Supplementum 3/2011 - Ãsterreichische Gesellschaft für Neurologie
Supplementum 3/2011 - Ãsterreichische Gesellschaft für Neurologie
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P.b.b. 07Z037411M, Benachrichtigungspostamt 1070 Wien<br />
neurologisch<br />
Fachmagazin für <strong>Neurologie</strong> SUPPLEMENTUM 3/<strong>2011</strong><br />
Offizielles Organ<br />
der Österreichischen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für<br />
<strong>Neurologie</strong><br />
Kongress-Highlights<br />
MedMedia<br />
Verlags Ges.m.b.H.<br />
9. Jahrestagung<br />
der Österreichischen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong>
Editorial<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />
Diese Ausgabe von neurologisch ist einer<br />
Nachlese der 9. Jahrestagung der ÖGN gewidmet,<br />
die im März in Wien stattgefunden<br />
hat. Mit über 660 TeilnehmerInnen, einem<br />
breit gefächerten Kursangebot und vor allem<br />
einem unserer Meinung nach qualitativ hoch<br />
stehenden wissenschaftlichen Programm mit<br />
den Schwerpunkten Neurogenetik und Therapie<br />
in der <strong>Neurologie</strong> blicken wir als Organisatoren<br />
durchaus stolz auf die Veranstaltung<br />
zurück. Wir hoffen, die TeilnehmerInnen<br />
konnten eine gut verständliche Einführung in<br />
die für uns klinische NeurologInnen oft sehr<br />
verwirrende Neurogenetik erhalten. Hier gab<br />
es ja in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung,<br />
die für manche neurologische<br />
Krankheitsbilder völlig neue Aspekte ermöglicht<br />
hat. Die Updates zu neuen Trends in<br />
der Therapie neurologischer Erkrankungen<br />
sollten uns alle auch daran erinnern, wie sehr<br />
sich die <strong>Neurologie</strong> von einer rein diagnostischen<br />
Disziplin zu einem Fach mit einem vielfältigen<br />
therapeutischen Angebot gewandelt<br />
hat.<br />
Die folgenden Beiträge wollen noch einmal<br />
an diese Schwerpunkte erinnern. Gottfried<br />
Kranz hat den Eröffnungsvortrag von Mark<br />
Hallett über die Behandlungsmöglichkeiten<br />
bei Dystonie zusammengefasst. Uwe Zettl<br />
gibt einen Überblick über neue orale Therapiemöglichkeiten<br />
bei multipler Sklerose. Stefan<br />
Greisenegger widmet sich der Schlaganfalltherapie<br />
bei multimorbiden PatientInnen,<br />
neuen Entwicklungen in der Sekundärprophylaxe<br />
des Schlaganfalls und der invasiven<br />
Schlaganfalltherapien. Er fasst damit die<br />
stimulierenden Vorträge von Wilfried Lang,<br />
Hans Christoph Diener und Hagen Huttner<br />
zusammen. Eva Hilger geht der Frage nach,<br />
ob wir unseren kognitiven Abbau beein -<br />
flussen können. Alexander Zimprich fasst seinen<br />
Überblick über die neuen Entwicklungen<br />
in der Neurogenetik zusammen. Johannes<br />
Berger, Michaela Auer-Grumbach, Saskia<br />
Biskup, Stephan Zierz und Fritz Zimprich<br />
weisen auf die Bedeutung der Genetik für<br />
das Verständnis der Pathophysiologie, aber<br />
auch für die Diagnostik der Leukodystrophien,<br />
hereditären Polyneuropathien, Bewegungsstörungen,<br />
Muskelerkrankungen und<br />
Epilepsien hin. Schließlich widmet sich Fahmy<br />
Aboul-Enein noch einem Thema, das durch<br />
die neuen Therapien der MS in letzter Zeit<br />
sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat und<br />
dem ein Spezialthema auf unserem Kongress<br />
gewidmet war: den Infektionen und der Infektionsprophylaxe<br />
bei multipler Sklerose.<br />
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die von<br />
Elisabeth Stögmann zusammengestellte Sitzung<br />
„Mein lehrreichster Fall“, die bei aller<br />
Wichtigkeit von Evidence-based Medicine unterstreichen<br />
wollte, wie viel wir aus Einzelfällen<br />
für unsere PatientInnen lernen können.<br />
Schließlich hoffen wir, dass Sie alle bei der<br />
„Millionenshow“ Spaß hatten! Dabei gilt<br />
unser besonderer Dank dem Moderator Helmut<br />
Pockberger. Natürlich wurden auch<br />
heuer wieder die besten eingereichten Arbeiten<br />
prämiert. Den so Ausgezeichneten<br />
dürfen wir noch einmal ganz herzlich gratulieren!<br />
Zuletzt sei daran erinnert, dass für den Erfolg<br />
einer Veranstaltung die Hilfe vieler Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter sowohl an der Klinik<br />
als auch im Vorstand und Sekretariat der<br />
ÖGN, aber auch die Unterstützung unserer<br />
Sponsoren aus der Industrie nötig sind. Ihnen<br />
allen ein ganz herzliches Dankeschön! Und<br />
zuallerletzt: Ein Kongress kann immer nur so<br />
gut sein wie seine BesucherInnen: In diesem<br />
Sinne möchten wir uns auch bei allen für<br />
ihre aktive Teilnahme, aber vor allem auch<br />
für die lebendigen Diskussionen bedanken!<br />
Karl Vass<br />
Eduard Auff<br />
Univ.-Prof. Dr. Karl Vass<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität Wien,<br />
Präsident der ÖGN<br />
3
Inhalt <strong>Supplementum</strong> 3/<strong>2011</strong><br />
KONGRESS-HIGHLIGHTS<br />
Jahrestagung der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für <strong>Neurologie</strong>, 16.–19. März <strong>2011</strong><br />
7 Preisverleihungen bei der Jahrestagung<br />
8 Behandlung der Dystonie<br />
G. Kranz, Wien<br />
12 Orale innovative Therapien zur<br />
immunmodulatorischen Behandlung<br />
der schubförmigen MS<br />
U. K. Zettl, Rostock<br />
18 Komplikationen neuer MS-Therapien:<br />
Infektionsprophylaxe und Infektionen<br />
F. Aboul-Enein, Wien<br />
24 Aktuelles und Neues<br />
zur Schlaganfalltherapie<br />
S. Greisenegger, Wien<br />
28 Können wir unseren<br />
kognitiven Abbau beeinflussen?<br />
E. Hilger, Wien<br />
30 Rezente Entwicklungen<br />
in der Neurogenetik<br />
A. Zimprich, Wien<br />
33 Genetik der Epilepsien<br />
F. Zimprich, Wien<br />
40 Genetik der Leukodystrophien<br />
J. Berger, Wien<br />
44 Genetik hereditärer Neuropathien<br />
M. Auer-Grumbach, Graz<br />
48 Neurogenetik der Bewegungsstörungen<br />
S. Biskup, Tübingen<br />
52 Diagnostischer Stellenwert von<br />
Muskelbiopsie und Molekulargenetik<br />
S. Zierz, Halle<br />
Wollen Sie mit uns<br />
in Kontakt treten?<br />
Leserbriefe erwünscht:<br />
neurologisch@medmedia.at oder<br />
Seidengasse 9/Top1.1,<br />
1070 Wien<br />
Chefredaktion<br />
neurologisch<br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager<br />
SMZ Ost, Wien<br />
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli<br />
Generalsekretär der ÖGN<br />
FOTO: MEDCOMMUNICATIONS<br />
Impressum<br />
Herausgeber: Österreichische <strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong>, Dr. Michael Ackerl, Präsident der ÖGN. Chefredaktion: Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli,<br />
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager. Medieninhaber und Verlag: MEDMEDIA Verlag und Mediaservice Ges.m.b.H, Seidengasse 9/Top 1.1, 1070 Wien, Tel.: 01/407 31 11-0, E-Mail:<br />
office@medmedia.at. Verlagsleitung: Mag. Gabriele Jerlich. Redaktion: Maria Uhl. Lektorat: onlinelektorat@aon.at. Layout/DTP: Martin Grill. Projektbetreuung: Natascha Fial.<br />
Coverfoto: Reed Messe Wien | G. Szuklits, Fotolia (2). Print: „agensketterl“ Druckerei GmbH, Mauerbach. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift ist zum Einzelpreis von 9,50 Euro plus<br />
MwSt. zu beziehen. Druckauflage: 8.100 Stück im 2. Halbjahr 2010, geprüft von der Österreichischen Auflagenkontrolle. Grundsätze und Ziele von neurologisch: Kontinuierliche<br />
medizinische Fortbildung für Neuro logen, Psychi ater und Allgemeinmediziner. Allgemeine Hinweise: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche und/oder wissenschaftliche<br />
Meinung des jeweiligen Autors wieder und fallen somit in den persönlichen Verantwortungsbereich des Verfassers. Angaben über Dosierungen, Applikationsformen und<br />
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Medieninhaber und Herausgeber keinerlei Haftung für drucktechnische und inhaltliche Fehler. Ausgewählte Artikel dieser Ausgabe finden Sie auch unter<br />
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5
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Preisverleihungen bei der Jahrestagung<br />
Auch heuer wurden von der ÖGN wieder zahlreiche Preise vergeben<br />
Posterpreise <strong>2011</strong><br />
Von den 134 eingereichten Postern aus den österreichischen neurologischen<br />
Arbeitsgruppen wurden dieses Jahr 6 Arbeiten mit einem Posterpreis,<br />
der jeweils mit 1000 Euro dotiert war, ausgezeichnet:<br />
P14 Hereditäre spastische Paraplegien (HSP):<br />
ein klinischer Algorithmus<br />
Nachbauer W., Napholz A., Eigentler A., Löscher W.,<br />
Poewe W., Bösch S.<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />
P42 Dickkopf-3 (DKK-3) protein in cerebrospinal<br />
fluid (CSF): a biomarker for neuplastic meningitis<br />
Hutterer M. 3 , Medinger M. 2 , Untergasser G. 2 , Steinlechner K. 1 ,<br />
Gstrein I. 1 , Deisenhammer F. 1 , Muigg A. 1 , Trinka E. 3 ,<br />
Gunsilius E. 2 , Stockhammer G. 1<br />
1<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />
2<br />
Tumor Biology and Angiogenesis Laboratory, Division of Hematology<br />
and Oncology, Medical University Innsbruck<br />
3<br />
Department of Neurology, Paracelsus Medical University Salzburg,<br />
Christian Doppler Klinik<br />
P23 Cognitive ability and cerebral perfusion<br />
(HMPAO-SPECT) in individuals with subjective<br />
cognitive complaints with and without cognitive<br />
deficits and with mild cognitive impairment<br />
Zauner H. 1 , Bergmann J. 2 , Kronbichler M. 2 , Golaszewski S. 3 ,<br />
Ladurner G. 3 , Staffen W. 3<br />
1<br />
Rehabilitationszentrum der Pensionsversicherungsanstalt Großgmain<br />
2<br />
Center of Cognitive Research Salzburg<br />
3<br />
Paracelsus Medical University, Christian-Doppler-Klinik, Salzburg<br />
V03 Atraumatische nichtaneurysmatische<br />
Subarachnoidalblutungen an der Hirnkonvexität:<br />
eine unterschätzte Differenzialdiagnose zur TIA?<br />
Gattringer T. 1 , Beitzke M. 1 , Enzinger C. 1, 2 , Wagner G. 3 ,<br />
Niederkorn K. 1 , Ropele S. 1 , Fazekas F. 1<br />
1<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Graz<br />
2<br />
Universitätsklinik für Radiologie, Klinische Abteilung für Neuroradiologie,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
3<br />
Institut für medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation,<br />
Medizinische Universität Graz<br />
V09 Posteriores reversibles enzephalopathisches<br />
Syndrom (PRES) – Albumin als neuer Risikofaktor<br />
oder Therapieoption?<br />
Pirker A., Prayer D., Serles W., Auff E., Voller B.<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Wien<br />
V10 Natürlicher Verlauf von therapieresistenten<br />
Epilepsien – eine retrospektive Untersuchung<br />
epilepsiechirurgisch behandelter Patienten<br />
Dobesberger J. 1, 2 , Rohracher A. 2 , Höfler J. 1, 2 , Unterberger J. 2 ,<br />
Walser G. 2 , Kuchukhidze G. 2 , Granbichler C. 2<br />
1<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Paracelsus Medizinische<br />
Privatuniversität, Christian-Doppler-Klinik, Salzburg<br />
2<br />
Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />
3<br />
Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Innsbruck<br />
JournalistInnenpreis der ÖGN<br />
Heuer wurden zum zweiten Mal im Rahmen der 9. Jahrestagung der<br />
ÖGN JournalistInnenpreise vergeben, um besonders gut behandelte<br />
neuro logische Themen aus Laienmedien zu würdigen. Insgesamt wurden<br />
12 Beiträge – 3 aus dem Bereich Hörfunk, 5 TV und 9 aus Printmedien –<br />
eingereicht. Die 3 mit jeweils 1.500 Euro dotierten JournalistInnenpreise<br />
gingen an:<br />
TV:<br />
Gerlinde Scheiber, ORF – Thema: Epilepsie<br />
Sendedatum: 22. Februar 2010<br />
Sendung: Winterzeit ORF<br />
Hörfunk:<br />
Sabine Fisch, ORF<br />
Thema: Neuro-Aids: Die heimliche Invasion im Gehirn<br />
Sendedatum: 8. April 2010<br />
Sendung: Ö1 – Dimensionen – Die Welt der Wissenschaft<br />
Printmedium:<br />
Robert Buchacher, profil – Thema: Schmerz- und Schmerzbehandlung<br />
erschienen: 25. Jänner 2010 in der Zeitschrift profil<br />
Neuromillionenshow<br />
Erstmals wurde heuer im Rahmen der Jahrestagung<br />
eine neurologische Quizshow ver an -<br />
staltet, die sich sehr reger Beteiligung er -<br />
freute. GewinnerInnen der Neuromillionenshow sind Julia Ferrari, Wien,<br />
Bernadette Calabek, Wien, Walter Struhal, Linz. Ihnen werden die Kosten<br />
für Anfahrt, Übernachtung sowie die Anmeldegebühr für die ÖGN-<br />
Tagung 2012 ersetzt.<br />
7
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Behandlung der Dystonie<br />
Der Eröffnungsvortrag der diesjährigen ÖGN-Jahrestagung war der Behandlung von Dystonien gewidmet.<br />
Prof. Dr. Mark Hallett, Leiter der Human Motor Control Section am National Institute of Health in Bethesda, USA,<br />
skizzierte systematisch die großen Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet gemacht<br />
wurden, und eröffnete den Ausblick auf zukünftige Therapiestrategien.<br />
Einteilung der Dystonien<br />
Die derzeit populärste unter den zahlreichen<br />
Möglichkeiten, Dystonien zu klassifizieren, ist<br />
die Einteilung in primäre und sekundäre Formen.<br />
Mit primären Formen meint man, soweit<br />
dies bekannt ist, genetische Entitäten.<br />
Diese treten meist als generalisierte Dystonien<br />
im Kindesalter und als fokale Formen im Erwachsenenalter<br />
auf, während sekundäre Dystonien<br />
durch definierte Läsionen im Nervensystem<br />
entstehen. Die Liste der primären Dystonien<br />
reicht derzeit bis DYT 20, wobei einige<br />
Formen wahrscheinlich mehrfach in der Klassifizierung<br />
aufscheinen. Für die fokalen Formen<br />
mit Manifestation im Erwachsenenalter,<br />
vertreten durch die zervikale Dystonie (ZD),<br />
den Blepharospasmus (BSP), die fokale Handdystonie<br />
(FHD) und die spasmodische Dysphonie,<br />
sind noch keine Gene bekannt.<br />
Als dritte Form, so betonte Hallett, sollten<br />
die psychogenen Dystonien abgegrenzt werden.<br />
Seit ihrer Erstbeschreibung durch Oppenheim<br />
im Jahr 1911 wurde die Dystonie<br />
von der Diskussion um ihre Organizität begleitet.<br />
Oppenheim selbst vertrat die Ansicht,<br />
es handle sich um die Mischung aus einer<br />
organischen und einer psychischen Störung,<br />
während in der allgemeinen Anschauung damals<br />
von einer rein psychischen Erkrankung<br />
ausgegangen wurde oder man der Ansicht<br />
war, PatientInnen würden die Symptome einfach<br />
simulieren.<br />
Kausale Therapieformen<br />
Bei der Therapie der Dystonien sollte man<br />
zunächst nach kausalen Behandlungsmöglichkeiten<br />
Ausschau halten. Da die Ursache<br />
der meisten Formen jedoch nicht bekannt ist,<br />
kann dieser Ansatz bisher nur bei der Segawa-Dystonie<br />
erfolgen. Diese – auch Dopa-responsive<br />
Dystonie genannte – Form wird<br />
meist autosomal dominant vererbt und entsteht<br />
durch einen Enzymdefekt bei der Dopaminsynthese<br />
(GTP-Cyclohydrolase I), seltener<br />
autosomal rezessiv durch einen Defekt<br />
in der Tyrosinhydroxylase. Dementsprechend<br />
handelt es sich bei der Therapie um eine Dopaminsubstitution.<br />
Obwohl diese Form nur selten vorkommt,<br />
sind die Behandlungserfolge dramatisch und<br />
führen gelegentlich zu Schlagzeilen in den<br />
Medien, wenn etwa ein vermeintliches ICP-<br />
Kind (infantile Zerebralparese) durch eine geringe<br />
L-Dopa-Dosis aus dem Rollstuhl aufsteht.<br />
Die Wirkung scheint mit der Zeit nicht<br />
nachzulassen, wie Hallett durch persönlichen<br />
Kontakt mit Dr. Segawa berichtet, der manche<br />
seiner ursprünglichen PatientInnen nun<br />
seit fast 40 Jahren nachverfolgt. Es gibt dabei<br />
jedoch auch seltenere Fälle, bei denen die<br />
Dystonie erst im Erwachsenenalter als fokale<br />
Form in Erscheinung tritt, sodass man das<br />
Segawa-Syndrom bei der Behandlung von<br />
Dystonien als Differenzialdiagnose nie vergessen<br />
sollte.<br />
Pharmakologische Behandlung<br />
Dr. Gottfried Kranz<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
Ist eine ätiologische Behandlung nicht möglich,<br />
so muss symptomatisch therapiert werden.<br />
L-Dopa kann auch hier versucht werden,<br />
in der Regel sind aber deutlich höhere Dosen<br />
als beim Segawa-Syndrom notwendig, bei oft<br />
geringem Ansprechen. In erster Linie werden<br />
aber andere orale Systemtherapien wie Anticholinergika,<br />
GABAerge Substanzen (Benzodiazepine,<br />
GABA-A; Baclofen, GABA-B)<br />
und im Weiteren auch atypische Antipsychotika<br />
zur Anwendung kommen. Tetrabenazin<br />
verdient besondere Erwähnung. Während es<br />
in Europa auch schon früher bei der Dystonie<br />
Anwendung fand, wurde es in den USA<br />
kaum verwendet. Jancovic et al. zeigten in<br />
einer retrospektiven Untersuchung, dass bei<br />
etwa 60 % seiner über 400 behandelten PatientInnen<br />
deutliche Besserungen zu ver -<br />
zeichnen waren. Die Myoklonus-Dystonie hin -<br />
gegen, DYT 11 und DYT 15, zeigt Ansprechen<br />
auf Äthanol, was Grund zur Hoffnung<br />
gibt, hier pharmakologisch verwandte Sub -<br />
s tanzen zu finden.<br />
Therapie fokaler Dystonien<br />
Andere Therapieverfahren wie neuromuskuläre<br />
Denervierung, periphere Chirurgie und<br />
oberflächliche Hirnstimulation sind mehr den<br />
fokalen Formen vorbehalten.<br />
Botulinumtoxin: Intramuskuläre Injektionen<br />
mit Botulinumtoxin-A stellen derzeit die Therapie<br />
der Wahl bei fokalen Dystonien dar.<br />
Das geringe Nebenwirkungsprofil bei gleichzeitig<br />
meist sehr überzeugendem therapeutischem<br />
Effekt macht den großen Erfolg dieser<br />
Substanzklasse aus. In Europa und den<br />
USA sind derzeit vier Präparate verfügbar,<br />
drei Typ-A-Toxine, Botox ® , Dysport ® und<br />
Xeomin ® und ein Typ-B-Präparat, Neurobloc ® /<br />
8
Myobloc ® . Dennoch hat auch diese rein symptomatische Behandlungsweise<br />
ihre Limitationen. So wäre beispielsweise eine Verlängerung<br />
der Wirkdauer wünschenswert, da viele PatientInnen zwischen<br />
den Injektionsintervallen eine Rückkehr ihrer Symptome erleben.<br />
Systematische Trainingsprogramme: Während begleitende Physiotherapie<br />
auch bei generalisierten Dystonien hilfreich zu sein scheint,<br />
wurde sie bei fokalen Formen, insbesondere bei der fokalen Handdystonie,<br />
im Rahmen von systematischen Trainingsprogrammen eingesetzt.<br />
Wie sich beispielsweise am Schreibkrampf zeigte, ist diese<br />
Form der Dystonie nicht nur absolut aufgabenspezifisch, sondern<br />
lässt sich schon dadurch verbessern, dass ein nur leicht geändertes<br />
Motorprogramm abgerufen wird. Dies kann beim Schreibkrampf<br />
durch eine Schreibhilfe erreicht werden oder dadurch, dass das dystone<br />
motorische Programm leicht verändert und damit umgangen<br />
wird oder der sensible Input modifiziert wird.<br />
Zeuner et al. studierten die Wirkung von motorischer und sensibler<br />
Rehabilitation, indem sie definierte Bewegungsprogramme anwendeten<br />
oder ein Sensibilitätstraining mittels Lesen von Braille-Schrift applizierten.<br />
Sensible abnorme räumliche und zeitliche Diskrimination in den<br />
Händen ist bei fokalen Dystonien bekannt. Interessanterweise stellte<br />
sich heraus, dass das Sensibilitätstraining wirkungsvoller war als das<br />
motorische Training, jedoch auch nur so lange anhielt, so lange trainiert<br />
wurde. Die abnorme sensible Integration ist hier offenbar maßgeblich<br />
beim Abrufen und Entwickeln von abnormen Motorprogrammen.<br />
Periphere Chirurgie: Einen weiteren therapeutischen Ansatz bei fokalen<br />
Dystonien stellen verschiedene Arten von peripheren Operationen<br />
dar. Bei PatientInnen mit ausgeprägtem BSP und schlechtem<br />
Ansprechen auf Botulinumtoxin kann die (partielle) Myektomie eine<br />
gute Therapieoption darstellen. Selektive Denervierung wird häufiger<br />
bei ZD verwendet, hat jedoch häufig nur temporären Erfolg.<br />
Oberflächliche Hirnstimulation: Nichtinvasive oberflächliche Hirnstimulation<br />
befindet sich noch in einem experimentellen Stadium,<br />
scheint jedoch viel versprechend. Pathophysiologischen Konzepten<br />
der Dystonie folgend, handelt es sich bei den Interventionen darum,<br />
die reduzierte motorische Inhibition derart zu modifizieren, dass durch<br />
Erhöhung der inhibitorischen Einflüsse die kortikale Übererregbarkeit<br />
reduziert wird. Dies lässt sich tatsächlich nach inhibitorischen Stimulationsverfahren<br />
wie der niedrigfrequenten transkraniellen Magnetstimulation<br />
(rTMS) oder der direkten elektrischen Gleichstrombehandlung<br />
(DC-Stimulation) elektrophysiologisch nachweisen.<br />
Dass dies auch klinische Auswirkungen auf die Dystonie haben kann,<br />
konnten Murase et al. bei Schreibkrampf demonstrieren. Es zeigte<br />
sich aber, dass die Stimulation von prämotorischen Arealen wirkungsvoller<br />
war als jene vom primär motorischen Kortex. In zwei rezenten<br />
Studien, die am NIH von Kranz et al. durchgeführt wurden, wurde<br />
bei BSP der anteriore cinguläre Kortex als Zielstruktur nichtinvasiver u
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Stimulation etabliert. Gleichzeitig wurden<br />
auch unterschiedliche Stimulationstechniken<br />
und -methoden miteinander verglichen,<br />
wobei rTMS den anderen Methoden überlegen<br />
war. rTMS mit zwei verschiedenen<br />
Verum-Stimulationsspulen brachte gegenüber<br />
Placebo neben einer weitgehenden Normalisierung<br />
der Blinkreflex-Habituation eine<br />
klinische Verbesserung des BSP, die über eine<br />
Stunde anhielt.<br />
Da sich bereits bei M. Parkinson zeigte, dass<br />
wiederholte oberflächliche Hirnstimulationen<br />
einen prolongierten Stimulationseffekt ha -<br />
ben, sollten zukünftig länger dauernde<br />
Stimulationsprotokolle bei Dystonien durchgeführt<br />
werden.<br />
Therapie<br />
generalisierter Dystonien<br />
Neben den bereits erwähnten pharmakologischen<br />
Ansätzen und der Physiotherapie<br />
kommen hier invasive Therapieverfahren in<br />
Betracht. Tiefer gelegene Hirnstrukturen können<br />
mit der läsionellen Hirnchirurgie und der<br />
tiefen Hirnstimulation (THS) erreicht werden.<br />
Während in Europa und den USA vornehmlich<br />
Letztere Anwendung findet, werden in<br />
Japan und China läsionelle Verfahren wie die<br />
stereotaktische Thalamotomie auch bei fokalen<br />
Dystonien durchgeführt, wie vom Neurochirurgen<br />
Dr. Taira aus Tokio zuletzt beschrieben.<br />
Aufgrund der Irreversibilität läsioneller Verfahren<br />
und der Möglichkeit der vielschichtigen<br />
Adaptation der THS wird diese in Europa<br />
und den USA favorisiert. Das Zielgebiet der<br />
Stimulation ist hierbei hauptsächlich der Globus<br />
pallidus internus (GPI). In einer ersten<br />
Arbeit wurden verschiedene Arten von Dystonien<br />
mittels GPI-THS operiert, und es zeigte<br />
sich, dass vor allem PatientInnen mit primärer<br />
Dystonie ansprachen, was sich auch in späteren<br />
Arbeiten bestätigte. Eine französische<br />
Studie zeigte dann, dass dieses gute Ansprechen<br />
über ein Jahr anhielt und dass mit einem<br />
vollen Ansprechen im Mittel erst nach etwa<br />
drei Monaten postoperativ gerechnet werden<br />
kann, auch wenn es immer wieder Fälle gab,<br />
bei denen es auch noch nach einem Jahr zu<br />
Verbesserungen kam.<br />
In einer deutschen Arbeit von Kupsch et al.<br />
wurde dann erstmals ein placebokontrolliertes<br />
Setting gewählt, bei dem zwar zunächst<br />
alle PatientInnen operiert wurden, ein Teil der<br />
PatientInnen jedoch erst nach 3 Monaten stimuliert<br />
wurde. Diese Arbeit zeigte, dass sich<br />
PatientInnen erst unter Stimulation merklich<br />
besserten. In einer weiteren französischen<br />
Studie wurden PatientInnen drei Jahre nachverfolgt,<br />
und der gute Effekt blieb bestehen.<br />
Auch die ZD scheint hier gut anzusprechen,<br />
wie sich in mehreren Studien bestätigte. Bei<br />
kranialer Dystonie gibt es jedoch noch nicht<br />
viele Daten. Ostrem und Starr aus San Francisco<br />
zeigten zuletzt, dass GPI-THS bei PatientInnen<br />
mit zervikaler und zusätzlich kranialer<br />
Dystonie auch im kranialen Bereich<br />
deutliche Verbesserungen bringen kann. Zugleich<br />
traten bei manchen PatientInnen<br />
neben der Verbesserung der Dystonie auch<br />
zunehmende bradykinetische Veränderungen<br />
auf. In einer rezenten Publikation berichteten<br />
die AutorInnen von 9 Patienten mit<br />
ZD, die bei einer Stimulation im Nucleus subthalamicus<br />
ähnlich gute Verbesserungen der<br />
Dystonie erfuhren, ohne jedoch dabei bradykinetisch<br />
zu werden. Darüber hinaus werden<br />
auch immer wieder sehr gute Ergebnisse<br />
bei PatientInnen mit tardiver Dystonie berichtet.<br />
Während beide Verfahren, die THS und die<br />
läsionelle Chirurgie, überzeugende klinische<br />
Effekte haben können, so fehlt uns doch<br />
jedes wirkliche pathophysiologische Verständnis<br />
für deren Wirkungsweise, wie Hallett<br />
betonte. Bemerkenswert scheint in diesem<br />
Zusammenhang die Tatsache, dass der<br />
therapeutische Effekt nach GPI-THS bei Dystonien<br />
