Kreuz oder Glück? - Kulturradio
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Abteilung: Kirche und Religion Redaktion: Kirsten Dietrich<br />
Sendereihe: Gott und die Welt Autor/-in: Christian Modehn<br />
Sendedatum: 17.11.2013 Sendezeit: 9.04-9.30 Uhr/kulturradio<br />
Prod.: 11.11.2013<br />
9.15-14.45 Uhr/T9<br />
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Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet.<br />
Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben <strong>oder</strong> in sonstiger Weise vervielfältigt werden.<br />
Eine Verbreitung im Rundfunk <strong>oder</strong> Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg).<br />
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GOTT UND DIE WELT<br />
<strong>Kreuz</strong> <strong>oder</strong> <strong>Glück</strong>?<br />
Der Glaube und die Liebe zum guten Leben<br />
Sprecher: Max Urlacher<br />
Regie:<br />
Ralf Ebel
2<br />
5 Musikal. Zuspielungen<br />
1. O TON, Pater Klaus Mertes<br />
Ich glaube, dass <strong>Glück</strong> immer etwas ist, was mehr ist als das, man sich vorstellen kann.<br />
Deswegen weise ich so konkrete Vorstellungen von <strong>Glück</strong> für mich eher zurück. Ganz oft ist<br />
es dann eben ein Ereignis, und dieses Ereignis ist Gnade.<br />
2. O TON:, Rupert Neudeck<br />
Die Richtung ist ganz einfach: Nicht, dass man auf etwas verzichten muss. Sondern, das<br />
einzige, wozu wir in der Lage sein müssen, ist, dass wir uns schämen müssen, allein<br />
glücklich zu sein.<br />
3. O TON, Jörg Lauster<br />
Das Christentum ist eine Religion, die darauf hofft, die darauf vertraut, dass hinter all den<br />
Sinn Krisen, hinter all dem Nichtverstehen - Können in dieser Welt nun doch ein tieferer<br />
Sinn verborgen ist. Die Lehre vom <strong>Glück</strong> und die christliche Rede vom <strong>Kreuz</strong> sind keine<br />
absoluten Gegensätze, sondern sie bedingen einander.<br />
Titelsprecherin:<br />
<strong>Kreuz</strong> <strong>oder</strong> <strong>Glück</strong>?<br />
Der Glaube und die Liebe zum guten Leben<br />
Eine Sendung von Christian Modehn<br />
1. SPR.:<br />
<strong>Glück</strong>licherweise haben die Kirchen nie festgelegt, was <strong>Glück</strong> bedeutet. Kein Dogma hat es<br />
definiert. Keine Morallehre schreibt vor, wie Menschen <strong>Glück</strong> finden sollen. Denn die<br />
erfreulichen Höhepunkte im Alltag haben immer eine individuelle Prägung, auch für<br />
religiöse Menschen. Philosophen und Theologen sind sich einig, dass wir <strong>Glück</strong> oft<br />
überraschend, unerwartet, plötzlich in einem Augenblick, erleben: Wenn die gereizte<br />
Stimmung in der Familie plötzlich wieder heiter wird; wenn sich auf einmal neue Chancen im<br />
Berufsalltag auftun. In diesen Momenten wird uns neue Zuversicht geschenkt, berichtet<br />
Jörg Lauster:<br />
4. O TON, Lauster<br />
Wie man meiner Sprache anhört, komme ich aus Bayern und für mich sind immer solche<br />
besonderen Momente des Augenblicksglücks Naturerfahrungen. Da würde ich, aus<br />
Südbayern kommend, insbesondere die Berge heranziehen. Man steigt auf einen Berg, es<br />
bedarf einer gewissen Vorbereitung, dann muss man da hochgehen. Und was man dann<br />
dort erlebt, überbietet, jedes Mal und so oft man es tut, das, was man dort oben auf diesem<br />
Berg gesucht hat.<br />
1.SPR.:<br />
Jörg Lauster arbeitet als Professor für evangelische Theologie in Marburg. Sein besonderes<br />
Interesse, die theologische <strong>Glück</strong>sforschung, kann er mit persönlichen Erfahrungen als<br />
