Das Theater als idealistische Anstalt - Kulturradio
Das Theater als idealistische Anstalt - Kulturradio
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Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Giuseppe Verdi<br />
Eine Sendereihe von Christine Lemke-Matwey<br />
15. Folge:<br />
<strong>Das</strong> <strong>Theater</strong> <strong>als</strong> <strong>idealistische</strong> <strong>Anstalt</strong><br />
Mit Schiller zur großen Form: „Don Carlo(s)“<br />
Einen schönen guten Tag, herzlich willkommen zur 15. Folge. Was soll man<br />
eigentlich von einem Werk halten, dessen Protagonist zwar eine historische Figur<br />
ist, das es selbst mit der historischen Wahrheit aber alles andere <strong>als</strong> genau nimmt?<br />
Was bedeutet es, wenn Verdi noch Stunden vor der Uraufführung dieses Werkes<br />
wie ein Besessener in der Partitur herumkürzt und -streicht? Und kann es wirklich<br />
sein, dass dasselbe Werk am Ende sieben Fassungen besitzt, und keine dieser<br />
sieben ist erfolgreich, jedenfalls zu Lebzeiten des Komponisten nicht? Von Verdis<br />
„Don Carlos“ ist hier die Rede, und auf die gestellten Fragen gibt es natürlich nur<br />
eine einzige Antwort: Es muss sich hier um ein absolut grenzgängerisches,<br />
utopisches Meisterwerk handeln.<br />
Musik 1<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4969<br />
Track 207<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: Preludio 3. Akt<br />
Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden<br />
Ltg.: Sir Georg Solti<br />
3'02<br />
Musikalisch ist das der reichlich verhaltene Stand der Dinge 1882/83 – und damit<br />
stehen wir in Sachen „Don Carlos“ auch schon mitten drin in der Verdi-Werkstatt.<br />
- Absage („Don Carlo“!)<br />
Diese italienische Fassung der Oper schreibt Verdi spät, fast 20 Jahre nach der<br />
Uraufführung seiner Schiller-Oper in Paris 1867. Er schreibt sie für die Mailänder<br />
Scala, und die Änderungen sind gravierend, um nicht zu sagen: existenziell. Im<br />
Grunde hat man es hier mit zwei völlig verschiedenen Partituren zu tun. War Verdi<br />
so unzufrieden mit seiner ersten, der Pariser Fassung? Trug er so schwer daran,<br />
dass ausgerechnet einem seiner ehrgeizigsten Projekte, dem „Don Carlos“, kein<br />
durchschlagender Erfolg beschieden war? Oder stellte das Ganze für die<br />
Opernhäuser und <strong>Theater</strong> einfach eine Überforderung dar, aus handfesten,<br />
technisch-handwerklichen Gründen? Sagen wir so: Letztlich ist es wohl eine<br />
Mischung aus allem (was die Sache nicht besser und auch leichter macht). Die<br />
Änderungen von der französischen zur italienischen Fassung: der erste Akt, der so<br />
genannte Fontainebleau-Akt (weil er in Fontainebleau nahe Paris spielt), wird<br />
komplett gestrichen, die ersten drei Bilder des dritten Aktes verschmelzen zu einem<br />
einzigen (im nunmehr zweiten Akt, wir haben ja einen weniger), im neuen dritten<br />
Akt wird einschneidend gekürzt, und der namenlose Mönch, der am Anfang und am<br />
Ende durch die Oper geistert, wird unzweifelhaft <strong>als</strong> Karl V. identifiziert – <strong>als</strong> jener<br />
verstorbene Kaiser des Heiligen Römischen Reichs <strong>als</strong>o, an dessen Grabmal das
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15.04 – 17.00 Uhr<br />