verzögert eintritt, während er beispielsweise<br />
nach Thalamus-Stimulation rascher<br />
eintritt. Dies lässt plastische Adaptationsvorgänge<br />
vermuten, deren genaue<br />
Wirkungsweise noch offen ist. Gleiches gilt<br />
für Fragen, die den Stimulationsort und die<br />
Stimulationsparameter betreffen.<br />
Therapie<br />
psychogener Dystonien<br />
Psychogene Ursachen sollten laut Hallett<br />
nicht vernachlässigt werden, da die psychogene<br />
Dystonie eine der häufigsten Formen<br />
psychogener Bewegungsstörungen darstellt.<br />
Sie bereitet allerdings, verglichen mit anderen<br />
psychogenen Bewegungsmustern wie dem<br />
psychogenen Tremor oder psychogenen Myoklonien,<br />
manchmal Schwierigkeiten bei der<br />
Diagnosestellung, was die lange historische<br />
Debatte um die Ursache von Dystonien überhaupt<br />
erklären mag.<br />
Wünschenswert wäre also eine einfache apparative<br />
Methode, um zwischen psychogenen<br />
und organischen Formen unterscheiden zu<br />
können. Die gepaarte assoziative Stimulation<br />
(PAS) könnte sich hier als Methode etablieren.<br />
Diese zeigt abnorme Befunde nur bei organischer<br />
Dystonie, wie Quartarone zeigen konnte.<br />
Bei BSP könnte die Blinkreflex-Habituation als<br />
Test herangezogen werden (Schwingenschuh<br />
et al.). Sollten sich diese Ergebnisse bestätigen,<br />
so hätten wir möglicherweise Instrumente in<br />
der Hand, um formal die Diagnose einer psychogenen<br />
Dystonie zu stellen.<br />
Bevor mit der Behandlung einer psychogenen<br />
Dystonie begonnen werden kann, muss<br />
der/die PatientIn die Diagnose einmal akzeptieren,<br />
was manchmal ein längerer Weg sein<br />
kann. Dazu ist ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis<br />
notwendig. Zur Therapie sollte dann<br />
ein multidisziplinärer Ansatz mit NeurologInnen,<br />
PsychiaterInnen, Physio- und PsychotherapeutInnen<br />
gewählt werden. Psychotherapie<br />
ist hilfreich, hier hat sich zuletzt die kognitive<br />
Verhaltenstherapie als effektiv erwiesen. Antidepressiva<br />
und Anxiolytika können eingesetzt<br />
werden, da komorbide Depressionen<br />
oder Angststörungen vorliegen können,<br />
deren pharmakologische Behandlung die psychogene<br />
Dystonie verbessern kann. Sicherlich<br />
muss auf diesem Gebiet noch einiges getan<br />
werden, aber es ist schon ein wichtiger erster<br />
Schritt, den/die PatientenIn zu diagnostizieren<br />
und so auf die richtige Therapieschiene<br />
zu bringen.<br />
n<br />
10
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Orale innovative Therapien zur<br />
immunmodulatorischen Behandlung<br />
der schubförmigen MS<br />
In den nächsten Monaten werden sowohl innovative orale DMD (Disease-modifying Drugs) als auch neue<br />
orale Substanzen zur symptomatischen Behandlung der multiplen Sklerose zur Verfügung stehen bzw. wird ihre<br />
Zulassung erwartet. Aufgrund der komplexen Analysen zur Wirkungs- und Nebenwirkungsbeurteilung der<br />
einzelnen Substanzen kommen die verschiedenen Zulassungsbehörden zunehmend zu differenten Urteilen.<br />
Dies kann für KlinikerInnen nur bedeuten, auch nach Zulassung dieser innovativen Therapeutika – insbesondere<br />
in der Langzeitanwendung – sehr vigilant in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkungen zu sein.<br />
DDie multiple Sklerose (MS) ist die häufigste<br />
immunmediierte Erkrankung des ZNS, bei der<br />
Umweltfaktoren 4, 10 und genetische Komponenten<br />
6 eine zentrale Rolle bei der Krankheitsentstehung<br />
spielen 9 . Rezente Unter -<br />
suchungen belegen, dass die Neurodege -<br />
neration möglicherweise als Folge der<br />
entzündlichen Reaktion im Krankheitsverlauf<br />
von zunehmender Bedeutung für persistierende<br />
klinische Defizite bei MS-PatientInnen<br />
ist 8 .<br />
Tab. 1: Immuntherapeutika bei schubförmig verlaufender MS<br />
Diese Aspekte implizieren den optimalen Einsatz<br />
sowohl der immunmodulierenden/immunsuppressiven<br />
Therapeutika (DMD) als<br />
auch der symptomatischen Behandlungsmöglichkeiten<br />
für die einzelnen MS-PatientInnen.<br />
Während bei den symptomatischen Behandlungsansätzen<br />
eine Reihe oraler Therapieoptionen<br />
(Analgetika, Antispastika, Antidepressiva<br />
etc.) eingesetzt werden können 5 , stehen<br />
bei den DMD als Basistherapeutika der ersten<br />
Medikation Handelsname Zulassungsjahr * Applikationsart Indikation<br />
Interferon beta-1b Betaferon ® 1995 s.c. Basistherapie<br />
Extavia ®<br />
First Line<br />
Interferon beta-1a Avonex ® 1996 i.m. Basistherapie<br />
First Line<br />
Interferon beta-1a Rebif ® 22 1998 s.c. Basistherapie<br />
First Line<br />
Interferon beta-1a Rebif ® 44 1999 s.c. Basistherapie<br />
First Line<br />
Azathioprin ** Imurek ® 2000 oral Basistherapie<br />
Second Line<br />
Glatirameracetat Copaxone ® 2001 s.c. Basistherapie<br />
First Line<br />
Mitoxantron Novantron ® 2002 i.v. Eskalation<br />
Ebexantron ®<br />
Natalizumab Tysabri ® 2006 i.v. Eskalation<br />
Fingolimod Gilenya ® <strong>2011</strong> oral Eskalation<br />
* in vielen europäischen Staaten<br />
** in Österreich nicht direkt für MS zugelassen<br />
Prof. Dr. Uwe K. Zettl<br />
Klinik und Poliklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
AG Neuroimmunologie,<br />
Universität Rostock<br />
Linie nur parenteral anzuwendende Medikamente<br />
(Tab. 1) zur Verfügung 13 .<br />
Die potenziellen Limitierungen einer langjährigen<br />
Injektionstherapie (Beta-Interferone,<br />
Glatirameracetat) sind offensichtlich. Neben<br />
lokalen Reaktionen und Problemen in der<br />
praktischen Handhabbarkeit beeinflusst eine<br />
Injektionstherapie unter Umständen die Lebensqualität<br />
und Adhärenz 12 . Die Abbruchraten<br />
für die derzeitigen DMD liegen in Abhängigkeit<br />
der Betreuungssituation bei bis zu<br />
25 % pro Jahr. In der Initialphase der Therapie<br />
sind es häufig Nebenwirkungen oder eine<br />
Spritzenphobie, die zum Therapieabbruch<br />
führen. Im weiteren Verlauf tritt nicht selten<br />
eine „Injektionsmüdigkeit“ auf, oder es werden<br />
die individuellen Erwartungen der PatientInnen<br />
nicht erfüllt.<br />
Die Wirksamkeit aller Basispräparate, ins -<br />
besondere auf die Schubaktivität der MS, ist<br />
in großen prospektiven Multizenterstudien<br />
nachgewiesen. Leider ist aber ein Teil der PatientInnen<br />
trotz kontinuierlicher Anwendung<br />
der DMD nicht dauerhaft aktivitätsfrei. Die<br />
Langzeitsicherheit dieser Präparate hingegen<br />
ist mit zum Teil über 20 Jahren Therapieerfahrung<br />
gut belegt.<br />
12
Orale Therapieoptionen<br />
Azathioprin<br />
Das bisher einzige „offiziell“ zur Verfügung<br />
stehende orale DMD bei der schubförmigen<br />
MS ist das in den Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Empfehlungen<br />
(MSTKG-Empfehlungen)<br />
als Second Line eingestufte Basistherapeutikum<br />
Azathioprin 13 . In Österreich<br />
ist in der Fachinformation für Azathioprin die<br />
Indikation multiple Sklerose bzw. schubförmige<br />
multiple Sklerose nicht ausdrücklich erwähnt.<br />
Der Vorteil von Azathioprin ist neben der oralen<br />
Applikation die seit über 40 Jahren vorliegende<br />
klinische Erfahrung mit dieser Substanz<br />
in verschiedenen Indikationsgebieten<br />
der Medizin. Eine Limitierung aus heutiger<br />
Sicht stellt hingegen die lückenhafte Studienlage<br />
im Vergleich zu den anderen Basistherapien<br />
bei der MS dar. Weitere Nachteile<br />
von Azathioprin sind, dass es im Körper erst<br />
in die aktive Form umgewandelt werden<br />
muss (Prodrug) und dieser Prozess bis zur<br />
vollen Wirkungsentfaltung bis zu mehreren<br />
Monaten dauern kann. Über den immunsuppressiven<br />
Wirkmechanismus nach längerer<br />
Einnahme (über 3–10 Jahre) steigt das Neoplasierisiko.<br />
Der Wunsch und die Hoffnung, dass neue<br />
Medikamente in Tablettenform zur Behandlung<br />
der MS <strong>2011</strong> zur Verfügung gestellt<br />
werden könnten, wurden bei PatientInnen<br />
mit MS, aber auch bei ÄrztInnen in den letzten<br />
Monaten durch Studienergebnisse genährt.<br />
Die neuen oralen DMD sollten somit nicht<br />
nur die Adhärenz steigern, sondern auch<br />
wirksamer sein als die bisher zur Verfügung<br />
stehenden Basistherapeutika.<br />
FTY720 (Fingolimod, Gilenya ® )<br />
FTY720 ist ein Strukturanalogon von Myriocin,<br />
einem Metaboliten des Pilzes Isaria sinclairii,<br />
welcher in der traditionellen asia -<br />
tischen Medizin verwendet wird. Das oral<br />
applizierte Prodrug FTY720 wird durch die<br />
Sphingosinkinase zu FTY720-Phosphat<br />
Abb. 1: Signalweg von Sphingosinkinase-2 (S1P) und Fingolimod (FTY720).<br />
Die Sphingosinkinase-2 phosphoryliert sowohl Sphingosin als auch Fingolimod und überführt beide in<br />
ihre aktive Formen (S1P und FTY720-P), welche an den S1-Rezeptor binden und internalisiert werden.<br />
Während es nach der Internalisierung von FTY720-P und dem S1P-Rezeptor zur Degradation des<br />
Rezeptors kommt, wird der S1P-Rezeptor nach S1P-Stimulation internalisiert und recycelt.<br />
Tab. 2: FTY720-Studienprogramm<br />
(FTY720-P) aktiviert (Abb. 1). FTY720-P kann<br />
als Agonist an den Sphingosin-1-Phosphat-<br />
Rezeptoren (S1P1, S1P3, S1P4, S1P5) binden.<br />
Die Bindung von FTY720-P an die S1P-Rezeptoren<br />
auf Lymphozyten bewirkt eine Internalisierung<br />
und Down-Regulation dieser<br />
Rezeptoren mit der Folge, dass die Rezirkulation<br />
der Lymphozyten aus den sekundären u<br />
Studie Design Indikation Patienten Dauer<br />
FREEDOMS FTY720 0,5 mg und RRMS 1272 2 Jahre<br />
1,25 mg vs. Placebo (Europa) (Phase III) (Extensionsphase)<br />
FREEDOMS II FTY720 0,5 mg und RRMS 1088 2 Jahre<br />
1,25 mg vs. Placebo (USA) (Phase III) (Extensionsphase)<br />
TRANSFORMS FTY720 0,5 mg und RRMS 1292 1 Jahr<br />
1,25 mg vs. Avonex ® (Phase III) (Extensionsphase)<br />
INFORMS FTY720 0,5 mg vs. Placebo PPMS 630 3 Jahre<br />
(Phase III)<br />
(Extensionsphase)<br />
1201 FTY720 0,5 mg und RRMS 165 6 Monate<br />
1,25 mg vs. Placebo (Japan) (Phase II) (Extensionsphase)<br />
2201 FTY720 1,25 mg und RRMS 281 6 Monate<br />
(Phase II) 5 mg vs. Placebo (Phase II) Übernahme<br />
in 2201E1<br />
2201E1 Offene Extensionsstudie der RRMS > 140 bis zur Einführung<br />
(Phase II Ext) Phase II mit FTY720 1,25 mg (Phase II)<br />
2316 Offene Multi-Center-Studie RRMS 600 16 Wochen mit<br />
(Phase IIIb) zu Verträglichkeit, Sicherheit (Phase IIIb) optionaler<br />
Extension<br />
RRMS = relapsing remitting multiple sclerosis (schubförmig remittierende multiple Sklerose)<br />
PPMS = primary progressive multiple sclerosis (primär progrediente multiple Sklerose)<br />
13
-<br />
-<br />
- -<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
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-<br />
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Abb. 2: Nebenwirkungen: FTY720 im Vergleich zu IFN-1a IM<br />
Höher mit IFN-1a IM<br />
Höher mit FTY720<br />
Overall AEs<br />
Gamma-glutamyl<br />
transferase increased<br />
Hepatic enzyme increased<br />
Alanine aminotransferase increased<br />
Hypertension<br />
Bronchitis<br />
Depression<br />
Arthralgia<br />
Myalgia<br />
Pyrexia<br />
Infusion-related reaction<br />
Influenza-like illness<br />
Chills<br />
lymphatischen Organen wie Lymphknoten<br />
und Lymphfollikel in die Blutbahn verhindert<br />
wird (Abb. 1).<br />
Dieser Effekt ist in der Regel innerhalb von<br />
Wochen nach Absetzen von FTY720 rever -<br />
sibel. Da S1P-Rezeptoren auch auf anderen<br />
Zellen und Geweben wie Haut, Endothelien,<br />
Herz und Glia sowie Neuronen lokalisiert<br />
sind, werden einerseits weitere therapeu -<br />
tische Effekte (Beeinflussung endothelialer<br />
0,004 0,016 0,063 0,250 1 4 16 64 256<br />
Relative risk with 95%-CI<br />
Abb. 3: Intrazellulärer Metabolismus von Cladribin<br />
TRANSFORMS-Studie;<br />
FTY720 0,5 mg (n = 429)<br />
IFN-1a i.m. (n = 431)<br />
Presentation FDA-Advisory Committee Meeting June 10, 2010<br />
Schrankenfunktion, neuronale Regeneration)<br />
postuliert, deren klinische Relevanz aber noch<br />
gezeigt werden muss, andererseits können<br />
die auf anderen Organen lokalisierten S1P-<br />
Rezeptoren somit aber auch eine Reihe potenzieller<br />
Nebenwirkungen wie Bradykardie<br />
und Blutdruckanstieg erklären.<br />
Klinische Daten: In zwei großen klinischen<br />
Phase-III-Studien (FREEDOMS- und TRANS-<br />
(2-Chlorodeoxyadenosin: 2-CdA) wird intrazellulär durch das Enzym Desoxycytidinkinase (DCK)<br />
phosphoryliert and sequenziell in 2-Chlorodeoxyadenosin-5’-Monophophat (2-CdAMP),<br />
2-Chlorodeoxyadenosin-5’-Diphophat (2-CdADP) und schließlich den aktiven Metaboliten,<br />
2- Chlorodeoxyadenosin-5’-Triphophat (2-CdATP), umgewandelt. In den meisten Körperzellen wird<br />
2-CdATP durch 5’-Nukloeotidasen (5’-NTasen) dephosphoryliert und damit inaktiviert. Aufgrund<br />
der hohen intrazellulären DCK- und niedrigen 5’-Ntase-Aktivität in Lymphozyten kommt es zu einer<br />
selektiven Anreicherung von 2-CdATP. Diese Akkumulation wird durch die Resistenz von Cladribin<br />
gegenüber der Adenosindesaminase (ADA), die durch die Substitution eines Wasserstoffatoms durch<br />
ein Chloratom in Position 2 des Purinringes bedingt ist, weiter verstärkt 11 .<br />
FORMS-Studie) wurde das Medikament auf<br />
seine klinische Wirkung geprüft 2, 7 (Tab. 2).<br />
In der FREEDOMS-Studie wurden zwei unterschiedliche<br />
Dosen der täglich einzunehmenden<br />
Tabletten gegen ein Placebo ge -<br />
testet 7 . Nach zwei Jahren fand man eine<br />
Reduktion der Schubzahl von 54 % bei niedriger<br />
Dosierung (0,5 mg pro Tag) und von<br />
60 % in der höheren Dosierung (1,25 mg<br />
pro Tag). Die Zahl der entzündlichen Hirnläsionen<br />
sank ebenfalls, wie serielle MRT-Aufnahmen<br />
zeigten, und die Behinderungsprogression<br />
wurde signifikant verzögert.<br />
In einer weiteren 12-monatigen Studie<br />
(TRANSFORMS) senkte FTY720 in einer täglichen<br />
Dosis von 0,5 mg gegenüber dem intramuskulär<br />
gegebenen Interferon beta 1a<br />
(Avonex ® ) die Schubzahl um 52 % 1 . Auch<br />
die Zahl neuerer oder größerer MS-Herde im<br />
MRT sank (1,6 gegenüber 2,6) unter einer<br />
FTY720-Behandlung. Hinsichtlich der Krankheitsprogression<br />
zeigten sich keine signifikanten<br />
Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten.<br />
Unter FTY720 kam es in der Gruppe der PatientInnen<br />
mit höherer Dosierung zu teilweise<br />
schwerwiegenden Infektionen. Eine ausgeprägte<br />
Varizella-zoster- und eine nicht beherrschbare<br />
Herpes-simplex-Infektion führten<br />
zum Tod. In der Gruppe mit der niedrigeren<br />
Dosierung zeigten sich diese schwereren Nebenwirkungen<br />
nicht. Deshalb wird die höhere<br />
Dosierung von Fingolimod nicht zur Zulassung<br />
kommen. Weiterhin traten vor allem zu<br />
Beginn der Therapie eine vorübergehende<br />
Abnahme der Herzfrequenz und Blutdruckerhöhungen<br />
sowie Erhöhung der Leberenzyme<br />
auf, die aber keine Bedrohung für die<br />
PatientInnen darstellten (Abb. 2).<br />
Während die US-amerikanische Zulassungsbehörde<br />
FDA im September 2010 FTY720<br />
unter strengen Auflagen zugelassen hat,<br />
wurde die europäische Zulassung erst am<br />
21. 1. <strong>2011</strong> von der EMA unter Einschränkungen<br />
empfohlen. Die konkreten Bedingungen für<br />
den differenzierten Einsatz von FTY720 zur<br />
14
Behandlung der schubförmigen MS in Europa<br />
liegen seit Ende März <strong>2011</strong> als Fachinformationen<br />
vor.<br />
Cladribin (Movectro ® )<br />
Das Prodrug Cladribin (2-Chlorodeoxyade -<br />
nosin) wird intrazellulär zu 2-Chlorodeoxya -<br />
denosinphosphat (2-CdATP) phosphoryliert<br />
(Abb. 3). Dieser Schritt erfolgt durch die Desoxycytidin-Kinase<br />
(DCK), die in T- und B-Lymphozyten,<br />
aber kaum in anderen Zellpopulationen<br />
zu finden ist. Der entstandene Antimetabolit<br />
2-CdATP stört sowohl die Synthese<br />
und Reparatur als auch die Methylierung der<br />
DNA. Die Folge ist eine relativ selektive Lymphozytenapoptose<br />
mit einem Lymphozyten-<br />
Nadir 16 Wochen nach Therapiebeginn, ohne<br />
das angeborene Immunsystem (Granulozyten,<br />
Monozyten/Makrophagen) wesentlich zu<br />
beeinflussen 1 .<br />
Als Injektionslösung (Litak ® ) ist Cladribin zur<br />
Behandlung von Haarzell-Leukämie und Non-<br />
Hodgkin-Lymphomen seit über 13 Jahren zugelassen.<br />
Klinische Daten: Zur Überprüfung des Nutzens<br />
von oral appliziertem Cladribin bei der<br />
schubförmigen MS wurde die CLARITY-Studie<br />
durchgeführt 3 . In dieser Studie wurden zwei<br />
unterschiedliche Dosen von Cladribin gegen<br />
Placebo getestet. Im ersten Jahr erhielten die<br />
TeilnehmerInnen zwei (Gesamtdosis 3,5 mg/<br />
kg KG) oder vier Behandlungszyklen (Gesamtdosis<br />
5,25 mg/kg KG), im zweiten Jahr<br />
zwei Zyklen, d.h. die PatientInnen mussten<br />
nur an wenigen Tagen im Jahr überhaupt<br />
eine Tablette einnehmen.<br />
Nach zwei Jahren gab es eine relative Reduktion<br />
der Schubzahl von 57,6 % in der<br />
niedrigeren Dosierung und von 54,5 % in<br />
der höheren Dosierung gegenüber den PatientInnen<br />
mit der Placebobehandlung. Somit<br />
konnte eine Halbierung der Schubzahl erreicht<br />
werden. Dass sich die Progression der<br />
MS unter Cladribin verzögerte, zeigte sich<br />
sowohl klinisch als auch in den krankheitsassoziierten<br />
Parametern der zerebralen MRT.<br />
Aufgrund des noch nicht eindeutig geklärten<br />
Nebenwirkungsspektrums (lokale Herpeszos<br />
ter-Infektion, Reaktivierung einer Tuberku -<br />
lose, Neoplasien) unter Cladribin hat die EMA<br />
im Januar <strong>2011</strong> vorerst keine Zulassung für<br />
Cladribin zur Behandlung der schubförmigen<br />
MS erteilt. Im Gegensatz zu Europa wurde<br />
Cladribin-Tabletten zur Behandlung der<br />
schubförmigen MS in Russland (Juli 2010)<br />
und Australien (September 2010) zugelassen.<br />
In den USA wurde von der FDA die Entscheidung<br />
über die Zulassung von Cladribin bei<br />
schubförmiger MS Ende 2010 vom „fast track“<br />
in ein „normales“ Zulassungsverfahren überführt<br />
und im März <strong>2011</strong> negativ entschieden.<br />
Über die Langzeitresultate der weiterlaufenden<br />
CLARITY-Studie sowie der ORACLE-Studie<br />
(Cladribin bei sehr früher MS) werden<br />
Ende des Jahres <strong>2011</strong> neue Ergebnisse zur<br />
Beurteilung des Wirkung-Nebenwirkung-Risikoprofils<br />
dieses Medikamentes erwartet. In<br />
einer dritten, gegenwärtig laufenden Studie<br />
mit Cladribin (ONWARD-Studie) wird die Wirkung<br />
dieses Medikamentes gegen Interferon<br />
Beta 1a bei schubförmiger MS getestet. Die<br />
Ergebnisse der ONWARD-Studie werden voraussichtlich<br />
im ersten Halbjahr 2012 vorliegen.<br />
Unabhängig von diesen Studien führt die<br />
Firma Merck Serono eine PREMIERE-Studie<br />
durch, in welche über 8 Jahre Beobachtungen<br />
zur Sicherheit der PatientInnen aufgenommen<br />
werden, die an klinischen Studien mit<br />
Cladribin-Tabletten teilgenommen haben.<br />
Dimethylfumarat,<br />
Laquinimod, Teriflunomid<br />
Neben den beiden Medikamenten FTY720<br />
und Cladribin werden gegenwärtig in großen<br />
prospektiven Phase-III-Studien weitere „orale<br />
DMD“ wie Dimethylfumarat/BG00012 (DE -<br />
FINE- und CONFIRM-Studie), Laquinimod<br />
(ALLEGRO- und BRAVO-Studie) und Teriflunomid<br />
(TEMSO- und TERACLES-Studie) getestet.<br />
Erste Ergebnisse der Phase-III-Studie zum Teriflunomid,<br />
die auf dem europäischen MS-<br />
Kongress Ende 2010 in Göteborg präsentiert<br />
wurden, sind in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkungsspektrum<br />
Hoffnung erweckend.<br />
Sollten sich die Ergebnisse in der finalisierten<br />
Analyse bestätigen, könnte Teriflunomid die<br />
Basistherapie erweitern und gegebenenfalls<br />
sogar in Kombinationstherapie eingesetzt<br />
werden. Problematisch ist die lange Halbwertzeit<br />
dieses DMD, insbesondere bei Kinderwunsch.<br />
Weitere relevante Langzeitergebnisse<br />
werden aber frühestens in der zweiten<br />
Jahreshälfte erwartet.<br />
Erste Ergebnisse aus den Phase-III-Studien zu<br />
Laquinimod und Dimethylfumarat werden im<br />
Laufe dieses Jahres erwartet.<br />
n<br />
1 Aktas O, Ingwersen J, Kieseier B et al., Oral fingolimod<br />
in multiple sclerosis: therapeutic modulation of the<br />
sphingosine-1-phosphate system. Nervenarzt <strong>2011</strong>;<br />
82:215–25<br />
2 Cohen JA, Barkhof F, Comi G et al., Oral fingolimod or<br />
intramuscular interferon for relapsing multiple sclerosis.<br />
N Engl J Med 2010; 362:402–15<br />
3 Giovannoni G, Comi G, Cook S et al., A placebocontrolled<br />
trial of oral cladribine for relapsing multiple<br />
sclerosis. N Engl J Med 2010; 362:416–426<br />
4 Handel AE, Giovannoni G, Ebers GC et al., Environmental<br />
factors and their timing in adult-onset multiple<br />
sclerosis. Nat Rev Neurol 2010; 6:156–66<br />
5 Henze T, Nittenau H, Multiple Sclerosis Therapy<br />
Consensus Group (MSTCG) et al., Symptomatische<br />
Therapie der Multiplen Sklerose. Nervenarzt 2004;<br />
75:S2–S39<br />
6 Hillert J, The genetics of multiple sclerosis. Results<br />
Probl Cell Differ 2010; 51:1–19<br />
7 Kappos L, Radue EW, OConnor P et al., A placebocontrolled<br />
trial of oral fingolimod in relapsing multiple<br />
sclerosis. N Engl J Med 2010; 362:387–401<br />
8 Leray E, Yaouanq J, Le Page E et al., Evidence for a<br />
two-stage disability progression in multiple sclerosis.<br />
Brain 2010; 133:1900–13<br />
9 Mix E, Meyer-Rienecker H, Hartung HP, Zettl UK,<br />
Animal models of multiple sclerosis – Potentials and<br />
limitations. Progress in Neurobiology 2010;<br />
92:386–404<br />
10 Ramagopalan SV, Dobson R, Meier UC et al. (2010),<br />
Multiple sclerosis: risk factors, prodromes, and poten -<br />
tial causal pathways. Lancet Neurol 2010; 7:727–39<br />
11 Schmidt S, Oral cladribine for relapsing-remitting<br />
multiple sclerosis: another purine analogue or a<br />
genuine therapeutic innovation? Nervenarzt 2010;<br />
81:1231–41<br />
12 WHO. Adherence to Long-term Therapies: Evidence for<br />
Action. World Health Organisation 2003<br />
13 Wiendl H, Toyka KV, Multiple Sclerosis Therapy Consensus<br />
Group (MSTCG) et al. (2008), Basic and escalating<br />
immunomodulatory treatments in multiple sclerosis:<br />
Current therapeutic recommendations. J Neurol 2008;<br />
255:1449–1463<br />
14 Zettl UK, Orale innovative Therapien zur Behandlung<br />
der schubförmigen MS. WMW-Skriptum <strong>2011</strong>;<br />
2:26–28<br />
15
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Komplikationen neuer MS-Therapien:<br />
Infektionsprophylaxe und Infektionen<br />
Univ.-Prof. Dr. Jörg Weber, Vorstand der Neurologischen Abteilung, Klinikum Klagenfurt, und Univ.-Prof. Dr.<br />
Heinz Burgmann, Internist und Spezialist für Infektionskrankheiten, Universitätsklinik für Innere Medizin I, Wien,<br />
gaben einen systematischen Überblick über neue Immuntherapeutika wie den VLA-4-Antagonisten (Very Late<br />
Antigen-4) Natalizumab und Fingolimod, therapieassoziierte Infektionskrankheiten und Komplikationen sowie<br />
über spezielle Impfprophylaxe unter Immunsuppression.<br />
Infektion als Komplikation<br />
neuer MS-Therapien: Risiko<br />
und Therapiemöglichkeiten<br />
Natalizumab (Tysabri ® )<br />
Durch die Entwicklung monoklonaler Antikörper<br />
war erstmals ein „hochspezifischer<br />
Eingriff in das Immunsystem“ möglich. Die<br />
Therapie ist erstmals hoch effizient. Natalizumab,<br />
ein gegen das VLA-4-Adhäsionsmolekül<br />
(Very Late Antigen 4) gerichteter monoklonaler<br />
Antikörper, hemmt aktivierte Immunzellen,<br />
die VLA-4 an ihrer Oberfläche<br />
hochregulieren, am Übertritt über die Blut-<br />
Hirn-Schranke in das Gewebe des Gehirns<br />
und Rückenmarks. Die aktivierten Entzündungszellen<br />
verbleiben im Blut und werden<br />
durch Apoptose eliminiert.<br />
Mit Natalizumab behandelte Multiple-Sklerose-PatientInnen<br />
zeigen eine deutliche Reduktion<br />
der Schubrate, Krankheits- und MRT-Aktivität.<br />
1 Trotz der ausgezeichneten Wirksamkeit<br />
bei der schubförmig remittierenden MS<br />
muss die Behandlung mit Natalizumab aufgrund<br />
potenziell lebensbedrohlicher Nebenwirkungen<br />
auf MS-PatientInnen mit einer<br />
hohen Krankheitsaktivität beschränkt bleiben.<br />
Die Indikation muss streng gestellt und<br />
der Nutzen gegen das Risiko sorgfältig abgewogen<br />
werden. 2, 3<br />
Mit einem Risiko von 1 : 1000 erkranken<br />
auch immunkompetente mit Natalizumab<br />
behandelte MS-PatientInnen an einer progressiven<br />
multifokalen Leukenzephalopathie<br />
(PML). Die PML verläuft oft tödlich oder geht<br />
mit schweren Behinderungen einher. 4 Warum<br />
ein MS-Patient an einer PML erkrankt und<br />
ein anderer MS-Patient nicht, ist unklar und<br />
Gegenstand intensiver Forschung. 5–10<br />
Die Durchseuchung mit dem JC-Virus Ø , dem<br />
Erreger der PML, ist hoch. Die Serumprävalenz<br />
