Inhaltsverzeichnis - Jugend.rlp.de
Inhaltsverzeichnis - Jugend.rlp.de
Inhaltsverzeichnis - Jugend.rlp.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Streitschrift Zukunftsfähigkeit Inhalt<br />
3<br />
<strong>Inhaltsverzeichnis</strong><br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />
Zusammenfassen<strong>de</strong> Thesen <strong>de</strong>s<br />
Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums . . . . . . . . . . 7<br />
Eine Streitschrift <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
. . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
Gesellschaft braucht Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche brauchen Bildung . . . . . . . . . . 19<br />
Für ein angemessenes Bildungsverständnis . . . . . . . . . . 22<br />
Für ein neues Verhältnis von Bildung und<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
Kooperation suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
Anwaltschaftlich han<strong>de</strong>ln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
4<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit Vorwort<br />
Vorwort<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
5<br />
Vorwort<br />
Bildung und Ausbildung sind <strong>de</strong>r Schlüssel zu <strong>de</strong>n<br />
individuellen Zukunftschancen junger Menschen.<br />
Daher begrüße ich es sehr, dass durch die Ergebnisse<br />
<strong>de</strong>r PISA-Studie und die Empfehlungen <strong>de</strong>s<br />
Forums Bildung die Bildungspolitik in Deutschland<br />
in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s öffentlichen Interesses<br />
gerückt ist.<br />
Das Bun<strong>de</strong>sjugendkuratorium als Beratungsgremium<br />
<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung beschäftigt sich bereits<br />
seit längerem mit <strong>de</strong>r Frage, welche Aufgaben die<br />
Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe in diesem Bereich zu leisten<br />
hat. Die hier vorliegen<strong>de</strong> Streitschrift „Zukunftsfähigkeit sichern! – Für<br />
ein neues Verhältnis von Bildung und <strong>Jugend</strong>hilfe“ bezieht nicht nur zu dieser<br />
Frage, son<strong>de</strong>rn auch zur aktuellen Bildungs<strong>de</strong>batte Position.<br />
… zur aktuellen Bildungs<strong>de</strong>batte …<br />
Mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rtageseinrichtungen als zentralen Bildungsinstitutionen und<br />
mit ihren Angeboten <strong>de</strong>r außerschulischen <strong>Jugend</strong>bildung bietet die Kin<strong>de</strong>rund<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe zahlreiche Leistungen, die Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche befähigen,<br />
am Bildungsprozess teilzuhaben und ihnen die Chance geben, sich in<br />
das Erwerbsleben zu integrieren.<br />
Leistungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe unterliegen nicht <strong>de</strong>n Gesetzmäßigkeiten<br />
<strong>de</strong>r formalen Bildungsprozesse. An<strong>de</strong>rnfalls wür<strong>de</strong>n sie ihre beson<strong>de</strong>re<br />
Möglichkeit, Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche anzusprechen und ihnen Bildungsangebote<br />
auf freiwilliger Basis zu unterbreiten, aufgeben. Gera<strong>de</strong> in<br />
Kin<strong>de</strong>rgärten und Horten geht es nicht in erster Linie<br />
darum, schulisches Lernen einzuüben o<strong>de</strong>r die Schule zu<br />
unterstützen, son<strong>de</strong>rn hier wer<strong>de</strong>n Möglichkeiten eröffnet,<br />
die freie Entfaltung <strong>de</strong>r Fähigkeiten und Begabungen<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Auch die Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe steht vor <strong>de</strong>r Aufgabe,<br />
sich über ihr Verhältnis zur Bildungsaufgabe neu bewusst<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Ganz beson<strong>de</strong>rs geht es mir darum, dass allen<br />
Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen – unabhängig von ihren individuellen<br />
sozialen und familiären Vorraussetzungen – <strong>de</strong>r<br />
Zugang zu einer zukunftssichern<strong>de</strong>n Bildung und Ausbildung<br />
eröffnet wird. Dabei wird es verstärkt notwendig<br />
sein, Hilfen und Unterstützung zielgenauer auf <strong>de</strong>n konkreten<br />
Bedarf je<strong>de</strong>s jungen Menschen hin zur Verfügung<br />
zu stellen.<br />
… zukunftssichern<strong>de</strong>n Bildung …<br />
Gera<strong>de</strong> hier liegt auch die beson<strong>de</strong>re Fähigkeit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r-<br />
und <strong>Jugend</strong>hilfe.<br />
Die Bun<strong>de</strong>sregierung hat mit ihrem <strong>Jugend</strong>politischen<br />
Programm „Chancen im Wan<strong>de</strong>l“ einen wichtigen<br />
Akzent gesetzt und die Politik im Interesse von Kin<strong>de</strong>rn<br />
und <strong>Jugend</strong>lichen als Querschnittspolitik in einer Fülle<br />
von Handlungsfel<strong>de</strong>rn verankert. Eine beson<strong>de</strong>re Rolle<br />
spielen auch hier Bildung und Ausbildung. So wird die<br />
Bun<strong>de</strong>sregierung <strong>de</strong>n Kampf gegen die <strong>Jugend</strong>arbeitslosigkeit<br />
fortsetzen, die Leistungen zur individuellen Qualifizierung<br />
und Berufsvorbereitung, gera<strong>de</strong> auch in sozialen<br />
Brennpunkten, intensivieren und sich für die<br />
Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen für <strong>Jugend</strong>liche<br />
einsetzen.
6<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit Vorwort<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
7<br />
Ich freue mich auf die Debatte über die in <strong>de</strong>r Streitschrift<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums enthaltenen Empfehlungen<br />
für die Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe. Und ich bin<br />
mir sicher, dass diese Empfehlungen in <strong>de</strong>n aktuellen<br />
gesellschaftlichen Bildungsdiskurs Eingang fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Bun<strong>de</strong>sjugendkuratorium<br />
Streitschrift „Zukunftsfähigkeit sichern! – Für ein<br />
neues Verhältnis von Bildung und <strong>Jugend</strong>hilfe“<br />
Zusammenfassen<strong>de</strong> Thesen<br />
DR. CHRISTINE BERGMANN<br />
BUNDESMINISTERIN FÜR FAMILIE, SENIOREN,<br />
FRAUEN UND JUGEND<br />
1. Bildung entschei<strong>de</strong>t mehr und an<strong>de</strong>rs als früher über Lebenszugänge und<br />
Teilhabechancen und ist <strong>de</strong>r Schlüssel zu einer zukunftsoffenen, sozialen<br />
und ökonomisch erfolgreichen Entwicklung von Individuen und Gesellschaft.<br />
2. Die Gesellschaft <strong>de</strong>r Zukunft wird stärker als in <strong>de</strong>r Vergangenheit auf<br />
Bildung angewiesen sein. Ohne Bildung erscheinen <strong>de</strong>r Bestand und die<br />
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gefähr<strong>de</strong>t.<br />
3. Der soziale und ökonomische Wan<strong>de</strong>l in fast allen Lebensbereichen verlangt<br />
von <strong>de</strong>n Bürgerinnnen und Bürgern komplexe Kompetenzen für<br />
eine individuelle Lebensführung und das soziale Zusammenleben.<br />
4. Daraus folgt, dass bereits im Kin<strong>de</strong>s- und <strong>Jugend</strong>alter Bildung als eigensinniger<br />
Prozess <strong>de</strong>s Subjekts für die Entwicklung und das Hineinwachsen<br />
in Kultur und Gesellschaft von grundlegen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist.<br />
… Hineinwachsen in<br />
Kultur und<br />
Gesellschaft …
8<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
9<br />
5. Die internationale Forschung und Diskussion über Bildung<br />
(wie jüngst die Ergebnisse <strong>de</strong>r PISA-Studie) laufen<br />
darauf hinaus, dass die „informelle Bildung“ – ungeplante<br />
und nicht intendierte Bildungsprozesse, die sich<br />
im Alltag von Familie, Nachbarschaft, Arbeit, Freizeit<br />
u. a. ergeben, aber auch fehlen können – wichtiger ist<br />
als bisher angenommen; sie ist zugleich eine Voraussetzung<br />
für nichtformelle Bildungsprozesse (z. B. in <strong>de</strong>r<br />
<strong>Jugend</strong>arbeit) und formelle (z. B. in <strong>de</strong>r Schule). Es ist<br />
<strong>de</strong>shalb auch für die Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe eine<br />
unverzichtbare Aufgabe, in allen ihren Handlungsfel<strong>de</strong>rn<br />
diese informellen Bildungsprozesse und die dafür<br />
nötigen Ressourcen anzuregen, zu stärken und zu<br />
unterstützen, um dadurch auch Bildungsprozesse im<br />
nichtformellen und formellen Bereich zu för<strong>de</strong>rn.<br />
6. In diesem Zusammenhang ist es erfor<strong>de</strong>rlich, dass die<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe im Blick auf ihre eigene Theorie und Praxis<br />
sich auf einen Begriff von Bildung verständigt,<br />
7. In allen Bereichen <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe ist – entsprechend <strong>de</strong>m gegenwärtig<br />
gesetzlich vorgesehenen Hilfeplan – eine individuelle Bildungsplanung<br />
verbindlich zu machen, in <strong>de</strong>r die verschie<strong>de</strong>nen Prozesse <strong>de</strong>r formellen,<br />
nichtformellen und informellen Bildung zusammengeführt wer<strong>de</strong>n.<br />