Geschehen endet. Die Grundmotivation für all diese Änderungen ist, wie schon<br />
vermutet, die schiere Länge des Ganzen: fast fünfeinhalb Stunden Spieldauer waren<br />
selbst für Pariser Verhältnisse nicht praktikabel. Verdi musste <strong>als</strong>o die Messer<br />
wetzen. Zum Beispiel im dritten Akt, der ursprünglich nicht mit dem Vorspiel<br />
begann, das wir eben gehört haben, sondern mit einem Maskenfest. Auf diesem<br />
Fest bittet Elisabeth von Valois ihre Rivalin, die Prinzessin Eboli (von der sie<br />
allerdings nicht ahnt, dass diese ihre Rivalin ist), in ihr Kostüm zu schlüpfen und<br />
weiter für sie die Rolle der Königin auf dem Fest zu spielen. Eine fatale Idee, wie<br />
sich bald herausstellen wird.<br />
Musik 2<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4977<br />
Track 405<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlos“: „Que de fleurs … Pour une nuit me voilà<br />
reine“ 3. Akt<br />
Lucia Valentini Terrani, Mezzosopran<br />
Coro e Orchestra del Teatro alle Scala<br />
Ltg.: Claudio Abbado<br />
4'46<br />
- Absage<br />
Damit <strong>als</strong>o beginnt der dritte Akt in der ersten Fassung von 1867, und da wir in<br />
Paris sind, darf auch das Ballett nicht fehlen. <strong>Das</strong> Ballett im dritten Akt: damit der<br />
aushäusige Opernbesucher, derjenige <strong>als</strong>o, der den Abend bislang beim Souper<br />
verbracht hat, ausreichend Gelegenheit bekommt, satt, zufrieden und möglichst<br />
heimlich in seine Loge zu schleichen. Eine Viertelstunde gibt Verdi ihm dafür, nicht<br />
schlecht. Und die Handlung des Balletts sorgt dafür, dass man sich wenigstens ein<br />
bisschen mit dem Bühnengeschehen vertraut machen kann, besser spät <strong>als</strong> nie. Die<br />
Dekoration ist exotisch und zeigt – das war dam<strong>als</strong> Mode – eine Grotte im Indischen<br />
Ozean. Ein armer Fischer wirbt um die weiße Perle, die schönste von allen, und wird<br />
von ihr erhört. Doch oje, prompt naht die Königin der Meere, die Hüterin aller<br />
Schätze, und nimmt den Fischer gefangen. Kaum ist das geschehen, zündet die<br />
nächste Hierarchiestufe, und zwar in Gestalt eines Pagen, der für seinen Herrn, den<br />
König, die schönste aller Perlen beschaffen soll. Der Page trägt die Farben und das<br />
Wappen König Philipps II. von Spanien. Und die Königin soll natürlich Elisabeth sein,<br />
seine Frau, ist hier aber, wie wir wissen, die verkleidete Eboli. Nun, im Ballett<br />
werden kurzerhand alle Perlen zu einer einzigen verschmolzen, „la Peregrina“, die<br />
dazugehörige Muschel, verwandelt sich in einen Prunkwagen, und in dem rollt nun<br />
tatsächlich Eboli auf die Bühne, die f<strong>als</strong>che Königin, begleitet von der spanischen<br />
Nationalhymne und mächtig viel anderem Pomp und Trara.<br />
- Ansage (Ausschnitt)<br />
Musik 3<br />
Decca<br />
LC: 00171478<br />
4977<br />
Track 406<br />
Giuseppe Verdi„Don Carlos“: Le Ballett de la Reine<br />
(„La peregrina“) 3. Akt<br />
Orchestra del Teatro alle Scala<br />
Ltg.: Claudio Abbado<br />
8’56<br />
- Absage<br />
Man muss sich das noch einmal richtig bewusst machen: Diese Musik kommt im
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Kostüm der totalen Konvention daher, gehorcht der Konvention, in diesem Fall der<br />