Bergsteiger verbinden. Dabei kann er immer wieder überraschende Erfahrungen machen:<br />
5. O TON, Lauster<br />
Dort stellt sich dann ein Bewusstsein ein, würde ich sagen, dass es doch jemand geben<br />
muss, der alles dies gemacht hat. Das denke ich in dem Moment nicht, sondern fühle es, das<br />
würde ich als Augenblicksglück beschreiben. Das überwältigt mich. Und das sind
3<br />
Erfahrungen, in denen uns auf einmal etwas aufleuchtet, in denen uns eine ganze<br />
Sinndimension des Lebens gewahr wird. Man fühlt sich in seinem eigenen Dasein<br />
angenommen und wenn mich jemand fragen würde: Warum ist das so? Dann fällt es schwer,<br />
dies rational zu erklären, das ist die Macht des Gefühls.<br />
1. SPR.:<br />
Aber wir versinken nicht in diesem Meer der Emotionen. Wir finden wieder ins Nachdenken<br />
zurück, wenn das Erstaunen über die unerwarteten Erfahrungen abgeklungen ist. Dann wird<br />
uns deutlich: <strong>Glück</strong> ist eine oft unentwirrbare Mischung aus günstigen Umständen und<br />
puren Zufällen. Das intuitive Gespür fürs Loslassen und Zugreifen ist dafür genauso wichtig<br />
wie die eigene Geschicklichkeit. Entscheidend ist nur, für Veränderungen offen zu bleiben.<br />
Religiöse Menschen nennen das Hoffnung, sagt Pater Klaus Mertes: Daran hat er sich<br />
gehalten, als er sich mit der Offenlegung des sexuellen Missbrauchs im Berliner Canisius<br />
Kolleg befassen musste.<br />
6. O TON, Mertes<br />
Ich hab in den schwerwiegenden Konflikten und Leiden, in denen wir Menschen stecken,<br />
durch das was wir einander antun, oft erlebt, dass es dann die Resignation gibt. Dass wir<br />
letztlich nur noch in Defensive zu einander stehen, einander misstrauen als vertrauen, dem<br />
anderen immer das Schlimmste zutrauen statt ihm vertrauen zu können. Und die<br />
Gegenbewegung zu dieser Resignation ist die Hoffnung auf Versöhnung. D. h., dass eine<br />
zerbrochene Freundschaft versöhnt werden kann und dann noch schöner ist als vorher.<br />
Ganz oft ist es dann eben ein Ereignis, welches Menschen noch einmal neu zusammenführt,<br />
und dieses Ereignis, das es möglich macht, ist Gnade.<br />
1.SPR.:<br />
Auch Menschen, die viele Jahre regelmäßig meditieren und in Stille und Abgeschiedenheit<br />
Gott suchen, erleben diese Gnade des Augenblicks: Wenn sie plötzlich den göttlichen<br />
Funken, das Licht des Ewigen, in ihrem Leben wahrnehmen - und erst schweigend verweilen;<br />
aber später diese Erfahrung in Worten beschreiben, die eher poetisch, vielleicht mystisch<br />
sind. Hans Torwesten praktiziert seit vielen Jahren Yoga; er ist mit der indischen Mystik<br />
genauso vertraut wie mit den Schriften Meister Eckarts. Eines Tages erlebte er unvermutet<br />
eine neue Geborgenheit, ein Gefühl von <strong>Glück</strong>:<br />
7. O TON, Torwesten<br />
Wenn ich den Grund erfahren habe, dann habe ich so etwas von der Ewigkeit gekostet, die<br />
Gottheit, den Grund, der auch in jedem Menschen ist. Also, dann weiß ich, wer ich ewig bin;<br />
ich breche durch zu meinem wesentlichen Sein. Und dieses Sein kann nur unentstanden und<br />
unzerstörbar sein. Viele Menschen erfahren das in einer Krise, wenn sie plötzlich merken,<br />
was bleibt, wenn ich mich fallenlasse. Dann erfahren sie vielleicht diesen Grund, der sie<br />
trägt, und den sie vielleicht vorher mal vom Kopf her gedacht haben. Aber sie wissen dann<br />
auch: Da bin ich eigentlich immer schon gewesen. Das ist nicht etwas völlig Neues. Das heißt<br />