8. Mit Blick auf das Zusammenwirken aller einschlägigen Politikbereiche ist<br />
❙ für die Institutionalisierung <strong>de</strong>r Entwicklung einer neuen Bildungspolitik<br />
auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen ein „Soziales Bildungsforum“ einzurichten,<br />
das sich darum bemüht, in die Gestaltung <strong>de</strong>r Ressourcen für die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Lernorte junger Menschen verstärkt nichtformelle und informelle<br />
Bildungsprozesse einzubeziehen und damit die Verengung <strong>de</strong>r<br />
bisherigen bildungspolitischen Debatte auf die Bereiche Schule, Hochschule<br />
und Ausbildung abzubauen;<br />
❙ die im Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfegesetz enthaltene Verpflichtung, mit<br />
an<strong>de</strong>ren gesellschaftlichen Bereichen zu kooperieren, auch für diese verbindlich<br />
zu machen, etwa für die Schule in ihren Verwaltungsgesetzen<br />
und für die Gesundheitsdienste in <strong>de</strong>ren einschlägigen Bestimmungen;<br />
und<br />
❙ mit <strong>de</strong>ssen Hilfe sie ihre bisherigen Konzepte kritisch<br />
überprüft und die traditionelle Unterscheidung zwischen<br />
bildungsnahen („positiven“) und bildungsfernen<br />
(„negativen“) Handlungsfel<strong>de</strong>rn aufgibt,<br />
❙ <strong>de</strong>r sie dazu anleitet, sich angesichts neuer Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
weiter zu entwickeln, und<br />
… neuen Bildungspolitik …<br />
❙ <strong>de</strong>r es ihr gleichzeitig ermöglicht, im Rahmen einer<br />
neuen Bildungspolitik die erfor<strong>de</strong>rlichen Zuständigkeiten<br />
und Ressourcen zu reklamieren.<br />
❙ mit allen gesellschaftlichen Kräften daran zu arbeiten, die Ungleichheit<br />
<strong>de</strong>r Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsressourcen abzubauen.<br />
9. Der gegenwärtige Umbruch in <strong>de</strong>r Bildungspolitik stellt eine neue Chance<br />
dar, das Bildungspotenzial <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rgartens anzuerkennen, <strong>de</strong>r auf<br />
die Stärkung von Selbstbildung setzt, soziale Fähigkeiten entwickelt,<br />
Sprachkompetenz und Freu<strong>de</strong> am Lernen för<strong>de</strong>rt sowie die Erziehung in<br />
<strong>de</strong>r Familie stärkt und unterstützt. Es ist aber <strong>de</strong>r Weg in die falsche Richtung,<br />
<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten in das Schulsystem, also in das formale System<br />
mit seinen Eigengesetzlichkeiten und Problemen, einzubin<strong>de</strong>n.<br />
… „Soziales Bildungsforum“…
10<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
11<br />
10. Mit Blick auf die zu erwarten<strong>de</strong> verstärkte Konkurrenz<br />
zwischen schulischen und sozialpädagogischen Angeboten<br />
für Schulkin<strong>de</strong>r am Nachmittag ist davon auszugehen,<br />
dass zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Entscheidung<br />
über die Verortung ganztägiger Bildungsangebote<br />
getroffen wer<strong>de</strong>n kann. Es muss aber darum<br />
gehen, dass sich <strong>de</strong>r infrage kommen<strong>de</strong> Bereich –<br />
unabhängig davon, ob es sich um <strong>Jugend</strong>hilfe o<strong>de</strong>r<br />
Schule han<strong>de</strong>lt – vorrangig an <strong>de</strong>n Bildungspotenzialen<br />
und -interessen von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen orientieren<br />
muss. <strong>Jugend</strong>hilfe und Schule verfügen traditionellerweise<br />
über unterschiedliche Möglichkeiten. In<br />
Bezug auf die neuen Herausfor<strong>de</strong>rungen müssen die<br />
jeweils spezifischen Begrenzungen kritisch beleuchtet<br />
und im Kontext einer neuen Bildungspolitik überwun<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
… neuen Herausfor<strong>de</strong>rungen …<br />
greifen<strong>de</strong> Fähigkeiten auszubil<strong>de</strong>n und um <strong>de</strong>n Bestand einer offenen<br />
Gesellschaft zu gewährleisten. Nichtformelle und informelle Bildung als<br />
Interkulturalität muss die Lebenslagen von <strong>de</strong>utschen wie nicht<strong>de</strong>utschen<br />
jungen Menschen aufgreifen und setzt voraus, dass sie verlässliche<br />
Möglichkeiten <strong>de</strong>s Erwachsenwer<strong>de</strong>ns vorfin<strong>de</strong>n. Sie verlangt aber auch<br />
erweiterte und offene Erfahrungs- und Konfrontationsmöglichkeiten, die<br />
Neugier und Akzeptanz wecken, Kommunikationskompetenzen und<br />
Frustrationstoleranz stärken sowie Konfliktfähigkeit und Perspektivenübernahme<br />
üben.<br />
… Konfliktfähigkeit und<br />
Perspektivenübernahme …<br />
12. Das Bun<strong>de</strong>sjugendkuratorium ist <strong>de</strong>r Überzeugung, dass die Kin<strong>de</strong>r- und<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe eine notwendige und eigenständige Bildungsverantwortung<br />
hat und einen wesentlichen Beitrag zur zukünftigen Gestaltung <strong>de</strong>r<br />
Bildungslandschaft in unserer Gesellschaft leistet. Die Revision <strong>de</strong>s Verhältnisses<br />
von Bildung und <strong>Jugend</strong>hilfe im vorgeschlagenen Sinne wür<strong>de</strong><br />
einen erneuten und lohnen<strong>de</strong>n Versuch be<strong>de</strong>uten, Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche<br />
aus ihrer oft randständigen Lebenslage herauszuholen. Bildung in<br />
<strong>de</strong>m hier angesprochenen Sinne ist immer auch gesellschaftliche Bildung,<br />
die eine Voraussetzung für die Sicherung <strong>de</strong>r Zukunftsfähigkeit<br />
ist.<br />
BONN/BERLIN, 17. DEZEMBER 2001<br />
11. Ein für europäische und internationale Entwicklungen<br />
sensibles, mit Zuwan<strong>de</strong>rung und ethnisch-kultureller<br />
Heterogenität konfrontiertes Bildungssystem muss<br />
interkulturelle Bildung (von jungen Menschen, Fachkräften,<br />
Institutionen) ermöglichen, um kulturüber-
12<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
13<br />
Zukunftsfähigkeit sichern! – Für ein neues<br />
Verhältnis von Bildung und <strong>Jugend</strong>hilfe<br />
Eine Streitschrift <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
… Bildungsdiskurs …<br />
Bildung steht gegenwärtig im Zentrum gesellschaftlicher Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen.<br />
Ein vielfältiger Bildungsdiskurs bewegt die Gemüter in Deutschland.<br />
International vergleichen<strong>de</strong> Leistungsstudien (z. B. „TIMSS“; „PISA“)<br />
bescheinigen <strong>de</strong>utschen Schülern aller Schulstufen fehlen<strong>de</strong> Kompetenzen<br />
und verweisen sie auf hintere Plätze. Arbeitgeberverbän<strong>de</strong> beklagen einen<br />
gravieren<strong>de</strong>n Leistungsverfall bei Lehrlingen und Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, beson<strong>de</strong>rs<br />
im Rechnen, im sprachlichen Ausdrucksvermögen und in <strong>de</strong>r Rechtschreibung.<br />
Viele Eltern und auch <strong>de</strong>r musisch-kulturelle Bereich kritisieren,<br />
dass die persönlichkeitsformen<strong>de</strong>n, kreativen und künstlerischen Elemente<br />
von Bildung viel zu kurz kommen und immer nachrangiger eingestuft wer<strong>de</strong>n.<br />
Vielfältiger Reformbedarf <strong>de</strong>s Bildungswesens wird angemel<strong>de</strong>t. Versuche<br />
zu Innovation und Verän<strong>de</strong>rung sind gefor<strong>de</strong>rt. Mit Europa verbin<strong>de</strong>n<br />
sich neue Aufgaben <strong>de</strong>r Öffnung und Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Bildungslandschaft.<br />
Sie liegen vor allem in erweiterten Lern- und Studienmöglichkeiten,<br />
in neuen Freizügigkeiten <strong>de</strong>s Lernens und <strong>de</strong>r Ausbildung, in gegenseitigem<br />
interkulturellen Austausch und in Kooperation.<br />
Diese Impulse spiegeln sich in verschie<strong>de</strong>nen Verlautbarungen<br />
von Gremien wi<strong>de</strong>r, etwa in <strong>de</strong>m Beschluss <strong>de</strong>r<br />
<strong>Jugend</strong>ministerkonferenz zum Thema „<strong>Jugend</strong>hilfe in <strong>de</strong>r<br />
Wissensgesellschaft“ 1 o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Empfehlungen <strong>de</strong>s von<br />
Bund und Län<strong>de</strong>rn vor zwei Jahren eingesetzten Forums<br />
Bildung 2 . Im Ergebnis <strong>de</strong>r Debatte zeichnet sich ein –<br />
je<strong>de</strong>nfalls verbaler – Konsens ab, dass Bildung nicht nur<br />
als <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> „Rohstoff“ und die grundlegen<strong>de</strong><br />
Bedingung für individuellen Lebenserfolg einerseits,<br />
ökonomische Zukunft, Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlichen<br />
Wohlstand an<strong>de</strong>rerseits gesehen wird,<br />
son<strong>de</strong>rn auch als die unerlässliche Grundlage und lebenslanges<br />
Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r Lebensführung und Lebensbewältigung<br />
<strong>de</strong>r Menschen. Wer die Befun<strong>de</strong> und Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />
PISA-Studie 3 liest, kann diesen Zusammenhang zwischen<br />
sozialen Ressourcen und Bildung auch dort <strong>de</strong>utlich wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />
1<br />
