenschaft geben will. Was man der<br />

Politik verwehrte, nahm man für sich selbst also durchaus<br />

in Anspruch. Daran zeigte sich, dass Öffentlichkeit<br />

kein absoluter Wert sein konnte. Heute hingegen wird<br />

oft behauptet, Öffentlichkeit sei bereits ein Wert an sich.<br />

Weil man durch das Internet eine nie gekannte Dimension<br />

des Öffentlichen erreicht hat, wird mit dieser neuen Möglichkeit<br />

bürgerlicher Teilhabe eine Heilserwartung verbunden, die<br />

näherer Überprüfung kaum standhält. Schon auf den ersten Blick<br />

wird erkennbar, dass sich das oben genannte Paradox auf neuer<br />

Ebene wiederholt. Im Medium Internet, das sich ganz und gar der<br />

Publizität verschrieben hat, ist ein erheblicher Teil der Nutzer anonym<br />

unterwegs. Für das, was man öffentlich macht, will man<br />

öffentlich nicht einstehen. Dafür mag es gute Gründe geben,<br />

wenn man in einer Diktatur lebt und die Inanspruchnahme von<br />

Freiheitsrechten Gefahr für Leib und Leben nach sich zieht. In einer<br />

Demokratie hingegen sieht die Sache anders aus. Hier muss<br />

man sich Freiheitsrechte nicht erkämpfen, hier sind sie verfassungsmäßig<br />

garantiert. Sie sind es deshalb, weil man im liberalen<br />

System davon ausgeht, dass die gewährleisteten Individualrechte<br />

auch von Individuen wahrgenommen werden. An anonyme<br />

Schwärme, wie sie sich im Internet bewegen, hatte man nicht unbedingt<br />

gedacht. (…)<br />

Wie demokratieverträglich ist das Internet überhaupt? Nicht nur<br />

die Anhänger der Piratenpartei sind der Ansicht, dass mit dem Internet<br />

eine neue Ära demokratischer Teilhabe eingeleitet wurde.<br />

Informationen in unvorstellbarem Umfang sind allen und jederzeit<br />

zugänglich, unüberschaubar viele Foren bieten die Möglichkeit<br />

zur Meinungsäußerung und Diskussion, organisierte Nutzer<br />

bilden eine Meinungsmacht, die das Handeln von Unternehmen,<br />

einzelnen Politikern und ganzen Regierungen massiv beeinflussen<br />

kann. Ist das nicht der Inbegriff des Demokratischen, die direkte<br />

Mitwirkung der Bürger auf allen denkbaren Ebenen? Und ist<br />

die Transparenz, die mit der Offenlegung selbst bisher völlig unzugänglicher<br />

Daten einhergeht, nicht ein Faktor, der ungemein<br />

demokratisierend wirkt?<br />

Schon der letzt genannte Zusammenhang ist mehr als zweifelhaft.<br />

Öffentlichmachen ist nicht identisch mit Transparenz. Denn<br />

transparent werden Daten nur dem, der sie versteht. Wer kann<br />

kompetent beurteilen, was von Wikileaks veröffentlichtes geheimdienstliches<br />