nicht, dass man unverwundbar und nichts mehr an sich heran lässt. Man ist durchaus noch<br />
offen für Probleme und so weiter. Aber, ich glaube, man lebt mehr aus dem Inneren heraus.<br />
1.SPR.:<br />
So sehr das plötzliche Aufleuchten des Göttlichen das Leben verwandeln kann: Vorsicht ist<br />
doch geboten, meinen Theologen, sie warnen vor dem Übermut, der da meint: „Mich liebt<br />
Gott besonders, mir schenkt er mehr <strong>Glück</strong> als anderen“. Christen brauchen ein kritisches<br />
<strong>Glück</strong>sverständnis, meint der Berliner Theologe Michael Bongardt:
4<br />
8. O TON, Bongardt<br />
Denn wenn ich sage: Das ist etwas, was jetzt durch das direkte Eingreifen Gottes mir<br />
gegeben ist, dann stehe ich sofort vor der völlig unlösbaren Frage: Wieso er dann Menschen,<br />
die vieles nötiger brauchen als ich, offensichtlich nichts gibt, weil die in ihrer Not stecken<br />
bleiben. Ich finde es aber durchaus möglich, von <strong>Glück</strong>smomenten des eigenen Lebens <strong>oder</strong><br />
auch einer Gesellschaft, denken Sie an den 9. November 89, zu sagen: Dass da von dem<br />
Willen Gottes etwas sichtbar wird. Das ist ein Zeichen für das, was wir erhoffen als wirklich<br />
gelingendes Leben, das klingt gut.<br />
Musikal. Zuspielung<br />
1. SPR.:<br />
Sie können ihrer Begeisterung kaum Einhalt gebieten: Für diese bibeltreuen Christen hat<br />
<strong>Glück</strong> nur einen einzigen Namen: Jesus Christus, ihr Erlöser. Nur seinetwegen können sie<br />
voller Freude leben, jeden Tag und immer, so behaupten sie jedenfalls in ihrem Gesang:<br />
4. musikal. Zusp.,<br />
1.SPR.:<br />
Aber stimmt es denn, dass fromme Mensch immer happy, immer fröhlich und glücklich<br />
sind?<br />
9. O TON, Marcus Spieker.<br />
Der gläubige Mensch ist nicht der gesündere, der reichere, der klügere.<br />
1. SPR.:<br />
sagt Marcus Spieker. Er ist Journalist und Autor religiöser Bücher, keineswegs ein<br />
religionskritischer Skeptiker, sondern mit der konservativen, bibeltreuen Bewegung<br />
evangelikaler Protestanten verbunden:<br />
9. O TON, Fortsetzung:<br />
Also ich komme her von der Beobachtung, auch in meinem eigenen Freundeskreis, wo sehe,<br />
dass viele sehr fromme, religiös bewusst christliche Menschen Krebserkrankungen haben,<br />
Partner stirbt in jungen Jahren, lässt Kinder zurück. Große Krisenerfahrungen. Und dann<br />
habe ich mir die Frage gestellt: Was sagt mir das jetzt über meinen Glauben? Nützt das dann<br />
etwas zu glauben? Meine Antwort ist: Ja doch, und gerade deshalb, weil diese Welt einfach<br />
so ist, dass ein banales <strong>Glück</strong> schon daran scheitert, dass wir alle irgendwann mal sterben<br />
werden. D.h. Glauben muss Antwort auf mehr geben, auf die Frage: Was gibt es denn<br />
jenseits auch von diesem Leben. Also das geht um das ewige Leben.<br />
Musikal Zusp.,<br />
1. SPR.:<br />
Das ist uralte christliche Lehre: Erst im Himmel wird der Mensch glücklich sein. Hier auf<br />
Erden, so meinten schon die ersten Christen, herrschen nur Sünde, Bosheit, Verbrechen.<br />
Bleibt dem Jenseits und dem Ewigen treu, sagten große Theologen der frühen Kirche, wie<br />
Augustinus und Origenes. Der Philosoph Friedrich Nietzsche nannte diese Theologie<br />
„Platonismus fürs Volk“: eine Vorstellung, der Himmel und Ewigkeit wichtiger sind als das<br />
Naheliegende, das irdische <strong>Glück</strong>. Bis heute wird diese kirchliche Lehre offiziell verbreitet,<br />
berichtet der Berliner Theologe Michael Bongardt:
5<br />
10. O TON, Michael Bongardt<br />