<strong>Jugend</strong>ministerkonferenz: <strong>Jugend</strong>hilfe in <strong>de</strong>r Wissensgesellschaft. In: FORUM <strong>Jugend</strong>hilfe<br />
3/2001, S. 18–27<br />
2<br />
Arbeitsstab Forum Bildung (Hrsg.): Empfehlungen <strong>de</strong>s Forums Bildung (Ergebnisband I), 2001<br />
3<br />
OECD (Hrsg.): Programme for International Stu<strong>de</strong>nt Assessment. Schülerleistungen im internationalen<br />
Vergleich. http://www.mpib-berlin.mpg.<strong>de</strong>/pisa
14<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
15<br />
Die aktuelle Verständigung über Notwendigkeit und<br />
Inhalte von Bildung ist aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
und <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>politik grundsätzlich<br />
zu begrüßen. Sie be<strong>de</strong>utet nämlich eine Anerkennung<br />
<strong>de</strong>r zentralen Be<strong>de</strong>utung von Bildung für die<br />
Zukunft <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Generation. 4 Dennoch weist<br />
die öffentliche Diskussion aber auch Gefahren und Aspekte<br />
auf, die Wi<strong>de</strong>rspruch herausfor<strong>de</strong>rn.<br />
❙ Problematisch ist, dass in vielen Diskussionen Bildungsprozesse<br />
vor<strong>de</strong>rgründig unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt ihrer<br />
Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit konzipiert, bewertet<br />
und durchgeführt wer<strong>de</strong>n. Deutlich wird dies vor allem in<br />
<strong>de</strong>r einseitigen Betonung <strong>de</strong>r notwendigen Qualifikationserfor<strong>de</strong>rnisse<br />
<strong>de</strong>r Arbeitskräfte in einer sich globalisieren<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaft. Deutlich wird dies aber auch in einem verkürzten<br />
Verständnis <strong>de</strong>r sog. Wissensgesellschaft, das Bildungsprozesse<br />
auf Informationsmanagement reduziert.<br />
❙ Bildungsprozesse wer<strong>de</strong>n immer noch nahezu ausschließlich<br />
an <strong>de</strong>r Schule, <strong>de</strong>r Hochschule und am beruflichen Ausbildungssystem<br />
festgemacht. Übersehen wer<strong>de</strong>n so die notwendige<br />
Vielfalt einer Bildungslandschaft und die Vielgestaltigkeit<br />
von Bildungsprozessen.<br />
… Vielgestaltigkeit von Bildungsprozessen …<br />
… verbesserte Chancen<br />
versprechen …<br />
❙ So sehr – drittens – Bildung und Bildungsleistungen erweiterte<br />
Optionen und verbesserte Chancen versprechen, so thematisieren<br />
sie aber auch wachsen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rungen,<br />
Verunsicherung und Leistungsdruck vor allem für jene, die<br />
– aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer – in <strong>de</strong>r Konkurrenz um<br />
Qualifikationen und Kompetenzen nicht mithalten können.<br />
❙ Der europäische bzw. internationale Bildungsdiskurs bringt<br />
Ten<strong>de</strong>nzen und Prozesse von schematischer Angleichung,<br />
Bürokratisierung, Nivellierung, Standardisierung und Ökonomisierung<br />
mit sich.<br />
4<br />
In einer Stellungnahme <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums heißt es in diesem Zusammenhang:<br />
„Bildung entschei<strong>de</strong>t mehr und an<strong>de</strong>rs als früher über Lebenszugänge und Teilhabechancen<br />
und ist <strong>de</strong>r Schlüssel einer zukunftsoffenen, sozialen und ökonomisch erfolgreichen Entwicklung<br />
von Gesellschaft und Individuen.“ (Bun<strong>de</strong>sjugendkuratorium [Hg., 2000], Gegen <strong>de</strong>n irrationalen<br />
Umgang <strong>de</strong>r Gesellschaft mit <strong>de</strong>r nachwachsen<strong>de</strong>n Generation, in: Frankfurter Rundschau<br />
vom 28. August 2000, S. 8)
16<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
17<br />
Vor diesem Hintergrund müssen sich Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe (im Folgen<strong>de</strong>n<br />
kurz: <strong>Jugend</strong>hilfe) und <strong>Jugend</strong>politik dazu aufgerufen sehen,<br />
sich aktiv in <strong>de</strong>n aktuellen Bildungsdiskurs einzubringen:<br />
❙ Zunächst muss <strong>Jugend</strong>hilfe in weiten Bereichen ihr Selbstverständnis<br />
im Rahmen <strong>de</strong>r Bildungsaufgaben <strong>de</strong>r Gegenwart<br />
grundsätzlich über<strong>de</strong>nken sowie ihre Maßnahmen, Konzepte<br />
und Angebotsstrukturen kritisch überprüfen und weiterentwickeln,<br />
damit sie <strong>de</strong>n jungen Menschen und ihren Familien<br />
in ihren Bildungsbedürfnissen gerecht wer<strong>de</strong>n.<br />
❙ <strong>Jugend</strong>politik muss dann in <strong>de</strong>r öffentlichen Debatte reklamieren,<br />
dass <strong>Jugend</strong>hilfe einen unverwechselbaren und unverzichtbaren<br />
Beitrag zur Bildungslandschaft erbringt. Sie<br />
muss die Kooperation <strong>de</strong>r einzelnen Bildungsträger zur Weiterentwicklung<br />
von umfassen<strong>de</strong>n Bildungsgelegenheiten<br />
anmahnen.<br />
❙ Schließlich müssen <strong>Jugend</strong>hilfe und <strong>Jugend</strong>politik im Rahmen<br />
von anwaltschaftlicher Interessenvertretung dafür<br />
Sorge tragen, dass Benachteiligungen erkannt und abgebaut<br />
wer<strong>de</strong>n, damit Bildung <strong>de</strong>r Selbstentfaltung <strong>de</strong>s Individuums<br />
und <strong>de</strong>r Humanisierung und Demokratisierung <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
dient.<br />
… Lebenskompetenz und<br />
Zukunftsfähigkeit …<br />
Die vorliegen<strong>de</strong> Streitschrift <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
will unterstreichen, warum Bildung notwendige Voraussetzung<br />
für Lebenskompetenz und Zukunftsfähigkeit<br />
von jungen Menschen ist. Sie will begrün<strong>de</strong>n, warum<br />
sowohl Gesellschaft wie Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche Bildung<br />
brauchen. Sie will <strong>de</strong>utlich machen, von welchem Bildungsverständnis<br />
dabei auszugehen und wie Bildung im<br />
Bereich von <strong>Jugend</strong>hilfe weiter zu entwickeln ist.<br />
Gesellschaft braucht Bildung<br />
Seit gut 30 Jahren ist ein sich beschleunigen<strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l unserer Gesellschaft<br />
zu beobachten, <strong>de</strong>r sich in unterschiedlichen Bereichen mit unterschiedlicher<br />
Geschwindigkeit, aber auch mit unterschiedlichem Beharrungsvermögen<br />
vollzieht. Aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse<br />
über ein „Bündnis für Arbeit“, über die Verselbstständigung <strong>de</strong>r Finanzmärkte,<br />
über bezahlbare Renten, Gerechtigkeit zwischen <strong>de</strong>n Generationen,<br />
die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit und die Neugestaltung <strong>de</strong>s Geschlechterverhältnisses<br />
stellen zentrale Aspekte eines tief greifen<strong>de</strong>n Umbruchs<br />
in <strong>de</strong>r Lebens- und Arbeitswelt dar. Obwohl die Sozialwissenschaften<br />
davon ausgehen, dass wir mit unseren heutigen Forschungsmetho<strong>de</strong>n und<br />
-instrumenten nur schwer erfassen können, was sich alles wie verän<strong>de</strong>rn<br />
wird, können wir aufgrund <strong>de</strong>r bislang vorliegen<strong>de</strong>n Erkenntnisse doch<br />
annehmen, dass die Gesellschaft <strong>de</strong>r Zukunft<br />
❙ eine Wissensgesellschaft sein wird, in <strong>de</strong>r Intelligenz, Neugier,<br />
lernen wollen und können, Problemlösen und Kreativität<br />
eine wichtige Rolle spielen;<br />
❙ eine Risikogesellschaft sein wird, in <strong>de</strong>r die Biografie flexibel<br />
gehalten und trotz<strong>de</strong>m I<strong>de</strong>ntität gewahrt wer<strong>de</strong>n muss, in<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Umgang mit Ungewissheit ertragen wer<strong>de</strong>n muss<br />
und in <strong>de</strong>r Menschen ohne kollektive Selbstorganisation und<br />
individuelle Verantwortlichkeit scheitern können;<br />
❙ eine Arbeitsgesellschaft bleiben wird, <strong>de</strong>r die Arbeit nicht<br />
ausgegangen ist, in <strong>de</strong>r aber immer höhere Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
an die Menschen gestellt wer<strong>de</strong>n, dabei zu sein;
18<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
19<br />
❙ eine <strong>de</strong>mokratische Gesellschaft bleiben muss, in <strong>de</strong>r die<br />
Menschen an politischen Diskursen teilnehmen und frei ihre<br />
Meinung vertreten können, öffentliche Belange zu ihren<br />
Angelegenheiten machen, <strong>de</strong>r Versuchung von Fundamentalismen<br />
und Extremen wi<strong>de</strong>rstehen und bei allen Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten<br />
Mehrheitsentscheidungen respektieren;<br />
❙ als Zivilgesellschaft gestärkt wer<strong>de</strong>n soll, mit vielfältigen<br />
Formen <strong>de</strong>r Partizipation, Solidarität, sozialen Netzen und<br />
scher Kultur, die Tragfähigkeit <strong>de</strong>s sozialen Zusammenhalts<br />
Kooperation <strong>de</strong>r Bürger, egal welchen Geschlechts, welcher<br />
und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Solidarität, die Akzeptanz <strong>de</strong>r zen-<br />
Herkunft, welchen Berufs und welchen Alters;<br />
tralen Werte und Regeln <strong>de</strong>r Zivilisation unserer Gesellschaft<br />