von Antikörpern gegen das JC-Virus soll<br />
30 % bis 80 % betragen. 7, 8 Die Streuung<br />
ist durch die Qualität der verschiedenen Testsysteme<br />
(Cut-off, Positiv- und Negativkontrollen<br />
etc.) erklärbar. Ein hoch sensitiver und<br />
spezifischer und validierter JC-Virus-Antikörper-Test<br />
ist erst seit kurzem verfügbar 13 :<br />
(www.unilabs.com).<br />
In der Regel schützt Immunkompetenz vor<br />
Ausbruch einer PML und vor opportunistischen<br />
Infektionskrankheiten. Im Gegensatz<br />
dazu können Immunkompromittierte und Immungeschwächte<br />
wie HIV-Erkrankte, Immunsupprimierte<br />
(Organtransplantation, Chemotherapie),<br />
Lymphom- und Leukämieerkrankte<br />
an einer PML erkranken. Mehr als 80 % aller<br />
an einer PML Erkrankten sind HIV-Infizierte<br />
(Tab. 1). 11 Warum die hoch spezifische und<br />
selektive Therapie mit den zwei völlig unterschiedlichen<br />
monoklonalen Antikörpern Natalizumab<br />
(VLA-4 Antagonist, auf nahezu<br />
allen aktivierten Immunzellen) und Rituximab<br />
(Antikörper gegen das CD20 Molekül auf B-<br />
Lymphozyten) zu einer PML führen können,<br />
ist unbekannt (Tab. 1). 11<br />
Klinische Vigilanz: Ferner ist unklar, ob die<br />
PML durch eine Neuinfektion oder durch Reaktivierung<br />
des JC-Virus ausbricht. 4, 6, 12 Besonders<br />
hervorgehoben werden muss, dass<br />
die JC-Virus-Last bei an PML erkrankten MS-<br />
PatientInnen im Vergleich zu HIV-PatientInnen<br />
deutlich geringer (oft weit unter 500 copies/ml)<br />
ist. Die ultrasensitiven quantitati -<br />
ven Real-Time-PCR können weitaus weniger<br />
(~50 copies/ml JC-Virus-DNA) detektieren.<br />
Die Sensitivität liegt bei ca. 85 %, die Spezi -<br />
Priv.-Doz. Dr.<br />
Fahmy Aboul-Enein<br />
Neurologische Abteilung<br />
des SMZ Ost,<br />
Donauspital Wien<br />
fität bei 90 %. Das NIH bietet eine optimierte<br />
quantitative PCR an, die ~20 copies/ml detektiert.<br />
Welche Rolle die JC-Virus-Antikörper (Titer)<br />
spielen, die mit dem neuen hoch sensitiven<br />
und spezifischen und validierten JC-Virus-Antikörper<br />
(Titer) bestimmt werden können 13 ,<br />
kann derzeit noch nicht abgeschätzt werden.<br />
Möglicherweise haben PatientInnen mit<br />
einen JC-Virus-Antikörpertiter ein erhöhtes<br />
Risiko, nach 2-jähriger Therapie mit Natalizumab<br />
an PML zu erkranken. Dies muss jedoch<br />
noch bestätigt werden.<br />
Nichtsdestotrotz ist „die klinische Vigilanz das<br />
wichtigste Instrument“ für ein frühes Erkennen<br />
der PML. Die rasche Wiederherstellung<br />
der Immunkompetenz ist für die Prognose<br />
der PML wesentlich 4, 14 :<br />
1. keine weitere Verabreichung mit<br />
Natalizumab ‡ ,<br />
2. Plasmapherese (PLEX, Plasma Exchange;<br />
Austausch von 30–60 ml Plasma/kg KG)<br />
bzw. Immunadsorption, um das restliche,<br />
noch zirkulierende Natalizumab aus dem<br />
Organismus zu entfernen,<br />
3. Magnetresonanztomographie: Nachweis<br />
großer konfluierender Läsionen ohne<br />
Kontrastmittelaufnahme (cave: unter<br />
Natalizumab teilweise auch mit<br />
18
Kontrastmittelaufnahme[!]),<br />
4. Nachweis des JC-Virus im Liquor<br />
cerebrospinalis (quantitative ultrasensitive<br />
RT-PCR; < 50 copies/ml),<br />
5. (eventuell) Hirnbiopsie, um das JC-Virus<br />
im Gewebe nachweisen zu können,<br />
6. (eventuell) intravenös hoch dosiertes<br />
Steroid (z. B. 1 g Methylprednisolon i.v.<br />
1-mal/Tag über 5 Tage), bei Hinweisen<br />
auf ein Immunrekonstitutionssyndrom<br />
(IRIS, Immune Reconstitution<br />
Inflammatory Syndrome). 14 Als IRIS wird<br />
eine überschießende Reaktion des<br />
Immunsystems bezeichnet, wenn die<br />
Immunzellen durch „Absetzen und<br />
Auswaschen von Natalizumab“ wieder<br />
durch die Blut-Hirn-Schranke treten<br />
können und JC-Virus-infizierte Zellen<br />
angreifen können. Die überschießende<br />
Immunantwort IRIS scheint neben der<br />
Virus-Clearance auch zu einem<br />
ausgeprägten Kollateralschaden des<br />
ZNS-Gewebes zu führen.<br />
Tab. 1: Häufigkeit der PML<br />
Ob der Nachweis von JC-Virus-Antikörpern<br />
im Serum von PatientInnen klinischen Wert<br />
hat und wenn ja welchen, ist Gegenstand<br />
intensiver Forschung. Insbesondere muss derzeit<br />
vor jeder Interpretation eines positiven<br />
oder negativen JC-Virus-Antikörper-Status<br />
gewarnt werden.<br />
Es gibt Hinweise, dass Mefloquin und Mirtazapin,<br />
die JC-Virus-DNA-Replikation hemmen<br />
können, nichtsdestotrotz sind Therapieversuche<br />
mit Mefloquin und Mirtazapin experimentell.<br />
14–16<br />
Fingolimod (Gilenya ® )<br />
Fingolimod, ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator<br />
(S1PR-Modulator), ist ein<br />
neues Immunsuppressivum mit einem gänzlich<br />
neuen Wirkmechanismus: Immunzellen<br />
wie Lymphozyten werden nicht wie bei vielen<br />
etablierten Chemotherapeutika an der Zellteilung<br />
gehemmt oder in den Zelltod gedrängt,<br />
sondern in den lymphatischen Organen<br />
sequestriert, d. h. „eingesperrt“. Hierdurch<br />
sollen autoreaktive T-Zellen bereits an<br />
ihrer Auswanderung aus den lymphatischen<br />
Organen gehemmt werden, gar nicht erst ins<br />
Blut und vom Blut über die Blut-Hirn-Schranke<br />
ins ZNS gelangen.<br />
Fingolimod führt wie andere Immunsuppressiva<br />
zu einer Leukopenie bzw. Lymphozytopenie.<br />
Ob und wenn ja, in welchem Ausmaß<br />
hierdurch auch die „anderen“ – nicht autoreaktiven<br />
Immunzellen – betroffen sind und<br />
welche Auswirkungen die Sequestrierung für<br />
den gesamten Organismus hat, ist derzeit<br />
noch unklar. Im Langzeitverlauf müssen etwaige<br />
Effekte auf die Immunabwehr von Infektionen<br />
und Tumoren genau untersucht<br />
und bewertet werden.<br />
In einer vor kurzem im New England Journal<br />
Inzidenz der PML 0,5 pro 100.000 Einwohner und Jahr, wobei mehr als 80 %<br />
aller PML-Erkrankungen bei HIV-PatientInnen auftreten.<br />
HIV-Patienten<br />
3–8 % aller HIV-PatientInnen erkranken an einer PML<br />
Malignome<br />
0,07–0,01 % mit Malignomen des hämatopoetischen<br />
Gewebes erkranken an einer PML<br />
Natalizumab (Tysabri ® ) 1 : 1000 beträgt das Risiko für MS-PatientInnen, unter einer<br />
Natalizumab-Therapie an einer PML zu erkranken.<br />
Rituximab (MabThera ® ) 1 : 4000 beträgt das Risiko für SLE-PatientInnen, unter einer<br />
Rituximab-Therapie an einer PML zu erkranken. 11<br />
Im Vergleich zur PML, einer seltenen Infektion durch das JC-Virus, seien folgende Inzidenzen<br />
aufgeführt.<br />
Herpes-Virus-Enzephalitis 1 pro 100.000 EinwohnerInnen und Jahr<br />
Bakterielle Meningitis 6–10 pro 100.000 EinwohnerInnen und Jahr<br />
of Medicine veröffentlichten großen und viel<br />
beachteten randomisierten Doppelblind-Studie<br />
wurden ursprünglich 1292 PatientInnen<br />
mit primär schubhafter MS eingeschlossen<br />
und in 3 Therapiearme (420 PatientInnen<br />
1,25 mg Fingolimod; 429 PatientInnen 0,5<br />
mg Fingolimod und 433 PatientInnen Interferon<br />
beta 1a i.m.) randomisiert. Die Studie<br />
dauerte 12 Monate. 17<br />
Die beiden Fingolimod-Gruppen zeigten eine<br />
Reduktion der jährlichen Schubrate (annualised<br />
relapse rate = primärer Studienendpunkt),<br />
aber auch schwerwiegende Komp -<br />
likationen wie Tumoren, ZNS-Infektionen,<br />
Makulaödem und Herzrhythmusstörungen.<br />
Insgesamt verstarben jedoch 4 StudienpatientInnen,<br />
die mit Fingolimod 1,25 mg behandelt<br />
wurden (Tab. 2). Interessanterweise war<br />
die Abbruchrate, wegen unzureichenden therapeutischen<br />
Effekts in allen Therapiearmen<br />
ähnlich (5/ 5/ 7 = Fingolimod 1,25/Fingolimod<br />
0,5/ Interferon beta 1a). 17<br />
In der mit 1,25 mg Fingolimod behandelten<br />
Gruppe waren eine tödliche Herpes-simplex-<br />
Virus-Enzephalitis aufgetreten sowie eine generalisierte<br />
Varizella-zoster-Infektion. Bei PatientInnen<br />
mit fehlenden Antikörpertitern<br />
gegen Varizella zoster sollten Behandlungsalternativen<br />
geprüft werden bzw. eine entsprechende<br />
Impfung überlegt werden.<br />
Fazit: Viele der neuen Substanzen mit sehr<br />
selektiven Wirkmechanismen und hohem<br />
Wirkungsgrad erlauben „einen selektiven<br />
Eingriff in das menschliche Immunsystem“<br />
und können teilweise auch schwerwiegende<br />
Komplikationen mit sich bringen. Der Nutzen<br />
muss stets gegen das Risiko sehr vorsichtig<br />
und sorgfältig abgewogen werden und MS-<br />
PatientInnen müssen ausführlich über alle Risiken<br />
aufgeklärt werden. Die klinische Vigilanz<br />
und eine strenge Indikationsstellung und<br />
auch ausführliche Aufklärung der PatientInnen<br />
sind für den Gebrauch mit allen neuen<br />
(Immun-)Therapeutika Grundvoraussetzung.<br />
Die klinische Erfahrung und Datenlage sind<br />
zur Zeit rar und nur auf wenige Publikationen<br />
mit insgesamt wenigen Fällen und auf nur<br />
kurze Beobachtungszeiten beschränkt. u<br />
19
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Impfen und Infektionsprophylaxe<br />
bei modernen MS-Therapien<br />
Impfungen sollen und können bestimmte Infektionskrankheiten<br />
verhindern bzw. deren<br />
Verläufe mildern. Die Frage, ob Impfungen<br />
per se bei MS-PatientInnen Schübe auslösen<br />
können, kann derzeit durch die Literatur nicht<br />
eindeutig beantwortet werden, weder eindeutig<br />
„für“ noch eindeutig „wider“. MS ist<br />
eine Erkrankung unbekannter Ursache . MS-<br />
PatientInnen gelten per se weder als immunsupprimiert<br />
noch ist generell bei MS-PatientInnen<br />
ein angeborener oder ein erworbener<br />
Immundefekt bekannt.<br />
Die Impfthematik ist vor allem bei Lebendimpfstoffen<br />
(v. a. Mumps-Masern-Röteln,<br />
MMR), bei Immunsuppression, Chemotherapie<br />
und auch den neuen Immuntherapeutika<br />
sorgfältig für jeden einzelnen Fall, unter Bedachtnahme<br />
auf die Gesamtsituation, einige<br />
theoretische Überlegungen und auf die<br />
Warnhinweise und Kontraindikationen der jeweiligen<br />
Impfstoffe (und Therapeutika) zu<br />
prüfen.<br />
Wesentlich ist, zu entscheiden, ob zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt überhaupt geimpft<br />
werden muss oder nicht, oder ob die Impfung<br />
zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführt<br />
werden muss bzw. soll. Weiterführende Informationen<br />
und die Kontaktadressen weiterer<br />
Ansprechpartner sind bei der Österreichischen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für Infektionskrankheiten<br />
(http://www.oeginfekt.at) erhältlich. Ferner<br />
wurde im April 2010 ein Konsensusartikel in<br />
der Österreichischen Ärztezeitung (kosten-<br />
loser Download: http://www.oeginfekt.at/<br />
publikationen.htm) veröffentlicht. 18<br />
Tab. 2: TRANSFORMS-Studie 16 , Vergleich von Fingolimod versus<br />
niedrigdosiertes Interferon 1beta a i.m.<br />
Fingolimod Fingolimod Interferon<br />
1,25 mg 0,5 mg 1beta a i.m.<br />
Einschluss von PatientInnen 420 429 431<br />
Anzahl, der Pat., welche die Studie 358 385 380<br />
nach 12 Monaten mit Studienmedikation<br />
beendeten.<br />
Jährliche Schubrate 0,2 0,16 0,33<br />
(0,16–0.26) (0,12–0,21) (0,26–0,42)<br />
Nebenwirkungen/Komplikationen:<br />
1a. Herpesvirus-Infektionen 23 9 12<br />
(leicht bis moderat)<br />
1b. Herpesvirus-Infektionen (schwer) 3 (2 tödlich † ) 1 1<br />
2. Bradykardie 4 3 –<br />
(nach 24 h spontan reversibel)<br />
3a AV-Block II° 3 1 –<br />
3b AV-Block I° 2 1 –<br />
4. Makulaödem 4 2 –<br />
5. Leberfunktionsparameter (AAT) 29 36 10<br />
Erhöhung<br />
6. Melanome – 3 –<br />
7. Basaliome 2 3 1<br />
8. Plattenepithelkarzinom der Haut – – 1<br />
9. Mammakarzinome 2 2 –<br />
10. Todesfälle 2 bzw. 4 † – –<br />
† 1. Pat.: primär generalisierte Varizella-Zoster-Infektion (317 Tage nach Studienbeginn, Tod 3 Tage später); 2. Pat.:<br />
Herpes-Virus-Enzephalitis (339 Tage nach Studienbeginn, Tod ca. 2 Monate später); 3. Pat.: Neurologische Verschlech -<br />
terung von letztendlich unklarer Ursache, die zu Aspirationspneumonie und Tod führte. (Absetzen von Fingolimod<br />
11 Monate später, Tod 6 Monate nach Absetzen von Fingolimod). Eine PML konnte jedenfalls nicht nachgewiesen<br />
werden. Bei Baseline betrug der EDSS nach nur 3 Jahren Krankheitsdauer bereits 5.0; 4. Pat.: metastasierendes<br />
Mamma karzinom (Tod 6 Monate nach Absetzen von Fingolimod).<br />
(Ganzkeimimpfstoffe, Spaltimpfstoffe, Subuni t -<br />
impfstoffe und Toxoidimpfstoffe) eingeteilt.<br />
Sehr vereinfacht dargestellt, werden die Impfantigene<br />
in der Regel von Antigen präsentierenden<br />
Zellen (APC, antigen presenting<br />
cells) präsentiert und lösen durch Stimulation<br />
und Interaktion von CD4 + -Helfer-T-Lymphozyten<br />
und B-Lymphozyten eine klonale Vermehrung<br />
von spezifischen Antigen produ -<br />
Applikation bestimmter Antigene: Grundsätzlich<br />
können Impfungen vor diversen Infektionskrankheiten<br />
schützen bzw. deren Ver-<br />
schen CD8 + -T-Lympho zyten-Klonen als auch<br />
zierenden Plasmazellen und/oder spezifi -<br />
lauf mildern. Grundprinzip des Impfens ist (vor allem bei Lebendimpfstoffen) von B- und<br />
die Applikation bestimmter Antigene (von T-Gedächtniszellen aus.<br />
einzelnen Antigenen bis zu ganzen, attenuierten<br />
oder abgetötenen Impfviren), die eine Die Impfantwort ist je nach verwendetem<br />
Immunantwort auslösen. Impfstoffe werden Impfstoff, nach individuellem immunologischen<br />
Background und nach dem zum in 1. Lebendimpfstoffe * und 2. Totimpfstoffe + Zeitpunkt<br />
der Impfung vorliegenden Immunstatus<br />
unterschiedlich. Derzeit wird die Impfantwort<br />
(Impferfolg) gemeinhin durch das Messen<br />
des Impftiters (Ausnahme: Pertussis-Impfung)<br />
bzw. durch den Titeranstieg – vor allem<br />
bei Auffrischungsimpfungen – gemessen. Der<br />
Impftiter bzw. der Titeranstieg zeigen jedoch<br />
nur indirekt eine erfolgreiche Impfantwort an<br />
und lassen nur indirekt auf eine erfolgreiche<br />
Stimulation von B-Lymphozyten (und durch<br />
entsprechende Interaktion von T-Lymphozyten)<br />
schließen. Zu beachten ist, dass der Impfschutz<br />
nicht durch den Impftiter oder den<br />
Titeranstieg vorausgesagt werden kann. Es<br />
sollte der Umkehrschluss gelten, dass bei fehlendem<br />
Impftiter oder fehlendem Titeranstieg<br />
von keiner ausreichenden Immunantwort<br />
20
ausgegangen werden muss. Dies umso mehr,<br />
je komplexer die Gesamtkonstellationen ist:<br />
z. B. bei einem älteren MS-Patienten, der in<br />
der Vergangenheit verschiedene Chemotherapeutika<br />
erhalten hat, unter rezidivierenden<br />
Herpes-zoster-Infektionen leidet und eine Leberinsuffizienz<br />
hat oder unterernährt ist.<br />
Der Impferfolg bzw. die Immunantwort (von<br />
Applikation des Impfantigens über Präsentation<br />
von APC, Stimulation von T- und B-Zellen<br />
bis hin zur Bildung von antigenspezifischen<br />
Antikörpern, antigenspezifischen T-Zellen<br />
und/oder Gedächtniszellen) kann durch vielerlei<br />
Faktoren beeinträchtigt sein:<br />
1. angeborene Immundefekte und<br />
2. erworbene Immundefekte, wobei der<br />
humorale (B-Zellen und Antikörper), der<br />
zelluläre (T-Zellen) sowie eine Kombi -<br />
nation beider Immunschenkel betroffen<br />
sein.<br />
Bei MS-PatientInnen kommen vor allem die<br />
erworbenen Immundefekte, durch chro -<br />
nische Infektionen (Herpesvirusinfektionen,<br />
Hepatitis C, HIV), systemische Erkrankungen<br />
(maligne Erkrankungen, Diabetes mellitus,<br />
Leber- und Niereninsuffizienz, Autoimmunerkrankungen<br />
wie rheumatoide Arthritis und<br />
systemischer Lupus erythematodes), Unterernährung<br />
und vor allem durch Medikamente<br />
bedingte Immundefekte zum Tragen.<br />
„Alte“ Immun(suppressive)-Therapien (Glukokortikoide;<br />
Chemotherapeutika wie z. B.<br />
Cyclophosphamid, Mitoxantron; Calcineurin-<br />
Inhibitoren wie z. B. Cyclosporin) und „neue“<br />
Immun(suppressive)-Therapien (z. B. Rituximab,<br />
Natalizumab, Fingolimod, Cladribin),<br />
die zum Teil „einen selektiven Eingriff ins Immunsystem<br />
erlauben“ können einerseits zu<br />
Infektionskrankheiten und besonders schweren<br />
Verläufen prädisponieren bzw. die Immunantwort<br />
beeinträchtigen. Dies umso<br />
mehr, als bestehende „okkulte“, bislang nicht<br />
detektierte angeborenen oder erworbenen<br />
Immundefekte durch die medikamentöse<br />
Therapie noch zusätzlich verstärkt werden<br />
könnten. Das Altwerden selbst führt zu reduzierter<br />
Antigenpräsentation, reduzierter B-<br />
Zellen-Stimulierbarkeit und einer reduzierten<br />
Antikörperproduktion.<br />
Fazit: Bei MS-PatientInnen gilt die Verwendung<br />
von Totimpfstoffen im Allgemeinen als<br />
sicher. Ob Lebendimpfstoffe (z. B. MMR,<br />
Gelbfieber) oder gar Totimpfstoffe MS-Schübe<br />
auslösen können bzw. gar zur Erstmanifestation<br />
einer MS führen können, ist nach<br />
wie vor umstritten. 19 Ein genaues Zeitschema<br />
bei notwendigen Impfungen (inklusive Auffrischungsimpfungen)<br />
muss bereits vor einer<br />
beabsichtigten Immuntherapie sorgfältig geplant<br />
werden, zumal der Impferfolg herabgesetzt<br />
sein kann und viele Impfstoffe (v. a.<br />
virale Lebendimpfstoffe) bei verschiedensten<br />
Immuntherapien nicht empfohlen sind bzw.<br />
sogar kontraindiziert sind. 18 Die Impfantwort<br />
bzw. der Impferfolg können am Impftiter/-<br />
anstieg interpretiert werden, sind jedoch kein<br />
Garant für einen ausreichenden Impfschutz.<br />
Im Zweifelfall sollten für MS-PatientInnen<br />
unter selektiver und breiter Immunsuppression<br />
und anderen neuen Immuntherapien die<br />
Impfempfehlungen für „PatientInnen unter<br />
schwerer Immunsuppression und für onkologische<br />
PatientInnen“ Anwendung finden. 18<br />
Interessenkonflikt: keiner<br />
Danksagung: Der Autor dankt Univ.-Prof.<br />
Dr. Jörg Weber und Univ.-Prof. Dr. Heinz<br />
Burgmann für die kritische Durchsicht des<br />
Kongressbeitrags.<br />
n<br />
1 Polman CH, O’Connor PW, Havrdova E et al., AFFIRM<br />
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6 Major EO, Progressive multifocal leukoencephalopathy<br />
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9 Major EO, Amemiya K, Tornatore CS, et al. Pathogenesis<br />
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10 Rudick RA, O’Connor PW, Polman CH et al., Assessment<br />
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15 Brickelmaier M, Lugovskoy A, Kartikeyan R et al.,<br />
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16 Focosi D, Kast RE, Maggi F, et al. 5-HT2a inhibitors for<br />
progressive multifocal leukoencephalopathy: old drugs<br />
for an old disease. J Infect Dis. 2008; 197:328<br />
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feron for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med.<br />
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18 Burgmann H, Wenisch C, Haditsch M et al., unter<br />
Patronanz der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong> für Infek -<br />
tionskrankheiten. Experten Statement: Impfungen bei<br />
Immunschwäche und Immunsuppression. Österreichische<br />
Ärztezeitung. April 2010; <strong>Supplementum</strong>: S1-S12.<br />
free download http://www.oeginfekt.at/<br />
publikationen.htm<br />
19 Confavreux C, Suissa S, Saddier P et al., Vaccines in<br />
Multiple Sclerosis Study Group. Vaccinations and the<br />
risk of relapse in multiple sclerosis. Vaccines in Multiple<br />
Sclerosis Study Group. N Engl J Med. 2001;<br />
344:319–326. free download<br />
Fußnoten:<br />
Ø JC-Virus: das JC-Virus ist nach den Initialen des Patienten<br />
benannt, aus dessen Gehirn erstmals das kleine Polyoma-Virus<br />
isoliert und bestimmt werden konnte. 6<br />
‡ bei Rituximab (MabThera ® ) dauert die Wirkung typischerweise<br />
viel länger an. Bis die durch den Anti-CD20-<br />
Antikörper zerstörten B-Zellen wieder nachgebildet werden,<br />
vergehen mitunter 6 bis 9 Monate.<br />
per Definition ist die multiple Sklerose (MS) eine Erkrankung<br />
unbekannter Ursache. Eine Hypothese ist, dass die<br />
MS eine chronische entzündliche Autoimmunerkrankung<br />
des ZNS ist, die schubhaft und/oder progredient<br />
ver laufen kann. Die Entzündung soll zu charakteristischer<br />
Demyelinisierung und axonalen Schaden führen.<br />
Diese „Autoimmunität“-Hypothese findet weitläufig<br />
Akzeptanz und scheint durch zahlreiche Therapieansätze<br />
(Immunmodulation, Immunsuppression) bestätigt.<br />
+ Lebendimpfstoffe: Mumps, Masern, Röteln, Varizellen,<br />
Herpes zoster, Gelbfieber.<br />
* Totimpfstoffe: Polio (parenteral), Hepatitis A, Hepatitis B,<br />
FSME, Diphtherie, Pertussis, Tetanus, Influenza,<br />
Haemophilus Influenza Typ b, Cholera, Typhus,<br />
Japan-B-Enzephalitis, Meningokokken<br />
21
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Aktuelles und Neues<br />
zur Schlaganfalltherapie<br />
Verschiedene aktuelle Entwicklungen in der Schlaganfalltherapie standen im Mittelpunkt dieser Session bei der<br />
ÖGN-Jahrestagung. Prim Univ.-Prof. Dr. Wilfried Lang, Wien, befasste sich mit dem Problem Multimorbidität von<br />
Schlaganfall-PatientInnen; Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen, gab einen Überblick zur Sekundärprophylaxe<br />
des ischämischen Insults, und PD Dr. Hagen B. Huttner, Erlangen, behandelte die invasive Schlaganfalltherapie.<br />
Schlaganfall bei multimorbiden<br />
PatientInnen: Doppel- und<br />
Tripletherapie<br />
Multimorbidität stellt bei vielen PatientInnen<br />
mit Schlaganfall ein großes Problem dar. So<br />
braucht eine große Zahl von PatientInnen<br />
eine Polytherapie, wobei eine Reihe pharmakologischer<br />
Interaktionen berücksichtigt werden<br />
müssen. Zuletzt wurde in diesem Zusammenhang<br />
eine Interaktion zwischen Clopidogrel<br />
und Protonenpumpenhemmern (PPI),<br />
insbesondere Omeprazol, diskutiert. Sowohl<br />
Clopidogrel als auch die meisten PPI werden<br />
CYP2C19-abhängig metabolisiert (insbesondere<br />
Omeprazol und Esomeprazol). Bisher<br />
existieren zu dieser wichtigen Frage noch<br />
keine ausreichenden prospektiven klinischen<br />
Daten, inwiefern diese Interaktion mit einem<br />
erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergeht,<br />
allerdings wurden von der FDA und der EMA<br />
Warnungen für den gleichzeitigen Gebrauch<br />
von Clopidogrel und Omeprazol veröffentlicht.<br />
Dem gastroenterologischen Blutungsrisiko<br />
wird nun – auch aufgrund von weiteren<br />
Medikamenteninteraktionen – insgesamt<br />
größere Beachtung geschenkt werden müssen:<br />
Eine rezente Publikation zeigte ein bei<br />
gleichzeitiger Einnahme von SSRI und ASS<br />
um 5 % und im Fall einer gleichzeitigen Einnahme<br />
von SSRI, ASS und NSAR sogar um<br />
12 % erhöhtes GI-Blutungsrisiko. Aktuelle<br />
Richtlinien empfehlen bei PatientInnen > 70<br />
Jahre bei Erstverschreibung von ASS eine zusätzliche<br />
Verschreibung eines PPI, bei > 75-<br />
Jährigen auch bei Weiterverschreibung von<br />
ASS. Die deutsche <strong>Gesellschaft</strong> für Gastroenterologie<br />
veröffentlichte 2010 gemeinsam<br />
mit der deutschen <strong>Gesellschaft</strong> für Kardiologie<br />
in einem gemeinsamen Positionspapier<br />
einen hilfreichen Algorithmus zur gleichzeitigen<br />
Anwendung von Thrombozytenfunktionshemmern<br />
und PPI.<br />
Doppel- und Tripletherapie: In den Studien<br />
MATCH und CHARISMA konnte nachgewiesen<br />
werden, dass eine duale plättchenhemmende<br />
Therapie, bestehend aus Clopidogrel<br />
und ASS, in der Sekundärprophylaxe des<br />
Schlaganfalls im Gegensatz zum akuten Koronarsyndrom<br />
keinen Langzeitnutzen bringt<br />
und mit einem erhöhten Blutungsrisiko assoziiert<br />
ist.<br />
In speziellen Indikationen ist eine solche duale<br />
Therapie nicht vermeidbar, wie zum Beispiel<br />
nach Koronar- oder Karotis-Stent-Implantation.<br />
Eine besondere Herausforderung stellen<br />
dabei PatientInnen mit Vorhofflimmern dar,<br />
bei denen im Falle einer Stent-Implantation<br />
sogar eine Triple-Therapie, bestehend aus<br />
einer oralen Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten,<br />
Clopidogrel und ASS,<br />
zum Einsatz kommen muss. Diesbezügliche<br />
erste Daten zeigen in dieser PatientInnenpopulation<br />
ein exzessiv erhöhtes Blutungsrisiko<br />
(bis 12 % innerhalb von 12 Monaten). In<br />
einem solchen Fall sollten nach Möglichkeit<br />
„beschichtete“ Stents vermieden werden<br />
und „Bare Metal“-Stents zum Einsatz kommen,<br />
da dabei die notwendige Dauer einer<br />
Tripletherapie möglichst kurz gehalten werden<br />
kann. Die rezenten Guidelines der Europäischen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für Kardiologie zum<br />
Thema Behandlung des Vorhofflimmerns<br />
gehen auch auf diese Problematik ein und<br />
inkludieren einen Behandlungsalgorithmus.<br />
Sekundärprophylaxe<br />
des ischämischen Insults<br />
Dr. Stefan Greisenegger<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
Persistierendes Foramen ovale (PFO)<br />
In der so genannten CLOSURE-Studie wurde<br />
in Form eines prospektiven, randomisierten,<br />