französischen – und tut gleichzeitig doch das absolute Gegenteil und unterläuft die<br />
Konvention, höhlt sie aus, führt sie ad absurdum. So gesehen ist die Perle, von der<br />
das Ballett handelt, auch eine Metapher: Für das Versteckte, das Verborgene, für<br />
die Wahrheit, die es in der Oper immer erst zu entdecken und zu enthüllen gilt, und<br />
für den dramaturgischen Knoten, den Verdi hier schürzt. Spätestens mit der <strong>als</strong><br />
Königin verkleideten Prinzessin Eboli nämlich nimmt das Unglück seinen Lauf. Ein<br />
nächtliches Stelldichein im Garten – und alles ist aus. Carlos, krank vor Sehnsucht<br />
nach Elisabeth, tappt in die Falle (die gar keine Falle war) und legt der F<strong>als</strong>chen sein<br />
Herz zu Füßen. Eboli wiederum sinnt sofort auf Rache: für die erlittene Demütigung<br />
und für den Tabubruch, dass Don Carlos, der Infant, ganz offensichtlich seine<br />
Stiefmutter – denn das ist Elisabeth ja - liebt. Ebolis Rachefeldzug wird niemand<br />
stoppen können, auch Rodrigo nicht, der Marquis von Posa, Carlos' enger<br />
Vertrauter und Freund.<br />
- Ansage (Um Mitternacht, im Garten der Königin)<br />
Musik 4<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4969<br />
Track 208 + 209<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: „A mezzanotte, al giardin della Regina“<br />
3. Akt<br />
Carlo Bergonzi, Tenor<br />
Grace Bumbry, Mezzosopran<br />
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton<br />
Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden<br />
Ltg.: Sir Georg Solti<br />
12'03<br />
- Absage<br />
Verdi ist ein Meister darin, diesem Unglück nicht nur eine emotionale, gleichsam<br />
private Dimension zu verleihen, sondern auch eine gesellschaftliche und politische.<br />
Was ist der Konflikt, worum geht es in „Don Carlos“? Es geht um Liebe und um<br />
Macht, um Frieden oder Krieg, Pflichterfüllung oder Gefühl. Und es geht darum, wie<br />
Krieg und Zerstörung von den Schlachtfeldern dieser Welt bis in unsere geheimsten<br />
Herzenswinkel vordringen. Im Krieg liegen das Haus Habsburg und Frankreich<br />
miteinander (das Geschehen spielt um 1560 herum, gemeint ist hier <strong>als</strong>o der<br />
Sechzigjährige Krieg zwischen den beiden Großmächten), und <strong>als</strong> es schließlich zum<br />
Frieden kommt, ist eine Bedingung, dass der Friede durch eine Hochzeit besiegelt<br />
werden soll. Und zwar nicht durch die Hochzeit zwischen der französischen<br />
Königstochter Elisabeth und dem spanischen Infanten Carlos, wie ursprünglich<br />
geplant, sondern zwischen Elisabeth und dem spanischen König Philipp, Carlos'<br />
Vater. Unterfüttert wird diese hoch brisante – und im Übrigen historische –<br />
Dreieckskonstellation durch die Intrigantin Eboli einerseits und Carlos'<br />
Herzensfreund, den Marquis von Posa, andererseits. Und außerdem gibt es da noch<br />
den Großinquisitor und jede Menge Volks- und Massenszenen, und ein großes<br />
berühmtes Autodafé gibt es auch. Die ganze Sache wäre nun nicht weiter schlimm,<br />
wenn sich Carlos und Elisabeth nicht lieben würden, das tun sie aber, und sie haben<br />
in der Oper und bei Giuseppe Verdi nichts Eiligeres und nichts Besseres zu tun, <strong>als</strong><br />
sich diese Liebe auch zu gestehen.<br />
- Ansage