Da ist die Vorstellung, der Mensch kann schon noch mehr und ist zu mehr bestimmt, als zur<br />
Aneinanderreihung einzelner <strong>Glück</strong>smomente. Er hat ein Ziel, in der theologisch – religiösen<br />
Sprache gesprochen: die Gemeinschaft mit Gott, in der er wirklich ganz Mensch ist und dann<br />
auch glücklich sein kann, glückselig sein kann. Die christliche Tradition hat deshalb die<br />
Hoffnung auf das <strong>Glück</strong> mit der Hoffnung auf das Leben nach Tod gleichgesetzt. <strong>Glück</strong> ist<br />
etwas Zukünftiges, <strong>Glück</strong> ist etwas, was es erst jenseits unserer Zeit gibt.<br />
1. SPR.:<br />
Heute hingegen sind immer mehr Christen überzeugt, selbst für etwas mehr <strong>Glück</strong> in dieser<br />
Welt sorgen zu können. Bleiben doch auch wir der Erde treu, könnte ihr Motto heißen. Und<br />
das mit gutem Grund, meint der Theologe Michael Bongardt:<br />
11. O TON, Bongardt:<br />
Wenn man so sehr davon überzeugt ist, dass diese Welt der Ort des Leidens ist, der Ort des<br />
Bösen, die es zu überwinden gilt, aus der es zu entkommen gilt, dann hatte man ein riesiges<br />
Problem mit den allerersten Sätzen der Bibel: Gott erschafft die Welt und nachdem die<br />
Schöpfung vollendet ist, steht da: Gott sah alles, was er gemacht hatte. Und er sah, dass es<br />
gut war.<br />
1.SPR.:<br />
Die zentralen ethischen Impulse Jesu von Nazareth haben einen zuversichtlichen, einen<br />
optimistischen Klang. In einem der wichtigsten Texte des Neuen Testaments, der<br />
Bergpredigt Jesu, steht das Wort „<strong>Glück</strong>“ sogar im Mittelpunkt. Nur wurde das viele<br />
Jahrhunderte ignoriert. Denn die Übersetzer haben das entsprechende griechische Wort<br />
makários mit dem eher abgehoben, jenseitig klingenden Begriff „selig“ übersetzt statt mit<br />
dem treffenden Wort glücklich. Heute sind Theologen überzeugt: Korrekt übersetzt müssen<br />
die entscheidenden Verse der Bergpredigt im Matthäusevangelium heißen:<br />
2. SPR.<br />
<strong>Glück</strong>lich, die arm sind vor Gott. Denn ihnen gehört das Himmelreich.<br />
<strong>Glück</strong>lich die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. <strong>Glück</strong>lich, die keine Gewalt<br />
anwenden, denn sie werden das Land erben. <strong>Glück</strong>lich, die hungern und dürsten nach der<br />
Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. <strong>Glück</strong>lich die Barmherzigen, denn sie werden<br />
Erbarmen finden....<br />
1. SPR.:<br />
Die Armen, die Trauernden und Gewaltfreien, Menschen, die es überhaupt nicht leicht haben<br />
im Leben: Sie werden gut leben, sinnvoll, und reich beschenkt. Dieses <strong>Glück</strong>sgefühl stellt<br />
sich aber bereits in der Gegenwart ein, im Hier und Heute; darauf kommt es an, betont der<br />
Theologe Jörg Lauster:<br />
12. O TON, Lauster<br />
All diese Mühseligen und Beladenen, die Friedensstifter, denen wird ja <strong>Glück</strong>, <strong>Glück</strong>seligkeit,<br />
zugesprochen. Das ist meiner Meinung nach nicht gemeint als eine Vertröstung auf das<br />
Jenseits, sondern es ist gemeint: Dass jemandem, der diese Eigenschaften in seinem Leben<br />
realisiert, sich jetzt schon eine Dimension eines höheren Sinns erschließen wird, die nach<br />
gewöhnlichen Maßstäben natürlich nichts mit <strong>Glück</strong> zu tun hat. Und trotzdem bricht für<br />
jemanden, der Frieden stiftet, der Leid trägt, in diesem Moment etwas durch von einer<br />
höheren Sinndimension, die man als <strong>Glück</strong> bezeichnen kann.