offenen Studiendesigns bei PatientInnen<br />
(Alter 18–60 Jahre) mit kryptogenem Schlaganfall<br />
und PFO die Überlegenheit eines<br />
Schirmchenverschlusses des PFO mit einer<br />
konservativen Therapie (ASS oder orale Antikoagulation<br />
mit Warfarin) hinsichtlich der<br />
Rezidivrate ischämischer Insulte/TIA untersucht.<br />
Nach dem Schirmchenverschluss erhielten<br />
die PatientInnen für 6 Monate ASS<br />
und Clopidogrel kombiniert, gefolgt von<br />
einer ASS-Therapie. Innerhalb von zwei Jahren<br />
konnten 909 PatientInnen eingeschlossen<br />
werden.<br />
24
In der Auswertung zeigte sich kein Unterschied<br />
hinsichtlich der Vermeidung ischämischer<br />
Ereignisse zwischen den beiden Gruppen,<br />
allerdings ereigneten sich in der Interventionsgruppe<br />
bei 3 % mit dem Schirm chen -<br />
verschluss assoziierte Komplikationen; auch<br />
zeigte sich eine signifikant erhöhte Rate von<br />
Vorhofflimmern in der Interventionsgruppe.<br />
Überdies fanden TEE-Kontrollen nach 24 Monaten<br />
bei lediglich 86 % einen kompletten<br />
Verschluss.<br />
Zusammenfassend zeigt diese Studie, dass<br />
ein Schirmchenverschluss des PFO in der Sekundärprophylaxe<br />
des kryptogenen ischämischen<br />
Schlaganfalls keinen Nutzen bringt und<br />
mit einem erhöhten Interventionsrisiko assoziiert<br />
ist. Die Gruppe der kryptogenen Schlaganfälle<br />
inkludiert multiple Ätiologien, und ein<br />
PFO dürfte zumeist eher eine Koinzidenz darstellen.<br />
Nicht auszuschließen ist aber, dass<br />
ein Schirmchenverschluss in streng selektionierten<br />
PatientInnengruppen, z. B. mit gesicherter<br />
paradoxer Embolie, doch sinnvoll ist.<br />
Neue Antikoagulantien bei<br />
PatientInnen mit Vorhoffflimmern<br />
Bisher wurde die Sekundärprophylaxe kardiogener<br />
Embolien, insbesondere bei Vorhofflimmern,<br />
mittels oraler Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten<br />
durchgeführt. Nun liegen<br />
3 im letzten Jahr publizierte Studien mit<br />
neuen Antikoagulantien vor. Dabigatran ist<br />
ein direkter Thrombinantagonist, Rivaroxaban<br />
und Apixaban sind Faktor-Xa-Antagonisten.<br />
Die Vorteile dieser neuen Substanzen sind<br />
eine im Vergleich zu den Vitamin-K-Antagonisten<br />
hohe Spezifität, kaum bestehende Interaktionen<br />
mit Nahrungsmitteln und anderen<br />
Medikamenten und dass sie in einer fixen<br />
Dosis oral eingenommen werden können,<br />
wobei die engmaschigen Gerinnungskontrollen<br />
nicht mehr notwendig sind.<br />
In der RE-LY-Studie wurde untersucht, ob<br />
Dabigatran das Risiko für Schlaganfälle und<br />
systemische Embolien bei PatientInnen mit<br />
Vorhofflimmern ebenso wirksam reduziert<br />
wie die Therapie mit Warfarin. 18.113 PatientInnen<br />
wurden in eine von drei Studiengruppen<br />
randomisiert: 1. Dabigatran 110 mg<br />
2-mal täglich, 2. Dabigatran 150 mg 2-mal<br />
täglich oder 3. Warfarin.<br />
RE-LY wurde nach dem sog. PROBE-Studiendesign<br />
(„prospective, randomized, open<br />
with blinded endpoint evaluation“) durchgeführt.<br />
Das heißt, die PrüfärztInnen wussten,<br />
ob die PatientInnen Dabigatran oder Warfarin<br />
erhielten. Die zugeteilte Dosis von Dabigatran<br />
war allerdings unbekannt. Die Auswertung<br />
der Endpunktereignisse erfolgte durch ein für<br />
die Behandlungsgruppe verblindetes Evaluierungskomitee.<br />
Während bei den mit Warfarin antikoagulierten<br />
PatientInnen 1,69 % einen Schlaganfall<br />
oder eine systemische Embolie pro Jahr erlitten,<br />
waren es 1,53 % pro Jahr unter der<br />
niedrigeren Dabigatran-Dosis und 1,11 % pro<br />
Jahr bei den mit 2-mal 150 mg Dabigatran<br />
behandelten PatientInnen. Die niedrige Dabigatran-Dosis<br />
war somit gleich wirksam und<br />
die höhere Dosis signifikant wirksamer als<br />
Warfarin (relative Risikoreduktion 34 %;<br />
p < 0,001). Die Häufigkeit intrakranieller Blutungen<br />
wurde um 70–80 % reduziert. Diese<br />
Befunde waren auch konsistent für die ca.<br />
20 % RE-LY-PatientInnen, die in der Vergangenheit<br />
einen Schlaganfall oder eine TIA<br />
erlitten hatten. Allerdings war der Nutzen<br />
von Dabigatran in Zentren mit schlechter Einstellungsqualität<br />
(OAK im therapeutischen<br />
Bereich) am größten und in den wenigen<br />
Zentren mit sehr guter Einstellung waren die<br />
oben genannten Vorteile von Dabigatran<br />
nicht mehr nachzuweisen.<br />
Die ROCKET-AF-Studie verglich die Wirksamkeit<br />
und Sicherheit von einmal pro Tag<br />
eingenommenem Rivaroxaban 20 mg, einem<br />
FXa-Antagonisten, mit Warfarin. Insgesamt<br />
konnten 14.269 PatientInnen eingeschlossen<br />
werden. Ein wesentlicher Unterschied zu den<br />
anderen Studien liegt in der Zahl der PatientInnen<br />
mit hohem Schlaganfallrisiko gemessen<br />
am CHADS2-Score. Der mediane<br />
CHADS2-Skalenwert betrug 4, in RE-LY 2.<br />
Mehr als 50 % der PatientInnen in ROCKET-<br />
AF gegenüber etwa 20 % in RE-LY hatten<br />
in der Vergangenheit einen Schlaganfall oder<br />
eine TIA erlitten.<br />
Hinsichtlich des primären Endpunkts Schlaganfall<br />
oder systemische Embolie war Rivaroxaban<br />
(jährliche Ereignisrate 1,71 %) dem<br />
Warfarin (2,16 %) nicht unterlegen. Darüber<br />
hinaus zeigte sich eine signifikante Überlegenheit<br />
von Rivaroxaban für die in Behandlung<br />
befindlichen PatientInnen („on treatment“),<br />
nicht aber für die Gesamtpopulation<br />
der Studie („Intention-to-treat-Analyse“). Die<br />
Rate der Hirnblutungen war signifikant niedriger<br />
unter Rivaroxaban (0,26 %/Jahr) im Vergleich<br />
zu Warfarin (0,44 %/Jahr). Die Rate<br />
der schweren oder zumindest klinisch relevanten<br />
Blutungen unterschied sich nicht.<br />
Die AVERROES-Studie, die erst kürzlich publiziert<br />
wurde, untersuchte im Vergleich zu<br />
den beiden oben angeführten Studien ein<br />
anderes PatientInnenkollektiv. Es wurden<br />
5.600 PatientInnen eingeschlossen, die eine<br />
Indikation zur Antikoagulation bei VHF hatten,<br />
aber entweder nach ärztlicher Einschätzung<br />
nicht mit Warfarin antikoaguliert werden<br />
konnten (ca. 60 %) oder selbst die Warfarin-Einnahme<br />
ablehnten. In der randomisierten,<br />
doppelblinden Studie erhielten die PatientInnen<br />
entweder Apixaban 5 mg zweimal<br />
täglich oder ASS. Bis zum Einschluss in die<br />
Studie waren 40 % der PatientInnen auf Warfarin<br />
eingestellt. Zusammenfassend erwies<br />
sich Apixaban als klar wirksamer als ASS (Hazard-Ratio<br />
für Apixaban, 0,45; 95%-CI, 0,32<br />
bis 0,62; p < 0,001), ohne das Blutungsrisiko<br />
zu erhöhen, weshalb die Studie vorzeitig abgebrochen<br />
wurde.<br />
Die Daten der ARISTOTLE-Studie, die die<br />
Wirksamkeit einer Therapie mit Apixaban im<br />
Vergleich zu Warfarin bei PatientInnen mit<br />
VHF untersucht, werden <strong>2011</strong> erwartet.<br />
Invasive<br />
Schlaganfalltherapie<br />
Die Thrombolysetherapie des ischämischen<br />
Schlaganfalls mit rtPA stellt derzeit die einzi- u<br />
25
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
ge kurative Behandlungsmöglichkeit dar und<br />
hat seit der Zulassung die akute Schlaganfalltherapie<br />
revolutioniert. Ein Problem stellte<br />
bis vor kurzem jedoch der beschränkte Zugang<br />
zu dieser Therapie dar, nachdem die<br />
Behandlung auf die ersten 3 Stunden nach<br />
Onset der Symptomatik beschränkt war. In<br />
diesem Zusammenhang war die Publikation<br />
der ECASS-III-Studie 2008, in der nachgewiesen<br />
werden konnte, dass eine Therapie mit<br />
rtPA auch bis 4,5 Stunden nach Symptombeginn<br />
einen signifikanten Vorteil zeigt, ein<br />
großer Vorschritt. Eine Metaanalyse aller großen<br />
Thrombolysestudien mit intravenös verabreichtem<br />
rtPA konnte dieses Ergebnis kürzlich<br />
bestätigen (die europäische Zulassung für<br />
dieses Zeitfenster wird in den kommenden<br />
Monaten erwartet).<br />
Trotz dieser Fortschritte scheint eine Reihe<br />
weiterer Verbesserungen in Zusammenhang<br />
mit der Lyse-Therapie möglich: einerseits<br />
durch eine Minimierung des Zeitverlustes vor<br />
allem im präklinischen Bereich und durch eine<br />
Ausdehnung des Zeitfensters auf die ersten<br />
6 Stunden (wird derzeit in der IST-3-Studie<br />
untersucht) sowie andererseits durch Alternativen<br />
zur systemischen Lysetherapie. Diesbezüglich<br />
stehen derzeit 3 interventionelle<br />
Behandlungsansätze zur Verfügung und sind<br />
teilweise in manchen Schlaganfallzentren<br />
schon im Routinemanagement des Schlaganfalls<br />
implementiert:<br />
1. die rein intraarterielle Thrombolyse -<br />
therapie<br />
2. eine interventionelle Behandlung mittels<br />
so genannter „Devices“ zur<br />
mechanischen Thrombusentfernung,<br />
eventuell mit zusätzlicher intraarterieller<br />
rtPA-Verabreichung<br />
3. das so genannte „Bridging-Konzept“<br />
(zunächst intravenöser Beginn und dann<br />
weiterführende interventionelle Therapie<br />
mit/ohne zusätzliche intraarterielle(r)<br />
rtPA-Applikation)<br />
Intraarterielle Thrombolyse: Mittels einer<br />
intraarteriellen Verabreichung von rtPA auf<br />
katheterinterventioneller Basis lässt sich eine<br />
im Vergleich zur systemischen (i.v.) Lyse erhöhte<br />
lokale Konzentration des Thrombolytikums<br />
erzielen. Dabei wird die Substanz<br />
entweder unmittelbar vor dem okkludierenden<br />
Thrombus oder innerhalb des Thrombus<br />
appliziert. Prinzipiell kommen für eine<br />
katheterinterventionelle Behandlung entsprechend<br />
nur PatientInnen infrage, bei<br />
denen ein proximaler Gefäßverschluss vorliegt<br />
(distale A. carotis interna, Carotis-T,<br />
proximaler Verschluss der A. cerebri media<br />
– M1- oder M2-Segment – oder Arteria basilaris).<br />
Die Wirksamkeit der intraarteriellen<br />
Thrombolyse konnte in der randomisierten<br />
PROACT-II-Studie nachgewiesen werden, in<br />
der innerhalb eines Zeitfensters von 6 Stunden<br />
Pro-Urokinase gegen Heparin verglichen<br />
wurde. Trotz einer hohen Blutungsrate<br />
von 10 % in der Pro-Urokinase-Gruppe war<br />
die Mortalität nicht signifikant unterschiedlich.<br />
Trotz dieser viel versprechenden Ergebnisse<br />
wurde die Zulassung nicht erteilt und<br />
eine weitere, große, randomisierte Studie<br />
gefordert.<br />
Rekanalisation mit Devices: Ein weiteres<br />
relevantes Ergebnis von PROACT II war die<br />
hohe Rekanalisationsrate von 60 %. Insgesamt<br />
ist die Rekanalisation des okkludierten<br />
Gefäßes ein wesentlicher Faktor zur Erzielung<br />
eines guten Outcomes nach ischämischem<br />
Insult, nicht zuletzt, weil die Effektivität von<br />
rtPA abnehmen dürfte, je proximaler der Gefäßverschluss<br />
ist. Eine Rekanalisierung eines<br />
proximalen Verschlusses der A. cerebri media<br />
durch i.v. Lyse lässt sich nur in einem Viertel<br />
der Fälle nachweisen.<br />
Die mechanische Rekanalisation mittels Devices<br />
bietet einige Vorteile gegenüber der<br />
„pharmakologischen“ Thrombolyse: Einerseits<br />
kann die Dosis des Thrombolytikums reduziert<br />
oder ganz vermieden werden, andererseits<br />
könnte durch den Wegfall des Einsatzes<br />
einer thrombolytischen Substanz ein<br />
Einsatz theoretisch auch außerhalb des 6-<br />
Stunden-Zeitfensters möglich sein. Man kann<br />
Devices, die proximal des Thrombus zum Einsatz<br />
kommen (z. B. Thrombus-Aspiration mittels<br />
Penumbra-System), von solchen unterscheiden,<br />
die distal des Thrombus „Widerhaken“<br />
entfalten, damit den Thrombus mobilisieren<br />
und – ähnlich einem Korkenzieher<br />
– zurückziehen. Gemeinsam sind den neuen<br />
Devices hohe Rekanalisationsraten, die diejenigen<br />
der rein intraarteriellen Thrombolyse<br />
noch übertreffen (im Fall des Penumbra-Sys -<br />
tems in bis zu 80 %).<br />
Derzeit gibt es noch keine Studien, die die<br />
hohen Rekanalisationsraten in ein günstiges<br />
klinisches Outcome übersetzen (im Falle von<br />
Penumbra konnten zum Beispiel nur bei 25 %<br />
eine modified Rankin Scale von 0–2 erreicht<br />
werden, bei einer Mortalität von 33 % (!),<br />
wobei der klinische Schweregrad der PatientInnen<br />
allerdings sehr hoch war). Der entscheidende<br />
Faktor dürfte auch dabei der Faktor<br />
Zeit bis zur Rekanalisation sein. Einschränkend<br />
ist weiters, dass keine der verfügbaren<br />
Devices innerhalb einer randomisierten Studie<br />
evaluiert wurde und damit in Ermangelung<br />
valider Kontrollgruppen keine Aussagen das<br />
Outcome betreffend gemacht werden können.<br />
Auch die Beschränkung auf spezialisierte<br />
Schlaganfallzentren mit hoher Expertise im<br />
Umgang mit katheterbasierter Angiographie<br />
der kraniozervikalen Gefäße ist eine weitere<br />
Limitierung, ebenso wie die hohen Kosten<br />
und natürlich der Zeitverlust bis zur Angiographie.<br />
Bridging-Konzepte vereinen den Nutzen<br />
eines raschen Einsatzes von i.v. rtPA mit einer<br />
anschließenden intraarteriellen Thrombolyse<br />
(mit oder ohne zusätzliche mechanische Rekanalisation).<br />
Hierbei ist noch unklar, inwiefern<br />
die systemische Lyse in einer geringeren<br />
Dosis (0,6 mg/kg KG anstatt 0,9 mg/kg KG),<br />
verabreicht werden sollte, wobei rezente<br />
Daten auf einen Vorteil der vollen Dosis hindeuten.<br />
Auch für das Bridging-Konzept existieren<br />
derzeit keine RCT, wobei die derzeit<br />
laufende IMS-III-Studie untersucht, inwieweit<br />
eine systemische Thrombolyse innerhalb von<br />
3 Stunden einem Bridging (initiale i.v Lyse<br />
mit rtPA in einer Dosis von 0,6 mg/kg KG<br />
über 40 min mit anschließender interventioneller<br />
Therapie bei Vorliegen eines Gefäßverschlusses,<br />
wobei der Einsatz von Devices erlaubt<br />
ist) unterlegen ist.<br />
n<br />
26
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Können wir unseren<br />
kognitiven Abbau beeinflussen?<br />
Angesichts der demografischen Entwicklungen zählen Demenzen zu den größten gesundheits- und sozial -<br />
politischen Herausforderungen der nahen Zukunft. Innerhalb der Gruppe der senilen Demenzen macht die<br />
Demenz vom Alzheimer-Typ mit etwa 65 % den größten Anteil aus. Populationsbasierte Studien zeigen, dass es<br />
ab dem 60. Lebensjahr alle 5 Jahre zu einer Verdopplung von Inzidenz und Prävalenz der Alzheimer-Krankheit<br />
kommt. Mit der steigenden Zahl an Demenzerkrankungen gewinnt die Frage nach möglichen präventiven<br />
Strategien an Dringlichkeit.<br />
EEin Schwerpunkt der epidemiologischen Demenzforschung<br />
besteht daher in der Identifizierung<br />
von Faktoren, die mit einem erhöhten<br />
oder reduzierten Risiko für einen kognitiven<br />
Abbau assoziiert sind. Faktoren, die<br />
untersucht wurden, umfassen Nahrungsbzw.<br />
Nahrungsergänzungsmittel, unterschiedliche<br />
Medikamente, medizinische Konditionen<br />
bzw. Grunderkrankungen sowie<br />
Umwelt- und Lebensstilfaktoren.<br />
Datenlage<br />
Ernährung: Zwei prospektive Kohortenstudien<br />
aus den USA kamen zu dem Schluss,<br />
dass das Einhalten einer mediterranen Diät<br />
(charakterisiert durch einen hohen Anteil<br />
pflanzlicher Lebensmittel, regelmäßigen Verzehr<br />
von Olivenöl und Fisch sowie mäßigen<br />
Weinkonsum) mit einem reduzierten Risiko<br />
für eine milde kognitive Störung oder eine<br />
Demenz vom Alzheimer-Typ assoziiert ist. In<br />
einer französischen Beobachtungsstudie war<br />
das Einhalten dieser Diätform mit einem langsameren<br />
Punkteverlust im MMSE assoziiert,<br />
nicht aber mit der Leistung in anderen kognitiven<br />
Tests oder mit dem Demenzrisiko 1 .<br />
Angesichts der vermuteten neuroprotektiven<br />
Wirkung mehrfach ungesättigter Fettsäuren<br />
untersuchten mehrere Studien den Effekt von<br />
Omega-3-Fettsäuren auf kognitive Funktionen.<br />
In einer placebokontrollierten Doppelblindstudie<br />
(mit allerdings kurzer Studiendauer<br />
von 26 Wochen) zeigte sich kein Hinweis<br />
auf einen die Kognition günstig beeinflussenden<br />
Effekt von EPA (Eicosapentaensäure)<br />
oder DHA (Docosahexaensäure). Die Daten<br />
einiger großer Beobachtungsstudien haben<br />
hingegen einen günstigen Effekt vermuten<br />
lassen 2 .<br />
Vitamine: Sowohl in Beobachtungs- als auch<br />
kontrollierten Studien wurde die mögliche<br />
Assoziation von B-Vitaminen (B 6 , B 12 ) sowie<br />
Folsäure mit kognitiven Funktionen untersucht<br />
3 . Eine ähnlich breite Datenlage existiert<br />
für Vitamin E, Vitamin C und Beta-Karoten.<br />
Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht konsistent;<br />
in Zusammenschau der Befunde ist<br />
jedoch nicht davon auszugehen, dass eine<br />
dieser Substanzen einen nennenswerten demenzpräventiven<br />
bzw. die Kognition fördernden<br />
Effekt aufweist 2 .<br />
Alkohol: Inwiefern geringer bis moderater<br />
Alkoholkonsum eine vorteilhafte Assoziation<br />
mit dem kognitiven Abbau aufweist, war wiederholt<br />
Gegenstand intensiver Diskussionen.<br />
Einzelne Beobachtungsstudien berichteten<br />
über ein vermindertes Risiko für einen kognitiven<br />
Abbau bei mäßigem Alkoholkonsum,<br />
allerdings besteht Unklarheit hinsichtlich<br />
der möglichen individuellen demenzpräventiven<br />
„Schwellendosis“ oder der Art des<br />
Alkohols. Nach heutigem Wissensstand kann<br />
Alkoholkonsum, nicht zuletzt aufgrund seines<br />
toxischen und Abhängigkeitspotenzials,<br />
nicht zur Demenzprävention empfohlen werden<br />
4 .<br />
NSAR, Statine: Der Umstand, dass inflammatorische<br />
Prozesse (sei es kausal oder im<br />
Sinne eines Epiphänomens) an der Pathophysiologie<br />
der Alzheimer-Demenz mit beteiligt<br />
Dr. Eva Hilger<br />
Universitätsklinik für<br />
<strong>Neurologie</strong>, Medizinische<br />
Universität Wien<br />
sind, hat entzündungshemmende Substanzen<br />
zunächst als mögliche Kandidaten für<br />
therapeutische oder präventive Interventionen<br />
erscheinen lassen. Allerdings konnte in<br />
methodisch einwandfreien, kontrollierten<br />
Studien weder für Aspirin noch für die NSAR<br />
Naproxen und Celecoxib eine Assoziation<br />
zwischen der Einnahme dieser Substanzen<br />
und einem kognitiven Effekt gezeigt werden<br />
5 . Entgegen früheren Annahmen haben<br />
rezente Untersuchungen ebenso keinen Hinweis<br />
auf eine signifikante Assoziation zwischen<br />
der Einnahme von Statinen und dem<br />
kognitiven Abbau erbracht. So zeigte sich in<br />
zwei randomisierten, placebokontrollierten<br />
Studien zu Simvastatin (Heart Protection<br />
Study, n = 20.536) und Pravastatin (PRO-<br />
SPER-Studie, n = 5804) kein die Kognition<br />
beeinflussender Effekt von Statinen 6 .<br />
Hormonsubstitution: Während sich in Meta -<br />
analysen von Beobachtungsstudien zunächst<br />
Hinweise auf ein vermindertes Demenzrisiko<br />
bei Frauen unter Hormonsubstitutionspräparaten<br />
(Östrogen, Dehydroepiandrosteron) ergaben,<br />
haben kontrollierte Studien diskrepante<br />
Ergebnisse – mitunter sogar den Befund<br />
eines erhöhten Demenzrisikos unter<br />
Östrogensubstitution – erbracht 2 . Eine rezente<br />
Untersuchung 7 lässt vermuten, dass die<br />
28
perimenopausale Hormontherapie einen demenzpräventiven<br />
Effekt aufweisen dürfte,<br />
wohingegen die Therapie in der späten Menopause<br />
mit einem erhöhten Demenzrisiko<br />
assoziiert zu sein scheint. Diese Ergebnisse<br />
würden die „Critical Window Theory“ stärken,<br />
wonach Interventionen in Abhängigkeit<br />
des Zeitfensters, in dem sie erfolgen, differenzielle<br />
Effekte aufweisen könnten.<br />
Acetylcholinesterasehemmer: Nach gegenwärtigem<br />
Stand der Daten sind Acetylcholinesterasehemmer<br />
vermutlich nicht in der<br />
Lage, die Konversion von einer milden kognitiven<br />
Störung zur Demenz vom Alzheimertyp<br />
zu verhindern. Für Donepezil wurde in<br />
einer 48-wöchigen placebokontrollierten,<br />
randomisierten Studie gezeigt, dass es zwar<br />
zu signifikanten (wenngleich geringen) Verbesserungen<br />
in der modifizierten ADAS-Cog-<br />
Skala kam, nicht aber zu einer Verbesserung<br />
des globalen Funktionsniveaus 8 .<br />
Ginkgo biloba: Zu der möglichen demenzpräventiven<br />
Wirkung von Ginkgo b. liegen,<br />
trotz des breiten Einsatzes dieser Substanz,<br />
wenige Daten vor. Eine randomisierte, doppelblinde,<br />
placebokontrollierte Studie (n =<br />
3069) mit einem mittleren Follow-up-Zeitraum<br />
von 6,1 Jahren kam zu dem Ergebnis,<br />
dass Ginkgo b. in der untersuchten Dosierung<br />
von 2-mal 120 mg/d weder bei kognitiv gesunden<br />
Individuen noch bei PatientInnen mit<br />
milder kognitiver Störung zu einer Reduktion<br />
der Demenz-Inzidenzrate führt 9 .<br />
Vaskuläre Risikofaktoren: Die Bedeutung<br />
vaskulärer Erkrankungen für die Demenz vom<br />
Alzheimer-Typ erklärt sich zum einen aus dem<br />
Umstand, dass ein großer Anteil der Altersdemenzen<br />
sogenannte „Mischdemenzen“<br />
sind, bei denen sich neuropathologisch ein<br />
Nebeneinander von zerebrovaskulären Veränderungen<br />
und Alzheimer-Pathologie findet.<br />
Zum anderen wird vermutet, dass vaskuläre<br />
Veränderungen den Krankheitsverlauf primär<br />
neurodegenerativer Demenzen ungünstig beeinflussen<br />
und somit als „Treiber“ der Progression<br />
bei der Alzheimer-Demenz wirken.<br />
Eine Reihe an Untersuchungen widmete sich<br />
der Fragestellung, inwiefern die konsequente<br />
Therapie vaskulärer Erkrankungen einen die<br />
Kognition günstig beeinflussenden Effekt<br />
aufweist. 6 Studien untersuchten, ob eine<br />
konsequente antihypertensive Behandlung<br />
mit einer Reduktion des Risikos für einen kognitiven<br />
Abbau assoziiert ist. Trotz repräsentativer<br />
Studienpopulationen und Beobachtungszeiträume<br />
(Fallzahlen zwischen n = 2418<br />
und n = 6105; Follow-up bis 5 Jahre) fand<br />
sich in 5 von 6 Studien kein Hinweis auf<br />
einen signifikanten demenzpräventiven Effekt<br />
von Antihypertensiva 6 .<br />
Hingegen lassen die Ergebnisse einer Meta -<br />
analyse aus 6 Studien mit Follow-up-Zeiträumen<br />
von bis zu 6 Jahren vermuten, dass der<br />
Diabetes mellitus mit einem erhöhten Risiko<br />
für die Entwicklung einer kognitiven Störung<br />
(Odds Ratio: 1,2) einhergeht. Ähnliches dürfte<br />
für das metabolische Syndrom gelten. Für<br />
Adipositas ist die Datenlage nicht konsistent;<br />
eine sichere Assoziation mit kognitivem<br />
RESÜMEE<br />
Bei kritischer Durchsicht der verfügbaren<br />
Datenlage zu möglichen demenzpräventiven<br />
Faktoren und Anwendung der Kriterien<br />
der „Evidence-based Medicine“<br />
ergeben sich vergleichsweise wenige verlässliche<br />
Empfehlungen. Mit Sicherheit<br />
kann die adäquate und rechtzeitige Behandlung<br />
vaskulärer Erkrankungen und<br />
Risikofaktoren als primär demenzpräventive<br />
Maßnahme empfohlen werden. Eine<br />
an Fisch und pflanzlichen Nahrungsmitteln<br />
reiche Ernährung bzw. ein an die<br />
mediterrane Diät angelehntes Ernährungsverhalten<br />
könnten protektiv bezüglich<br />
des Auftretens einer Demenz sein,<br />
wenngleich die Datenlage derzeit keine<br />
spezifischen Ernährungsempfehlungen<br />
zulässt. Sicher empfohlen werden kann<br />
lediglich, dass einer ausgewogenen Kostform<br />
mit Vermeidung von Übergewicht<br />
der Vorzug gegeben werden sollte. In<br />
jedem Fall sind ein sozial und geistig aktives<br />
Leben sowie regelmäßige körperliche<br />
Bewegung anzuraten, nachdem sich<br />
in etlichen Studien Hinweise darauf ergaben,<br />
dass diese Maßnahmen – vermutlich<br />
durch Steigerung der kognitiven<br />
Reservekapazität – den kognitiven Ab -<br />
bau verlangsamen oder hinauszögern<br />
dürften.<br />
Abbau konnte nicht bewiesen werden 2 . Aktueller<br />
Tabakkonsum (bzw. Rauchen bis ins<br />
höhere Lebensalter) wurde in prospektiven<br />
Studien als unabhängiger Risikofaktor für<br />
einen akzelerierten kognitiven Abbau identifiziert.<br />
Umwelt- und Lebensstilfaktoren: Nahezu<br />
alle hierzu durchgeführten Beobachtungsstudien<br />
deuten darauf hin, dass physische Aktivität<br />
(Richtwert: moderates aerobes Training<br />
– z. B. Wandern – 3-mal wöchentlich für die<br />
Dauer einer Stunde) mit einem verminderten<br />
Risiko für die Entwicklung einer kognitiven<br />
Störung assoziiert ist. Auch in einer kontrollierten<br />
24-wöchigen Studie mit 170 TeilnehmerInnen<br />
führte physische Aktivität zu geringen,<br />
aber signifikanten Verbesserungen<br />
der Kognition 10 .<br />
Observations- und kontrollierte Studien lassen<br />
ebenso vermuten, dass kognitives Training<br />
mit einem moderaten, aber robusten<br />
Effekt auf die Kognition assoziiert ist. So<br />
wurde beispielsweise in einer kontrollierten<br />
Studie mit repräsentativem Sample (n = 2832)<br />
gezeigt, dass das spezifische Training in bestimmten<br />
kognitiven Domänen zu Verbesserungen<br />
der Alltagsfähigkeiten führte. Die Verbesserungen<br />
in den trainierten kognitiven<br />
Teilleistungen waren bis zu 5 Jahre nach der<br />
Intervention nachweisbar 2 .<br />
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass (Aus-) -<br />
Bildungsniveau und beruflicher Status das<br />