❙ eine Einwan<strong>de</strong>rungsgesellschaft bleiben wird, in <strong>de</strong>r Men-<br />
ab. Nicht allein „Wissen“, son<strong>de</strong>rn „Bildung“ in einem umfas-<br />
schen verschie<strong>de</strong>ner Herkunft, Religion, Kultur und Tradi-<br />
sen<strong>de</strong>n Sinn sichert <strong>de</strong>n Standort Deutschland und die<br />
tion integriert wer<strong>de</strong>n müssen, vorhan<strong>de</strong>ne Konflikte und<br />
Zukunft unserer Gesellschaft, die ihren Mitglie<strong>de</strong>rn Teilhabe<br />
Vorurteile überwun<strong>de</strong>n und Formen <strong>de</strong>s Miteinan<strong>de</strong>r-Lebens<br />
und Selbstbestimmung zugleich sichert.<br />
und -Arbeitens entwickelt wer<strong>de</strong>n müssen, die es allen<br />
erlauben, ihre jeweilige Kultur zu pflegen, aber auch sich<br />
wechselseitig zu bereichern.<br />
Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche brauchen<br />
Bildung<br />
Alle diese Gesellschaftsmo<strong>de</strong>lle und Trends verlangen von <strong>de</strong>n Bürgerinnen<br />
und Bürgern komplexe Kompetenzen <strong>de</strong>r individuellen Lebensführung und<br />
<strong>de</strong>s sozialen Zusammenlebens. Sie setzen Bildung und Gebil<strong>de</strong>tsein voraus.<br />
Gleichgültig nach welchem <strong>de</strong>r genannten Mo<strong>de</strong>lle Zukunft gedacht wird,<br />
in allen wird klar und <strong>de</strong>utlich: für die Sicherung ihres Bestan<strong>de</strong>s wie für<br />
ihre Perspektiven ist Gesellschaft auf Bildung angewiesen. Von Bildung als<br />
gesellschaftlicher Bildung hängen entschei<strong>de</strong>nd <strong>de</strong>r Bestand <strong>de</strong>mokrati-<br />
In einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r die institutionellen „Gelän<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Lebensführung“ immer weniger verlässlich biographische<br />
Planungen stützen können und Verläufe in mögliche Zukünfte<br />
ten<strong>de</strong>nziell unkalkulierbar wer<strong>de</strong>n, wird Bildung auch für<br />
die alltägliche Lebensbewältigung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>lichen<br />
zur entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und unverzichtbaren Ressource.<br />
Seit <strong>de</strong>n sechziger Jahren wur<strong>de</strong> die Erhöhung <strong>de</strong>r Bildungsbeteiligung<br />
als Voraussetzung für gelingen<strong>de</strong> Zukunft herausgestellt.<br />
Durch Verlängerung <strong>de</strong>r Bildungszeit und Erhöhung<br />
<strong>de</strong>s formalen Bildungsniveaus sollte die Gleichheit<br />
<strong>de</strong>r Lebenschancen hergestellt wer<strong>de</strong>n. Lange Zeit orientier-
20<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
21<br />
ten sich Politik, Schule und <strong>Jugend</strong>hilfe an einem „bildungsoptimistischen<br />
<strong>Jugend</strong>konzept“: Wer seine <strong>Jugend</strong>zeit nutzt, lernt und sich vorbereitet, wer<br />
in <strong>de</strong>r Gegenwart zugunsten von Bildung auf Konsum und Zerstreuung verzichtet,<br />
<strong>de</strong>r wird dafür in <strong>de</strong>r Zukunft durch bessere berufliche und soziale<br />
Chancen „belohnt“ wer<strong>de</strong>n.<br />
Dieses Konzept hat sich insofern verän<strong>de</strong>rt, als formale Bildungsabschlüsse<br />
zwar nach wie vor wichtig sind, sie allein und für sich genommen jedoch<br />
keinen erfolgreichen beruflichen Wer<strong>de</strong>gang mehr garantieren. Es wird<br />
immer <strong>de</strong>utlicher, dass für eine gelingen<strong>de</strong> Biographie zunehmend personale<br />
Fähigkeiten von Be<strong>de</strong>utung sind. Hinzu kommt: Bildung be<strong>de</strong>utet nicht<br />
mehr allein „Vorbereitung auf die Zukunft“, son<strong>de</strong>rn wird zu einer Ressource<br />
gegenwärtiger Orientierung angesichts von Unübersichtlichkeit, schließt<br />
Optionen für gegenwärtige Entscheidungen im Horizont <strong>de</strong>r Ungewissheit<br />
auf, hilft trotz gegenstehen<strong>de</strong>r Schwierigkeiten die eigenen biographischen<br />
Ziele festzuhalten und sie <strong>de</strong>nnoch flexibel an die Situation und erreichbaren<br />
Möglichkeiten anzupassen. Bildung erfährt also eine Be<strong>de</strong>utungserweiterung:<br />
Sie wird zur wichtigsten Ressource <strong>de</strong>r Bewältigung <strong>de</strong>r Gegenwart<br />
und <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Zukunft.<br />
… Gestaltung <strong>de</strong>r<br />
Zukunft.<br />
Damit zeichnet sich mit Blick auf das Bildungsverständnis<br />
ein neues Verhältnis von Gegenwart und Zukunft ab. Bildung<br />
kann nicht mehr ausschließlich von <strong>de</strong>r Zukunft her<br />
geplant wer<strong>de</strong>n. Immer mehr geht es darum, durch Bildung<br />
Selbstkompetenz für die alltägliche Lebensbewältigung<br />
auch schon in <strong>de</strong>r Gegenwart zu erwerben. Der<br />
„Schonraum“ Kindheit und <strong>Jugend</strong> zerbröckelt, <strong>de</strong>r „Ernst<br />
<strong>de</strong>s Lebens“, die gesellschaftlichen Großprobleme reichen<br />
mit ihren Folgen längst in <strong>de</strong>n Alltag junger Menschen<br />
hinein. „Die gesellschaftliche Krise hat die <strong>Jugend</strong>phase<br />
erreicht“, lautet ein einvernehmliches Ergebnis <strong>de</strong>r neuesten<br />
<strong>Jugend</strong>forschung 5 . Bildung ist <strong>de</strong>shalb viel mehr als<br />
Ausbildung und Qualifikationserwerb. Sie ist Voraussetzung<br />
dafür, sich in einer komplizierten Welt zu verorten<br />
und zu behaupten. Mo<strong>de</strong>rne Pädagogik spricht mit Bezug<br />
auf Bildung <strong>de</strong>shalb nicht nur von Qualifikation, son<strong>de</strong>rn<br />
immer mehr von Lebenskompetenz. Zugang auch zu <strong>de</strong>n<br />
Ressourcen und Gelegenheiten solcher personenbezogenen<br />
Bildungsprozesse zu erhalten, entschei<strong>de</strong>t über die<br />
eigenen biographischen Möglichkeiten und <strong>de</strong>n weiteren<br />
Lebensverlauf. Weil aber die Ressourcen und Möglichkeiten<br />
in unserer Gesellschaft unterschiedlich zugänglich<br />
sind, hat sich das Thema „Bildung und soziale Ungleichheit“<br />
keineswegs erledigt. Die Fragen stellen sich hier vielmehr<br />
noch drängen<strong>de</strong>r als je zuvor.<br />
… „Bildung und<br />
soziale Ungleichheit“ …<br />
5<br />
z. B. 12. Shell <strong>Jugend</strong>studie 1997
22<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
23<br />
Für ein angemessenes Bildungsverständnis<br />
Bildung heißt immer: „sich bil<strong>de</strong>n“. Bildung ist stets ein<br />
Prozess <strong>de</strong>s sich bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Subjekts, zielt immer auf Selbstbildung<br />
ab. Bildung ist mehr als ein Katalog akkumulierten<br />
Wissens, ein Kanon von Inhalten, über <strong>de</strong>n man verfügen<br />
muss, um – wie gerne behauptet – als gebil<strong>de</strong>ter<br />
Mensch zu gelten. Bildung ist kein Gut und keine Ware.<br />
Bildung meint auch Wissenserwerb, geht aber darin nicht<br />
auf. Sie ist zu verstehen als Befähigung zu eigenbestimmter<br />
Lebensführung, als Empowerment, als Aneignung von<br />
Selbstbildungsmöglichkeiten.<br />
Im Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>alter ist Bildung als „eigen-sinniger“<br />
Prozess <strong>de</strong>s Subjekts von grundlegen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung<br />
für <strong>de</strong>ssen Entwicklung und Hineinwachsen in Kultur und<br />
Gesellschaft. Sie ist hier zu verstehen<br />
… eigenbestimmter Lebensführung …<br />
❙ als Anregung aller Kräfte: Es geht um Anregung, nicht um<br />
Zwang o<strong>de</strong>r Vorschrift. Alle Kräfte müssen in diesen Bildungsprozess<br />
einbezogen wer<strong>de</strong>n, nicht nur die kognitiven, son<strong>de</strong>rn<br />
auch die sozialen, emotionalen und ästhetischen.<br />
❙ als Aneignung <strong>de</strong>r Welt: Aneignung ist ein aktiver, subjektiver<br />
Prozess, bei <strong>de</strong>m das Frem<strong>de</strong> in Eigenes verwan<strong>de</strong>lt wird. Sie<br />
meint nicht ein Von-außen-Hineinstopfen vorbestimmter „Bildungsinhalte“.<br />
Bildung kann nicht erzeugt o<strong>de</strong>r gar erzwungen,<br />
son<strong>de</strong>rn nur angeregt und ermöglicht wer<strong>de</strong>n.<br />
❙ als Entfaltung <strong>de</strong>r Persönlichkeit: Es geht um einen Prozess,<br />
bei <strong>de</strong>m eigene Potenziale entwickelt wer<strong>de</strong>n und sich Individualität<br />
herausbil<strong>de</strong>t. Bildung ist ein Entfaltungsprozess <strong>de</strong>s<br />
Subjekts in Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit inneren und äußeren<br />
Anregungen und die Befreiung von inneren und äußeren<br />
Zwängen. Hier wurzelt die emanzipatorische Tradition von<br />
Bildung.<br />
Im internationalen Diskurs wird in diesem Zusammenhang das<br />
Zusammenwirken von formellen, nichtformellen und informellen<br />
Bildungsorten und Lernsituationen thematisiert:<br />
❙ Unter formeller Bildung wird das gesamte hierarchisch<br />
strukturierte und zeitlich aufeinan<strong>de</strong>r aufbauen<strong>de</strong> Schul-,<br />
Ausbildungs- und Hochschulsystem gefasst, mit weitgehend<br />