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Musik 5<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4977<br />
Track 105<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlos“: „Que faites-vous donc?“ 1. Akt<br />
Katia Ricciarelli, Sopran<br />
Placido Domingo, Tenor<br />
Orchestra del Teatro alle Scala<br />
Ltg.: Claudio Abbado<br />
8'15<br />
Absage<br />
Und kaum ist es heraus, kaum lodert die Leidenschaft zwischen der französischen<br />
Königstochter und dem spanischen Thronfolger, pocht das Schicksal an die Tür –<br />
ach was, es stürmt förmlich herein. Der Friede ist geschlossen, jetzt geht es darum,<br />
ihn auch zu erfüllen. Wir haben eben gehört, wie Verdi das macht: Nicht indem er<br />
eine Inflagranti-Situation inszeniert, von wegen die beiden Jungen würden auf<br />
frischer Tat ertappt, sondern indem er zwischen ihre Liebesschwüre und die harte<br />
politische Realität ein Cantabile schaltet, ein musikalisches Innehalten, das im<br />
weiteren Verlauf der Oper zum Emblem dieser Liebe wird: „De quels transports<br />
poignants et doux mon âme est pleine!“, singt Elisabeth (Welch schmerzlich-süße<br />
Gefühle erfüllen meine Seele). Zum Zeitstrahl dieser Idylle aber gesellt sich<br />
unaufhaltbar der Zeitstrahl des Weltgeschehens, und allein die räumlichen<br />
Wirkungen, die Verdi hier evoziert, können dem Zuhörer Schauer über den Rücken<br />
jagen. Die Kanonenschüsse in der Ferne und wie Hofgesellschaft und Volk sich<br />
Schritt für Schritt nähern, die Nachricht, dass Elisabeth König Philipp heiraten solle,<br />
das Stocken des Blutes in den Adern der beiden Liebenden, das Flehen des Volkes,<br />
Elisabeths tonloses, ersterbendes „Ja“ auf die Frage, ob sie einwillige, Jubel, Dank<br />
und Lärm und ein in Seelenqualen sich windender Carlos, der allein zurückbleibt.<br />
Die schreckliche Stunde hat geschlagen ...<br />
Musik 6<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4977<br />
Track 106 + 107<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlos“: „À celui qui vous vient Madame …<br />
L'heure fatale a sonné“ 1. Akt<br />
Katia Ricciarelli, Sopran<br />
Placido Domingo, Tenor<br />
Ann Murray, Mezzosopran<br />
Orchestra e Coro del Teatro alla Scala<br />
Ltg.: Claudio Abbado<br />
8'37<br />
Haben Sie einmal versucht, hier etwas nachzusingen? Nein? <strong>Das</strong> würde ich Ihnen<br />
auch nicht raten, denn es geht eigentlich kaum.<br />
- Absage<br />
Und Sie merken es sicher auch an der Länge der einzelnen Ensembles, meine<br />
Damen und Herren, oder daran, dass die Nummern hier sozusagen ineinander<br />
übergehen: In „Don Carlos“ ist einiges anders <strong>als</strong> in anderen Verdi-Opern, <strong>als</strong> im<br />
„Maskenball“, in der „Traviata“ oder gar im „Rigoletto“. Und genau das haben die<br />
Zeitgenossen dem Komponisten übel genommen. Um es umgangssprachlich
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
auszudrücken: Wo Verdi draufstand, sollte gefälligst auch Verdi drin sein. Schlagerverdächtige<br />
Arien mit dem guten alten Hm-Ta-Ta dazu, der Leierkastenbegleitung,<br />
packende Situationen und knackige Konflikte, Opern, die nicht länger dauern <strong>als</strong><br />
zwei Stunden und trotzdem eine Welt aufschließen, das war's, was man von Verdi<br />
erwartete. Und keine langfädige musikalische Prosa, keine Ideendramen, keine<br />