6<br />
1. SPR.:<br />
Immer wieder lassen sich Menschen von der Bergpredigt inspirieren, wenn sie glücklich sein<br />
wollen. Barmherzigkeit ist für mich kein Traum, sagte der Journalist und Philosoph Rupert<br />
Neudeck, als er vor 35 Jahren das Elend der boatpeople im Südchinesischen Meer sah und<br />
handelte: Er gründete die weltbekannte Initiative Cap Anamur und<br />
schickte Rettungsboote zu den Ertrinkenden. Später gründete er die Aktion Deutsche<br />
Notärzte sowie die Organisation Grünhelme.<br />
Rupert Neudeck ist, sozusagen mit der Bergpredigt im Handgepäck glücklich geworden.<br />
13. O TON, Neudeck:<br />
Wenn man diese Parabel gelesen hat, verstanden hat, dann weiß man die Richtung, in die<br />
man gehen muss. Und die Richtung ist ganz einfach nicht, dass man auf irgendetwas<br />
verzichten muss. Wir müssen nicht ins Kloster gehen, wir müssen uns nicht kasteien, wir<br />
müssen nicht fasten. Sondern, das einzige wozu wir in der Lage sein müssen, ist, dass wir<br />
uns schämen müssen, allein glücklich zu sein.<br />
1. SPR..<br />
Dieses Schamgefühl inspiriert zum Handeln: Hildegard Goss – Mayr hat als junge Theologin<br />
vor 50 Jahren zusammen mit ihrem Mann den „Internationalen Versöhnungsbund“<br />
aufgebaut; sie hat Basisgruppen organisiert, die den gesellschaftlichen Wandel im Geist der<br />
Gewaltfreiheit anstreben. Sie hat dabei ihr Lebensglück gefunden, ein <strong>Glück</strong>, das sehr wenig<br />
mit der Befriedigung des eigenen Ego zu tun hat.<br />
14. O TON, Hildegard Goss Mayr<br />
Ich glaube, das Herzstück in meiner Arbeit der Gewaltfreiheit ist die Gewaltfreiheit Gottes,<br />
wie sie sich in Jesus darstellt. (((( Kürzung Anfang: Wenn wir auch dem Feind gewaltfrei<br />
begegnen wollen, dann muss auch ein neuer Weg im Handeln aufgezeigt werden, also eine<br />
neue Weise, das Unrecht zu überwinden Kürzung Ende))))Ich glaube, dass wir als Laien in<br />
der Kirche die Pioniere sein mussten, um der Gewaltfreiheit zum Durchbruch zu helfen. Ich<br />
denke z.B. an die Wende in der DDR. Dahinter standen engagierte Laien, evangelische vor<br />
allem. Oder ich denke an die Philippinen, wo ein Großteil der Kirchenführung auf der Seite<br />
des Diktators gestanden ist. Aber durch das Engagement der Laien auch Kardinal Sin z.B.<br />
zum Umdenken gebracht wurde und so die Diktatur wirklich überwunden wurde. Das<br />
Schönste in meiner Arbeit ist, immer wieder zu entdecken, welche Möglichkeiten in jedem<br />
Menschen liegen aus der Kraft der Gewaltfreiheit zu arbeiten.<br />
1. SPR.:<br />
Hildegard Goss Mayr hat unter den Militärdiktaturen ihr Leben riskiert. Sie war bereit, um<br />
der Gerechtigkeit willen auch die andere Wange hinzuhalten, wie es in der Bibel heißt. Wer<br />
Gerechtigkeit für die Armen will, muss bereit sein, das eigene Leben hinzugeben. Das ist<br />
uralte christliche Überzeugung. Schon Jesus von Nazareth hat sein Leben für Menschen am<br />
Rande, für religiös Diskriminierte und sozial Ausgegrenzte, verzehrt. Er endete deswegen<br />
als Störenfried am <strong>Kreuz</strong>. Und gerade die Orientierung am <strong>Kreuz</strong> Jesu, die Bindung an sein<br />