Demenzrisiko beeinflussen. Insbesondere ein<br />
hoher Bildungsgrad dürfte einen präventiven<br />
Faktor darstellen 11 . Auch ein aktives Freizeitverhalten<br />
(Hobbies, hohes Ausmaß an sozialen<br />
Interaktionen etc.) wurde in einigen Beobachtungsstudien<br />
als möglicher demenzprotektiver<br />
Faktor identifiziert 2 .<br />
Ein Erklärungsmodell für den Zusammenhang<br />
zwischen körperlich und kognitiv aktivem Lebensstil<br />
und einem reduzierten Demenzrisiko<br />
stellt das Konzept der „kognitiven Reserve“<br />
dar. Hierunter wird die Fähigkeit des Gehirns<br />
verstanden, Alterungsprozesse oder Läsionen<br />
zu „verkraften“ und die klinische Manifestation<br />
von Erkrankungen zu minimieren oder<br />
zu verzögern. Das (krankheitsunspezifische)<br />
Konzept der kognitiven Reserve ist das derzeit<br />
gängigste Modell zur Kompensation von<br />
Neurodegeneration und erklärt unter anderem<br />
die häufig zu beobachtende Diskrepanz u<br />
29
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
zwischen Pathologie (d. h. neurodegenera tiven Veränderungen des alternden<br />
Gehirns) und Klinik (d. h. Anzeichen einer Hirnleistungsstörung<br />
zu Lebzeiten). Grundlage der kognitiven Reserve dürfte die aktivitätsabhängige<br />
Plastizität des Gehirns sein: Demnach führt die lebenslange<br />
„Stimulation“ des Gehirns (z. B. durch intensive Ausbildung, anspruchsvolle<br />
berufliche Qualifikation oder hohes Ausmaß kognitiver Aktivitäten<br />
und sozialer Interaktionen) zu einer Erhöhung der Widerstandfähigkeit<br />
gegenüber pathologischen Prozessen. Als neurobiologische Substrate<br />
der kognitiven Reserve werden strukturelle und funktionelle Veränderungen<br />
(z. B. die Vergrößerung, die parallele Anlage oder der effizientere<br />
Gebrauch neuronaler Netzwerke, die Nutzung alternativer Netzwerke<br />
oder neurochemische Veränderungen) vermutet.<br />
Limitationen<br />
Die Interpretation der vorliegenden Daten muss aus mehreren Gründen<br />
mit Zurückhaltung erfolgen. Die Mehrheit der Befunde entstammt offenen<br />
Beobachtungsstudien, während die Anzahl randomisierter, kontrollierter<br />
Studien gering ist. Auch existieren Heterogenitäten hinsichtlich<br />
der untersuchten Studienpopulationen, der verwendeten Diagnosekriterien<br />
für „kognitive Störung“ oder „Demenz“ sowie der psychometrischen<br />
Tests, mit denen kognitive Leistungen evaluiert wurden. All<br />
dies limitiert die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen. Darüber hinaus<br />
wurden viele Daten in Studien mit primär anderen (z. B. internis -<br />
tischen) Fragestellungen erhoben, im Rahmen derer kognitive Veränderungen<br />
nur als sekundäre Parameter mit erfasst wurden.<br />
Generell ist zu beachten, dass medizinische Konditionen – und damit<br />
auch die Demenz – komplexe Erkrankungen sind, die der Beeinflussung<br />
durch eine Vielzahl an Variablen unterliegen. Das Auftreten einer Assoziation<br />
muss somit nicht immer zwingend eine Kausalität bedeuten.<br />
Möglich wäre außerdem, dass bestimmte Interventionen unterschiedliche<br />
Effekte zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebenszyklus haben. So<br />
ist beispielsweise nicht auszuschließen, dass einzelne Interventionen in<br />
Abhängigkeit des Lebensalters, in dem sie erfolgen (und auch der<br />
Dauer der Anwendung), differenzielle Effekt aufweisen könnten. n<br />
1 Féart C et al., Adherence to a Mediterranean diet, cognitive decline, and risk of dementia.<br />
JAMA 2009; 302(6):638–48<br />
2 Plassman BL et al., Systematic review: factors associated with risk for and possible prevention<br />
of cognitive decline in later life. Ann Intern Med 2010; 153(3):182–93<br />
3 Dangour AD et al., B-vitamins and fatty acids in the prevention and treatment of Alzheimer's<br />
disease and dementia: a systematic review. J Alzheimers Dis 2010; 22(1):205–24<br />
4 Panza F et al., Alcohol drinking, cognitive functions in older age, predementia, and<br />
dementia syndromes. J Alzheimers Dis 2009; 17:7–31<br />
5 ADAPT Research Group. Cognitive function over time in the Alzheimer's Disease Antiinflammatory<br />
Prevention Trial (ADAPT): results of a randomized, controlled trial of naproxen<br />
and celecoxib. Arch Neurol 2008; 65(7):896–905<br />
6 Ligthart SA et al., Treatment of cardiovascular risk factors to prevent cognitive decline and<br />
dementia: a systematic review. Vasc Health Risk Manag 2010; 6:775–85<br />
7 Whitmer et al., Timing of Hormone Therapy and Dementia: The Critical Window Theory<br />
Revisited. Ann Neurol 2001; 69:163–9<br />
8 Doody RS et al., Donepezil treatment of patients with MCI: a 48-week randomized, placebo-controlled<br />
trial. Neurology 2009; 72(18):1555–61. Epub 2009 Jan 28<br />
9 DeKosky ST et al., Ginkgo biloba for prevention of dementia: a randomized controlled<br />
trial. JAMA 2008; 300:2253–2262<br />
10 Lautenschlager NT et al., Greenop KR, Almeida OP. Effect of physical activity on cognitive<br />
function in older adults at risk for Alzheimer disease: a randomized trial. JAMA 2008;<br />
300(9):1027–37<br />
11 Marengoni A et al., Socioeconomic Status During Lifetime and Cognitive Impairment No-<br />
Dementia in Late Life: The Population-Based Aging in the Chianti Area (InCHIANTI) Study.<br />
J Alzheimers Dis <strong>2011</strong> Feb 1 [Epub ahead of print]<br />
Rezente Entwicklungen<br />
Als MedizinerInnen haben wir in der Regel keine<br />
systematische Ausbildung in der Genetik und<br />
Molekularbiologie absolviert. Gleichzeitig hat<br />
es in den letzten 10 bis 20 Jahren, insbesondere<br />
seit der Fertigstellung des humanen Genom -<br />
projektes, enorme Fortschritte auf diesen<br />
Gebieten gegeben. Da für das Verständnis der<br />
medizinisch genetischen Literatur ein zum Teil<br />
sehr umfangreiches Vorwissen nötig ist, möchte<br />
ich hier auf einige grundlegende genetische<br />
Themen näher eingehen.<br />
NNur ein kleiner Teil des menschlichen Genoms (etwa 2 %)<br />
kodiert für die geschätzten 20.000 Gene. Der größte Teil des<br />
Genoms wird durch (scheinbar) nutzlose DNA-Abschnitte eingenommen.<br />
Solche Abschnitte werden häufig als „Junk-DNA“<br />
bezeichnet, obwohl mit zunehmendem Wissen klarer wird,<br />
dass auch solchen Bereichen des Genoms wichtige Aufgaben<br />
zukommen können, die wir allerdings noch kaum verstehen.<br />
Genverwandte Abschnitte umfassen 38 % des Genoms (1152<br />
Millionen Basenpaare [Mb]). Dazu zählen „Pseudo-Gene“ und<br />
Genfragmente, also DNA-Abschnitte, die z.B. durch Duplikationen<br />
entstanden, aber nicht funktionstüchtig sind, und<br />
Gene, die im Laufe der Evolution stillgelegt wurden. Auch intronische<br />
DNA-Abschnitte und regulatorische Regionen (Promotoren<br />
und UTR also „Untranslated Regions“ in einem Gen)<br />
zählen zur genverwandten DNA.<br />
Mutationen und Polymorphismen<br />
Mutationen<br />
Unterschiede in der Basensequenz (auf Einzelbasenebene) zwischen<br />
zwei Individuen (etwa 1-mal pro 1000 bp) bzw. Abweichungen<br />
von einer (nichtexistenten) Idealsequenz können<br />
als Mutationen oder Polymorphismen vorliegen, wobei die<br />
Übergänge zwischen diesen Begriffen fließend sind.<br />
Von einer Mutation spricht man, wenn eine schwere und seltene<br />
krankheitsverursachende Veränderung in der Sequenz<br />
vorliegt, die z. B. mit einem vorzeitigen Abbruch der Proteinbildung<br />
einhergeht oder durch den Austausch einer wesentlichen<br />
Aminosäure die Funktionalität des Proteins schwer beeinträchtigt.<br />
30
in der Neurogenetik<br />
Polymorphismen<br />
Als Polymorphismus bezeichnet man eine Variante,<br />
die häufiger vorkommt („Minor Allele<br />
Frequency“, MAF > 1 %) und in den meisten<br />
Fällen keine funktionelle Bedeutung hat (stille<br />
Polymorphismen).<br />
SNP: Nur ca. 500.000 der ca. 10 Mio. bekannten<br />
Einzelbasen-Polymorphismen („Single<br />
Nucleotide Polymorphisms“, SNP) dürften<br />
mit einer (geringen) funktionellen Auswirkung<br />
vergesellschaftet sein (funktionelle Polymorphismen).<br />
Eine große Herausforderung<br />
wird es sein, diese funktionellen Polymorphismen<br />
und deren Auswirkungen zu identifizieren.<br />
Man nimmt an, dass komplexe Erkrankungen<br />
zum Großteil durch eine Kombination<br />
solcher krankheitsmodulierender SNP und<br />
anderer Polymorphismen verursacht sein<br />
könnten.<br />
VNTR: Neben SNP existieren aber noch andere<br />
Polymorphismen im Genom. Variable-<br />
Number-Tandem-Repeat-Polymorphismen<br />
(VNTR) sind Abschnitte einer DNA-Sequenz,<br />
die ca. 10 bis 100 bp lang sein können (auch<br />
als Minisatelliten bezeichnet) und tandemartig<br />
wiederholt sind. Besonders relevant dürften<br />
solche VNTR in regulatorischen Genabschnitten<br />
sein, wenn sie Bindungsstellen für<br />
DNA-bindende Proteine (z. B. Transkriptionsfaktoren)<br />
enthalten.<br />
STR und Trinucleotid-repeat-<br />
Expansionen: Mikrosatelliten<br />
(oder Short Tandem Repeats, STR)<br />
sind sehr kurze DNA-Abschnitte<br />
(2–6 bp), die ebenfalls oft in<br />
großer Zahl tandemartig hintereinander<br />
liegen. In der Medizin relevant sind Erkrankungen,<br />
die durch instabile „Trinucleotidrepeat-Expansionen“<br />
hervorgerufen werden,<br />
z. B. verschiedene spinozerebelläre Ataxien<br />
oder die Huntingtonsche Erkrankung.<br />
Priv.-Doz. Dr.<br />
Alexander Zimprich<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
CNP: Seit kurzem weiß man, dass auch Variationen<br />
im Sinne von Duplikationen und<br />
Deletionen auf subchromosomaler Ebenen<br />
(Kilobasen- bis Megabasenbereich) weitaus<br />
häufiger existieren als bisher angenommen.<br />
Als Beispiel einer solchen Variation sei die<br />
Duplikation eines 1,5 Mb langen Abschnittes<br />
am Chromosom 17 genannt, die für die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung<br />
verantwortlich<br />
ist. In mehreren Aufsehen erregenden Arbeiten<br />
der letzten Jahre konnte gezeigt werden,<br />
dass jedes einzelne Individuum scheinbar<br />
Dutzende bis Hunderte solcher als „Large<br />
scale Copy Number repeat“-Polymorphismen<br />
(CNP) bezeichneter Variationen in sich trägt,<br />
die auch entsprechend vererbt werden können.<br />
Mehrere Studien in den letzten Jahren<br />
konnten einen Zusammenhang dieser CNP<br />
mit neurologischen Entwicklungsstörungen<br />
nachweisen. So fand man z. B bei PatientInnen<br />
mit Autismus und Schizophrenie eine<br />
deutlich höhere Anzahl an CNP als bei Gesunden.<br />
Architektur genetischer<br />
Erkrankungen und Methoden<br />
der Genfindung<br />
Große Erfolge gab es in den letzten Jahrzehnten<br />
vor allem bei der Entschlüsselung<br />
Mendelscher, also monogenetischer, Erkrankungen.<br />
(In der gängigen Vorstellung werden<br />
monogenetische Erkrankungen geradezu mit<br />
genetisch bedingten Erkrankungen gleichgesetzt,<br />
obwohl die Genetik bei komplexen Erkrankungen<br />
eine nicht minder wichtige Rolle<br />
spielt.)<br />
Monogenetische Erkrankungen: Die Methode<br />
der Wahl zur Entschlüsselung monogenetischer<br />
Erkrankungen ist konzeptionell<br />
einfach. Am Beginn steht die Ermittlung des<br />
Suszeptibilitätsgenortes mittels Kopplungsanalyse.<br />
Ausgangspunkt ist dabei eine große<br />
Familie (vorzugsweise mit mehren betroffenen<br />
Personen). Dabei sucht man nach jenen<br />
chromosomalen Abschnitten, die allen u<br />
Abb. 1: Mutationen<br />
Abb. 2: CNV – copy number variations<br />
• Duplikationen/<br />
Insertionen/Deletionen auf<br />
subchromosomaler Ebene<br />
kB bis Mb<br />
Duplikationen Deletion Chr. 15<br />
Mutationen in<br />
regulatorischen Sequenzen<br />
• Promoter<br />
• upstream regulatory region<br />
• Exon-Intron-Grenze<br />
Schwierig zu erkennen<br />
Mutationen in<br />
kodierender Sequenz<br />
missense<br />
nonsense<br />
frameshift<br />
• Jedes Individuum<br />
Dutzende bis Hunderte<br />
CNV<br />
• Wahrscheinlich nicht<br />
erkannter Einfluss auf<br />
viele Krankheitsbilder<br />
31
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
erkrankten Personen in der Familie gemeinsam<br />
sind. Man kann nun für jeden einzelnen<br />
dieser chromosomalen Abschnitte unter Berücksichtigung<br />
der Familiengröße, Phänokopie-Rate<br />
und anderer Variablen die Wahrscheinlichkeit<br />
berechnen, dass er mit der Erkrankung<br />
assoziiert ist, also in unmittelbarer<br />
Nähe zum Krankheitsgen sitzt. Dieser Wert<br />
wird LOD-Score genannt (logarithm of the<br />
odds). LOD-Scores über 3 gelten als signifikant.<br />
Je nach Lage und exakter Größe dieser<br />
Region können sich aber mehrere dutzend<br />
bis hundert Gene darin befinden.<br />
Kennt man nun den ungefähren Genort,<br />
versucht man in einem 2. Schritt die Kandidatenregion<br />
weiter einzugrenzen, indem<br />
man mehr Marker in diese Region typisiert<br />
und hofft, dass z. B. eine betroffene Person<br />
in der Familie eine so genannte Schlüsselrekombination<br />
hat; d. h. dass es genau in<br />
der Kandidatenregion zu einer Rekombination<br />
zwischen dem mutationstragenden<br />
Chromosom und dem gesunden Chromosom<br />
gekommen ist.<br />
Im nächsten Schritt, dem so genannten positionellen<br />
Klonieren, versucht man nun die<br />
„schuldige“ Mutation zu finden. Dabei werden<br />
oft sämtliche proteinkodierende Abschnitte<br />
(Exone) dieser Gene in so einem Bereich<br />
systematisch Base für Base durchsequenziert.<br />
Vom Arbeitsumfang würde dies<br />
typischerweise mehrere Personen über mehrere<br />
Monate, manchmal sogar Jahre beschäftigen.<br />
Um seltene, nicht kankheitsverursachende<br />
Polymorphismen, die in diesem Chromosomenabschnitt<br />
ebenfalls mit der<br />
Erkrankung segregieren, von der schuldigen<br />
Mutation zu unterscheiden, müssen die Ergebnisse<br />
auch immer mit gesunden, nicht<br />
verwandten Kontrollpersonen verglichen<br />
werden (hier liegt vor allem das Potenzial<br />
falsch positiver Ergebnisse). Seit wenigen Monaten<br />
existieren jedoch neue Methoden, mit<br />
denen es möglich ist, den gesamten proteinkodierenden<br />
Teil des menschlichen Genoms<br />
innerhalb weniger Tage zu analysieren (Exom-<br />
Sequenzierung).<br />
Komplexe, nichtmendelsche Erkrankungen:<br />
Seit geraumer Zeit weiß man, dass das<br />
Erkrankungsrisiko auch bei komplexen, nichtmendelschen<br />
Erkrankungen durch genetische<br />
Varianten beeinflusst werden kann. Niedrigrisikoallele<br />
erhöhen die Wahrscheinlichkeit,<br />
mit der eine bestimmte Erkrankung auftritt,<br />
nur geringfügig. Die allermeisten TrägerInnen<br />
solcher Varianten bleiben zeitlebens von<br />
der Erkrankung verschont. Pro Allel-Variante<br />
erhöht sich das Risiko um ca. 50 %. In anderen<br />
Worten: Nimmt man das Lebenszeit-<br />
Risiko für eine bestimmte Erkrankung mit<br />
ca. 1 % an, dann haben TrägerInnen eines<br />
solchen Niedrigrisikoallels ein 1,5%iges Risiko.<br />
Niedrigrisikoallele werden mittels genomweiter<br />
Assoziationsanalysen (GWA) ermittelt. Bei<br />
einer GWA werden die DNA von mehreren<br />
hundert bis vielen tausend PatientInnen mit<br />
ebenso vielen gesunden Kontrollen verglichen<br />
und hunderttausende Genvarianten, so<br />
genannte Single-Nukleotid-Polymorphismen<br />
(SNP), genotypisiert. Ein SNP stellt die einfachste<br />
Form einer genetischen Variation dar.<br />
An einer bestimmten Stelle im Genom ist ein<br />
Nukleotid durch ein anderes ersetzt, also z<br />
B. statt einem Adenin (A) findet sich eine<br />
RESÜMEE<br />
Es waren immer die technologischen Entwicklungen,<br />
die den Fortschritt in der<br />
Genetik vorantrieben. So war es die Kartierung<br />
der genetischen Marker bzw. die<br />
Fertigstellung des humanen Genomprojektes,<br />
die die positionelle Klonierung der<br />
ersten Hochrisikogene ermöglicht haben.<br />
Es war die Entwicklung der DNA-Chip-<br />
Technologie, die die Entdeckung von<br />
Niedrigrisikogenen vorantrieb. So stehen<br />
wir erneut vor einem technologischen<br />
Wandel. Die rasanten Fortschritte in der<br />
Sequenziertechnologie machen es seit<br />
wenigen Monaten möglich, den gesamten<br />
proteinkodierenden Teil eines/-r PatientIn<br />
innerhalb weniger Tage komplett<br />
zu sequenzieren. Es ist daher zu erwarten,<br />
dass in den nächsten Jahren eine<br />
Reihe weiterer familiärer Hochrisikogene<br />
identifiziert werden. Man darf nicht vergessen,<br />
dass bisher nur ein kleiner Teil<br />
aller vermuteten Hochrisikogene entdeckt<br />
ist.<br />
Cytosin (C). In den meisten Fällen haben diese<br />
Veränderungen keinen Einfluss auf Proteinform<br />
oder -menge.<br />
Man nimmt an, dass es insgesamt ca. 10<br />
Millionen SNP im menschlichen Genom gibt,<br />
wobei aber nur ca. 1 Million mit einer Frequenz<br />
von 5 % und darüber vorkommen<br />
(häufige „common“ SNP). Nur diese häufigen<br />
SNP werden bei GWA untersucht. Dabei wird<br />
die Frequenz jedes einzelnen SNP in der Patientengruppe<br />
mit der in der Kontrollgruppe<br />
verglichen. Findet sich eine signifikante Abweichung<br />
in einer der beiden Gruppen, deutet<br />
das darauf hin, dass diese Variante (bzw.<br />
das Gen, in der sich die Variante befindet)<br />
mit der Erkrankung in einem Zusammenhang<br />
steht. Dabei ist es nicht die SNP-Variante<br />
selbst, die das Erkrankungsrisiko verursacht,<br />
sondern es sind genetische Varianten in unmittelbarer<br />
Nähe des getesteten SNP. Ursächliche<br />
Variante und positiv getestete SNP befinden<br />
sich in räumlicher Nähe auf dem gleichen<br />
Chromsomenabschnitt und werden<br />
gemeinsam vererbt (Linkage-Disequilibrium).<br />
Man nimmt an, dass die eigentlich ursächliche<br />
Variante nur geringfügig das Expressionsniveau<br />
des Gens oder, im Falle von Aminosäureveränderungen,<br />
die räumliche Struktur<br />
eines Proteins ändert. Allzu dramatische<br />
Veränderungen würde man eher nicht erwarten,<br />
sonst wäre der Effekt stärker.<br />
Der große Vorteil einer GWA liegt in der<br />
umfassenden genomweiten und hypothesenfreien<br />
Herangehensweise. Ein Nachteil<br />
dieser Methodik besteht in der Unmenge<br />
der zu analysierenden Einzeldaten. Um die<br />
echt positiven SNP von den falsch positiven<br />
verlässlich zu trennen, benötigt man entweder<br />
einen sehr niedrigen Signifikanzwert<br />
(p < 10 –8 ) oder man genotypisiert die weniger<br />
stark positiven SNP (10 –5 bis 10 –3 ) in<br />
einem zweiten unabhängigen PatientInnenkollektiv.<br />
In den letzten 5 Jahren wurden<br />
über 12.000 solcher Niedrigrisikoloci in<br />
über 200 GWA-Analysen identifiziert; darunter<br />
auch in einer Reihe neurologischer<br />
Erkrankungen wie Parkinson, essenzieller<br />
Tremor, Restless-Legs-Syndrom und multiple<br />
Sklerose. Die Entdeckung dieser Niedrigrisikoallele<br />
wird uns helfen, die pathogenen<br />
Stoffwechselwege dieser Erkrankungen<br />
besser zu verstehen.<br />
n<br />
32
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Genetik der Epilepsien<br />
Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass Epilepsien zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen<br />
zählen. So beträgt die kumulative Inzidenz für Epilepsien bis zum 85 Lebensjahr um 4,5 %, und wenn man auch<br />
Gelegenheitsanfälle und Fieberkrämpfe berücksichtigt, nähern wir uns der 10%-Marke 1 .<br />
DDie häufige Frequenz von Anfällen in der Bevölkerung<br />
sowie eine Reihe anderer experimenteller<br />
Untersuchungen und Beobachtungen<br />
legen nahe, dass eine mehr oder minder<br />
hohe Anfallsbereitschaft in vielen Personen<br />
prinzipiell vorgegeben ist, es aber meistens<br />
nur unter bestimmten provozierenden Bedingungen<br />
zum Überschreiten der Anfallsschwelle<br />
kommt 2 . Nach diesem Konzept wird<br />
diese individuell sehr unterschiedlich ausgeprägte<br />
Anfallssuszeptibilität durch das Gleichgewicht<br />
vieler pro- und antikonvulsiver Kräfte<br />
geprägt. Diese die Erregungsbereitschaft bestimmenden<br />
Faktoren wären in erster Linie<br />
genetisch determiniert, etwa könnte ein erregungsdämpfender<br />
Ionenkanal in einer aktiveren<br />
oder inaktivern Form vorliegen.<br />
Ein wesentlicher Punkt dieses Konzeptes<br />
wäre der, dass viele Gene das Gleichgewicht<br />
der Anfallsbereitschaft beeinflussen können.<br />
Je nachdem welche Gene welche Variationen<br />
aufweisen und in welcher Konstellation diese<br />
vorlägen, könnten klinisch sehr unterschiedliche<br />
Epilepsien mit einer manchmal offensichtlichen,<br />
meistens aber versteckten genetischen<br />
Ätiologie resultieren. An einem Ende<br />
des Spektrums lägen „genetisch einfache“<br />
monogenetische Epilepsien, am anderen<br />
Ende komplexe polygenetische Epilepsien.<br />
Monogenetische Epilepsien<br />
Am offensichtlichsten ist die genetische Ätiologie<br />
dann, wenn eine familiäre Epilepsie besteht,<br />
die nach den Mendelschen Gesetzen<br />
übertragen wird. Man spricht auch von monogenetischen<br />
Epilepsien, da hier Variation<br />
oder Mutationen in einzelnen Hauptgenen<br />
vorliegen. Die jeweilige Effektgröße der Mutationen<br />
ist so hoch, dass ein einzelnes Gen<br />
ausreicht, um die Erkrankung auszulösen.<br />
Diese monogenetischen Epilepsien sind zwar<br />
selten anzutreffen, aber ideal geeignet für<br />
die Suche nach den zugrunde liegenden<br />
Genen. So ist der beachtliche Fortschritt, den<br />
wir in den letzten 15 Jahren auf dem Gebiet<br />
der Epilepsiegenetik verzeichnen konnten,<br />
fast ausschließlich auf die Erforschung monogenetischer<br />
Epilepsien zurückzuführen 3 .<br />
Dabei konnten viele interessante Erkenntnisse<br />
gewonnen werden, unter anderem jene, dass<br />
sehr viele unterschiedliche Gene eine Epilepsie<br />
verursachen können. Insgesamt sind in<br />
der OMIM-Datenbank über 200 Gene gelis -<br />
tet, die bei Mutationen im Phänotyp – neben<br />
anderen Symptomen – auch epileptische<br />
Anfälle aufweisen (http://www.ncbi.nlm.nih.<br />
gov/omim). In der Tabelle findet sich eine<br />
subjektive Auswahl der klinisch oder wissenschaftlich<br />
interessantesten Epilepsie-Gene.<br />
Zunächst zeigt sich, nicht überraschend, dass<br />
viele dieser Gene für Ionenkanäle, Neurotransmitter-Rezeptoren<br />
oder assoziierte Gene<br />
kodieren. Darüber hinaus sind aber noch viele<br />
Gene mit anderen zellulären Funktionen in<br />
der Liste vertreten.<br />
Das prominenteste unter den Epilepsie-<br />
Genen ist das SCN1A-Gen, das für die porenbildende<br />
Alpha-1-Untereinheit eines wichtigen<br />
spannungsabhängigen Natriumkanals<br />
kodiert 4, 5 . Dieser NaV1.1-Natriumkanal wird<br />
ubiquitär im ZNS (v.a. am Zellkörper) exprimiert<br />
und ist für das Aktionspotenzial essenziell.<br />
Viele antiepileptische Medikamente<br />
(Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin) entfalten<br />
ihre Wirkung über diesen Kanal, indem<br />
sie den inaktiven Zustand des Kanals verlängern).<br />
Mutationen in diesem Kanal-Gen können<br />
zum autosomal dominanten GEFS-plus-Syndrom<br />
führen, das durch sehr variable Anfalls -<br />
Univ.-Prof. Dr.<br />
Fritz Zimprich<br />
Universitätsklinik<br />
für <strong>Neurologie</strong>,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
typen (einfache Fieberkrämpfe, generalisierte<br />
tonisch-klonische Anfälle bis hin zu fokalen<br />
Anfällen) gekennzeichnet ist (GEFS plus steht<br />
für „generalised epilepsy febrile seizures<br />
plus“). Mutationen, die zu einem kompletten<br />
Funktionsverlust des Kanals führen und meist<br />
de novo auftreten, sind mit einem schwereren<br />
Phänotyp, dem Dravet-Syndrom, vergesellschaftet.<br />
Dabei handelt es sich um eine<br />
frühkindliche Enzephalopathie mit therapieresistenten<br />
Anfällen, einer Ataxie und einer<br />
globalen Entwicklungsbeeinträchtigung. Als<br />
möglicher Mechanismus wird eine Haploinsuffizienz<br />
vermutet, wobei der Kanal bevorzugt<br />
in inhibierenden Interneuronen ausfällt,<br />
womit die Erregungsbereitschaft in neuronalen<br />
Netwerken erhöht wird 4, 5 .<br />
Viele andere Ionenkanal-Gene und Synapsen-Gene<br />
konnten mit Epilepsien assoziiert<br />
werden. Dazu zählen Kaliumkanal-Gene, kaliumkanalassoziierte<br />
Gene (LGI1), Chloridkanal-Gene,<br />
Kalziumkanal-Gene, Gene für Acetylcholinrezeptoren,<br />
GABA-Rezeptoren oder<br />
Glutamatrezeptoren. Interessant, weil entgegen<br />
ursprünglichen Annahmen, ist, dass auch<br />
fokale Epilepsien durch Ionenkanalmutationen<br />
ausgelöst werden können, etwa die autosomal<br />
dominante nächtliche Frontallappen -<br />
epilepsie, der Mutationen im Acetylcholin -<br />
rezeptor-Gen CHRNA4 zugrunde liegen 6 .<br />
Rolle bei der neuronale Migration: Unter<br />
den Epilepsie-Genen befinden sich mehrere, u<br />
33
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Tab.: Auswahl klinisch oder wissenschaftlich interessanter Epilepsie-Gene<br />
Gen-Symbol Protein Funktion Phänotyp<br />
ALDH7A1 Antiquitin Enzym, Aldehyd- Pyridoxinabhängige Epilepsie<br />
Detoxifikation<br />
ARX Aristaless-related Homeobox-Gen, X-Chr.-Lissenzephalie<br />