vertonten Alexandriner, kein Massengetümmel, überhaupt keine Musik à la<br />
Francaise, keinen nachgeahmten Wagner oder Meyerbeer. Stimmen all diese<br />
Vorurteile denn? Oder sind sie nur der Konvention geschuldet? Sagen wir so:<br />
Verdis „Don Carlos“ ist von Anfang an ein work in progress, und seine<br />
jahrzehntelange Arbeit an dieser Partitur ist auch ein Indiz für die Offenheit der<br />
Form, dafür, dass es hier darum geht, sich offensiv aus der Tradition, aus den<br />
Mustern der Vergangenheit zu lösen. Wie sagt Karl-Dietrich Gräwe so schön? „Alles,<br />
was hier gewogen und erwogen wird, lässt sich nicht im kleinen, eleganten Maß<br />
eines Liedchens wie La donna e mobile fassen.“<br />
Musik 7<br />
Label EMI<br />
LC: 06646<br />
5 850 93 2<br />
Track 2<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Rigoletto“: „La donna e mobile“<br />
Benjamino Gigli<br />
Orchester des Teatro alla Scala di Milano<br />
Ltg. Franco Ghione<br />
2’14<br />
- Absage<br />
15 Jahre, wenn man die französische Fassung nimmt, 35 Jahre, wenn man die<br />
italienische Fassung nimmt, liegen zwischen „Rigoletto“ und „Don Carlos“ - und,<br />
man kann es nicht anders sagen, Welten. <strong>Das</strong> Schuften in der „Galeere“ des<br />
Opernbetriebs, die Abkehr vom Belcanto eines Rossini oder Bellini, die<br />
Weiterentwicklung des melodrammatischen Stils, die Ausflüge in die französische<br />
Grand Opéra: All das hat Verdi einerseits enorm viel Kraft und Substanz gekostet<br />
und macht ihn andererseits, mehr <strong>als</strong> Giacomo Meyerbeer noch, ähnlich wie<br />
Wagner, zum Zukunftsmusiker. Sein Ziel ist es, Schillers <strong>idealistische</strong>m Drama eine<br />
gleichsam <strong>idealistische</strong> Musik zu geben. Eine Musik, die die Freiheit des Menschen<br />
nicht zuletzt <strong>als</strong> eine Freiheit von der Form reflektiert, von all den Regeln, Gesetzen,<br />
Konfektionen und Affekten, die knapp 300 Jahre Oper so bereitstellen. Was nicht<br />
heißt, dass die Musik der Zukunft formlos wäre, im Gegenteil. Sie will nur frei sein,<br />
nicht mehr in Haftung genommen werden. <strong>Das</strong> wiederum bedeutet nicht, dass es in<br />
Verdis „Don Carlos“ keine Melodien gäbe oder nichts Eingängiges. <strong>Das</strong> populärste<br />
Stück der Oper ist ein Duett, ein Duett zwischen zwei Männern, Bariton und Tenor –<br />
und auch das sagt ja schon viel.<br />
Musik 8<br />
EMI<br />
LC: 06646<br />
7 69304 2<br />
Track 105 + 106<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: „Ascolta! … Dio, che nell'alma infondere<br />
amor“ 1. Akt<br />
José Carreras, Tenor<br />
Piero Cappuccilli, Bariton<br />
Berliner Philharmoniker/Chor der Deutschen Oper<br />
Berlin<br />
5'40
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Ltg.: Herbert von Karajan<br />
Sie hören das <strong>Kulturradio</strong> vom rbb, die 15. Folge unserer Sendereihe zu Giuseppe<br />
Verdi. „<strong>Das</strong> <strong>Theater</strong> <strong>als</strong> <strong>idealistische</strong> <strong>Anstalt</strong> – mit Schiller zur großen Form“, das ist<br />
die Überschrift zu dieser Folge, die sich ausschließlich mit Verdis „Don Carlos“<br />
beschäftigt. Und ich bin Christine Lemke-Matwey und freue mich, dass Sie dabei<br />
sind.<br />