Lebensmodell, kann Menschen auch heute noch glücklich machen, meint der Theologe Jörg<br />
Lauster:
7<br />
15. O TON, Lauster<br />
Der Glaubensbegriff ist eine innere Haltung, ein inneres Vertrauen,<br />
nämlich die tiefe Überzeugung, dass in dem Tod Jesu, in dem TOD eines Menschen, etwas<br />
passiert ist, was uns einen ganz anderen, einen ganz neuen, einen tieferen Blick auf die Welt<br />
freilegt: Nämlich dass in diesem Tod ein Sinn liegt, den wir uns selber gar nicht erklären<br />
können. Und das belegen wir mit dem Begriff der Auferstehung.<br />
1. SPR.:<br />
Wenn das <strong>Kreuz</strong> Jesu nicht das Ende ist, kann es Kräfte freisetzen, mit den Schwierigkeiten<br />
im Leben, vor allem mit den Ängsten vor Sterben und Tod, gelassener umzugehen: Wer die<br />
eigene Begrenztheit annehmen kann, ist dann auch in der Lage, anderen Menschen in ihrer<br />
Not zur Seite zu stehen, sagt der Journalist Markus Spieker.<br />
16. O TON, Spieker,<br />
Ein Grund ist sicher, dass Leid Mitgefühl für andere weckt <strong>oder</strong> Verständnis, d.h. Ich hab<br />
dann die Fähigkeit auch mit denen zu reden, die krank sind. Derjenige, der immer locker<br />
durchs Leben gesegelt ist, was er denn den anderen zu sagen. Und das andere ist: Leid<br />
zeigt einem die eigene Begrenztheit auch und hindert einen daran, sich zu sehr an das<br />
Leben festzuklammern. Und Leid reinigt einen auch von der Idee, dass es im Leben nur um<br />
Spaß geht. Das ist ja das Problem heutzutage. Leid als produktives Element, das ist komplett<br />
eigentlich aus dem Leben raus und was ein gewisses seelisches Wachstum verhindert.<br />
Musikal. Zusp.,<br />
1. SPR.:<br />
Die christliche Lehre vom <strong>Glück</strong> ist anspruchsvoll. Und ihre Vorschläge sind unbescheiden,<br />
wenn nicht radikal: Wir können glücklich werden im Einsatz und in der Hingabe für die<br />
anderen. Das <strong>Kreuz</strong> Jesu bietet dafür den bleibenden Impuls, betont der Theologe Jörg<br />
Lauster:<br />
17. O TON, Lauster,<br />
Die Lehre vom <strong>Glück</strong> und die christliche Rede vom <strong>Kreuz</strong> sind keine absoluten Gegensätze,<br />
sondern sie bedingen einander.<br />
Dieses Erleben erzeugt Dankbarkeit, und Dankbarkeit ist keine momentane Haltung,<br />
sondern eine dauerhafte Haltung. Und es bildet aber auch Verantwortung aus: Da mich eine<br />
innere Stimme anspricht, die mir sagt: Du musst auch dafür sorgen, dass diese Welt, in der<br />
fürwahr nicht genug <strong>Glück</strong> gibt, anders werden muss.<br />
1. SPR.:<br />
Für mehr <strong>Glück</strong> auf der Welt sorgen: das kann nicht auf spirituelles Erleben begrenzt sein.<br />
Das stellt im Gegenteil ganz konkrete materielle Forderungen. Erlebbar machen, dass Gott<br />
es gut meint mit den Menschen: Das ist nicht mildtätige Caritas, auch nicht schneller und<br />
bindungsloser persönlicher Reichtum, sondern Gesellschaftsveränderung.<br />
1. SPR.:<br />
In Lateinamerika halten viele Christen an der Verheißung der Befreiungstheologie fest:<br />