Homeobox Transkriptionsfaktor<br />
CACNA1A P/Q-Kalziumkanal Neuronale Erregung IGE, Anfälle bei familiärer<br />
hemiplegischer Migräne,<br />
EA 2 oder SCA6<br />
CACNA1H Kalziumkanal Neuronale Erregung CEA<br />
CACNA1H T-Typ-Kalziumkanal Neuronale Erregung IGE, CEA<br />
CACNB4 Kalziumkanal, Neuronale Erregung Anfälle bei EA5<br />
Beta-4-Untereinheit<br />
CHRNA4 Acetylcholinrezeptor Neuronale Erregung AD nächtliche<br />
Frontallappenepilepsie<br />
CLCN2 Chloridkanal Neuronale Erregung IGE<br />
CSTB Cystatin-B Proteaseinhibitor Unverricht-Lundborg-progressive<br />
Myoklonusepilepsie<br />
DCX Doublecortin Neuronale Migration, Subkortikale laminäre<br />
Mikrotubulusfunktion Heterotopie, X-Chr.-<br />
Lissenzephalie<br />
EFHC1 EF-Hand-Domain- Kalziumkanal- JME, CEA<br />
containing Protein 1 assoziiert, Apoptose<br />
EPM2A Laforin Proteinphosphatase, PME, Lafora-Typ<br />
Glykogenmetabolismus<br />
FLNA Filamin A Aktin-Zytoskelett, Periventrikuläre noduläre<br />
neuronale Migration Heterotopie (X-Chr.)<br />
GABRA1 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung JME<br />
GABRA1 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung CEA<br />
GABRG2 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung CEA<br />
GABRG2 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung Familiäre Fieberkrämpfe 8,<br />
GEFS+, Dravet-Syndrom<br />
GRIA3 Glutamatrezeptor Neuronale Erregung Anfälle bei X-Chr.-<br />
(AMPA 3)<br />
Retardierung<br />
KCNA1 Shaker-Typ- Neuronale Erregung Anfälle bei Myokymie<br />
Kaliumkanal<br />
und EA1<br />
KCNMA1 Kaliumkanal (BK) Neuronale Erregung Generalisierte Anfälle bei<br />
paroxysmaler nonkinesiogener<br />
Dyskinesie<br />
KCNQ2 Kaliumkanal Neuronale Erregung Benigne familiäre<br />
Neugeborenenkrämpfe<br />
KCNQ3 Kaliumkanal Neuronale Erregung Benigne familiäre<br />
Neugeborenenkrämpfe<br />
KCTD7 Kaliumkanal- Im Detail unklar PME Typ 3<br />
assoziiert<br />
LGI1 Leucine-rich Glioma Kaliumkanalassoziiert, AD laterale Temporallappeninactivated-1<br />
neuronale Erregung epilepsie<br />
protein<br />
MECP2 Methyl-CpG-Binding DNA-Methylierung Rett-Syndrom<br />
Protein 2<br />
MFSD8 Major facilitator Lysosomales Protein Neuronale Ceroidsuperfamily<br />
domain- Lipofuszinose 7<br />
containing protein-8<br />
MTND4, NADH-Dehydro- Mitochondriales MELAS<br />
MTTL1 genase Komplex-I-Enzym<br />
und andere<br />
die eine Rolle bei der neuronalen Migration<br />
bzw. der korrekten „Verschaltung“ von Netzwerken<br />
spielen. Eine Störung der neuronalen<br />
Migration liegt offensichtlich bei der subkortikalen<br />
laminären Heterotopie vor, wo Mutationen<br />
im mikrotubulusassoziierten Doublecortin-Gen<br />
gefunden werden konnten, oder<br />
bei der periventrikulären nodulären Heterotopie<br />
mit Fehlfunktion im Aktinzytoskelett<br />
durch Mutationen im Filamin-A-Gen. Analoge<br />
Störungen in der Netzwerkorganisation<br />
vermutet man auch bei Epilepsien, die durch<br />
Gene mit Bedeutung im Apoptose-Mechanismus<br />
verursacht werden (z.B. das EFHC1-<br />
Gen oder MAPK10-Gen) 6, 7 .<br />
Funktion im DNA-Haushalt Andere Epilepsie-Gene<br />
erfüllen eine Funktion im DNA-<br />
Haushalt und können so sekundär die Funktion<br />
anderer Gene beeinflussen. So liegen<br />
dem Rett-Syndrom Mutationen im MECP2-<br />
Gen zugrunde mit konsekutiven Störungen<br />
der DNA-Methylierung. Weitere Epilepsie-<br />
Gene haben eine Bedeutung im mitochondrialen<br />
Stoffwechsel und könnten über eine<br />
Beeinträchtigung des Energiehaushaltes von<br />
Nervenzellen pathogen wirken, während andere<br />
Epilepsie-Gene in sonstige essenzielle<br />
Haushaltsfunktionen von Nerven- oder Gliazellen<br />
involviert sind. Schließlich muss aber<br />
auch erwähnt werden, dass der Pathomechanismus<br />
für viele epilepsieassoziierten<br />
Gene noch weitgehend unklar ist 6 .<br />
Es ist zu vermuten, dass sich diese Liste in<br />
naher Zukunft um viele Gene erweitern wird,<br />
da mit dem Fortschreiten der Technik (Exomsequenzierungen)<br />
neue Familien (mit jeweils<br />
neuen Genmutationen) mit geringem Aufwand<br />
untersucht werden können.<br />
Genotypische und phänotypische Heterogenität:<br />
So verschieden die Funktionen<br />
der einzelnen Gene sind – und trotz der Unterschiede<br />
der assoziierten Epilepsie-Phänotypen<br />
–, können einige allgemeine Punkte<br />
hervorgehoben werden, die für viele monogenetischen<br />
Epilepsien zutreffen 1, 3, 5 .<br />
Es fällt eine große Überlappung der durch<br />
verschiedene Gene verursachten Phänotypen<br />
auf (genotypische Heterogenität). So können<br />
34
Tab.: Fortsetzung<br />
klinisch nicht differenzierbare Formen der<br />
idiopathisch generalisierten Epilepsien (IGE)<br />
durch Chloridkanal-Gene, Calciumkanal-<br />
Gene oder GABA-Rezeptor-Gene verursacht<br />
werden. Ebenso kann das GEFS-plus-Syndrom<br />
durch unterschiedliche Natriumkanal-<br />
Gene aber ebenso durch GABA-Rezeptoren<br />
bedingt sein. Auch viele der kindlichen epileptischen<br />
Enzephalopathien präsentieren<br />
sich mit einer ähnlichen Klinik.<br />
Umgekehrt können Mutationen in ein und<br />
demselben Gen ein heterogenes Spektrum<br />
klinischer Phänotypen verursachen (phänotypische<br />
Heterogenität). Als Beispiel seien die<br />
oben erwähnten unterschiedliche Phänotypen<br />
beim GEFS-plus-Syndrom bzw. beim<br />
schwereren Dravet-Syndrom genannt, denen<br />
allen SCN1A-Mutationen zugrunde liegen.<br />
Die phänotypische Heterogenität wird unter<br />
anderem auch auf den Einfluss modulierender<br />
Genfaktoren zurückgeführt.<br />
Mendelsche Epilepsien<br />
und copy number variations<br />
Eine wesentliche Erkenntnis der letzten Jahre<br />
ist, dass Mendelsche Epilepsien auch durch<br />
sog. „copy number variations“ (CNV) verursacht<br />
werden können. Bei diesen CNV, die<br />
auch bei gesunden Personen überraschend<br />
häufig vorkommen, handelt es sich um Deletionen<br />
oder Duplikationen längerer DNA-<br />
Abschnitte (Hunderte bis Millionen Basenpaare).<br />
So ist eine 1,5 Millionen Basenpaare lange<br />
Deletion am Chromosom 15q13 für etwa 1 %<br />
aller idiopathisch generalisierten Epilepsien<br />
(IGE) verantwortlich. Manche dieser PatientInnen<br />
zeigen eine mentale Retardierung, andere<br />
sind aber kognitiv völlig unauffällig, mit<br />
einer lediglich milden IGE 8 . Ein sehr verdächtiges<br />
Kandidaten-Gen in dieser Region ist die<br />
Alpha-7-Untereinheit des Acetylcholinrezeptors.<br />
(Allerdings stehen die endgültigen Beweise<br />
für die Schuld dieses Gens noch aus,<br />
da bislang keine Mutationen – etwa bei anderen<br />
IGE-PatientInnen – gefunden werden<br />
konnten.) Weitere Mikrodeletionen, die mit<br />
Epilepsien in Zusammenhang gebracht wurden,<br />
sind in den Regionen 15q11.2 and<br />
16p13.11 lokalisiert 9 . u<br />
Gen-Symbol Protein Funktion Phänotyp<br />
MTTK Mitochondrial tRNA Mitochondriale MERRF<br />
und andere for Lysin Funktion<br />
NHLRC1 Malin, Proteasomenfunktion PME Typ 2B<br />
Ubiquitin-Ligase<br />
PAFAH (LIS1) Platelet-activating Reelin-Aktivierung, Miller-Dieker-Lissenzephalie-<br />
Factor-Acetylhydro- neuronale Migration Syndrom<br />
lase<br />
PPT1 Palmitoyl-Protein- Lipidmetabolismus Neuronale Ceroid-<br />
Thioesterase Lipofuszinose 1<br />
PRICKLE1 Nukleärer Rezeptor Transkription PME Typ 1B<br />
RELN Reelin Guidance, neuronale Lissenzephalie<br />
Migration<br />
SCN1A Natriumkanal, Neuronale Erregung GEFS+, Dravet-Syndrom<br />
Alpha-1-Untereinheit<br />
SCN1B Natriumkanal, Neuronale Erregung GEFS+<br />
Beta-1-Untereinheit<br />
SCN2A Natriumkanal, Neuronale Erregung Benigne familiäre infantile<br />
Alpha-2-Untereinheit<br />
Anfälle, Frühkindliche<br />
epileptische Enzephalopathie<br />
SLC1A3 Glutamat Neuronale Erregung Anfälle bei EA 6<br />
Transporter<br />
SLC2A1 GLUT1, Gehirnstoffwechsel Anfälle bei GLUT1-<br />
Glukosetransporter,<br />
Defizienz-Syndrome<br />
Blut-Hirn-Schranke<br />
SRPX2 Sushi-Repeat- Neuronale Migration? Rolando-Epilepsie mit<br />
containing Protein,<br />
Sprechdyspraxie, bilaterale<br />
X-linked 2<br />
perisylvische Polymikrogyrie<br />
SYN1 Synapsin I Neuronale Erregung X-Chr. Epilepsie mit mentaler<br />
Retardierung<br />
TPP1 Tripeptidyl-Peptidase Lysosomale Peptidase Neuronale Ceroid-<br />
Lipofuszinose 2<br />
TSC1 Hamartin Hamartin-Tuberin- Tuberöse Sklerose 1,<br />
Komplex, Tumorsup- fokale kortikale Dysplasie<br />
pression, vesikulärer<br />
Transport<br />
TSC2 Tuberin Hamartin-Tuberin- Tuberöse Sklerose 2<br />
Komplex, Tumorsuppression,<br />
vesikulärer<br />
Transport<br />
TUBA1A Tubulin Neuronale Migration, Lissenzephalie<br />
Mikrotubulusfunktion<br />
UBE3A Ubiquitin- Proteasomenfunktion Angelman-Syndrom<br />
Protein-Ligase<br />
VLDLR Very Low Density Reelin-Aktivierung, Anfälle bei AR zerebellärer<br />
Lipoprotein Receptor Neuronale Migration Ataxia und mentaler<br />
Retardierung<br />
CDKL5 Cyclin-dependent Kinase, essenziell für Rett-Symdrom,<br />
Kinase-like 5 Gehirnentwicklung West-Syndrom<br />
MAPK10 Mitogen-activated Kinase, Apoptosepfad Epileptische Enzephalopathie,<br />
Protein Kinase 10<br />
Lennox-Gastaut-Typ<br />
SIAT9 Sialyltransferase Gangliosid- Amisches frühkindliches<br />
metabolismus Epilepsie-Syndrom<br />
AD = autosomal dominant; AR = autosomal rezessiv; CEA = Absence-Epilepsie des Schulalters;<br />
GEFS+ = generalized epilepsy febrile seizures plus; IGE = idiopathisch generalisierte Epilepsie;<br />
JME = juvenile Myoklonusepilepsie; PME = progressive Myoklonusepilepsie<br />
SCA = spinozerebelläre Ataxie<br />
35
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Komplexe Epilepsien<br />
Im Gegensatz zu genetisch einfachen Mendelschen<br />
Epilepsien liegt der überwiegenden<br />
Mehrheit aller PatientInnen mit kryptogener<br />
Epilepsie eine genetisch komplexe Ätiologie<br />
zugrunde. Obwohl die Genetik dieser Epilepsieformen<br />
zur Zeit noch sehr schlecht verstanden<br />
wird, lassen sich zwei Punkte zweifelsfrei<br />
feststellen, nämlich, dass der genetische<br />
Beitrag an der Gesamtätiologie hoch ist<br />
und dass in den jeweiligen PatientInnen mehrere<br />
Gene an der Pathogenese beteiligt sein<br />
müssen, also eine polygenetische Ätiologie<br />
vorliegt.<br />
Die Höhe der genetische Ätiologie lässt sich<br />
annähernd durch die Heritabilität ermitteln.<br />
(Diese Maßzahl, die man aus Familien- und<br />
Zwillingsstudien errechnen kann, gibt eigentlich<br />
die Varianz des Anfallsrisikos wieder, die<br />
durch vererbte Faktoren erklärt werden<br />
kann.) Für Epilepsien liegt die Heritabilität je<br />
nach Untersuchung und Epilepsiesyndrom<br />
zwischen 70 % und 90 %, also beachtlich<br />
hoch. Dies gilt im Übrigen sowohl für die<br />
idiopathisch generalisierte als auch fokale<br />
Epilepsien.<br />
Die polygenetische Genese ergibt sich aus<br />
dem exponenziellen Abfall des Epilepsierisikos<br />
für Verwandte mit der Nähe der Verwandtschaft<br />
zum Indexpatienten. (Das Risiko<br />
ist oft um das 30-Fache erhöht in monogenetischen<br />
Zwillingen, 3- bis 11-fach in Verwandten<br />
1. Grades, aber nicht mehr signifikant<br />
erhöht in Verwandten 2. Grades.) Die<br />
Erklärung dafür ist, dass die (notwendige)<br />
gleichzeitige Vererbung mehrerer ätiologisch<br />
relevanter Gene exponenziell unwahrscheinlicher<br />
wird, je geringer der gemeinsame Anteil<br />
am Abstammungs-Genom ist 1, 10 .<br />
Offene Fragen: Viele andere entscheidende<br />
Punkte bei komplexen Epilepsien sind aber<br />
nach wie vor ungeklärt 11, 12 :<br />
• So ist unbekannt, wie viele Gene zu<br />
komplexen Epilepsien beitragen können<br />
(weder bei einzelnen PatientInnen noch<br />
in der gesamten Population). Wenn man<br />
von den monogenetischen Epilepsien<br />
extrapoliert, muss man annehmen, dass<br />
RESÜMEE<br />
Zusammenfassend kann gesagt werden,<br />
dass in der kurzen Zeit seit der Entde -<br />
ckung der ersten Epilepsie-Gene wirklich<br />
große Fortschritte bei monogenetischen<br />
Epilepsien gemacht werden konnten. So<br />
kennen wir heute hunderte Epilepsie-<br />
Gene, die uns nicht nur ein besseres Verständnis<br />
der Pathogenese von Epilepsien<br />
ermöglichen, sondern auch für die Klinik<br />
relevant sind. Der Durchbruch bei den<br />
häufigen „komplexen“ Epilepsien steht<br />
noch aus, insbesondere warten wir auf<br />
die Lösung der Frage nach dem Substrat<br />
der nachgewiesen hohen Heritabilität<br />
von kryptogenen Epilepsien.<br />
(in der Gesamtbevölkerung) wohl<br />
Dutzende bis Hunderte verschiedener<br />
Gene das Epilepsierisiko beeinflussen<br />
können.<br />
• Unbekannt ist auch, nach welcher Art<br />
von genetischen Varianten eigentlich<br />
gesucht werden muss. Es ist eher un -<br />
wahrscheinlich, dass in diesem Zusam -<br />
men hang jene genetischen Mutationen<br />
eine Rolle spielen werden, die mit einem<br />
schweren Funktionsverlust des Proteins<br />
einhergehen und häufig für monogene -<br />
tische Epilepsien verant wortlich sind (z.B.<br />
Mutationen, die ein Stopp-Codon ein -<br />
fügen). Es ist eher anzunehmen, dass<br />
Varianten mit einer geringeren Aus wir -<br />
kung auf die Funktion des Genproduktes<br />
von Bedeutung sind, etwa solche, die<br />
das Ausmaß der Expression beeinflussen<br />
oder über das Spleißverhalten<br />
entscheiden. Ein großes Problem besteht<br />
allerdings darin, dass diese funktionellen<br />
Varianten nur äußerst schwierig von den<br />
weitaus häufigeren unbedeutenden<br />
Zufallsvariationen abzugrenzen sind.<br />
• Eine andere offene Frage besteht darin,<br />
ob es sich bei den kausalen Variationen<br />
um wenige unterschiedliche handelt, die<br />
häufig vorkommen (common variants),<br />
oder, ob jede(r) PatientIn seine/ihre<br />
eigenen „privaten“ Mutationen trägt<br />
(multiple rare variants). Diese Frage ist<br />
relevant, weil für beide Möglichkeiten<br />
sehr unterschiedliche Forschungsstrategien<br />
Erfolg versprechend sind. (Nur<br />
bei den common variants wird man<br />
aus statistischen Gründen mit<br />
Assoziationsstudien Erfolg haben<br />
können.)<br />
Das Urteil, welche der Möglichkeiten<br />
eher zutrifft, steht noch aus, allerdings<br />
hat die Suche nach common variants<br />
bislang, trotz erheblicher internationaler<br />
Anstrengungen, noch wenig Erfolge<br />
gebracht 11, 12 . Ein seltenes Beispiel für<br />
eine häufige funktionelle Variante sei<br />
hier dennoch genannt, nämlich ein<br />
Einzelbasenpolymorphismus (SNP) im<br />
bereits erwähnten Natriumkanal-Gen<br />
SCN1A . Dieser SNP, den ca. 50 % der<br />
SCN1A-Gene aufweisen, verhindert die<br />
Bildung einer Spleißvariante des Kanals,<br />
die normalerweise in der Kindheit ex -<br />
primiert wird. Nach mittlerweile bestä -<br />
tigten Untersuchungen scheinen Kinder<br />
mit diesem SNP häufiger Fieberkrämpfe<br />
zu erleiden. Die Risikoerhöhung für die<br />
Einzelperson ist zwar gering, aber auf<br />
Populationsebene könnte der SNP durch<br />
seine Häufigkeit für einen beträchtlichen<br />
Teil von Fieberkrämpfen verantwortlich<br />
sein 13 .<br />
n<br />
1 Zimprich F, Grundlagen und Zahlen zur genetische<br />
Beratung bei komplexen Epilepsien. J Neurol Neurochir<br />
Psychiatr 2009;10<br />
2 Baulac S et al., Fever, genes, and epilepsy. Lancet<br />
Neurol 2004; 3:421–30<br />
3 Helbig I et al., Navigating the channels and beyond:<br />
unravelling the genetics of the epilepsies. Lancet<br />
Neurol 2008; 7:231–45<br />
4 Catterall WA, Kalume F and Oakley JC, NaV1.1<br />
channels and epilepsy. J Physiol 2010; 588:1849–59<br />
5 Scheffer IE et al., Dravet syndrome or genetic<br />
(generalized) epilepsy with febrile seizures plus?<br />
Brain Dev 2009; 31:394–400<br />
6 OMIM-Database:<br />
7 Liu JS, Molecular genetics of neuronal migration<br />
disorders. Curr Neurol Neurosci Rep <strong>2011</strong>; 11:171–8<br />
8 Helbig I et al., 15q13.3 microdeletions increase risk of<br />
idiopathic generalized epilepsy. Nat Genet 2009;<br />
41:160–2<br />
9 de Kovel CG et al., Recurrent microdeletions at<br />
15q11.2 and 16p13.11 predispose to idiopathic<br />
generalized epilepsies. Brain 2010; 133:23–32<br />
10 Kjeldsen MJ et al., Genetic factors in seizures: a<br />
population-based study of 47,626 US, Norwegian and<br />
Danish twin pairs. Twin Res Hum Genet 2005;<br />
8:138–47<br />
11 Bodmer W and Bonilla C, Common and rare variants in<br />
multifactorial susceptibility to common diseases. Nat<br />
Genet 2008; 40:695–701<br />
12 Cirulli ET and Goldstein DB, Uncovering the roles of<br />
rare variants in common disease through whole-genome<br />
sequencing. Nat Rev Genet 2010; 11:415–25<br />
13 Schlachter K et al., A splice site variant in the sodium<br />
channel gene SCN1A confers risk of febrile seizures.<br />
Neurology 2009; 72:974–8<br />
36
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Genetik der Leukodystrophien<br />
Der Begriff Leukodystrophie fasst alle progressiv verlaufenden Erbkrankheiten zusammen, die zu einer<br />
Zerstörung der weißen Substanz im Gehirn oder Rückenmark führen. Leukodystrophien liegen oft metabolische<br />
Defekte zu Grunde, die entweder zu einer fehlerhaften Entwicklung des Myelins oder zu einer Zerstörung von<br />
intaktem Myelin führen. Entmarkungen, die durch Infektionen oder Tumoren ausgelöst werden, fallen jedoch<br />
nicht unter den Begriff Leukodystrophie.<br />
Die Zahl der bekannten Gene, bei denen genetische<br />
Defekte zu Leukodystrophien führen<br />
können, steigt stetig an. In der Tabelle sind die<br />
häufigsten Leukodystrophien, deren Gennamen,<br />
Abkürzungen, chromosomale Lokalisation<br />
sowie deren Erbgang aufgelistet. Zudem<br />
ist die OMIM-Nummer (Online Mendelian Inheritance<br />
in Man) angegeben, unter der auf<br />
der Website des „National Institutes of Health“<br />
weitere Informationen zu den einzelnen<br />
Leukodystrophien gefunden werden können<br />
(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim).<br />
Die Leukodystrophien können in peroxiso -<br />
male und lysosomale Leukodystrophien (z. B.<br />
X-chromosomale Adrenoleukodystrophie,<br />
metachromatische Leukodystrophie, Globoidzellleukodystrophie),<br />
vakuolisierende Leukodystrophien<br />
(z.B.: Alexander-Syndrom, CACH-<br />
Syndrom, Canavan-Krankheit, vakuolisierende<br />
megalenzephale Leukodystrophie mit<br />
subkortikalen Zysten) und hypomyelinisierende<br />
Leukodystrophien (z.B.: Morbus Pelizaeus-<br />
Merzbacher) eingeteilt werden.<br />
X-chromosomale Adrenoleukodystrophie<br />
(X-ALD): Mutationen im ABCD1-Gen sind<br />
die genetische Ursache für die X-chromosomale<br />
Adrenoleukodystrophie (X-ALD). Das<br />
ABCD1-Gen kodiert für den ATP-Bindungskassettentransporter<br />
D1, der Coenzym-A-aktivierte<br />
überlangkettige Fettsäuren aus dem<br />
Zytosol in das Peroxisom transportiert, wo sie<br />
normalerweise abgebaut werden. Bei X-ALD<br />
kommt es deshalb immer zu einer Speicherung<br />
der überlangkettigen Fettsäuren.<br />
X-ALD umfasst ein breites klinisches Spektrum.<br />
Etwa 45 % der männlichen Träger einer<br />
Mutation im ABCD1-Gen entwickeln im Alter<br />
zwischen 5 und 12 Jahren eine kindlich zerebrale<br />
Verlaufsform mit einer entzündlichen<br />
Demyelinisierung, die in einem neurovegetativen<br />
Status mündet und nach einigen Jahren<br />
zum Tod führt. Wenn sich keine kindlich zerebrale<br />
Verlaufsform entwickelt, kommt es<br />
zumeist im Alter zwischen 20 und 45 Jahren<br />
zu Gangstörungen, spastischer Paraparese<br />
und Inkontinenz. Diese Verlaufsform wird als<br />
Adrenomyeloneuropathie (AMN) bezeichnet<br />
und kann auch im erwachsenen Alter in eine<br />
zerebrale, demyelinisierende Verlaufsform<br />
übergehen.<br />
Etwa 70 % aller männlichen X-ALD-Patienten<br />
entwickeln eine Nebennierenrindeninsuffizienz.<br />
Die heterozygoten Erbträgerinnen können<br />
Symptome ähnlich der AMN entwickeln,<br />
die jedoch nie entzündlich werden. Alle Verlaufsformen<br />
können durch dieselbe ABCD1-<br />
Genmutation verursacht werden und auch<br />
innerhalb einer Familie auftreten. Es gibt<br />
keine Genotyp-Phänotyp-Korrelation. Im zentralen<br />
Nervensystem dürften an der Pathologie<br />
überwiegend Oligodendroglia- und<br />
Mikro gliazellen beteiligt sein (Abb.). Sowohl<br />
Umweltfaktoren als auch genetische Faktoren<br />
scheinen für die klinische Manifestation von<br />
X-ALD verantwortlich zu sein.<br />
Metachromatische Leukodystrophie (MLD)<br />
ist eine autosomal-rezessiv vererbte lysosomale<br />
Stoffwechselerkrankung, die zu einer<br />
Demyelinisierung im zentralen und peripheren<br />
Nervensystem führt. Nach dem Zeitpunkt<br />
des Krankheitsbeginns, den Symptomen und<br />
der Progression der Erkrankung unterscheidet<br />
man drei klinische Formen: spätinfantil, juvenil<br />
und adult.<br />
Univ.-Prof. Mag. Dr.<br />
Johannes Berger<br />
Zentrum für Hirnforschung,<br />
Medizinische Universität<br />
Wien<br />
Die Krankheit ist durch genetische Veränderungen<br />
des Enzyms Arylsulfatase A (ARSA)<br />
bedingt. Man kennt derzeit über 60 MLD<br />
verursachende Arylsulfatase-A-Mutationen.<br />
Diese Mutationen lassen sich in zwei Gruppen<br />
unterteilen:<br />
1) Mutationen ohne enzymatische Aktivität<br />
(0-Typ-Mutationen) und<br />
2) Mutationen mit Restaktivität (R-Typ-<br />
Mutationen).<br />
MLD-PatientInnen mit zwei 0-Typ-Mutationen<br />
(ohne Enzymaktivität) sind von der<br />
schwersten spätinfantilen Form von MLD betroffen,<br />
wohingegen PatientInnen mit zwei<br />
R-Typ-Mutationen (es ist noch Enzymaktivität<br />
vorhanden) an der adulten Form erkranken.<br />
Hat ein/eine PatientIn eine 0-Typ-Mutation<br />
zusammen mit einer R-Typ-Mutation, so wird<br />
der/die PatientIn in Abhängigkeit von der<br />
Höhe der Restaktivität (der R-Typ-Mutation)<br />
entweder an der juvenilen oder adulten Form<br />
der MLD erkranken. Zudem konnte gezeigt<br />
werden, dass erwachsene PatientInnen, homozygot<br />
für die Mutation der Aminosäure<br />
Prolin 426 zu Leucin, als Erstsymptomatik<br />
überwiegend neurologische Symptome wie<br />
spastische Paraparese oder zerebelläre Ataxie<br />
aufweisen, wohingegen PatientInnen mit der<br />
Mutation der Aminosäure Isoleucin 179 zu<br />
Serin überwiegend mit schizophrenieähnli-<br />
40
chen Verhaltensauffälligkeiten beginnen.<br />
Die Diagnose der metachromatischen Leukodystrophie<br />
wird durch das Auftreten einer<br />
„Pseudodefizienz“ (Arylsulfatase-A-Mutationen,<br />
die die Enzymaktivität zwar um mehr<br />
als 70 % reduzieren, jedoch immer noch genügend<br />
Restaktivität lassen, sodass der/die<br />
TrägerIn nicht erkrankt) erschwert. Das heißt,<br />
bei MLD besteht ein sehr klarer Zusammenhang<br />
zwischen der Art der Mutation und der<br />
damit einhergehenden Stabilität und Restaktivität<br />
des Enzyms und der Art und Schwere<br />
der Symptome.<br />
Globoidzellleukodystrophie (GLD), auch<br />
Morbus Krabbe genannt, wird autosomal-rezessiv<br />
vererbt. Dieser Leukodystrophie liegen<br />
Mutationen in dem Gen zugrunde, das für<br />
das lysosomale Enzym Galactosylceramidase<br />
kodiert. Die krankheitscharakteristischen Globoidzellen<br />
leiten sich von Makrophagen her,<br />
die durch hydrolisierte Galactosylceramide induziert<br />
werden. Die Demyelinisierung im zentralen<br />
und peripheren Nervensystem könnte<br />
möglicherweise von der Anreicherung zelltoxischer<br />
Metaboliten Galactosylsphingosin<br />
oder „Psychosin“ herrühren.<br />
Morbus Alexander ist durch autosomal-dominante<br />
Mutationen im GFAP-Gen bedingt.<br />
In den meisten Fällen ist die Mutation im<br />
GFAP-Gen spontan entstanden, da sie oft in<br />
den Eltern nicht nachgewiesen werden kann.<br />
Das GFAP-Gen kodiert für das saure Gliafibrillen-Protein,<br />
das sich in PatientInnen mit<br />
Alexander-Syndrom in so genannten Rosenthal-Fasern<br />
in Astrozyten ablagert (Abb.). Der<br />
klinische Verlauf ist hoch variabel. Die infantile,<br />
schwere Verlaufsform beginnt innerhalb<br />
der ersten zwei Jahre mit progredienter Megalenzephalie,<br />
verzögerter psychomotorischen<br />
Entwicklung, Ataxie sowie einer zumeist<br />
im Frontallappen zu beobachtende<br />
Myelinauffälligkeit. Der klinische Verlauf der<br />
juvenilen und adulten Form ist sehr variabel<br />
und beginnt häufig mit spastischer Paraplegie.<br />
Eine starke Überexpression des humanen<br />
GFAP-Gens in Astrozyten der Maus wirkt<br />
letal, während eine gemäßigte Expression als<br />
Mausmodell zum Studium der molekularen<br />
Mechanismen der Krankheit dient. u<br />
Tab.: Die häufigsten Leukodystrophien<br />
Erkrankung (Abkürzung) Gen-Name (chromosomale Lokalisation) Art der Vererbung McKusick-Nummer<br />
X-chromosomale Adreno- ATP-Bindungskassetten-Transporter D1; X-chromosomal 300100<br />
leukodystrophie (X-ALD)<br />
ABCD1 (Xq28)<br />
Metachromatische Arylsulfatase A; ASA (22q13) autosomal rezessiv 250100<br />
Leukodystrophie (MLD) Saposin B; PSAP (10q22.1) autosomal rezessiv 176801<br />