verpflichten<strong>de</strong>m Charakter und unvermeidlichen Leistungszertifikaten.<br />
❙ Unter nichtformeller Bildung ist je<strong>de</strong> Form organisierter<br />
Bildung und Erziehung zu verstehen, die generell freiwilliger<br />
Natur ist und Angebotscharakter hat.<br />
❙ Unter informeller Bildung wer<strong>de</strong>n ungeplante und nichtintendierte<br />
Bildungsprozesse verstan<strong>de</strong>n, die sich im Alltag<br />
von Familie, Nachbarschaft, Arbeit und Freizeit ergeben,<br />
aber auch fehlen können. Sie sind zugleich unverzichtbare<br />
Voraussetzung und „Grundton“, auf <strong>de</strong>m formelle und nichtformelle<br />
Bildungsprozesse aufbauen.<br />
… formelle und nichtformelle<br />
Bildungsprozesse<br />
…
24<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
25<br />
Für ein neues Verhältnis von Bildung und<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe<br />
Erst das Zusammenspiel dieser drei Formen ergibt Bildung<br />
im umfassen<strong>de</strong>n Sinn. Deshalb müssen sie strukturell und<br />
funktional aufeinan<strong>de</strong>r bezogen wer<strong>de</strong>n. Sowohl <strong>Jugend</strong>hilfe<br />
wie Schule (und alle an<strong>de</strong>ren Bildungsbereiche) müssen<br />
ihre Bildungsangebote in <strong>de</strong>r wechselseitigen Durchdringung<br />
dieser Ebenen begreifen und Räume für die prinzipielle<br />
Vielgestaltigkeit von Bildungsgelegenheiten offen halten.<br />
… Vielgestaltigkeit von<br />
Bildungsgelegenheiten …<br />
Dieses Verständnis von Bildung ist zugleich entlastend und<br />
herausfor<strong>de</strong>rnd. Entlastend, weil es nachvollziehbar macht,<br />
dass <strong>de</strong>r Bildungsprozess von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen<br />
nicht nur von vorstrukturierten und geplanten Angeboten<br />
abhängig ist. Herausfor<strong>de</strong>rnd, weil es <strong>de</strong>utlich macht, dass<br />
alle drei Formen gesellschaftlich anerkannt und wertgeschätzt<br />
wer<strong>de</strong>n müssen. Bildungspolitik greift zu kurz,<br />
wenn sie nur in formelle Bildung investiert und die an<strong>de</strong>ren<br />
Bereiche übergeht. Die Verpflichtung gegenüber <strong>de</strong>r<br />
nachwachsen<strong>de</strong>n Generation und die Sorge um die Zukunftsfähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft erfor<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>mnach eine<br />
entsprechen<strong>de</strong> Umsteuerung <strong>de</strong>s Bildungsdiskurses. Dies<br />
verlangt nicht zuletzt auch neue Kooperationsformen zwischen<br />
<strong>de</strong>n bislang gegeneinan<strong>de</strong>r abgeschotteten Bildungsinstitutionen<br />
wie Familie, <strong>Jugend</strong>hilfe und Schule.<br />
Die Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe muss in diesem Zusammenhang ihr Verhältnis<br />
zur Bildung auf zwei Ebenen neu bestimmen.<br />
Nach innen bedarf es <strong>de</strong>r Verständigung über einen Begriff von Bildung,<br />
❙ mit <strong>de</strong>ssen Hilfe die <strong>Jugend</strong>hilfe ihre bisherigen Konzepte<br />
kritisch überprüfen kann,<br />
❙ <strong>de</strong>r sie dazu anleitet, sich in Theorie und Praxis angesichts<br />
neuer Herausfor<strong>de</strong>rungen weiter zu entwickeln, und<br />
❙ <strong>de</strong>r es ihr ermöglicht, Zuständigkeiten und Ressourcen zu<br />
reklamieren.<br />
Nach außen geht es für die <strong>Jugend</strong>politik darum,<br />
❙ Bildung als Querschnittsaufgabe zu ver<strong>de</strong>utlichen,<br />
❙ die Mitwirkungsmöglichkeiten <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>politik am<br />
Bildungsdiskurs einzufor<strong>de</strong>rn, und<br />
❙ die damit verbun<strong>de</strong>nen Kooperationsnotwendigkeiten<br />
anzumahnen.<br />
Hierzu sind <strong>Jugend</strong>hilfe und <strong>Jugend</strong>politik – auch nach <strong>de</strong>m Gesetz – angehalten,<br />
weil sie die Interessen junger Menschen und ihrer Familien zur Wahrung<br />
ihrer Chancen und zur Verhin<strong>de</strong>rung bzw. zum Abbau von Benachteiligungen<br />
zu vertreten haben.
26<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
27<br />
Bildungspotenziale <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe auf<strong>de</strong>cken<br />
Traditionell hat man in <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe „bildungsnahe“ und „bildungsferne“<br />
Arbeitsfel<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n. So galten etwa <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rgarten, die <strong>Jugend</strong>bildungsarbeit<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>r kulturellen <strong>Jugend</strong>bildung als „<strong>de</strong>r“ Beitrag<br />
<strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe zur Bildungslandschaft. Heimerziehung, Beratung o<strong>de</strong>r<br />
Familienhilfe dagegen fühlten sich eher Konzepten von „Hilfe“ o<strong>de</strong>r „Therapie“<br />
verpflichtet.<br />
… Bildungspotentiale reflektieren …<br />
Diese Aufspaltung verfehlt die gegenwärtigen Herausfor<strong>de</strong>rungen. Wenn<br />
gilt, dass Bildung sich an allen Orten und durch vielfältige Erfahrungen<br />
ereignet – insbeson<strong>de</strong>re durch Begegnung mit Menschen und in Gruppen –,<br />
müssen alle Einrichtungen, Aktivitäten und Handlungsfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe<br />
ihre direkten o<strong>de</strong>r indirekten, bewusst geplanten o<strong>de</strong>r impliziten Bildungspotenziale<br />
reflektieren und entwickeln. Auf ein solches umfassen<strong>de</strong>s<br />
Bildungsverständnis zielt bereits die grundlegen<strong>de</strong> Norm <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>r- und<br />
<strong>Jugend</strong>hilferechts (§ 1 SGB VIII/KJHG), nämlich das Recht junger Menschen<br />
auf För<strong>de</strong>rung ihrer Entwicklung und Erziehung zu eigenverantwortlichen<br />
und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten.<br />
Das durch Alltagsnähe, flexible Lernformen und erfahrungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Fel<strong>de</strong>r gegebene Zusammenspiel von formellen,<br />
nichtformellen und informellen Bildungsmöglichkeiten,<br />
wie es z. B. für die <strong>Jugend</strong>arbeit, die kulturelle<br />
<strong>Jugend</strong>bildung, die Hort- und Kin<strong>de</strong>rgartenpädagogik<br />
typisch ist, bietet grundsätzlich die Chance zu einem<br />
hohen Maß an Selbstbestimmung, zu vielfältigen Gelegenheiten<br />
<strong>de</strong>r Aneignung kognitiver und sozialer, ästhetischer<br />
und moralischer Kompetenzen. Es kann autonomes<br />
und gleichzeitig verantwortungsbewusstes Denken und<br />
Han<strong>de</strong>ln unterstützen und Handlungsfähigkeiten för<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>de</strong>ren Eckpfeiler Verantwortung gegenüber <strong>de</strong>n Mitmenschen<br />
und Verantwortung gegenüber sich selbst sind.<br />
Im Bereich <strong>de</strong>r Hilfen zur Erziehung, <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>sozialarbeit<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>straffälligenhilfe wer<strong>de</strong>n junge Menschen<br />
erreicht, <strong>de</strong>ren Lebenskompetenz – aus welchen<br />
Grün<strong>de</strong>n auch immer – beeinträchtigt und <strong>de</strong>ren Zugang<br />
zu Bildungsgelegenheiten erschwert o<strong>de</strong>r verstellt ist.<br />
Die Bildungsleistung <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe besteht in diesen<br />
Arbeitsfel<strong>de</strong>rn darin, dass sie gemeinsam mit Kin<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>Jugend</strong>lichen und ihren Famlien <strong>de</strong>ren Strategien <strong>de</strong>r<br />
Lebensführung und Lebensbewältigung reflektiert und<br />
nach neuen Ansatzpunkten für einen „gelingen<strong>de</strong>n Alltag“<br />
sucht. Dies stellt bereits einen Bildungsprozess eigener<br />
Art dar. Er zielt zu<strong>de</strong>m darauf ab, jungen Menschen<br />
zu ermöglichen, an Bildungsprozessen (wie<strong>de</strong>r) teilzuhaben.<br />
… an Bildungsprozessen<br />
(wie<strong>de</strong>r) teilzuhaben …
28<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
29<br />
Bildungspotenziale <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe nutzen<br />
Ihre Aufgaben kann die <strong>Jugend</strong>hilfe also – entgegen vielfacher<br />
Selbst- (und Fremd-)Wahrnehmung – dann einlösen,<br />
wenn sie diese spezifischen Möglichkeiten erkennt<br />
und entschie<strong>de</strong>n nutzt. Dies soll exemplarisch an Beispielen<br />
ver<strong>de</strong>utlicht wer<strong>de</strong>n.<br />
❙ Die Familie ist ein wichtiger Ort von informeller Bildung. Die Realität<br />
<strong>de</strong>r Spätmo<strong>de</strong>rne mit ihren biographischen Unwägbarkeiten und Entscheidungszwängen<br />
spiegelt sich auch in <strong>de</strong>r Familie wi<strong>de</strong>r. Deshalb<br />
ist es notwendig, dass die heranwachsen<strong>de</strong> Generation Gelegenheiten<br />
und Unterstützung fin<strong>de</strong>t, nach tragfähigen Lebensmustern zu<br />
suchen. Dies kann oft auch Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen und Konflikte in<br />
<strong>de</strong>r Familie hervorrufen. Das Chaos <strong>de</strong>s Familienalltags mit <strong>de</strong>n<br />