„Gott, du hast in unsere Seelen einen Strahl derselben Flammen gesandt“, so klingt<br />
wahre Männerfreundschaft, und ich muss gestehen, zusammen mit dem anderen<br />
großen Duett Carlo/Rodrigo aus dem vierten Akt ist das meine absolute<br />
Lieblingsnummer aus dieser Oper.<br />
- Absage (Sänger)<br />
Ein bisschen Spontini hört man hier durch, eine gehörige Portion Fatalismus – von<br />
wegen „Wenn gar nichts mehr hilft, können wir immer noch in den Krieg ziehen“ -,<br />
und durchaus auch viel Gefühl, so weit Männer untereinander sich das eingestehen<br />
wollen und können. Und, nicht zu vergessen: eine Melodie so richtig zum Mit- und<br />
zum Nachsingen. <strong>Das</strong> gilt auch für den vierten Akt, mit dem kleinen, aber<br />
markanten Schönheitsfehler, dass Rodrigo, der Marquis von Posa, hier stirbt:<br />
Geopfert hat er sich für den Herzensfreund und dessen unglückliche Liebe.<br />
- Ansage (Sänger)<br />
Musik 9<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4970<br />
Track 309+ 310<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: „Per me giunto è il di supremo“ 4. Akt<br />
Carlo Bergonzi, Tenor<br />
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton<br />
Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden<br />
Ltg.: Sir Georg Solti<br />
8’20<br />
Mit seiner Melodie und seiner Erinnerungsmotivik steht dieses Duett zwischen dem<br />
italienischen Melodramma und der französischen Oper, Verdi begegnet seinem<br />
Publikum hier <strong>als</strong> halbwegs Vertrauter – und das erklärt wohl die Popularität des<br />
Ganzen.<br />
- Absage<br />
Ganz anders hingegen: die Begegnung zwischen König Philipp und dem Marquis<br />
Posa im Finale des zweiten Aktes. Hier ist Verdi ganz Zukunftsmusiker, mit<br />
unruhigen Rhythmen, gleichsam zerrissenen Phrasen, mit starken dynamischen<br />
Kontrasten, motivischen Leidensgebärden und chromatischer Schärfe berichtet<br />
der Marquis, ganz Idealist und Freiheitskämpfer, dem König von den unhaltbaren<br />
Zuständen in der spanischen Provinz Flandern – und gewinnt so, durch sein<br />
Engagement, das Vertrauen des Monarchen. Was bei Schiller ein hochstehender<br />
Austausch der politischen Meinungen und Gedanken ist, das führt bei Verdi, um es<br />
kitschig auszudrücken, zu einem Dialog der Herzen und Seelen.<br />
- Ansage (frz.)
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Musik 10<br />
Decca<br />
LC: 00171<br />
478 4977<br />
Track 204<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlos“: „O Roi! J'arrive des Flandres“ 2. Akt<br />
Leo Nucci, Bariton<br />
Ruggero Raimondi, Bass<br />
Orchestra del Teatro alla Scala<br />
Ltg.: Claudio Abbado<br />
10'47<br />
- Absage<br />
Was hören wir hier? Im Grunde doch: musikalische Prosa. Klingende Gedanken. Ein<br />
Gespräch, wie man es in der Oper kaum vermuten würde, jedenfalls nicht in der des<br />
19. Jahrhunderts. Es kann gut sein, dass Verdi nach seiner ersten, wenig<br />
ermutigenden Erfahrung mit der Grand Opéra, 1855 bei den „Vêpres siciliennes“,<br />
wie soll ich sagen, durch Schaden klug geworden war. Er wusste: Wenn er in Paris<br />
reüssieren wollte, dann durfte er sich nicht verleugnen, er durfte nicht<br />
französischer tun, <strong>als</strong> ihm wirklich ums Herz war; aber er musste auch deutlich<br />