Ohne menschenwürdige Lebensbedingungen kann es kein individuelles <strong>Glück</strong> geben. Die<br />
Ordensfrau Barbara Kiener versucht in Goias, einer vernachlässigten Region Brasiliens, den<br />
Ärmsten der Armen eine Ahnung von <strong>Glück</strong> zu schenken:
8<br />
18. O TON, Schwester Barbara<br />
Diese Basisgruppen und Basisgemeinden versammeln sich mit all den Familien. Sie beten<br />
und singen, sie halten so eine Art Agape: Sie bringen etwas zum Essen mit, das teilen sie<br />
miteinander, alle bekommen etwas zu essen. Die armen Menschen haben keine Möglichkeit,<br />
wenn sie sterbenskrank sind, ins Krankenhaus zu kommen, weil niemand ein Auto besitzt.<br />
Und so haben wir uns zusammen mit diesen Menschen eingesetzt, dass dieser<br />
Gesundheitsposten, der schon bestand, wirklich richtig strukturiert wurde und gescheit<br />
ausgestattet wurde. Dann haben wir ein gemeinsames Ziel erreicht, dann ist<br />
Menschwerdung möglich, dann können die Menschen ein menschlicheres Leben führen.<br />
1. SPR.:<br />
Verarmte Menschen in Lateinamerika streben nach dem guten Leben, sie wollen Anteil<br />
haben am <strong>Glück</strong>, hier und jetzt. Inzwischen wurde in Bolivien und Ecuador eine breite<br />
Basisbewegung gegründet: Christen, aber vor allem Repräsentanten der indigenen, der<br />
indianischen Völker, formulieren ihre Vorstellungen von buen vivir, vom guten Leben,<br />
berichtet der Lateinamerika – Spezialist Thomas Fatheuer, der lange Jahre in Rio de Janeiro<br />
für die Heinrich Böll Stiftung arbeitete:<br />
19. O TON, 0 51“, Thomas Fatheuer<br />
Im „guten Leben“ ist angelegt die Idee, in Harmonie mit der Natur zu leben. So wird es<br />
formuliert im Rückgriff auf indigene Traditionen, die gerade dieses andere Naturverhältnis<br />
sehr stark betonen: Nicht über die Natur herrschen im klassischen Sinne, nicht die Natur<br />
sich untertan zu machen, nicht die Natur als auszubeutende Mine zu sehen, sondern, wenn<br />
wir was der Natur entnehmen, müssen wir es wieder zurückgeben. Wenn ich fische, muss<br />
ich dafür sorgen, dass die Fische nicht in ihrer Fähigkeit sich zu reproduzieren gestört<br />
werden.<br />
„Buen vivir“ zielt nicht auf mehr und immer mehr, sondern auf ein Gleichgewichtszustand,<br />
wir müssen lernen, was heißt eigentlich gutes Leben heute. Viele Leute entdecken gerade,<br />
dass es unheimlich viele schöne Sachen zu machen gibt, die nicht unbedingt immer mehr<br />
Konsum bedeuten.<br />
1. SPR.:<br />
Die Vorstellung vom guten Leben wird niemals eine endgültige Erfüllung finden. Niemals<br />
wird es „die“ gute Gesellschaft und „den“ gerechten Staat „schlechthin“ geben. Weil die<br />
Verhältnisse immer bedrückend bleiben und die Unzufriedenheit über die Grenzen des<br />
eigenen, des individuellen Daseins nicht verschwindet, wird auch die Sehnsucht nach <strong>Glück</strong><br />
niemals zur Ruhe kommen. Für die christliche Lehre vom <strong>Glück</strong> ist diese Unruhe allerdings<br />
selbst schon ein Vorschein des guten Lebens. Sie zeigt, dass wir Menschen über alle<br />