Globoidzellleukodystrophie Galactocerebrosidase; GALC (14q31) autosomal rezessiv 245200<br />
(GLD) oder Morbus Krabbe<br />
Morbus Alexander (AxD) saure Gliafaserprotein; GFAP (11q13) autosomal dominant 203450<br />
CACH-Syndrome („Childhood eines der 5 Gene kodierend für eukaryotischen autosomal rezessiv 603896<br />
Ataxia with Central Nervous Translationsinitiationsfaktor 2B; EIF2B1-EIF2B5<br />
System Hypomyelination“ (12q24.3, 14q24,1p34.1, 2p23.3, 2q27)<br />
oder VWM „Vanishing White<br />
Matter“)<br />
Morbus Canavan (CD) Aspartoacylase; ASPA (17pter-p13) autosomal rezessiv 271900<br />
Megalenzephalie – zystische MLC1; MLC1 (22q13.33) autosomal rezessiv 604004<br />
Leukodystrophie (MLC) Ein 2. Gen, das die Krankheit ebenfalls autosomal rezessiv<br />
verursachen kann, wird vermutet<br />
Osteodysplasie, lipomembranöse TYRO Protein-Tyrosinkinase-bindendes Protein; autosomal rezessiv 221770<br />
polyzystische-sklerosierende TYROBP (19q13.1)<br />
Leukoenzephalopathie (PLOSL) Triggering Receptor Expressed on Myeloid Cells2; autosomal rezessiv<br />
TREM2 (6p21.2)<br />
Morbus Pelizaeus-Merzbacher (PMD) Proteolipidprotein; PLP (Xq22) X-chromosomal 312080<br />
Sjören-Larsson-Syndrom (SLS) Aldehyddehydrogenase 3A2; ALDH3A2 (17p11.2) autosomal rezessiv 270200<br />
Zerebrotendinöse Xanthomatose Sterol-27-Hydroxylase; CYP27A1 (2q33-qter) autosomal rezessiv 213700<br />
(CTX)<br />
41
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Abb.: Leukodystrophien<br />
Morbus Canavan, eine autosomal-rezessiv<br />
vererbte neurodegenerative Erkrankung, ist<br />
durch Rumpfhypotonie und Makrozephalie<br />
sowie spastische Paresen, Opisthotonus, Kontaktverlust,<br />
Erblindung und Krämpfe mit unterschiedlichem<br />
zeitlichem Beginn gekennzeichnet.<br />
Die Leukodystrophie ist durch Mutationen<br />
im Aspartoacylase-Gen bedingt, das<br />
für das Enzym Aspartoacylase kodiert, welches<br />
in Oligodendrozyten N-Acetylaspartat in<br />
Asparaginsäure und Essigsäure spaltet. Diagnostisch<br />
findet man eine 50-fache Anreicherung<br />
von N-Acetylaspartat im Harn.<br />
MLC: Bei 80 % der PatientInnen mit vakuolisierender<br />
megalenzephaler Leukodystrophie<br />
mit subkortikalen Zysten (MLC) wurden Mutationen<br />
im MLC1-Gen gefunden. Die autosomal<br />
rezessive Erbkrankheit ist durch eine<br />
frühe, infantile Makroenzephalie sowie durch<br />
eine verzögerte motorische und kognitive<br />
Entwicklung charakterisiert. Im MRT sind diffuse<br />
Veränderungen der zerebralen weißen<br />
Substanz sowie subkortikale Zysten zu beobachten.<br />
Da nicht alle PatientInnen eine Mutation<br />
im MLC1-Gen aufweisen, vermutet<br />
man noch weitere für diese Leukodystrophie<br />
verantwortliche Gene. Die Funktion von<br />
MLC1 sowie der molekulare Mechanismus,<br />
der zu MLC führt, sind noch unklar.<br />
CACH-Syndrom: Die genetische Ursache des<br />
CACH-Syndroms liegt in einem von 5 Genen,<br />
die für den eukaryotischen Translationsinitiationsfaktor<br />
2b kodieren. Der eukaryotische<br />
Translationsinitiationsfaktor 2b ist an der Regulierung<br />
der Proteinsynthese unter zellulärem<br />
Stress beteiligt. Demzufolge exazerbieren<br />
die Symptome unter zellulärem Stress, wie<br />
zum Beispiel bei Fieberschüben oder Schädeltrauma.<br />
Den Namen erhält das CACH-Syndrom aus<br />
der „Childhood Ataxia with Central nervous<br />
system Hypomyelinatinon“. Aufgrund der<br />
charakteristischen Demyelinisierung wird das<br />
Syndrom auch VWM-Erkrankung genannt<br />
nach der „Vanishing White Matter Disease“.<br />
Auch diese Leukenzephalopathie ist klinisch<br />
extrem heterogen, und die Symptome können<br />
mit 4 Monaten oder mit 30 Jahren (Mittelwert<br />
3,9 Jahre) beginnen. Die Erkrankung<br />
kann rasch zum Tode führen oder ohne neurologische<br />
Symptome verlaufen.<br />
Das CACH-Syndrom wurde ursprünglich von<br />
Van der Knaap mittels Bildgebung charakterisiert,<br />
so wurde eine Gruppe von PatientInnen<br />
identifiziert und die erste Mutation entdeckt.<br />
Da die PatientInnenzahl für die genetische<br />
Untersuchung sehr klein war, konnte die genetische<br />
Krankheitsursache nur entdeckt werden,<br />
weil bei allen PatientInnen dieser Untersuchung<br />
das gleiche Gen betroffen war. In<br />
der Zwischenzeit hat man jedoch bei etwa<br />
148 beschriebenen PatientInnen Mutationen<br />
in allen 5 Genen entdeckt, die für den eukaryotischen<br />
Translationsinitiationsfaktor 2b<br />
kodieren. Auch wenn einzelne Mutationen im<br />
EIF2B5-Gen (Arginin 113 nach Histidin) und<br />
im EIF2B2-Gen (Glutaminsäure 213 nach Glyzin)<br />
signifikant öfter mit einem milderen Verlauf<br />
assoziiert sind, existiert keine klare Assoziation<br />
einzelner Gene oder Mutationen mit<br />
der klinischen Manifestation der Erkrankung.<br />
Morbus Pelizaeus-Merzbacher (PMD) ist<br />
eine X-chromosomale dysmyelinisierende Erkrankung.<br />
Der klinische Verlauf ist sehr heterogen<br />
und reicht von der schweren „konnatalen“<br />
Form – wobei ein nahezu völliges<br />
Fehlen der psychomotorischen Entwicklung<br />
vorliegt und der Tod bereits nach einigen Monaten<br />
auftreten kann – bis zu der mildesten<br />
Form (spastische Paraplegie Typ 2, SPG2), bei<br />
der nur eine Spastizität der unteren Extremitäten<br />
beobachtet wird.<br />
Genetisch sind alle Formen durch Veränderungen<br />
im Proteolipidprotein-Gen (PLP-Gen)<br />
charakterisiert. Das Proteolipidprotein wird in<br />
Oligodendrogliazellen gebildet und ist das<br />
häufigste Protein in der Myelinscheide. Es<br />
wurde eine klare Korrelation zwischen dem<br />
Proteolipidprotein-Genotyp und dem klinischen<br />
Verlauf der Erkrankung festgestellt. Einzelne<br />
Aminosäure-Veränderungen in hochkonservierten<br />
Regionen führen zu der schwersten<br />
Form. Aminosäure-Änderungen in<br />
weniger konservierten Regionen, Nonsens-<br />
Mutationen, kleinere Deletionen oder der vollständige<br />
Verlust des Proteolipidprotein-Gens<br />
durch größere Deletionen führen zu der milderen<br />
Verlaufsform. Bei Duplikationen des<br />
Proteolipidprotein-Gens liegt meist eine<br />
schwere Verlaufsform vor. Untersuchungen an<br />
42
Mausmodellen haben gezeigt, dass nach einer<br />
Überexpression des Proteolipidproteins dieses<br />
das endoplasmatische Retikulum schädigt und<br />
so die Funktionsfähigkeit vieler Proteine<br />
negativ beeinflusst. Die zusätzliche<br />
Beeinträchtigung anderer Proteine<br />
ist der Grund, warum Punktmutationen<br />
oder Duplikationen<br />
einen schwereren Verlauf bewirken<br />
als der völlige Verlust des Proteolipidprotein-Gens,<br />
der keine Schädigung<br />
des endoplasmatischen Retikulums<br />
bewirkt („gain of function“).<br />
Zellweger-Spektrum und RCPD:<br />
Bei vielen weiteren genetischen Erkrankungen,<br />
wie z. B. nahezu allen<br />
peroxiosmalen Erkrankungen inklusive<br />
dem Zellweger-Spektrum (Mutationen<br />
in vielen PEX-Genen) oder<br />
RCPD (Typ 1–3 mit Mutationen in<br />
PEX7, DAPAT oder AGPS-Gen),<br />
kommt es ebenfalls zu einer Demyelinisierung,<br />
womit auch diese Erkrankungen<br />
in die Definition der Leukodystrophien<br />
fallen.<br />
Auch im 21. Jahrhundert ist die genetische<br />
Ursache von etwa einem<br />
Drittel aller Leukodystrophien noch<br />
immer ungeklärt. Da bei Leukodystrophien<br />
verschiedene Zelltypen primär<br />
betroffen sind (Abb.) und die<br />
molekularen Mechanismen, die zur<br />
De- oder Dysmyelinisierung führen,<br />
sehr unterschiedlich sind, ist eine gezielte,<br />
auf die entsprechende Leukodystrophie<br />
abgestimmte Therapie<br />
notwendig.<br />
Bei vielen Leukodystrophien ist jedoch<br />
zurzeit noch keine effektive<br />
Therapie möglich. Hoffnung kann<br />
jedoch aus einer EU-weiten gemeinschaftlichen<br />
Anstrengung geschöpft<br />
werden, in der 18 verschiedene Forschungslabors<br />
gemeinsam an der<br />
Entwicklung effektiver Therapien zur<br />
Behandlung von Leukodystrophien<br />
arbeiten. Das von Frankreich aus koordinierte<br />
EU-Projekt wird mit 8 Millionen<br />
Euro gefördert. Auch die zunehmende<br />
Präsenz von PatientInnenorganisationen stellt<br />
für Betroffene zumeist eine große Stütze dar.<br />
Im deutschsprachigen Raum ist der „Bundesverein<br />
Leukodystrophie“ (www.bvlev.de) hervorzuheben.<br />
n
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Genetik hereditärer Neuropathien<br />
Die hereditären Neuropathien (auch bekannt als Charcot-Marie-Tooth- = CMT-Syndrom) sind mit einer<br />
Prävalenz von 1 : 2500 die häufigsten vererbten Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Durch ihren meist<br />
frühen Krankheitsbeginn im Kindes- und Jugendalter stellen sie für die Betroffenen eine lebenslange Erkrankung<br />
mit ständiger – meist leichter – Progredienz dar und bringen somit erhebliche physische Einschränkungen, aber<br />
gleichzeitig auch eine hohe psychische Belastung mit sich.<br />
Bei hereditären Neuropathien führen die pathognomonische<br />
distale Muskelschwäche<br />
und -atrophie zur Fußdeformität und Fußheberschwäche<br />
mit typischem Gangbild („Steppergang“;<br />
Abb.), die Atrophie in den kleinen<br />
Handmuskeln kann erhebliche feinmotorische<br />
Einschränkungen bedingen. Sensible<br />
und autonome Ausfälle mit entsprechenden<br />
Komplikationen wie Infektionen bis hin zur<br />
Amputation kommen in variabler Ausprägung<br />
bei bestimmten genetischen Unterformen<br />
vor. Weiters belastend ist für die Betroffenen<br />
das Risiko der Weitervererbung auf die<br />
Nachkommen. In Österreich sind autosomal<br />
dominant vererbte Formen am häufigsten,<br />
gefolgt von der x-gebunden vererbten hereditären<br />
Neuropathie, die dadurch erkannt<br />
wird, dass im Stammbaum eine Vererbung<br />
vom Vater auf den Sohn fehlt und auch Männer<br />
meist erheblich schwerer betroffen sind<br />
als Frauen. In beiden Fällen wird die Erkrankung<br />
mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit an die<br />
Kinder weitergegeben. Wesentlich seltener<br />
findet man in Österreich die klassische autosomal<br />
rezessive CMT-Erkrankung, und hier<br />
wiederum tritt sie meist in Familien auf, in<br />
denen Konsanguinität vorkommt, besonders<br />
in bestimmten ethnischen Gruppen. Das Risiko,<br />
ein weiteres erkranktes Kind zu haben,<br />
liegt hier bei 25 %.<br />
Genetische Heterogenität<br />
der hereditären Neuropathien<br />
Die starke genetische Heterogenität der hereditären<br />
Neuropathien, die in den letzten<br />
beiden Jahrzehnten anhand umfangreicher<br />
Familienstudien gezeigt werden konnte, ist<br />
überraschend, insbesondere da oft dem völlig<br />
gleichen Phänotyp einige verschiedene Genotypen<br />
zugrunde liegen. Dies bringt eine<br />
hohe Herausforderung für die erfolgreiche<br />
genetische Zuordnung mit sich. Dem stehen<br />
oft hohe Kosten gegenüber, die bei Anforderung<br />
der Sequenzierung mehrerer großer<br />
Gene entstehen. Mittlerweile sind mehr als<br />
40 Gene bekannt, die zum CMT-Syndrom<br />
führen können. Viele weitere noch unbekannte<br />
Gene sind zu vermuten, da Statistiken<br />
zeigen, dass derzeit nur zwischen 50 und 70 %<br />
der PatientInnen mit CMT-Syndrom eindeutig<br />
genetisch zugeordnet werden können.<br />
Abb.: Typischer Hohlfuß und<br />
Atrophie der Unterschenkelmus -<br />
kulatur bei einem Patienten mit<br />
hereditärer Polyneuropathie<br />
Univ.-Prof. Dr. Michaela<br />
Auer-Grumbach, MD<br />
Abteilung für Innere<br />
Medizin, Endokrinologie<br />
und Stoffwechsel,<br />
Medizinische Universität<br />
Graz<br />
Wie kommt man<br />
vom Phänotyp zum Genotyp?<br />
Die erste entscheidende Frage ist, ob der/die<br />
zu untersuchende PatientIn tatsächlich an<br />
einer hereditären Neuropathie leidet, oder ob<br />
auch eine andere, meist erworbene Ursache<br />
in Frage kommt. Liegt der klassische Phänotyp<br />
vor, und ist auch die Familienanamnese<br />
eindeutig positiv, so ist eine hereditäre Ursache<br />
naheliegend. Tritt die Erkrankung „sporadisch“<br />
(das heißt ohne Familienanamnese)<br />
auf, so müssen mögliche Differenzialdiag -<br />
nosen sorgfältig ausgeschlossen werden. Tabelle<br />
1 fasst die wichtigsten Differenzialdiagnosen<br />
zusammen.<br />
Besteht nach Durchführung der wichtigsten<br />
Untersuchungen zum Ausschluss einer erworbenen<br />
Ursache (MRT, Labor, EMG, internistische<br />
Durchuntersuchung, eventuell Nervenbiopsie<br />
etc.) weiterhin der Verdacht auf eine<br />
hereditäre Neuropathie, so wird empfohlen,<br />
folgende Parameter in der Anamnese sowie<br />
der klinischen und elektrophysiologischen<br />
Untersuchung genau zu erfassen bzw. zu dokumentieren<br />
und bei Einleitung der genetischen<br />
Diagnostik anzuführen:<br />
1. Zeitpunkt des Krankheitsbeginns<br />
2. Erste Krankheitszeichen<br />
3. Erbgang: autosomal dominant, auto -<br />
somal rezessiv, x-gebunden, sporadisch<br />
44
Tab. 1: Die wichtigsten Differenzialdiagnosen hereditärer Neuropathien<br />
4. Schmerzen: wie, seit wann, wo?<br />
5. Krankheitsverlauf bei anderen<br />
betroffenen Familienmitgliedern<br />
6. Verteilung der Muskelatrophie und<br />
-schwäche an den oberen und unteren<br />
Extremitäten? Liegt zusätzlich eine<br />
proximale Muskelschwäche vor; sind<br />
die Ausfälle symmetrisch oder<br />
asymmetrisch?<br />
7. Muskeleigenreflexe (sie können fehlen,<br />
abgeschwächt, normal oder gesteigert<br />
sein)<br />
8. Sensible Ausfälle (welche sensiblen<br />
Qualitäten sind betroffen?)<br />
9. Trophische Störungen, Wundheilungsprobleme,<br />
Amputationen?<br />
10. Deformierung der Wirbelsäule (v. a.<br />
Skoliose?)<br />
11. Zusatzsymptome (beim Indexpatienten<br />
oder bei anderen Familienmitgliedern):<br />
Hyperelastizität der Haut oder Über -<br />
beweglichkeit der Gelenke?, Stimm -<br />
bandlähmung, Heiserkeit?, Zwerch fell -<br />
lähmung?; Hypakusis bzw. Taubheit?,<br />
Optikusatrophie?<br />
12. Elektrophysiologische Untersuchung:<br />
meist genügt die Durchführung der<br />
NLG-Untersuchung, wobei hier immer<br />
zumindest ein motorischer und<br />
sensibler Nerv an der oberen und<br />
unteren Extremität gemessen werden<br />
sollte (vorzugsweise N. medianus<br />
motorisch und sensibel an einer oberen<br />
Extremität, sowie N. peroneus und/oder<br />
N. tibialis motorisch und N. suralis<br />
an einer unteren Extremität). Die<br />
motorische NLG am N. medianus<br />
erlaubt die weitere Zuordnung zu<br />
demyelinisierenden (< 38 m/sec; Typ 1),<br />
axonalen (> 38 m/sec, Typ 2) oder<br />
intermediären Formen (Intermediärtyp)<br />
bzw. zur rein motorischen distalen<br />
hereditären Neuropathie (dHMN) mit<br />
normaler sensibler NLG).<br />
Es ist zu beachten, dass all diese Symptome<br />
insbesondere bei den autosomal dominant<br />
vererbten Formen auch innerhalb derselben<br />
a. Angeborene oder (seltener) erworbene Rückenmarkserkrankungen, z.B. Spina bifida<br />
occulta, Tethered-Cord-Fehlbildung u.a. Oft schildert der Patient/die Patientin hier<br />
gleichzeitig eine Miktionsstörung.<br />
b. Tumoren der peripheren Nerven (z.B. entlang des Plexus lumbosacralis bzw. im Verlauf<br />
des N. ischiadicus). Typisch ist hier oft die langsame, meist einseitige Entwicklung eines<br />
Hohlfußes und einer distalen Muskelschwäche bei axonaler Nervenschädigung.<br />
c. Entzündliche Erkrankung der peripheren Nerven, insbesondere chronisch inflammatorische<br />
demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)<br />
d. Diverse Stoffwechselerkrankungen<br />
e. Amyloidneuropathien, selten paraneoplastische oder toxische Neuropathien<br />
f. Distale Myopathien (eventuell erhöhte CK-Werte, EMG myopathisch)<br />
Familie äußerst variabel in Ausprägung und<br />
Schweregrad auftreten und manchmal bei<br />
einzelnen Personen sogar völlig fehlen können.<br />
Für dieses Phänomen der unterschiedlichen<br />
Penetranz werden Umweltfaktoren<br />
bzw. andere genetische Ursachen (sog. „Modifier<br />
Gene“) verantwortlich gemacht, eine<br />
zufrieden stellende Aufklärung konnte hierfür<br />
jedoch bisher nicht gefunden werden.<br />
Das Wissen um diese starke Variabilität der<br />
Krankheitsausprägung ist aber in jedem Fall<br />
ein wesentlicher Punkt in der genetischen<br />
Beratung des/der Betroffenen. Insbesondere<br />
wenn ein Kinderwunsch besteht, muss<br />
der/die Ratsuchende über diese möglichen<br />
Penetranzschwankungen der CMT-Erkrankung<br />
informiert werden.<br />
Sinnvolle<br />
genetische Diagnostik<br />
Nach oben angeführter Diagnostik kann über<br />
das weitere Vorgehen der genetischen Untersuchung<br />
entschieden werden. Grundsätzlich<br />
muss man zwischen Diagnostik im Rahmen<br />
der Routineabklärung (Basisdiagnostik)<br />
und Diagnostik im Rahmen der Forschung<br />
unterscheiden.<br />
Diagnostik im Rahmen<br />
der Routineabklärung<br />
Diese richtet sich einerseits nach dem erhobenen<br />
Befund und andererseits nach der allgemein<br />
bekannten Häufigkeit der genetischen<br />
Ursache in bestimmten CMT-Genen:<br />
Liegt ein klassischer CMT-Phänotyp vor<br />
(HMSN, distale motorische Ausfälle, kaum<br />
oder geringe sensible Ausfälle) mit demyelinisierender<br />
(Typ 1), axonaler (Typ 2) oder axonal-demyelinisierender<br />
(Intermediärtyp) Neuropathie,<br />
so sollten folgende Gene in angeführter<br />
Reihenfolge getestet werden:<br />
Typ 1 bzw. Intermediärtyp:<br />
- PMP22-Duplikations-/Deletionsscreening),<br />
wenn negativ<br />
- MPZ-Sequenzierung, wenn negativ<br />
- Cx32 (=GJB1)-Sequenzierung (bei Hinweis<br />
für einen x-chromosomalen Erbgang);<br />
wenn negativ<br />
- PMP22-Sequenzierung, wenn negativ<br />
- MFN2-Sequenzierung<br />
Typ 2:<br />
- PMP22-Deletionsscreening: v. a. bei<br />
Hinweis auf Druckparesen<br />
- MPZ-Sequenzierung, wenn negativ<br />
- Cx32-(= GJB1-)Sequenzierung (bei Hinweis<br />
für einen x-chromosomalen Erbgang),<br />
wenn negativ<br />
- MFN2-Sequenzierung<br />
Liegt ein CMT-Phänotyp mit typischen Zu -<br />
satzsymptomen vor, so kann das entsprechende<br />
Gen direkt untersucht werden und<br />
die Diagnostik der oben angeführten häufigsten<br />
Gene umgangen werden. Die wichtigsten<br />
möglichen Zusatzsymptome und die entsprechenden<br />
zugehörigen Gene sind in Tabelle<br />
2 zusammengefasst.<br />
Zuletzt ist zu berücksichtigen, dass bei sorgfältiger<br />
Erhebung der Familienanamnese u<br />
45
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Tab. 2: CMT-Phänotyp mit den wichtigsten, typischen Zusatzsymptomen<br />
CMT-Phänotyp + typische Zusatzsymptome Ursächliche Gene<br />
HMSN (CMT) 1, 2 oder intermediate + ausgeprä- GJB1 (gap junction protein beta1 gene)<br />
gte symmetrische Atrophie aller kleinen Handmuskeln,<br />
keine Vererbung von Vater auf Sohn<br />
Krankheitsbeginn in den ersten Lebensjahren, MPZ (myelin protein zero gene),<br />
oft sporadisch, sehr schwerer Verlauf, meist HMSN wenn negativ,<br />
(CMT) 1 (historisch:<br />
PMP22 (peripheral myelin protein<br />
„Dejerine-Sottas-Syndrom = DSS)<br />
22 gene)<br />
HMSN (CMT) 1, 2 oder intermediate +<br />
MPZ (myelin protein zero gene)<br />
Hörschädigung<br />
Starke Skoliose,<br />
SH3TC2 (SH3 domain and tetratricoautosomal<br />
rezessiver Erbgang<br />
peptide repeats 2 = KIAA1985 gene),<br />
Screening beginnen mit Exon 11, wenn<br />
negativ, gesamtes Gen sequenzieren<br />
Skoliose, Stimmbandlähmung (Heiserkeit), TRPV4 (transient receptor potential<br />
Körpergröße im unteren Normbereich, Mitbeteili- vanniloid 4 gene);<br />
gung der Schultergürtelmuskulatur, bei Kindern Screening beginnen mit Exons 4–6,<br />
eventuell Arthrogrypose bei Geburt, Phänotyp wenn negativ, gesamtes Gen<br />
einer kongenitalen distalen hereditären motori- sequenzieren<br />
schen Neuropathie (dHMN)<br />
(Überwiegend) distale motorische Neuropathie, BSCL2 (Berardinelli Seip congenital<br />
asymmetrische Muskelatrophie initial beschränkt lipodystrophy 2 gene), Exon 3<br />
auf M. interosseus dorsalis I und Thenarmuskulatur,<br />
lebhafte Muskeleigenreflexe +/– Spastik<br />
HMSN (CMT) 2 mit Atrophie des N. opticus MFN2 (mitofusin 2)<br />
immer nach Möglichkeit genetische Vorbefunde<br />
bei verwandten Betroffenen eingeholt<br />
werden sollten. Liegt hier bereits ein eindeutiges<br />
Ergebnis vor, so können bei Untersuchung<br />
weiterer Familienmitglieder die Kosten<br />
für die genetische Untersuchung erheblich<br />
gesenkt werden.<br />
Diagnostik im<br />
Rahmen der Forschung<br />
Führt die oben gezeigte Basisdiagnostik zu<br />
keinem Ergebnis, so sollte nach Absprache<br />
und bei Interesse mit Einverständnis des/der<br />
PatientIn die weitere Abklärung im Rahmen<br />
der Forschung angestrebt und eingeleitet<br />
werden.<br />
Das derzeit vom Österreichischen Forschungsfond<br />
(FWF) geförderte Forschungsprojekt<br />
wird die Untersuchung der seltenen<br />
CMT-Gene in den nächsten 3 Jahren ermöglichen.<br />
Ziele des Projektes sind die weitere<br />
Erfassung epidemiologischer Daten zur Häufigkeit<br />
und Verteilung verschiedener genetischer<br />
Unterformen der CMT-Erkrankung<br />
sowie die Identifikation neuer CMT-Gene in<br />
österreichischen Familien.<br />
Bisher konnten in Österreich bei CMT-PatientInnen<br />
Mutationen in 22 verschiedenen<br />
Genen identifiziert werden. Am häufigsten<br />
ist die CMT1A-Erkrankung, welche durch<br />
eine Duplikation am Chromosom 17p11.2<br />
bedingt ist, die das PMP22-Gen beinhaltet,<br />
gefolgt von Deletionen in diesem Bereich und<br />
weiters Mutationen im GJB-Gen (CMTX) so -<br />
wie im MPZ-Gen (CMT1B). Ein weiterer „Hot<br />
Spot“ in Österreich ist die p.N88S-Mutation<br />
im Exon 3 des BSCL2-Gens, die auf einen<br />
Founder-Effekt im 17. Jahrhundert zurück -<br />
geführt werden kann.<br />
Ausblick<br />
Es ist zu erwarten, dass sich die genetische<br />
Diagnostik der hereditären Neuropathien<br />
sowie auch vieler anderer genetisch determinierter<br />
Erkrankungen in den nächsten Jahren<br />
entscheidend verändern bzw. weiterentwikkeln<br />
wird. Die Sequenztechnologie hat in den<br />
letzten Jahren eine rasche und nahezu revolutionäre<br />
Entwicklung durchgemacht. So ist<br />
es nun bereits möglich geworden, mehrere<br />
bzw. alle bisher bekannten CMT-Gene gleichzeitig<br />
zu sequenzieren, wodurch die Kosten<br />
erheblich reduziert werden konnten. Allerdings<br />
stehen diese diagnostischen Möglichkeiten<br />
derzeit nur im Forschungsbereich zur<br />
Verfügung.<br />
Ebenso ist es nun möglich geworden, das<br />
gesamte (kodierende) Genom eines Individuums<br />
zu sequenzieren. Dadurch besteht die<br />
berechtigte Hoffnung, dass die genetischen<br />
Ursachen vieler noch unklarer Krankheiten –<br />
so auch der hereditären Polyneuropathien –<br />
zukünftig noch besser verstanden werden<br />
und sich dadurch auch eventuell neue Möglichkeiten<br />
für Prävention und Behandlung ergeben.<br />
Die Auswertung und Interpretation<br />
der durch diese umfassenden Untersuchungen<br />
erhobenen Daten ist aber bislang noch<br />
schwierig und wirft viele Wertefragen auf,<br />
sodass die unmittelbare Umsetzung in die<br />
diagnostische Praxis derzeit noch nicht gegeben<br />
ist.<br />
n<br />
46
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Neurogenetik der Bewegungsstörungen<br />
Im folgenden Kurzbeitrag soll ein Überblick gegeben werden, wie die modernen Methoden der Humangenetik<br />
dazu beitragen können, die Diagnose einer Bewegungsstörung zu sichern, insbesondere wenn es über eine<br />
positive Familienanamnese oder einen frühen Erkrankungsbeginn deutliche Hinweise auf eine genetische<br />
Beteiligung der Erkrankung gibt.<br />
Eine unklare und klinisch schwer einzuordnende<br />
erbliche Bewegungsstörung kann über<br />
die Identifizierung des veränderten Gens klassifiziert<br />
werden, und dies kann teilweise sogar<br />
Möglichkeiten der gezielten Therapieoption<br />
liefern. Damit ergeben sich für die behandelnden<br />
Ärzte/-innen, aber auch für die PatientInnen<br />
und deren Familien folgende nicht<br />
zu unterschätzende zusätzliche Informationen:<br />
Zum einen kann die Prognose der Erkrankung<br />
besser abgeschätzt werden, wenn<br />
die zugrunde liegende genetische Veränderung<br />
bereits bekannt ist. Je mehr PatientInnen<br />
mit Veränderungen im gleichen Gen weltweit<br />
bekannt sind, desto besser können klinische<br />
Ausprägung, Progression und Therapieansprechrate<br />
beurteilt werden. In Kenntnis des<br />
Erbganges können Angehörige beraten werden,<br />
und insbesondere bei gleichermaßen betroffenen<br />
Angehörigen können langwierige<br />
und teilweise auch invasive diagnostische<br />
Maßnahmen vermieden werden. Durch<br />
Kenntnis der Ursache der Erkrankung ist im<br />
Einzelfall eine gezielte Therapie möglich.<br />
Technologischer Fortschritt: Mit der Einführung<br />
der Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />
erlebt die Humangenetik eine Revolution in<br />
vielen Aspekten. Dies erfordert ein Umdenken<br />
mit überwiegend positiven, aber ebenso<br />