aufeinan<strong>de</strong>r prallen<strong>de</strong>n Erwartungen, <strong>de</strong>n notwendigen Kompromissen<br />
und <strong>de</strong>n Frustrationen, aber auch mit Grun<strong>de</strong>rfahrungen von<br />
Intimität, von Solidarität und Verbun<strong>de</strong>nheit bil<strong>de</strong>t und befähigt eher<br />
zur Daseinsbewältigung, als dass sie diese etwa zerstört. Damit die<br />
Familie ihren unverzichtbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Bildung<br />
erbringen kann, bedarf es mehr als Appelle an die elterliche Verantwortung.<br />
In viel höherem Maße als bisher ist Familie durch eine<br />
soziale Versorgungsstruktur zu unterstützen, die sowohl Kin<strong>de</strong>rbetreuung<br />
und Erziehungs-/Bildungsberatung als auch finanzielles<br />
Auskommen sicherstellt. Für Ersteres kann die <strong>Jugend</strong>hilfe eine<br />
maßgebliche Rolle spielen, und zwar von <strong>de</strong>r Familienbildung bis zur<br />
Kin<strong>de</strong>rtagesstätte, von <strong>de</strong>r Beratung in Erziehungsfragen bis zum Hilfeplan,<br />
von <strong>de</strong>r sozialpädagogischen Familienhilfe bis zur Übernahme<br />
von Betreuung im Rahmen <strong>de</strong>s Umgangsrechts. Bei alle<strong>de</strong>m geht es<br />
um die Gewährung eines hinreichen<strong>de</strong>n Rahmens, nicht um die Verfolgung<br />
eines I<strong>de</strong>als von „heiler Familie“.<br />
… eine maßgebliche Rolle spielen …<br />
❙ Zunehmend wer<strong>de</strong>n auch an<strong>de</strong>re Bildungsorte und -zeiten<br />
wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt, an <strong>de</strong>nen sich Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche<br />
bil<strong>de</strong>n, ohne dass diese Prozesse von Erwachsenen vorstrukturiert,<br />
begleitet o<strong>de</strong>r gar benotet wer<strong>de</strong>n. Es sind dies Zeiten<br />
und Orte vor und nach <strong>de</strong>m schulischen Unterricht, aber<br />
auch in <strong>de</strong>n „Zeitporen“ dazwischen und jenseits <strong>de</strong>s<br />
Geschehens im Unterricht. Hier han<strong>de</strong>lt es sich vor allem um<br />
Gruppenprozesse zwischen Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen, <strong>de</strong>n<br />
„peers“, in <strong>de</strong>nen Normen und Strategien <strong>de</strong>s Zusammenlebens<br />
ausprobiert, Konkurrenz und Streit, Solidarität und<br />
Kooperation, Integration und Ausgrenzung erfahren wer<strong>de</strong>n.<br />
Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>forscher haben die „Kids“ als<br />
erstaunlich kompetent in diesen gegenseitig vernetzten Bildungsprozessen<br />
beschrieben, als Koproduzenten gemeinsamer<br />
Weltaneignung. Für diese Bildungsprozesse Räume<br />
und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, ist eine zentrale<br />
Aufgabe für alle Bildungsinstitutionen – auch für die Handlungsfel<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe, von <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>arbeit bis zu <strong>de</strong>n<br />
Hilfen zur Erziehung. Dies setzt voraus, Zeiten und Räume<br />
nicht völlig durch Angebote auszuplanen und durch Programme<br />
zu strukturieren, son<strong>de</strong>rn für die eigenbestimmten<br />
Bildungsprozesse von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen offen zu<br />
halten, die Bildungsmöglichkeiten, die in ihnen stecken,<br />
zugänglich zu machen und somit die in ihnen zu fin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Aneignungsmöglichkeiten zu qualifizieren. Mit <strong>de</strong>n Trägern<br />
und Geldgebern ist ein Verständnis von Qualität auszuhan<strong>de</strong>ln,<br />
das sich nicht im Äußerlichen und vor<strong>de</strong>rgründig<br />
Zählbaren (wie Teilnehmerdoppelstun<strong>de</strong>n, Nutzerfrequenzen<br />
usw.) erschöpft.<br />
… eigenbestimmten Bildungsprozesse …
30<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
31<br />
❙ Kin<strong>de</strong>rkrippe und Kin<strong>de</strong>rgarten gelten noch heute keineswegs<br />
unumstritten als Bildungsinstitutionen, obwohl wir wissen,<br />
dass wesentliche Entwicklungen <strong>de</strong>s Gehirns in <strong>de</strong>n<br />
ersten Lebensjahren abhängig von Bildungsmöglichkeiten<br />
stattfin<strong>de</strong>n. Sie sind Einrichtungen, die ihre Ziele und ihre<br />
Praxis hauptsächlich an unverzichtbaren und später nicht<br />
mehr nachzuholen<strong>de</strong>n kindlichen Bildungsprozessen zu orientieren<br />
haben. Demgegenüber sehen viele in ihnen immer<br />
noch vorrangig sozialpolitische Einrichtungen, Angebote für<br />
berufstätige Eltern, die Eltern entlasten<strong>de</strong> Infrastruktur, eben<br />
Tagesbetreuungseinrichtungen.<br />
Dabei hat <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rgarten Bedingungen, die für kindliche Bildungsprozesse<br />
durchaus för<strong>de</strong>rlich sein könnten. So wer<strong>de</strong>n Bildungsprozesse <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
nicht zum Anlass für Leistungsbewertung o<strong>de</strong>r Selektion genommen. Es gibt<br />
Zeit für Fehler und Wie<strong>de</strong>rholung. Bildungsprozesse und -inhalte wer<strong>de</strong>n<br />
nicht katalogisiert, standardisiert und zensiert. Kin<strong>de</strong>r sind – zumin<strong>de</strong>st bis<br />
zum Alter von sechs Jahren – begeistert Lernen<strong>de</strong>, sie mogeln nicht, sie<br />
sagen sich nichts vor. Sie sind an <strong>de</strong>n Sachen interessiert und nicht an<br />
Noten.<br />
… <strong>de</strong>utsche Kin<strong>de</strong>rgarten das Schlusslicht …<br />
Im Vergleich mit an<strong>de</strong>ren europäischen Län<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Kin<strong>de</strong>rgarten<br />
das Schlusslicht, was die für seinen Bildungsauftrag wesentlichen Ressourcen<br />
angeht. Das betrifft ganz allgemein die Investitionen in diesen<br />
Bereich, die eine vergleichsweise geringe Wertschätzung durch die Gesellschaft<br />
wi<strong>de</strong>rspiegeln. Das betrifft auch die Beziehung von Wissenschaft und<br />
Praxis, die oft von wissenschaftlichen Diskursen abgeschnitten ist und<br />
umgekehrt. Und schließlich ist ein strukturell zu niedriges, wissenschaftsfernes<br />
Ausbildungsniveau für Erzieherinnen und Erzieher sowie eine schlechte<br />
Bezahlung festzustellen, also fehlen<strong>de</strong> Attraktivität und Entwicklungsmöglichkeiten<br />
im Beruf.<br />
Der aktuell nicht zuletzt mit Verweis auf die PISA-Studie wachsen<strong>de</strong> gesellschaftliche<br />
Erwartungsdruck auf die Bildungs-Fähigkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rgartens<br />
wäre eine Chance für Verän<strong>de</strong>rung. Sie wür<strong>de</strong> allerdings verfehlt, wollte<br />
man <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten zu einer Vor-Schule machen, <strong>de</strong>ren Auftrag im<br />
Wesentlichen darin bestün<strong>de</strong>, für eine bessere „Schulfähigkeit“ <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
zu sorgen. Die Chancen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rgartens zur Entfaltung elementarer<br />
Lebenskompetenz, aber auch zur Entwicklung unverzichtbarer Fähigkeiten<br />
im Bereich von Sozial- und Sprachverhalten, zur Entwicklung kognitiver wie<br />
sozial-moralischer Bildung können nur dann zum Zuge kommen, wenn die<br />
genannten beson<strong>de</strong>ren Strukturen und Bedingungen nicht verschult, son<strong>de</strong>rn<br />
gestärkt und ausgebaut wer<strong>de</strong>n. Dies erfor<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>utliche Verbesserungen<br />
in <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r alltäglichen Kin<strong>de</strong>rgartenarbeit und als dringlichste<br />
Voraussetzung dafür wesentlich verbesserte Chancen <strong>de</strong>s Personals in seiner<br />
beruflichen Bildung und Entwicklung.<br />
… ganztägiger Bildungsangebote …<br />
❙ Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse <strong>de</strong>r PISA-Studie<br />
auch Ten<strong>de</strong>nzen beför<strong>de</strong>rn, eine flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Versorgung<br />
mit Ganztagsschulen voranzubringen. Dies wird zu einer verstärkten<br />
Konkurrenz zwischen schulischen und sozialpädagogischen<br />
Angeboten für Schulkin<strong>de</strong>r am Nachmittag führen.<br />
Ohne dass zum jetzigen Zeitpunkt bereits eine Entscheidung<br />
über die Verortung ganztägiger Bildungsangebote getroffen wer<strong>de</strong>n<br />
kann, ist festzuhalten, dass sich <strong>de</strong>r infrage kommen<strong>de</strong><br />
Bereich – unabhängig davon, ob es sich um <strong>Jugend</strong>hilfe o<strong>de</strong>r<br />
Schule han<strong>de</strong>lt – vorrangig an <strong>de</strong>n Bildungspotenzialen und –<br />
interessen von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen orientieren muss.<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe und Schule verfügen traditionellerweise über unterschiedliche<br />
Möglichkeiten. In Bezug auf die neuen Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
müssen die jeweils spezifischen Begrenzungen kritisch<br />
beleuchtet und gegebenenfalls überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.
