Ausgabe Nr. 33, Juli/August - Magdener Dorfzytig
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Vermischtes Seite 21<br />
Berg-Restaurant und sah auf der Terrasse<br />
in die Teller der Gäste. Einige Wanderer<br />
winkten freundlich mit der Hand und<br />
George wackelte als Antwort mit den Flügeln.<br />
Unter ihm lag das Oberengadin mit<br />
seinen malerischen Seen. Kleine weisse<br />
Pünktchen auf dem Silvaplaner-See erinnerten<br />
ihn an die Segel-Kollegen auf dem<br />
Wasser, die mit den Segelfliegern vieles<br />
gemeinsam haben. Je höher er stieg,<br />
desto kleiner wurden die Felder, Dörfer<br />
und auch die kleinen Sorgen des Alltags.<br />
George versuchte so hoch zu steigen,<br />
dass er die thermischen Aufwinde über<br />
den Kreten erreichte. Vom Muotas-<br />
Muragl glitt George zur Segantini-Hütte<br />
auf dem Schafberg, wo sich eine kleine<br />
Cumulus-Wolke gebildet hatte. Als er<br />
unter der Wolke ankam, zeigte das Variometer<br />
2,5 Meter/Sek. Steigen an. George<br />
drehte ein. Er brauchte etwa drei Kreise,<br />
bis er im Aufwind die Stelle mit den besten<br />
Steigwerten fand. Der Aufwind, in der<br />
Sprache der Segelflieger «Bart» genannt,<br />
war ruppig und eng. Als er die Basis der<br />
Wolke erreichte, zeigte sein Höhenmeter<br />
2950 MüM an. Der Blick über die Alpen<br />
war grossartig. Er entschied, der Bergkette<br />
auf der nördlichen Seite des Val Bernina<br />
zu folgen. Obwohl die Felsenformationen<br />
in der Sonne lagen, fand er keine Aufwinde<br />
und sank wieder unter die Krete.<br />
Erst in einer Senke beim Piz Languard gab<br />
es wieder einen kleinen «Bart» den er<br />
geduldig auskurbelte. Mit zunehmender<br />
Höhe wurde das Steigen stärker und<br />
schliesslich ging‘s schneller nach oben als<br />
in einem Lift. Als das Gipfelkreuz des Piz<br />
Languard unter ihm lag, überquerte er in<br />
einem längeren Gleitflug das Tal östlich<br />
von Pontresina. Der Cirrus sinkt beim<br />
Gleiten etwa einen Meter pro Sekunde<br />
und er verlor wertvolle Höhe. Doch es<br />
reichte um den Chalchaign zu erreichen,<br />
wo eine kleine Wolke Aufwind versprach.<br />
Am Vormittag hatte die Sonne die Osthänge<br />
der Berge angestrahlt. Inzwischen<br />
ist sie über den Zenit gewandert und<br />
wärmte die Westhänge auf. George richtete<br />
seine Flugroute danach, denn der<br />
Segelflieger fliegt ja mit Sonnenenergie.<br />
Die Aussentemperatur lag bei etwa null<br />
Grad. Im Schatten der Wolken wurde es<br />
im Cockpit empfindlich kühl. An der<br />
Sonne jedoch scheint sie auf die Haube<br />
und wärmt alles wieder auf.<br />
Im Süden ragte der Piz Bernina in den<br />
Himmel. «Vielleicht gelingt es mir, einen<br />
Kreis über dem Gipfel zu fliegen», dachte<br />
George. Er folgte dem Morteratsch Gletscher.<br />
Vor ihm lag der eindrückliche Biancograd,<br />
den die Bergsteiger frühmorgens<br />
benutzen um zum Gipfel aufzusteigen.<br />
Ihre Spuren waren im Schnee noch deutlich<br />
zu sehen. Die aufsteigende Luft kondensierte<br />
auf 3750 Metern über Meer und<br />
verwandelte sich in Blumenkohlwolken.<br />
Diese Höhe reichte aber nicht, um den Piz<br />
Bernina zu «bezwingen», denn er ist etwas<br />
über viertausend Meter hoch. George<br />