Material tatsächlich bedeutet – außer den geschulten<br />

Mitarbeitern der Geheimdienste? Wer weiß, was das von<br />

irgendjemandem ins Internet gestellte Bild zeigt, auf dem ein<br />

Kind zu sehen ist, das in Syrien zu Tode kam? Wurde es von der<br />

syrischen Armee als menschlicher Schutzschild missbraucht, ist<br />

es das Opfer eines Angriffs der Aufständischen, starb es durch einen<br />

Unfall? Mit Bildern und Daten kann man manipulieren, mit<br />

einer Überfülle veröffentlichter Bilder und Daten kann man desinformieren.<br />

Öffentlichkeit als solche ist ambivalent. Ihr Wert liegt allein im<br />

vernünftigen Gebrauch. (…) Im Internet findet nur der Orientierung,<br />

der sie in gewissem Umfang bereits mitbringt. Für alle anderen<br />

vergrößert der gigantische Umfang an Information und<br />

M 10 »Vor und nach Wikileaks …« © Klaus Stuttmann, 6.12.2010<br />

Desinformation, welche das Internet bietet, die Schwierigkeit,<br />

Brauchbares von Unbrauchbarem, Nützliches von Schädlichem zu<br />

sondern. (…) In der Politik sind die Entstehung und der Erfolg der<br />

Piratenpartei Zeichen eines Einstellungswandels. Damit ist nicht<br />

gemeint, dass eine Partei unter dem Namen einer Verbrechergruppe<br />

firmiert und damit großen Anklang findet, was als solches<br />

natürlich auch ein interessantes Phänomen ist.<br />

Gemeint ist der neue Politikstil, der mit der Piratenpartei Einzug<br />

in die Demokratie hielt: von der Repräsentation zur Präsenz. Mittels<br />

des Präsenzmediums Internet halten die Politiker der Piratenpartei<br />

einen fortwährenden Kontakt mit ihren Wählern, der die<br />

Grenzen zwischen Wählern und Gewählten verschwimmen lässt.<br />

Das personale Prinzip, das in der repräsentativen Demokratie mit<br />

gutem Grund die Wahl des Abgeordneten bestimmt, wird damit<br />

geradezu ausgehebelt: Der Abgeordnete ist das Sprachrohr seiner<br />

– immer wieder wechselnden – Basis, jedenfalls derjenigen,<br />

die gerade online ist. Wer in dieser Partei als Person besonders in<br />

Erscheinung tritt, bekommt den geballten Unmut der Nutzer zu<br />

spüren. Hier soll es nicht um Personen, sondern um Verfahren gehen,<br />

was dazu führt, dass die Inhalte genauso fluktuieren wie die<br />

Teilnehmer an dem Verfahren. (…)<br />

Zweifellos bietet das Internet große Chancen der Horizonterweiterung,<br />

des Gedankenaustauschs, ja sogar der Mitwirkung an der<br />

Überwindung autoritärer Regime. Doch ein per se demokratisches<br />

Medium ist es nicht – wenn denn die Demokratie als Herrschaft<br />

der Gleichen in besonderem Maße auf Unterscheidung und<br />

Struktur angewiesen ist. Nicht das Internet macht demokratisch,<br />

sondern nur ein Umgang mit ihm, der nach qualitativ gesicherten<br />

Maßstäben verfährt.<br />

Deshalb sollte demokratische Politik schon um der Selbsterhaltung<br />

des Systems willen in der Bildung ihre entscheidende Aufgabe<br />

sehen. In der Demokratie sind die Bürger die maßgebliche<br />

Ressource. Ihnen müssen per Bildung die Mittel an die Hand gegeben<br />

werden, sich auch in einer immer unübersichtlicher werdenden<br />

Welt, wie sie sich exemplarisch im Internet widerspiegelt,<br />

eigenständig Pfade durch das Dickicht zu schlagen.<br />

Das klassische Konzept der Öffentlichkeit setzte auf eine quasiautomatische<br />

Fortschrittsbewegung durch den öffentlichen Vernunftgebrauch.<br />

Doch Vernunft ist nichts Gegebenes, sie ist etwas<br />

immer wieder neu Hervorzubringendes. Und da die Vernunft<br />

nicht in den Institutionen liegt, nicht in der Öffentlichkeit und<br />

auch nicht in einem Medium wie dem Internet, bleibt nur eines:<br />

durch entsprechende Bildungsanstrengungen dafür zu sorgen,<br />

dass es Menschen gibt, die Vernunft in das hineintragen, was in<br />

sich zunächst einmal ohne Vernunft ist.<br />

© Barbara Zehnpfennig: Strukturlose Öffentlichkeit. Warum mehr Transparenz per Internet<br />

zu weniger Demokratie führen kann, FAZ, 21.1.2013, S. 7<br />

53<br />

D&E<br />

Heft 65 · 2013<br />

Soziale Medien und das Partizipationsparadox

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