deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...
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D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM<br />
arroganten und selbstgewissen Auftreten. Und genau das wirkt<br />
meiner Einschätzung nach auf viele Jugendliche sehr abschreckend.<br />
Insofern hat die Piratenpartei hier sicherlich schon einen<br />
positiven Beitrag zur Veränderung der politischen Kultur geleistet<br />
– auch bei den etablierten Parteien.<br />
D&E: Was könnte und sollte die politische Bildung innerhalb und außerhalb<br />
des Schulunterrichts für Angebote zur Stärkung der Partizipationsbereitschaft<br />
Jugendlicher machen und wie kann sie am besten Jugendliche<br />
erreichen?<br />
Jan Kercher: Ein guter und vor allem ansprechender Politik-Unterricht<br />
in der Schule ist für mich nach wie vor das beste Mittel,<br />
um Jugendlichen die Bedeutung von politischer Partizipation näherzubringen.<br />
Denn die Schule ist der einzige Ort, an dem man<br />
alle Jugendlichen erreichen kann. Und sie genießt bei den Jugendlichen<br />
nachweislich einen Ruf als Ort für eine objektive Informationsvermittlung.<br />
Weshalb die Jugendlichen von der Schule auch<br />
erwarten, dass sie ihnen die Informationen und Fähigkeiten vermittelt,<br />
die für ein Verständnis der politischen Prozesse und<br />
Beteiligungsformen nötig sind. Darüber hinaus halte ich Projekte,<br />
wie sie zum Beispiel zur Vorbereitung der Wahlaltersenkung in<br />
Bremen durchgeführt wurden, für<br />
sehr begrüßenswert. Also etwa<br />
Juniorwahlen, Workshops, Projekttage,<br />
Planspiele oder auch<br />
Podiumsdiskussionen, die sich<br />
speziell an Jugendliche richten.<br />
Gerade die Methode des Planspiels<br />
halte ich für sehr gut geeignet,<br />
um Jugendlichen die komplexen<br />
Prozesse zu vermitteln, die im<br />
politischen Alltag relevant sind.<br />
Ich war selbst früher als Teamer<br />
im »Juniorteam Europa« aktiv, einem<br />
Peer-Group-Education-Projekt,<br />
das von der LMU München ins Leben gerufen wurde. Die Idee<br />
ist hier, dass junge Menschen anderen jungen Menschen die Bedeutung<br />
der europäischen Institutionen vermitteln. Und zwar vor<br />
allem durch die Teilnahme an Planspielen, in denen unterschiedliche<br />
europäische Szenarien durchgespielt werden. Meine Erfahrungen<br />
mit dieser Methode waren immer sehr positiv. Nach der<br />
Teilnahme an den Planspielen konnten die Jugendlichen sehr viel<br />
besser verstehen, was Politik im Alltag häufig so mühsam macht<br />
und warum am Ende eben oft »nur« Kompromisse herauskommen,<br />
die auf den ersten Blick vielleicht unbefriedigend erscheinen.<br />
Durch die Teilnahme an einem Planspiel lernt man nämlich<br />
relativ schnell, dass solche Kompromisse ein Wesensmerkmal von<br />
demokratischen oder partizipativen Abstimmungsprozessen sind<br />
und beurteilt sie deshalb dann nicht mehr so negativ wie davor.<br />
Und: Man kann danach auch sehr viel besser einschätzen, was Politiker<br />
täglich leisten. Auch die Politik- oder Politikerverdrossenheit<br />
kann also auf diese Weise – zumindest bei einigen Jugendlichen<br />
– gesenkt werden.<br />
D&E: Die Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Sie bisher gearbeitet<br />
haben, hat verschiedene Untersuchungen zu Verständlichkeit von Politikersprache<br />
und Wahlprogrammen gemacht. Neigen nicht gerade junge<br />
Menschen dazu, für personalisierte und emotionalisierte Wahlkämpfe,<br />
vielleicht nach us-amerikanischem Vorbild, besonders empfänglich zu sein?<br />
Anders ausgedrückt: Droht nicht das Niveau der Wahlkampfauseinandersetzung<br />
durch die Senkung des Wahlalters noch weiter herabzusinken?<br />
Jan Kercher: Zunächst einmal: Die Jugendlichen im Alter von 16<br />
und 17 Jahren würden bei einer Wahlaltersenkung nur einen sehr<br />
kleinen Teil der Wählerschaft ausmachen. Es ist also kaum zu erwarten,<br />
dass die Entwicklung der Wahlkampfführung durch solch<br />
eine Änderung entscheidend beeinflusst würde. Auch die Themen<br />
der Wahlkämpfe werden sich deshalb meiner Einschätzung nach<br />
nicht grundlegend ändern. Denn die Masse der Wähler befände<br />
sich auch nach einer Wahlaltersenkung noch immer im älteren<br />
»Die Methode des Planspiels<br />
halte ich für sehr gut geeignet,<br />
um Jugendlichen die komplexen<br />