machen, dass er <strong>als</strong> Komponist auf dem Laufenden war, dass er wusste, was<br />
ästhetisch gerade angesagt war. Kein leichter Balanceakt, zumal man nicht<br />
vergessen darf, dass auf dem „Don Carlos“ auch eine gehörige repräsentative Last<br />
lag: angesetzt war die Uraufführung nämlich am unmittelbaren Vorabend der<br />
Pariser Weltausstellung von 1867, ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges!<br />
Und da gab es noch etwas: Meyerbeer war seit drei Jahren tot, da tat sich <strong>als</strong>o ein<br />
Vakuum auf, und auch das mag Verdi angestachelt haben. Wieso nicht den Platz<br />
des erfolgreichen Wahl-Franzosen einnehmen, wenn sich die Gelegenheit dazu<br />
derart aufdrängt? Jedenfalls kommt die Deutlichkeit nicht von ungefähr, mit der<br />
Verdi sich in seiner Arbeit an „Don Carlos“ immer wieder auf Meyerbeers<br />
„Propheten“ bezieht. Vor allem die Krönungsszene im vierten Akt stellte in seinen<br />
Augen und Ohren die ideale Verbindung zwischen „Spektakel“ und „Drama“ dar.<br />
Musik 11<br />
Myto<br />
LC: keine<br />
MCD 90318<br />
Track 303<br />
Giacomo Meyerbeer<br />
„Le Prophète“: Finale IV. Akt<br />
Marilyn Horne, Mezzosopran<br />
Nicolai Gedda, Tenor<br />
Orchestra Sinfonica e Coro di Torino della RAI<br />
Ltg.: Henry Lewis<br />
4’06<br />
Äußere und innere Handlung, das Private im Politischen, das Politische im Privaten<br />
– das ist Verdis großes Vorbild.<br />
- Absage<br />
Wie gut Verdi seinen Meyerbeer kennt und studiert hat, das sieht und hört man im<br />
Finale des dritten Aktes des „Don Carlos“, dem berühmten Autodafé. <strong>Das</strong> Private ist<br />
hier der aufbrechende Konflikt zwischen Philipp und Carlos: Der Sohn, der sich<br />
gegen den Vater erhebt, ja sogar sein Schwert gegen ihn zieht, weil dieser die von<br />
ihm angeführten flandrischen Gesandten <strong>als</strong> Ketzer und Rebellen abkanzelt. Dabei<br />
geht es in Wahrheit natürlich um Elisabeth – um die Frau, die beide Männer lieben.<br />
Und auch das Politische kommt doppelbödig daher: in Gestalt der flandrischen
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Gesandten einerseits und der spanischen Inquisition andererseits. Im Mittelgrund<br />
der Bühne nämlich lodert schon der Scheiterhaufen für die durch das<br />
Kirchengericht zum Tode Verurteilten. Die ganze Welt scheint hier auf den Beinen<br />
zu sein. Und wie das nun alles ineinander greift, das hören wir jetzt:<br />
- Ansage (Ausschnitt)<br />
Musik 12<br />
EMI<br />
LC: 06646<br />
7 69304 2<br />
Track 207 + 208<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: „Sire! Egli è tempo ch'io viva!“ 2. (!) Akt<br />
José Carreras, Tenor<br />
Piero Cappuccilli, Bariton<br />
Nicolai Ghiaurov, Bass<br />
Mirella Freni, Sopran<br />
Barbara Hendricks, Sopran<br />
Chor der Deutschen Oper Berlin<br />
Berliner Philharmoniker<br />
Ltg.: Herbert von Karajan<br />
4'55<br />
„Ohne Zweifel das beste Stück der Oper!“ - so hat Giuseppe Verdi sein Autodafé<br />
genannt, und das mit gutem Grund. Wie er hier den großen Apparat bedient und<br />
beherrscht und trotzdem immer wieder einzelne Personen ins Rampenlicht rückt,<br />
wie er die Massen bewegt und trotzdem immer transparent bleibt, <strong>als</strong>o das ist<br />
schon atemberaubend.<br />
- Absage<br />