wollte aber nicht aufgeben. Er flog westlich<br />
am Piz Bernina vorbei und fand eine<br />
von der Sonne beschienene, fast senkrecht<br />
abfallende Felswand. Vielleicht<br />
steigt Luft an ihr hinauf. Vorsichtig näherte<br />
er sich der Wand und tatsächlich hob<br />
es ihn Meter um Meter in die Höhe.<br />
Inzwischen zeigte sein Höhenmeter<br />
4200 Meter über Meer an. Aber im Anflug<br />
auf den Gipfel verlor er zuviel Höhe und<br />
musste wieder abdrehen. «Ich muss meinen<br />
Plan begraben», dachte er. Plötzlich<br />
wurde es ganz ruhig um ihn herum. Keine<br />
Turbulenzen mehr. Er war in eine laminare,<br />
ansteigende Luftströmung geraten.<br />
Das Vario zeigte konstant einen Meter<br />
steigen pro Sekunde. George hielt den<br />
Atem an und wagte kaum mehr, sich zu<br />
bewegen. Als er 4300 Meter erreicht hatte,<br />
drehte er um und flog in der ansteigenden<br />
Luftströmung zurück. «Vielleicht klappt<br />
es ja doch noch». Sein Adrenalin stieg an.<br />
Er war nun deutlich höher als der Gipfel.<br />
Es könnte reichen. Er flog auf den Gipfel<br />
zu und flog einen Kreis über der Berg -<br />
spitze.<br />
Zufrieden glitt er anschliessend zur<br />
Diavolezza und betrachtete die mit Eis<br />
überzogenen Felsen. Die Schründe und<br />
Spalten sind eindrücklich. Der Cirrus<br />
zischte leise. George kannte sein Flugzeug<br />
und wusste anhand des Geräusches,<br />
mit welcher Geschwindigkeit er flog. Er<br />
brauchte nicht auf den Tachometer zu<br />
schauen. Langsam löste sich seine innere<br />
Anspannung. Da der Flugplatz Samaden<br />
auf 1700 M.ü.M. liegt, hatte er 2300 Meter<br />
unter den Flügeln. Das reicht um einen<br />
gemütlichen Gleitflug in der Gegend zu<br />
machen. Theoretisch 50 Minuten lang<br />
und 80 Km weit. George flog zum Maloja-Pass,<br />
ein kleines Liedchen vor sich her<br />
pfeifend. Weiter zum <strong>Juli</strong>er-Pass, mit einer<br />
Schleife nach Savognin. Die Bananen<br />
kamen ihm wieder in den Sinn. Schliesslich<br />
flog er zurück ins Engadin, in das Tal<br />
der wunderschönen Seen. An St. Moritz<br />
vorbei nach Samaden. Rechts von ihm sah<br />
er wieder den Muotas Muragl, wo sein<br />
Flug im Hangaufwind begann, in der<br />
Thermik weiterging und schliesslich in<br />
einer kleinen «Welle» seinen Höhepunkt<br />
fand. Die Schatten der Berge wurden<br />
langsam länger.<br />
Über Funkt meldete er sich bei der<br />
Flugleitung: «Samaden Boden von Vier-<br />
Drei!» Der Luftdruck ist während des<br />
Tages leicht gestiegen, sodass er den<br />
Höhenmesser nachstellte. Querab von<br />
der Aufsetzstelle auf der Landepiste kreiste<br />
er einige Höhenmeter ab. Rad ausfahren<br />
und in 200 Meter über Grund in die<br />
Landevolte eindrehen. Wegen des kräftigen<br />
Gegenwindes reichte das halbe Ausfahren<br />
der Landeklappen um mit optimaler<br />
Landegeschwindigkeit zum Aufsetzpunkt<br />
zu sinken. Mit dem Steuerknüppel<br />
sanft abfangen und weich aufsetzen.<br />
Nach vier erlebnisreichen Stunden öffnete<br />
George mit klammen Fingern die<br />
Cockpit-Haube. Er blieb noch eine Weile<br />
im Flugzeug sitzen. Die Eindrücke des<br />
Fluges inmitten der majestätischen Berge<br />
hatten ihn ergriffen.<br />
• Text und Bild: Jürg Gehrig •