Prozesse zu vermitteln, die im<br />
politischen Alltag relevant sind.«<br />
Teil der Bevölkerung. Und diese Masse beeinflusst – zumindest<br />
bei den beiden Volksparteien – natürlich in erster Linie die Themensetzung.<br />
Kleinere Parteien wie die Grünen oder die Piraten<br />
wenden sich hingegen mit ihrer Themensetzung heute schon<br />
häufiger auch an jüngere Wählergruppen – auch da würde sich<br />
also nur bedingt etwas ändern. Am ehesten wären aus meiner<br />
Sicht also Änderungen bei den Themensetzungen der FDP und der<br />
Linken zu erwarten. Denn beides sind Parteien, die sich bislang<br />
nicht durch eine gezielte Ansprache von Jungwählern hervorgetan<br />
haben, bei denen aber gleichzeitig auch kleinere Wählergruppen<br />
wie die 16- und 17-Jährigen durchaus wahlentscheidende Bedeutung<br />
haben können.<br />
Selbiges gilt leider auch für die rechtsradikalen Parteien. Was<br />
mich hier besonders nachdenklich stimmt, sind die Befunde aus<br />
der bereits erwähnten Sora-Studie zur österreichischen Nationalratswahl<br />
2008, die u. a. vom Bundeskanzleramt und vom<br />
österreichischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Nach den<br />
Befunden dieser Studie bewerteten die befragten Jugendlichen<br />
schon allein das Herausstellen eines klaren, von der Mehrheitsmeinung<br />
abweichenden Standpunktes durch eine Partei positiv.<br />
Selbst dann, wenn dieser Standpunkt von der eigenen Meinung<br />
abweicht. So lehnte zum Beispiel<br />
eine Mehrheit der befragten Jugendlichen<br />
den Standpunkt der<br />
FPÖ zur Einwanderungspolitik<br />
ab – bewertete aber gleichzeitig<br />
die klare Selbst-Positionierung<br />
der Partei in dieser Frage positiv.<br />
Eventuell sind es also gar nicht<br />
unbedingt immer die Themen<br />
selbst, die entscheidend sind für<br />
die Ansprache jüngerer Wähler –<br />
sondern v. a. auch die Art und<br />
Weise, wie diese Standpunkte<br />
kommuniziert und vertreten werden.<br />
Die österreichischen Forscher stellten nämlich auch fest,<br />
dass die Themen, die von den beiden Rechtsparteien FPÖ und<br />
BZÖ propagiert wurden, auf der Prioritätenliste der Jugendlichen<br />
eigentlich ganz unten standen. Trotzdem wurden sie gerade von<br />
den 16-Jährigen überproportional gewählt.<br />
Das ist aus meiner Sicht auch nicht ganz überraschend: Für jemanden,<br />
der gerade erst beginnt, sich mit dem Thema Politik auseinanderzusetzen,<br />
kann das typische Auftreten von Parteien und<br />
Politikern sehr leicht abschreckend wirken. Teilweise, weil man<br />
die Sprache einfach nicht versteht und teilweise vielleicht auch,<br />
weil man das Gefühl hat, dass die Politiker vieles unnötig verkomplizieren.<br />
Denn auf den ersten Blick wirkt die Lösung vieler Probleme<br />
ja sehr einfach – erst auf den zweiten Blick merkt man dann<br />
häufig, dass es nicht ganz so einfach ist. Leider gibt es aber Parteien,<br />
die den Wählerinnen und Wählern vorgaukeln wollen, dass<br />
es sehr wohl so einfach ist. Und diese bewegen sich eben meistens<br />
an den politischen Rändern. Gerade hier sehe ich also eine<br />
Hauptaufgabe der politischen Bildung. Also darin, den Jugendlichen<br />
zu vermitteln, dass das Auftreten einer Partei nie wichtiger<br />
sein sollte als deren politische Ziele. Und dass man immer misstrauisch<br />
sein sollte, wenn eine Partei allzu einfache Lösungen verspricht.<br />
Denn in unserer heutigen, hoch entwickelten und pluralistischen<br />
Gesellschaft gibt es nur noch für wenige politische<br />
Probleme wirklich einfache Lösungen.<br />
Eine klare und einfache Politikersprache ist deshalb natürlich<br />
nicht falsch – ganz im Gegenteil. Ich halte es gerade für die Ansprache<br />
von Jugendlichen für sehr wichtig, sich nicht in unnötigem<br />
Politiker-Chinesisch zu ergehen. Aber die klare Sprache<br />
sollte eben nicht einhergehen mit einer unzulässigen Simplifizierung<br />
politischer Zusammenhänge. Denn auch komplexe Zusammenhänge<br />
lassen sich meistens mit recht einfacher Sprache beschreiben,<br />
wenn man sich entsprechend bemüht. Bei links- und<br />
rechtsradikalen Parteien geht die einfache Sprache aber häufig<br />
mit einer unzulässigen Vereinfachung der politischen Probleme<br />
»Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?<br />
D&E<br />
Heft 65 · 2013