32<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
33<br />
❙ Das Spezifische <strong>de</strong>r verbandlichen <strong>Jugend</strong>arbeit ergibt sich<br />
einerseits aus ihrer beson<strong>de</strong>ren sozialen Form, <strong>de</strong>r sozialen<br />
„Gruppe“. Gruppe meint einen überschaubaren Raum mit<br />
einer gewissen Kontinuität und einem bestimmten Profil<br />
und inhaltlichen Angeboten (Veranstaltungen, Aktivitäten,<br />
Festen, Projekten). Praxiserfahrungen und Studien machen<br />
aber auch <strong>de</strong>utlich, dass aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>lichen die<br />
Gruppe ein Bildungsort mit vielfältigen Be<strong>de</strong>utungen ist: Sie<br />
muss offen gehalten wer<strong>de</strong>n für unterschiedliche Funktionen<br />
wie etwa Gleichaltrigengeselligkeit, Treffpunkt- und Rückzugsmöglichkeiten<br />
usw. <strong>Jugend</strong>liche müssen die Gruppe als<br />
einen möglichst offenen Sozialraum nutzen können, <strong>de</strong>r<br />
nicht völlig verplant und pädagogisch organisiert sein, son<strong>de</strong>rn<br />
informellen, selbst organisierten Aktivitäten Raum<br />
bieten muss.<br />
… Interessenvertretung und Netzwerk …<br />
<strong>Jugend</strong>verbandsgruppen sind an<strong>de</strong>rerseits vernetzt mit<br />
<strong>de</strong>m überregionalen Zusammenhang <strong>de</strong>s „Verbands“, als<br />
Interessenvertretung und Netzwerk. Vernetzt sind im Verband<br />
zunächst die verschie<strong>de</strong>nen Verbandsgruppen,<br />
jedoch nicht nur diese, son<strong>de</strong>rn auch Informationen,<br />
arbeitsteilige Schwerpunkte, Ressourcen, Zugangsmöglichkeiten<br />
usw. So wird die Organisation <strong>de</strong>s Verbands zu<br />
einem bildsamen „Anregungszusammenhang“. Die verbandliche<br />
<strong>Jugend</strong>arbeit muss ermutigt wer<strong>de</strong>n, noch stärker<br />
als bisher Räume für informelle Bildungsprozesse zu<br />
öffnen. Die überregionalen Begegnungs- und Kooperationsmöglichkeiten<br />
<strong>de</strong>s (Gesamt-)Verbands wer<strong>de</strong>n für<br />
<strong>Jugend</strong>liche bisher zu wenig genutzt.<br />
… Bildungsansatzes für die Praxis …<br />
❙ Im Bereich <strong>de</strong>r Hilfen zur Erziehung müssen die Bildungshaltigkeit<br />
<strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Angebote und Leistungen vielfach<br />
erst noch „ent<strong>de</strong>ckt“ und die Chancen eines umfassen<strong>de</strong>n<br />
Bildungsansatzes für die Praxis erst entfaltet und reflektiert<br />
wer<strong>de</strong>n. Hilfreich hierfür könnte ein verpflichten<strong>de</strong>s Konzept<br />
von Bildungsberatung und Biographieentwicklung für alle Hilfen<br />
zur Erziehung sein, das die gesetzlichen Vorschriften zu<br />
einem individuellen Hilfeplan (§ 36 SGB VIII/KJHG) ergänzt.<br />
Ferner müssen die Eltern aktiv in die Lebensentwicklung ihrer<br />
Kin<strong>de</strong>r einbezogen und offensiv Handlungsalternativen in <strong>de</strong>r<br />
alltäglichen Lebenslage, d. h. in Schule, Ausbildungsstätten<br />
und gegenüber Behör<strong>de</strong>n gesucht wer<strong>de</strong>n.<br />
❙ Eine beson<strong>de</strong>re Aufgabe im Rahmen <strong>de</strong>s Bildungsauftrags<br />
kommt <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung benachteiligter <strong>Jugend</strong>licher in <strong>de</strong>r<br />
Phase <strong>de</strong>s Übergangs von <strong>de</strong>r Schule in <strong>de</strong>n Beruf zu. Hier leistet<br />
die <strong>Jugend</strong>berufshilfe einen zentralen Beitrag. Es reicht<br />
jedoch nicht aus, die Hilfen auf die Zeit nach <strong>de</strong>r Schule zu<br />
konzentrieren. Vielmehr sind präventive schulbezogene Ansätze<br />
zur Überwindung von Schulmüdigkeit be<strong>de</strong>utsam. Im Sinne <strong>de</strong>s<br />
Bildungsverständnisses, das sowohl die Vermittlung sozialer<br />
Kompetenzen als auch beruflicher Qualifikationen berücksichtigt,<br />
können Angebote <strong>de</strong>r Schulsozialarbeit und <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>sozialarbeit<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage eines Zusammenwirkens<br />
von <strong>Jugend</strong>hilfe und Schule die Zerstückelung von Lernprozessen<br />
aufhalten und ganzheitliche Bildungsprozesse organisieren.
34<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
35<br />
In allen Handlungsfel<strong>de</strong>rn steht die <strong>Jugend</strong>hilfe vor <strong>de</strong>n<br />
Herausfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Europäisierung und Internationalisierung<br />
unserer Gesellschaft. Ein für europäische und<br />
internationale Entwicklungen sensibles, mit Zuwan<strong>de</strong>rung<br />
und ethnisch-kultureller Heterogenität konfrontiertes<br />
Bildungssystem muss interkulturelle Bildung (von jungen<br />
Menschen, Fachkräften, Institutionen) ermöglichen,<br />
um kulturübergreifen<strong>de</strong> Kompetenzen auszubil<strong>de</strong>n und<br />
um <strong>de</strong>n Bestand einer offenen Gesellschaft zu gewährleisten.<br />
Interkulturalität muss an <strong>de</strong>n Lebenslagen von<br />
<strong>de</strong>utschen wie nicht<strong>de</strong>utschen jungen Menschen ansetzen<br />
und setzt voraus, dass sie verlässliche Möglichkeiten<br />
<strong>de</strong>s Erwachsenwer<strong>de</strong>ns vorfin<strong>de</strong>n. Sie verlangt aber auch<br />
erweiterte und offene Erfahrungs- und Konfrontationsmöglichkeiten,<br />
die Neugier und Akzeptanz wecken, Kommunikationskompetenzen<br />
und Frustrationstoleranz stärken<br />
sowie Konfliktfähigkeit und Perspektivenübernahme<br />
üben.<br />
… Neugier und Akzeptanz wecken …<br />
Weiterhin be<strong>de</strong>utet das hier zugrun<strong>de</strong> gelegte Bildungsverständnis,<br />
dass außergewöhnliche Anstrengungen <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- und <strong>Jugend</strong>hilfe Tätigen erfor<strong>de</strong>rlich sind.<br />
Dabei geht es darum zu überprüfen, ob und inwieweit<br />
die Angebote <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe in ihren jeweiligen Handlungsfel<strong>de</strong>rn<br />
von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen sowie ihren<br />
Familien als Ressource <strong>de</strong>r Lebensführung genutzt wer<strong>de</strong>n<br />
können und ob die erfor<strong>de</strong>rlichen institutionellen<br />
Strukturen und professionellen Kompetenzen bereits verwirklicht<br />
sind o<strong>de</strong>r wo diese Bedingungen einer Verän<strong>de</strong>-<br />
… aufgeschlossener, kreativer<br />
und streitbarer Personen …<br />
rung bedürfen. So braucht die Durchsetzung eines angemessenen Bildungsverständnisses<br />
in allen Arbeitsfel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe nicht zuletzt sozialpolitisch<br />
engagierte, theoretisch interessierte sowie innovative Fach- und<br />
Führungskräfte. Es bedarf aufgeschlossener, kreativer und streitbarer Personen,<br />
<strong>de</strong>nen es ein mentales Vergnügen bereitet, überkommene Routinen<br />
<strong>de</strong>s Berufsalltages infrage zu stellen, Menschen also, die mit Lei<strong>de</strong>nschaft<br />
Neues wagen.<br />
Wenn <strong>Jugend</strong>hilfe sich konsequent weiterentwickelt, in<strong>de</strong>m sie ihre bisherige<br />
Praxis als Bildungspraxis selbstkritisch reflektiert, wird sie junge Menschen<br />
in ihrer Handlungskompetenz stärken, sie in ihrer Suche nach Lebensorientierung<br />
unterstützen und entschei<strong>de</strong>nd dazu beitragen, dass Kin<strong>de</strong>r,<br />
<strong>Jugend</strong>liche und Familien Fähigkeiten ausbil<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Alltag auch in kritischen<br />
Lebenssituationen und belasteten Lebenslagen zu bewältigen.