Kirchengerichte hat es in der Geschichte ja wirklich gegeben, das ist keine<br />
Erfindung Schillers, Verdis oder seiner „Don Carlos“-Librettisten Joseph Méry und<br />
Camille du Locles. Überhaupt sind die Figuren dieses Dramas historisch verbrieft<br />
und zwar eindeutig. <strong>Das</strong> allerdings sagt wenig über die künstlerische Freiheit im<br />
Umgang damit. Philipp II. von Spanien zum Beispiel, bei Verdi eine traurige,<br />
gediegene König-Marke-Figur, war in Wahrheit erst um die 30 Jahre alt, <strong>als</strong> das,<br />
was passierte, passierte. Elisabeth von Valois wiederum hätte nie und nimmer eine<br />
Partie wie die ihre singen können (jenseits der Frage, ob sie überhaupt singen<br />
konnte) – warum? Als sie Philipp heiratete bzw. mit ihm verheiratet wurde, war sie<br />
gerade einmal 14. Und Carlos, der Infant? Muss alles andere gewesen sein <strong>als</strong> der<br />
Typ „jugendlicher Liebhaber“ oder „revolutionärer Feuerkopf“. Epileptische Anfälle<br />
soll er gehabt haben, unansehnlich soll er gewesen sein und kein besonders netter<br />
Charakter. Mit anderen Worten: Verdi ging es nicht darum, das Wirkliche möglichst<br />
wirklichkeitsgetreu abzubilden, er betrachtete die Realität vielmehr, <strong>als</strong> wäre sie<br />
vogelfrei und erst noch zu erfinden. Und vielleicht ist das ja überhaupt der Kern und<br />
das Wesen der Grand Opéra, wie Verdi sie verstand: <strong>Das</strong>s die Kunst wirklich sei und<br />
das Leben, nun ja, künstlerisch, idealistisch, im Sinne von: zu formen, zu gestalten,<br />
zu verändern. Im Abschiedsduett von Carlos und Elisabeth im vierten respektive<br />
fünften Akt der Oper kommen auch das Private und das Politische noch einmal<br />
zusammen: Voller Emphase tritt Carlos das Erbe Posas an und will jetzt unbedingt<br />
Flandern retten. Elisabeth stilisiert ihn zum Helden, ja mehr noch: zum<br />
Weltenretter, Harfen begleiten ihre Worte.
Sonntag, 13. Oktober 2013<br />
15.04 – 17.00 Uhr<br />
Musik 13<br />
EMI<br />
LC: 06646<br />
7 69304 2<br />
Track 314<br />
Giuseppe Verdi<br />
„Don Carlo“: „Ma lassù ci vedremo“ 5. Akt<br />
Mirella Freni, Sopran<br />
José Carreras, Tenor<br />
Nicolai Ghiaurov, Bass<br />
José van Dam, Bass<br />
Berliner Philharmoniker<br />
Ltg.: Herbert von Karajan<br />
5'51<br />
Absage<br />
Doch bevor es mit der ganz großen Apotheose klappt, nahen, wie wir eben gehört<br />
haben, Philipp und der Großinquisitor, ihrem Zugriff kann Carlos sich nur mit Hilfe<br />
Karls V. entziehen. Der wahre Idealist, sagt dieser Opernschluss, ist weder vom<br />
Staat noch von der Kirche zu fassen. „<strong>Das</strong> <strong>Theater</strong> <strong>als</strong> <strong>idealistische</strong> <strong>Anstalt</strong> – mit<br />
Schiller zur großen Form“ - das war die 15. Folge unserer Sendereihe, die Verdis<br />
„Don Carlos“ gewidmet war. <strong>Das</strong> Manuskript dazu finden Sie auf unserer<br />
Homepage, wie immer und wie alle anderen auch, unter kulturradio.de. Weiter mit<br />
Verdi geht es hier nächsten Sonntag zur gewohnten Zeit, dann werde ich mich mit<br />
seiner Popularität beschäftigen – und dann wird hier „Aida“ im Zentrum stehen:<br />
„Ein Fest unter Pyramiden – Aida <strong>als</strong> Weltereignis“. Ich bin Christine Lemke-Matwey<br />
und wünsche Ihnen jetzt noch einen wunderbaren Sonntag.