konkreten Verhältnisse dieser Welt, über alles Endliche, wie die Philosophen sagen, immer<br />
schon „unruhig“ hinaus streben. Wir verlangen also immer schon nach Größerem und<br />
Wertvollerem. Und dieses <strong>Glück</strong> können wir auch schon jetzt erleben, halten wir bloß<br />
unsere Augen offen, weiten wir unseren Blick, meint der Philosoph Rupert Neudeck:<br />
20. O TON, 0 54“, Neudeck<br />
Wir sollen sehen, dass man in diesem täglichen Kampf eine Genugtuung empfindet, auch ein<br />
<strong>Glück</strong> empfindet, dass man nicht meint, das <strong>Glück</strong> ist darin, dass es eine besonders schöne<br />
Emotion ist, eine feierliche Emotion. Das <strong>Glück</strong> ist die Erfüllung, dass man sich immer<br />
wieder klar macht, dass es nicht stimmt, dass alles auf der Welt zum Heulen ist. Das ist nur<br />
die eine Hälfte der Realität. Es gibt eine andere, in der uns was gelingt, in der Solidarität<br />
gelingt, in der in kleinen Einheiten, in kleinen Kommunen, in Gemeinden, wo auch immer,<br />
Dinge passieren, die großartig sind. Aber diese Geschichten vom Gelingen, die brauchen wir,<br />
um uns nicht immer wieder zu verzehren, im Wortsinn.
9<br />
Titelsprecherin:<br />
<strong>Kreuz</strong> <strong>oder</strong> <strong>Glück</strong>?<br />
Der Glaube und die Liebe zum guten Leben<br />
Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn<br />
Es sprachen: Max Urlacher<br />
Ton: Susanne Bronder<br />
Redaktion: Kirsten Dietrich<br />
Regie: Ralf Ebel<br />
Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion<br />
bestellen, aus Berlin <strong>oder</strong> Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: religion@rbbonline.de.<br />
Und zum Nachhören <strong>oder</strong> Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter<br />
kulturradio.de.
10<br />
Literatur:<br />
Zum Thema „Christentum und <strong>Glück</strong>“ wurde bisher sehr wenig geforscht und sehr wenig<br />
veröffentlicht.<br />
Das Standardwerk zum Thema hat Jörg Lauster verfasst: „Gott und das <strong>Glück</strong>“. Das<br />
Schicksal des guten Lebens im Christentum. Gütersloher Verlagshaus. 2004, 222 Seiten.<br />
Lauster folgt der m<strong>oder</strong>nen, liberal – theologischen Perspektive.<br />
Auch in dem sehr empfehlenswerten interdisziplinären „Handbuch <strong>Glück</strong>“ befindet sich ein<br />
Beitrag von Jörg Lauster zum Thema. Der Herausgeber des umfangreichen Werkes ist u.a.<br />
Dieter Thomä. 466 Seiten, 2011, Stuttgart.<br />
Philosophisch Interessierte finden die besten Anregungen leicht zugänglich in den Essays<br />
von Michel de Montaigne <strong>oder</strong> grundlegend in den Büchern des Philosophen Martin Seel<br />
(Uni Frankfurt), etwa „Versuch über die Form des <strong>Glück</strong>s“ , Suhrkamp Taschenbuch.<br />
Marcus Spieker, „Gott macht glücklich und fromme Lügen“. SCM Hänssler Verlag, 2013,<br />
173 Seiten. Spieker ist eher einer evangelikalen Frömmigkeit verpflichtet. .<br />
Richard Wilkinson und Kate Picket, Gleichheit ist <strong>Glück</strong>. Warum gerechte Gesellschaften für<br />
alle besser sind. Tolkemitt bei Zweitausendeins, 2013, 368 Seiten.