36<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
37<br />
Kooperation suchen<br />
Bildung ist als Querschnittsaufgabe zu verstehen, die nur<br />
durch intensive und reflektierte Kooperation <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />
Bildungsorte bzw. <strong>de</strong>r formellen, nichtformellen<br />
und informellen Bildungsgelegenheiten zu bewältigen ist.<br />
Orte für eine so zu beschreiben<strong>de</strong> Kooperation könnten<br />
auf <strong>de</strong>r Ebene von Kommunen, Län<strong>de</strong>rn und Bund soziale<br />
Bildungsforen sein. Darin müssten sich <strong>Jugend</strong>hilfe wie<br />
Schulen, Hochschulen wie Familien- und Elternorganisationen,<br />
Schülervertretungen wie Berufsschulen, Volkshochschulen<br />
wie Arbeitsämter, Gesundheitsinstitutionen<br />
wie Tarifpartner begegnen.<br />
Das Wesen einer solchen Kooperation besteht darin, dass<br />
sich die verschie<strong>de</strong>nen Akteure darüber verständigen,<br />
welche gemeinsamen Ziele bestehen, durch welche Teilziele<br />
das Leitziel erreicht wer<strong>de</strong>n kann, welcher Träger<br />
o<strong>de</strong>r Bereich sie anbietet und wie die einzelnen Arbeitsergebnisse<br />
für alle transparent, nachvollziehbar und<br />
bewertbar gemacht wer<strong>de</strong>n. In einem solchen Verbund<br />
verliert je<strong>de</strong>r Akteur die alleinige Definitionsmacht. Ein<br />
solcher „Run<strong>de</strong>r Tisch <strong>de</strong>r Bildung“ erbrächte die Möglichkeit,<br />
Gleichgewichte und komplementären Ausgleich<br />
zwischen Interessenträgern, Anfor<strong>de</strong>rungsbereichen und<br />
Anbietern zu erarbeiten und zu reflektieren. Er gäbe<br />
Anstoß, die jeweils entwickelten spezifischen Fachstandards<br />
zu ergänzen, zu überarbeiten o<strong>de</strong>r auszumustern,<br />
… gemeinsamen Ziele …<br />
wenn sie im Gesamtkontext nicht kommunikationsfähig<br />
und vermittelbar sind. Aus selektiver Zuständigkeit und<br />
segmentierter Problemerfassung <strong>de</strong>r Institutionen könnte<br />
so eine dringend benötigte Querschnittskompetenz<br />
wachsen, die aufseiten <strong>de</strong>r „Bildungsnachfrager“ aus Leistungsbeziehern<br />
Teilhaber wer<strong>de</strong>n lässt, aus För<strong>de</strong>rbeschei<strong>de</strong>n<br />
Vereinbarungen macht, aus Maßnahmepaketen<br />
maßgeschnei<strong>de</strong>rte Empowermentstrategien, aus Parallelfinanzierungen<br />
Zielbudgets und aus erzieherischen Hilfen<br />
Partizipationsstrategien.<br />
… vom Lernort zum Lebensort …<br />
Dies be<strong>de</strong>utet für die <strong>Jugend</strong>hilfe u. a., die von ihr gewährleisteten<br />
und begleiteten Bildungsprozesse zu konzipieren,<br />
durchzuführen und verständlich darzustellen,<br />
sich von <strong>de</strong>r eigenen institutionellen Versäulung von Bildungsprozessen<br />
zu verabschie<strong>de</strong>n und sich zugleich auf<br />
die Fachstandards an<strong>de</strong>rer Bildungsträger einzulassen.<br />
In diesem Zusammenhang muss sich <strong>Jugend</strong>hilfe auch<br />
gegenüber Schule neu positionieren. Auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />
kann die <strong>Jugend</strong>hilfe nur begrüßen, wenn sich die Schule<br />
als zentrale Bildungsinstitution vom Lernort zum Lebensort<br />
von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>lichen weiterentwickelt. Auf<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite ersetzt dies nicht ihre Aufgabe, Kin<strong>de</strong>r
38<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
39<br />
Anwaltschaftlich han<strong>de</strong>ln<br />
und <strong>Jugend</strong>liche bei <strong>de</strong>r Bewältigung etwaiger Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>r<br />
Schule kompensatorisch zu unterstützen. Insoweit ist darauf zu verweisen,<br />
dass die – je nach Berechnung – 10 bis 20 % „Versager“ <strong>de</strong>s Bildungssystems<br />
allesamt aktuelle o<strong>de</strong>r potenzielle „Klient/inn/en“ <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe sind.<br />
Noch kann – auch bei <strong>de</strong>r Einführung einer flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Ganztagsschule<br />
– auf die allgemeinen komplementären Bildungsleistungen <strong>de</strong>r<br />
<strong>Jugend</strong>hilfe verzichtet wer<strong>de</strong>n.<br />
… Stärkung von Fähigkeiten …<br />
Das Gleiche gilt für eine berufliche Bildung, die nicht mehr in <strong>de</strong>r Vermittlung<br />
von „Qualifikation“, son<strong>de</strong>rn von „Kompetenz“ ihre Kernaufgabe sieht,<br />
also in <strong>de</strong>r Stärkung von Fähigkeiten und Fertigkeiten <strong>de</strong>s Subjekts. Sie rückt<br />
damit zwar näher an die <strong>Jugend</strong>hilfe und ihr Bildungsverständnis heran,<br />
kann dadurch aber nicht <strong>de</strong>n „unverwechselbaren“ Beitrag <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe<br />
in <strong>de</strong>r Bildungslandschaft ersetzen.<br />
Eine neues Angebot <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe könnte die quartiersbezogene Beratungsarbeit<br />
als gesellschaftliche Bildung sein, die auf bestehen<strong>de</strong> Netzwerke<br />
in Familie, Quartier, Gemeinwesen, Schule und soziale Infrastruktur zurückgreift.<br />
Dabei geht es etwa um I<strong>de</strong>ntifikation von Berührungspunkten und<br />
gegenseitiges Aufeinan<strong>de</strong>r-Angewiesensein aller Bereiche von Bildung sowie<br />
um Nutzung und Entwicklung von Synergien im Gemeinwesen.<br />
Anwalt zu sein heißt, sich für die Verbesserung <strong>de</strong>r Rahmenbedingungen<br />
für das Aufwachsen junger Menschen<br />
insgesamt stark zu machen, also auch in scheinbar jugendhilfefernen<br />
Politikfel<strong>de</strong>rn. Bildung als allgemeine und<br />
notwendige Ressource von Lebens- und Zukunftsbewältigung<br />
wirft die Frage auf, ob sie für alle Gesellschaftsmitglie<strong>de</strong>r,<br />
insbeson<strong>de</strong>re für Kin<strong>de</strong>r und <strong>Jugend</strong>liche zugänglich,<br />
erreichbar und lebensweltbezogen organisiert ist.<br />
Deshalb müssen die Mauern zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Bildungsprovinzen<br />
fallen und die zuvor beschriebene Kooperation<br />
von Bildungsträgern sichergestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
… positive Lebensbedingungen erhalten …<br />
Sich in die dafür erfor<strong>de</strong>rlichen Prozesse einzuschalten,<br />
hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>hilfe aufgetragen. Sie soll<br />
nämlich sowohl dazu beitragen, positive Lebensbedingungen<br />
für junge Menschen und ihre Familien sowie eine<br />
kin<strong>de</strong>r- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten o<strong>de</strong>r<br />
zu schaffen (Anwaltsfunktion gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB<br />
VIII/KJHG), als auch mit an<strong>de</strong>ren öffentlichen Einrichtungen,<br />
<strong>de</strong>ren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger<br />
Menschen und ihrer Familien auswirkt, zusammenarbeiten<br />
(Kooperationsverpflichtung gemäß § 81 SGB VIII/KJHG).<br />
Entsprechend müssen auch in an<strong>de</strong>ren Bereichen rechtliche<br />
Verpflichtungen geschaffen wer<strong>de</strong>n, wie in <strong>de</strong>n Schulverwaltungsgesetzen<br />
für die Schule bzw. in <strong>de</strong>n einschlägigen<br />
gesetzlichen Vorschriften <strong>de</strong>s öffentlichen<br />
Gesundheitsdienstes für <strong>de</strong>n Gesundheitssektor.
40<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit<br />
41<br />
Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Bun<strong>de</strong>sjugendkuratoriums<br />
Wahrnehmung <strong>de</strong>r Interessen von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>Jugend</strong>-<br />
VORSITZENDE<br />
lichen heißt für die <strong>Jugend</strong>hilfe aber auch, dass sie zum<br />
politischen Han<strong>de</strong>ln fähig sein muss. Hier bedarf es einer<br />
INGRID MIELENZ<br />
Intensivierung <strong>de</strong>r <strong>Jugend</strong>politik auf allen parlamentarischen<br />
Ebenen in Bund, Län<strong>de</strong>rn und Gemein<strong>de</strong>n.<br />
STELLVERTRETENDE VORSITZENDE<br />
HERIBERT MÖRSBERGER<br />
Bonn/Berlin, 8. Dezember 2001<br />
PROF. DR. RICHARD MÜNCHMEIER<br />
DR. HANS-HENNING BECKER-BIRCK<br />
PROF. DR. URSULA BOOS-NÜNNING<br />
FRIEDER BÖTTGER<br />
HARTMUT BROCKE<br />
PROF. DR. MAX FUCHS<br />
GABY HAGMANS<br />
PROF. DR. HANS-UWE OTTO<br />
PROF. DR. URSULA RABE-KLEBERG<br />
KLAUS SCHÄFER<br />
DR. DORIS SCHEELE<br />
MICHAEL VOLLERT<br />
GRETEL WILDT<br />
PROF. DR. INGO RICHTER<br />
(STÄNDIGER GAST)<br />
GESCHÄFTSSTELLE<br />
KENNEDYALLEE 105–107<br />
53175 BONN<br />
TEL.: 02 28/3 77 18 41<br />
FAX: 02 28/3 77 18 42<br />
E-MAIL: INFO.BJK@T-ONLINE.DE<br />
LEITUNG:<br />
SVEN BORSCHE, SEKRETÄR
42<br />
Streitschrift Zukunftsfähigkeit Notizen