wichtigen kritischen Gesichtspunkten. Die<br />
Zeiten, in denen von NeurologInnen indizierte<br />
oder von Ratsuchenden gewünschte genetische<br />
Diagnostik sich über Monate bis Jahre<br />
bis zum mitgeteilten Ergebnis hinzog, werden<br />
der Vergangenheit angehören. Der „Goldstandard“<br />
in der genetischen Diagnostik wird<br />
zu großen Teilen ersetzt werden, wird aber<br />
in der Validierung der Ergebnisse einen wichtigen<br />
Stellenwert beibehalten. Deutschland<br />
hat sich mit dem seit kurzem in Kraft getretenen<br />
Gendiagnostikgesetz für die bevorstehende<br />
Revolution in der humangenetischen<br />
Diagnostik gerüstet.<br />
Eine genetische Diagnostik ist generell nur<br />
dann sinnvoll, wenn sie Konsequenzen aus<br />
therapeutischer oder prophylaktischer Sicht<br />
nach sich zieht oder den/die Ratsuchende(n)<br />
und seine/ihre Familie entlastet. Das Recht<br />
auf Nichtwissen besteht zu jedem Zeitpunkt.<br />
Darauf sollte in der genetischen Beratung vor<br />
der Testung sowie nach der Testung hingewiesen<br />
werden. An einem Beispiel aus der<br />
täglichen Praxis soll erläutert werden, weshalb<br />
die Humangenetik den technologischen<br />
Fortschritt als Quantensprung für Ihre eigene<br />
Disziplin, für die PatientInnen und für das<br />
Gesundheitssystem zu Recht erlebt.<br />
Vom Exom<br />
zum Diagnostik-Panel<br />
Die Hochdurchsatz-Sequenzierung erlaubt<br />
auf den heute zur Verfügung stehenden Sequenziermaschinen<br />
die gleichzeitige Sequenzierung<br />
aller menschlichen Gene innerhalb<br />
einer Woche. Dies wird als Exom-Sequenzierung<br />
bezeichnet; das Exom ist die Gesamtheit<br />
aller kodierenden Abschnitte im Genom. Die<br />
Sequenzierung eines Exoms ist dann sinnvoll,<br />
wenn<br />
• starke Hinweise für eine genetische<br />
Erkrankung vorliegen,<br />
• alle bekannten Gene zu der vorliegenden<br />
Erkrankung ausgeschlossen wurden<br />
und<br />
• dieser Ansatz in Rahmen eines<br />
Forschungsprojektes von ExpertInnen auf<br />
diesem Gebiet angewendet und<br />
ausgewertet wird.<br />
Dr. med. Dr. rer. nat.<br />
Saskia Biskup<br />
Fachärztin für Humangenetik<br />
Hertie-Institut für Klinische<br />
Hirnforschung, Praxis<br />
für Humangenetik<br />
und CeGaT GmbH,<br />
Tübingen, Deutschland<br />
Ein Diagnostik-Panel hingegen ist die gezielte<br />
und gleichzeitige Untersuchung einer Liste<br />
von bekannten Genen, die als Ursache einer<br />
bestimmten Erkrankung bereits beschrieben<br />
sind. Bislang war die genetische Diagnostik<br />
in diesen Fällen enorm zeitaufwendig und<br />
wurde aufgrund der hohen damit verbundenen<br />
Kosten oft nicht durchgeführt.<br />
Ein Diagnostik-Panel grenzt sich von dem rein<br />
wissenschaftlichen und explorativen Ansatz<br />
einer Exom-Sequenzierung deutlich ab. Das<br />
Diagnostik-Panel wird von dem/der einsendenden<br />
Arzt/Ärztin beauftragt. Es werden<br />
ausschließlich die mit der Erkrankung in Zusammenhang<br />
gebrachten Gene untersucht.<br />
Abschließend wird ein Befund erstellt und an<br />
den/die einsendenden Arzt/Ärztin übermittelt.<br />
Dieser Befund enthält detaillierte Angaben<br />
über gefundene Varianten, die durch<br />
Sanger-Sequenzierung validiert und in Bezug<br />
auf die vorliegende Erkrankung interpretiert<br />
werden.<br />
Diagnostik-Panel am Beispiel<br />
Parkinson und Demenz<br />
Das Parkinson-Syndrom gehört zusammen<br />
mit der Alzheimerschen Erkrankung zu den<br />
häufigsten neurodegenerativen Erkrankun-<br />
48
gen weltweit. Beide Erkrankungen treten<br />
meist sporadisch auf und manifestieren sich<br />
in der Regel bei über 65-jährigen Menschen.<br />
Bei stetig steigender Lebenserwartung stellen<br />
Parkinson- und Alzheimersche Erkrankung<br />
zwei der größten medizinischen und sozioökonomischen<br />
Herausforderungen der Zukunft<br />
dar.<br />
Die Ursache des Nervenzelltodes ist in den<br />
allermeisten Fällen ungeklärt. Ob und wann<br />
eine Person vom Untergang der Nervenzellen<br />
betroffen sein wird, ist derzeit unmöglich vorherzusagen.<br />
Sobald jedoch Symptome auftreten,<br />
ist ein Großteil der betroffenen Nervenzellen<br />
bereits abgestorben. Derzeitige<br />
Therapiekonzepte greifen deshalb schlecht<br />
bis gar nicht, weil der Zeitpunkt der Intervention<br />
um Jahre zu spät kommt. Eine molekulargenetische<br />
Untersuchung erschließt<br />
sich hier nicht unmittelbar. Warum sollte<br />
der/die Ratsuchende wissen wollen, ob er/sie<br />
eine Veranlagung für eine neurodegenerative<br />
Erkrankung trägt, solange keine Therapien<br />
verfügbar sind?<br />
Genetische Biomarker: Seit knapp über<br />
10 Jahren sind genetische Ursachen für Parkinson-<br />
und Alzheimer-Erkrankung beschrieben.<br />
Diese genetischen Untersuchungen<br />
haben bei beiden Erkrankungen entscheidend<br />
zum Verständnis des Nervenzelluntergangs<br />
beigetragen. Die Genprodukte werden<br />
Abb.: Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />
intensiv erforscht, um neue innovative Therapiekonzepte<br />
voranzutreiben. Erstmals mit<br />
der Identifizierung der veränderten Gene war<br />
es möglich, Biomarker, in diesem Fall „genetische<br />
Biomarker“, zu beschreiben, die das<br />
Auftreten der Erkrankung zu einem in der<br />
Zukunft liegenden Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
voraussagen können. Damit ist<br />
ein Personenkreis definierbar geworden, der<br />
Zugang zu Therapien Jahrzehnte vor Ausbruch<br />
der Erkrankung bekommen könnte.<br />
Auch wenn diese Therapien derzeit noch<br />
nicht verfügbar sind, so kann dennoch behauptet<br />
werden, dass die veränderten Genprodukte<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit die<br />
Angriffspunkte für die Therapien der Zukunft<br />
darstellen werden.<br />
Der Schlüssel zu den veränderten Genen<br />
waren Familien, in denen Demenz oder Parkinson-Syndrom<br />
gehäuft auftraten. Im Falle<br />
des Parkinson-Syndroms wurden bis heute<br />
16 Genorte im Erbgut für familiäre autosomal<br />
rezessive und dominante Formen beschrieben.<br />
Da nur ein kleiner Teil von ca. 10 %<br />
der familiären Fälle derzeit genetisch auf -<br />
geklärt werden kann, ist zu erwarten, dass<br />
die Liste der Parkinson-Syndrom verursachenden<br />
Gene wachsen wird. Der Großteil<br />
des Wissens, das wir bis zum heutigen Zeitpunkt<br />
über die Pathogenese der Parkinson-<br />
Erkrankung haben, leitet sich von den Genen<br />
ab, die im Zusammenhang mit der Erkrankung<br />
beschrieben wurden. Das Gen ist somit<br />
der erste Hinweis auf den Ort der Funktionsstörung<br />
innerhalb der erkrankten Zelle.<br />
Weitere Gene werden wie Puzzleteile das<br />
komplexe Bild neurodegenerativer Erkrankungen<br />
ergänzen und hoffentlich in naher<br />
Zukunft einen entscheidenden weiteren<br />
Schritt im Verständnis der Erkrankung ermöglichen.<br />
Unser derzeitiges Parkinson-Demenz-Panel<br />
untersucht im Fall von Parkinson 16 Gene,<br />
im Fall von Demenzerkrankungen 19 Gene.<br />
Die Liste der Gene wird rapide wachsen, nicht<br />
zuletzt durch die Möglichkeit, Familien, die<br />
von der Erkrankung betroffen sind, durch<br />
einen hypothesenfreien Ansatz auf Veränderungen<br />
im gesamten Genom im Rahmen<br />
einer Forschungsfragestellung zu untersuchen.<br />
Wie bei der rein diagnostischen Fragestellung<br />
sollte der/die Ratsuchende auch bei dieser<br />
Forschungsfragestellung im Rahmen des<br />
Gendiagnostikgesetzes aufgeklärt werden.<br />
Dazu gehört insbesondere der Hinweis auf<br />
den möglichen Umgang mit Zufallsbefunden,<br />
auf die mögliche Vernichtung der Probe nach<br />
Abschluss der Untersuchung, auf die Anonymisierung<br />
und Verwendung der Probe für<br />
weitere Untersuchungen und auf das Recht<br />
auf Nichtwissen zu jedem Zeitpunkt.<br />
Ausblick auf eine<br />
personalisierte Medizin …<br />
Revolutionär aus Sicht der Humangenetik ist<br />
die schnelle und kosteneffiziente Sequenzierung<br />
von mehreren tausend menschlichen<br />
Genen innerhalb weniger Tage. Revolutionär<br />
ist zudem der Ausblick in eine personalisierte<br />
Medizin, der darauf basiert, dass jede Erkrankung<br />
individuelle Unterschiede aufgrund unterschiedlicher<br />
genetischer Prädisposition besitzt.<br />
Die Hoffnung ist es, mit diesem Wissen<br />
eines Tages Krankheiten individuell, also wesentlich<br />
gezielter als heute behandeln zu können.<br />
Ein verändertes Gen ist ein wesentlicher<br />
Schlüssel zum Verständnis einer Krankheit.<br />
Auch wenn die individualisierte Therapie zum<br />
Beispiel bei den neurodegenerativen Erkran- u<br />
49
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
kungen in weiter Ferne liegt, so wird bereits<br />
jetzt die Basis für die Therapien der Zukunft<br />
gelegt.<br />
… und offene Fragen<br />
Bei aller Euphorie, die die Genetik seit einiger<br />
Zeit durchlebt, ist zu bedenken, dass die Ergebnisse<br />
der Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />
Fragen aufwerfen werden, die zum jetzigen<br />
Zeitpunkt nicht beantwortet werden können.<br />
Dazu gehört die Identifizierung von bislang<br />
unbekannten Varianten im Genom eines Ratsuchenden,<br />
Varianten von unklarer Signifikanz<br />
(VUS). Dazu gehört, dass in vielen Fällen<br />
auch trotz Hochdurchsatz-Sequenzierung die<br />
Ursache der Erkrankung nicht gefunden wird,<br />
sei es, weil gar keine genetische Ursache vorliegt<br />
oder weil die Ursache in den nicht untersuchten<br />
Bereichen des Genoms liegt, oder<br />
RESÜMEE<br />
Es ist zu hoffen, dass die Hochdurchsatz-<br />
Diagnostik in vielen Laboren Einzug hält<br />
und damit nicht nur zu deutlich höheren<br />
Aufklärungsquoten von genetisch bedingten<br />
Erkrankungen beiträgt, sondern<br />
die genetische Diagnostik auch als<br />
schnelle, effiziente, kostengünstige und<br />
sinnvolle Methode in der Wahrnehmung<br />
bei Ratsuchenden, Betroffenen, ÄrztInnen<br />
und WissenschaftlerInnen etabliert.<br />
weil erst das Zusammenspiel mehrerer veränderter<br />
Gene mit der Umwelt zu der Erkrankung<br />
führt, oder weil veränderte Genprodukte<br />
(RNA oder Proteine) die eigentliche<br />
Ursache der Erkrankung sind.<br />
Die Hochdurchsatz-Sequenzierung ist eine<br />
Screening-Methode, ähnlich einer Kernspin-<br />
Untersuchung. Das Erbgut wird dabei beleuchtet,<br />
und es kann passieren, dass Veränderungen<br />
gefunden werden, die als Zufallsbefunde<br />
bezeichnet werden. Der Umgang<br />
mit Zufallsbefunden, insbesondere wenn<br />
diese schwerwiegende Konsequenzen für<br />
den/die PatientIn haben, ist eine große Herausforderung<br />
für ÄrztInnen und Ratsuchende.<br />
Der/die Ratsuchende muss darüber genau<br />
wie über das Auffinden von Varianten unklarer<br />
Signifikanz im Vorfeld aufgeklärt werden.<br />
Das Ergebnis einer genetischen Untersuchung<br />
soll im Rahmen einer Beratung mitgeteilt<br />
werden. Das Gendiagnostikgesetz, das<br />
seit Februar 2010 in Deutschland in Kraft ist,<br />
hat Richtlinien für die Durchführung der genetischen<br />
Diagnostik festgelegt, die sich direkt<br />
auch für die Hochdurchsatz-Diagnostik<br />
anwenden lassen.<br />
n<br />
Behavioral and motor<br />
interfaces of movement disorders:<br />
From laboratory to patient care<br />
15 th International Congress of<br />
Parkinson’s Disease and Movement<br />
Disorders<br />
5.–9. Juni <strong>2011</strong><br />
Toronto, ON, Kanada<br />
Information: Pandani Viaggi<br />
Via G. Fara, 13 <strong>2011</strong>24 Milano, Italy<br />
Tel.: +39 02/669 30 07<br />
E-Mail: info.congressi@pandani.it<br />
Webinfo: www.movementdisorders.org/<br />
congress/congress11/<br />
GHEORGHE ROMAN - FOTOLIA<br />
50
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Neurogenetik – Muskelerkrankungen:<br />
Diagnostischer Stellenwert<br />
von Muskelbiopsie und Molekulargenetik<br />
Bei einer ständig wachsenden Zahl von Myopathien werden derzeit die zugrunde liegenden genetischen Defekte<br />
identifiziert. Dies führt dazu, dass die Diagnose einer Myopathie allein aus der molekulargenetischen<br />
Untersuchung von Leukozyten möglich ist. Solange jedoch eine umfangreiche Genchip-Diagnostik im klinischen<br />
Alltag noch nicht als Screening-Methode einsetzbar ist, erfordert die zielgerichtete molekulare Diagnostik<br />
weiterhin die subtile Analyse des Phänotyps, der elektrophysiologischen Befunde und der histologischen<br />
Veränderungen.<br />
Die Diagnostik von Myopathien umfasst<br />
neben der Analyse des Phänotyps das EMG,<br />
die Muskelbiopsie einschließlich biochemischer<br />
Untersuchungen sowie die Identifi -<br />
zierung des Gendefekts. Im Einzelfall sind<br />
jedoch nicht alle diese Untersuchungen von<br />
gleicher Bedeutung.<br />
Diagnostische Szenarien<br />
Hinsichtlich der Notwendigkeit einer Muskelbiopsie<br />
und der Möglichkeit einer zielgerichteten<br />
molekulargenetischen Diagnostik lassen<br />
sich folgende Algorithmen formulieren:<br />
1. Charakteristische elektrophysiologische<br />
Befunde ohne Indikation zur Muskelbiopsie:<br />
Wenn aufgrund der Klinik und der<br />
EMG-Veränderungen der Verdacht auf eine<br />
Myotonie besteht, ist die Diagnose aufgrund<br />
des Phänotyps und der Molekulargenetik<br />
ohne Muskelbiopsie möglich. Am häufigs -<br />
ten ist hierbei an die myotone Dystrophie<br />
Curschmann-Steinert (DM1) sowie die<br />
PROMM (DM2) zu denken.<br />
2. Charakteristische Phänotypen ohne Indikation<br />
zur Elektrophysiologie und Muskelbiopsie:<br />
Myopathien können ohne EMG-<br />
Untersuchung und ohne Muskelbiopsie molekulargenetisch<br />
bestätigt werden, wenn sie<br />
mit einem spezifischen und typischen Phänotyp<br />
einhergehen (z. B. okulopharyngeale<br />
Muskeldystrophie, fazioskapulohumerale<br />
Muskeldystrophie (FSHD), Carnitin-Palmitoyl-<br />
Transferase-II-Mangel (CPT-II-Mangel) sowie<br />
Prof. Dr. Stephan Zierz<br />
Neurologische<br />
Universitätsklinik,<br />
Universitätsklinikum<br />
Halle/Saale, Deutschland<br />
die Kernhüllen-Myopathien Hauptmann-<br />
Thannhauser und Emery-Dreifuss).<br />
Bei der im Erwachsenenalter sehr häufigen<br />
FSHD sind eine Achsel-Brust-Falte und ein<br />
positives Beevor-Zeichen (Abb. 1) sehr spezifische<br />
klinische Zeichen. Die Möglichkeit der<br />
molekularen Diagnostik bei der FSHD hat inzwischen<br />
dazu geführt, dass sich das phänotypische<br />
Spektrum der FSHD deutlich erweitert<br />
hat. So kann z. B. auch eine als Kamptokormie<br />
imponierende isolierte axiale<br />
Abb. 1: Beevor-Zeichen bei FSHD: Verschiebung des Bauchnabels nach kranial bei Kopfbeugung im Liegen.<br />
52
Myopathie Phänotyp einer atypischen und<br />
oligosymptomatischen FSHD sein.<br />
Der muskuläre CPT-II-Mangel äußert sich lediglich<br />
durch Attacken von Myalgien und<br />
Rhabdomyolyse. Eine Muskelbiopsie im symptomfreien<br />
Intervall ist häufig unauffällig. Da<br />
etwa 90 % der Allele bei dieser Erkrankung<br />
die S113L-Mutation aufweisen, ist bei entsprechendem<br />
charakteristischem Phänotyp<br />
(Tab. 1) die Diagnose auch ohne biochemischen<br />
Nachweis des Enzymdefektes zu stellen.<br />
3. Gezielte molekulare Suche erst aufgrund<br />
von Phänotyp und Myopathologie<br />
möglich: Eine Vielzahl genetisch extrem heterogener<br />
Myopathien lassen sich aufgrund<br />
sehr ähnlicher Phänotypen einigen wenigen<br />
klinisch definierten Gruppen zuordnen. Dazu<br />
gehören die Gliedergürtel-Muskeldystrophien,<br />
die distalen Myopathien sowie einige<br />
kongenitale Myopathien mit Strukturanomalien.<br />
In all diesen Fällen erfordert die Diagnose<br />
eine Muskelbiopsie, deren myopathologische<br />
und biochemische (z.B. Western Blot) Untersuchung<br />
eine zielgerichtete spezifische molekulare<br />
Diagnostik ermöglicht. Dies wird<br />
besonders deutlich bei der genetisch heterogenen<br />
Gruppe der Gliedergürtelmuskeldystrophien<br />
(Tab. 2, 3).<br />
Bei den so genannten kongenitalen Myopathien<br />
mit Strukturanomalien war in der Vergangenheit<br />
der charakteristische Nachweis<br />
der myopathologischen Strukturveränderungen<br />
für die Diagnose ausreichend (z. B. zentronukleäre<br />
Myopathie, myofibrilläre Myopathie,<br />
Nemaline-Rod-Myopathie). In der Zwischenzeit<br />
hat sich jedoch herausgestellt, dass<br />
diese myopathologischen Entitäten auf jeweils<br />
mehreren unterschiedlichen Gendefekten<br />
beruhen können (Abb. 2, 3, 4).<br />
4. Variable Phänotypen mit unspezifischen<br />
myopathologischen Veränderungen: Einige<br />
erst kürzlich identifizierte Gendefekte u<br />
Tab. 1: Klinik des muskulären Carnitin-Palmitoyltransferase-II-Mangels<br />
Patienten<br />
Attacken mit<br />
Myalgien 27/28 96 %<br />
Myoglobinurie 22/28 79 %<br />
Paresen 17/28 61 %<br />
Nierenversagen 5/28 18 %<br />
Auslösefaktoren<br />
Körperl. Belastung 27/28 96 %<br />
Infektionen 13/28 46 %<br />
Fasten 5/28 18 %<br />
Kälte 4/28 14 %<br />
Tab. 2: Gliedergürtel-Muskeldystrophien (autosomal-rezessive Formen)<br />
Genort<br />
Genprodukt<br />
LGMD2A 15q15.1 Calpain 3<br />
LGMD2B 2p13.3 Dysferlin<br />
LGMD2C 13q12 -Sarkoglykan<br />
LGMD2D 17q12-21 -Sarkoglykan (Adhalin)<br />
LGMD2E 4q12 -Sarkoglykan<br />
LGMD2F 5q33-34 -Sarkoglykan<br />
LGMD2G 17q11-12 Telethonin<br />
LGMD2H 9q31-33 E3-Ubiquitin-Ligase<br />
LGMD2I 19q13.3 Fukutin-related Protein<br />
LGMD2J 2q31 Titin<br />
LGMD2K<br />
POMT1<br />
LGMD2L Anoctamin 5<br />
Tab. 3: Gliedergürtel-Muskeldystrophien (autosomal-dominante Formen)<br />
Genort<br />
Genprodukt<br />
LGMD1A 5q31 Myotilin<br />
LGMD1B 1q11-q21.2 Lamin A/C<br />
LGMD1C 3p25 Caveolin-3<br />
LGMD1D 7q –<br />
LGMD1E 6q23 –<br />
LGMD1F 7q32.1-32.2 –<br />
LGMD1G 4p21 –<br />
53
KONGRESS-<br />
HIGHLIGHTS<br />
Abb. 2: Zentronukleäre<br />
(myotubuläre) Myopathie<br />
Abb. 4: Myofibrilläre Myopathien<br />
Abb. 3: Nemaline-Rod-Myopathie<br />
Gen-Produkte<br />
• Dynamin<br />
•MYF6<br />
• Amphiphysin<br />
• Myotubularin<br />
Gen-Produkte<br />
• -Tropomyosin (TMP3)<br />
• -Tropomyosin (TMP2)<br />
• Nebulin<br />
• Actin-<br />
• Troponin T (TNNT1)<br />
• Cofilin-2 (CFL2)<br />
Gen-Produkte<br />
• B-Crystallin<br />
• Desmin<br />
• Filamin C<br />
• Myotylin<br />
• ZASP<br />
• BAG3<br />
können selbst innerhalb einer Familie zu unterschiedlichen<br />
Phänotypen führen. Dazu<br />
zählen die Anoctamin-5-Myopathie sowie die<br />
Matrin-3-Myopathie.<br />
Bei der Myopathie aufgrund einer Mutation<br />
im Anoctamin 5 kann es dabei sowohl zu<br />
einem Gliedergürtel-Phänotyp als auch zu<br />
einem distalen Phänotyp kommen. Da es bislang<br />
auch keine geeigneten Antikörper für<br />
die Immunhistochemie oder den Western-<br />
Blot gibt und die myopathologischen Veränderungen<br />
sehr unspezifisch sind, kommt der<br />
molekulargenetischen Analyse eine besondere<br />
Bedeutung zu.<br />
Ebenso kann eine Mutation des Kernmatrix-<br />
Proteins Matrin 3 zu einer distalen Myopathie<br />
mit oder ohne Stimmbandlähmung führen,<br />
andererseits aber auch mit einer axialen<br />
Schwäche mit Kamptokormie, proximalen<br />
Paresen und Myalgien assoziiert sein. Da im<br />
EMG auch myotone Zeichen gefunden werden<br />
können, ist der distale Phänotyp auch<br />
eine nahe Differenzialdiagnose zur myotonen<br />
Dystrophie Curschmann-Steinert. Die<br />
Lichtmikroskopie ist unspezifisch, allerdings<br />
finden sich elektronenmikroskopisch charakteristische<br />
Kernveränderungen (abnorme In-<br />
Abb. 5: mtDNA-Deletionen bei mitochondrialer<br />
CPEO<br />
Abb. 6: Intergenomische Kommunikation. Defekte nukleär<br />
kodierter Proteine führen zu multiplen Deletionen der mtDNA<br />
Cytoplasm<br />
Protein (e.g. ANT1, POLG, Twinkle)<br />
Nuclear DNA<br />
mtDNA<br />
Multiple Deletionen<br />
Singuläre Deletion<br />
Nucleus<br />
Mitochondrium<br />
Kontrolle<br />
54
vaginationen, perinukleäre Rarefizierung der<br />
Sarkomere).<br />
5. Mitochondriale Erkrankungen: Bei mitochondrialen<br />
Erkrankungen lassen sich die<br />
Mutationen der mtDNA zuverlässig nur aus<br />
dem Muskelgewebe, nicht aber aus dem peripheren<br />
Blut nachweisen. Die Indikation zur<br />
molekularen Diagnostik beruht auf dem Phänotyp,<br />
dem Laktatspiegel sowie den typischen<br />
myopathologischen Veränderungen.<br />
Eine Sonderstellung nimmt die häufige CPEO<br />
ein: Während die sporadische CPEO auf singulären<br />
Deletionen der mtDNA beruht, findet<br />
man bei autosomal vererbter CPEO multiple<br />
Deletionen der mtDNA, die wiederum auf<br />
nukleären Mutationen beruhen. Dieses Prinzip<br />
der Schädigung der mtDNA durch Defekte<br />
nukleär kodierter Proteine wird als Defekt<br />
der intergenomischen Kommunikation<br />
bezeichnet (Abb. 5).<br />
RESÜMEE<br />
Es gibt eine Reihe von Myopathien, bei denen der typische Phänotyp ausreicht, um eine<br />
gezielte molekulargenetisch gesicherte Diagnose zu stellen. Demgegenüber gibt es immer<br />
noch die Mehrzahl von Myopathien, bei denen die Diagnose selbst oder auch die gezielte<br />
molekulargenetische Diagnostik von Phänotyp und myopathologischem Befund abhängt.<br />
Zukünftige Chip-Technologien werden sicherlich die Zahl der Myopathien, bei denen<br />
noch eine Biopsie notwendig ist, verringern.<br />
Die Möglichkeit der molekulargenetischen Diagnostik hat aber auch dazu geführt, dass<br />
sich die phänotypischen Kriterien vieler klassischer Myopathien deutlich erweitert und<br />
verändert haben (z. B. bei der FSHD) und dass sich klassische myopathologisch definierte<br />
Myopathien jeweils mehreren verschiedenen Gendefekten zuordnen lassen (z. B. zentro -<br />
nukleäre Myopathien und myofibrilläre Myopathien).<br />
Obgleich sowohl bei singulären wie auch bei<br />
multiplen Deletionen eine Vielzahl akzessorischer<br />
Symptome anderer Organsysteme mit<br />
der CPEO vergesellschaftet sein kann, findet<br />
sich z. B eine Retinabeteiligung nur bei singulären,<br />
nicht jedoch bei multiplen Deletionen.<br />
Andererseits ist ein SANDO-Syndrom<br />
(sensory ataxia, neuropathy, dysarthria, ophthalmoplegia)<br />
nur bei multiplen Deletionen zu<br />
finden. Häufig liegt den multiplen Deletionen<br />
beim SANDO-Syndrom eine nukleäre Mutation<br />
im Polymerase--Gen zugrunde. n<br />
55
Service –Veranstaltungstermine<br />
ÖGN-Sekretariat: Tanja Weinhart<br />
Garnisongasse 7/22, 1090 Wien<br />
Tel.: +43 (0)1/512 80 91-19<br />
E-Mail: weinhart@admicos.com<br />
5. Waldviertler <strong>Neurologie</strong>-Frühling<br />
28. Mai<br />
Landesklinikum Waldviertel Horn-Allentsteig<br />
Webinfo: www.waldviertler-neurofruehling.com<br />
Twenty-first Meeting of the<br />
European Neurological Society<br />
28.–31. Mai<br />
Lisboa Convention Centre, Lissabon, Portugal<br />
Webinfo: www.ensinfo.org<br />
61. Congrès de la société de neurochirurgie<br />
1.–4. Juni<br />
Wien<br />
Information: Ärztezentrale Med. Info<br />
1014 Wien, Helferstorferstrasse 4<br />
Tel.: +43 (0)1/531 16-38 oder +43 (0)1/531 16-38<br />
Fax: +43 (0)1/531 16-61<br />
E-Mail: azmedinfo@media.co.at<br />
7. Gemeinsame Jahrestagung der Deutschen,<br />
Österreichischen und Schweizerischen Sektionen der<br />
internationalen Liga gegen Epilepsie<br />
1.–4. Juni<br />
Graz<br />
Information:<br />
Priv.-Doz. Dr. Michael Feichtinger (Tagungspräsident) oder<br />
Univ.-Prof. Dr. Barbara Plecko (Koorganisatorin)<br />
Webinfo: http://www.epilepsie-graz<strong>2011</strong>.at/<br />
9. Neuroimaging-Akademie<br />
3.–4. Juni<br />
LKH Villach, Abteilung für <strong>Neurologie</strong><br />
9500 Villach, Nikolaigasse 43<br />
Seminarräume im EG<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
15 th International Congress of Parkinson’s Disease<br />
and Movement Disorders<br />
5.–9. Juni<br />
Toronto, ON, Kanada<br />
Information: Pandani Viaggi<br />
Via G. Fara, 13 <strong>2011</strong>24 Milano, Italy<br />
Tel.: +39 02/669 30 07<br />
E-Mail: info.congressi@pandani.it<br />
Webinfo: www.movementdisorders.org/congress/congress11/<br />
5. Kremser Konferenz<br />
„Dysphagie-Assessment und Therapie“<br />
7. Juni<br />
Donau-Universität Krems<br />
Information:<br />
Fax: +43 (0)2732/893 4810<br />
E-Mail: andrea_mueller@donau-uni.ac.at<br />
Facharztausbildungsseminar der ÖGN<br />
9.–11. Juni<br />
Oberösterreichische Ärztekammer, Brennersaal<br />
4010 Linz, Dinghoferstraße 4<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
6. Innsbrucker EEG-Kurs<br />
17.–19. Juni<br />
Parkhotel Hall, Hall in Tirol<br />
Information: OÄ Dr. Iris Unterberger<br />
Univ.-Klinik für <strong>Neurologie</strong><br />
Anichstraße 35, 6020 Innsbruck<br />
Webinfo: www.oegkn.at<br />
Schmerzakademie der ÖGN und ÖGPP<br />
„Pain-Summer-School <strong>2011</strong>“<br />
21.–25. Juni<br />
Information: ÖGN-Sekretariat<br />
4 th International Epilepsy Colloquium<br />
27.–29. Juni<br />
Philipps-University Marburg, Alte Aula<br />
Lahntor 3, D-35033 Marburg<br />
Information: Congrex Deutschland GmbH<br />
Hauptstr. 18, D-79576 Weil am Rhein<br />
Tel.: +49 (0)7621/98 33-0<br />
Fax: +49 (0)7621/787 14<br />
E-Mail: weil@congrex.com<br />
Webinfo: www.congrex.de/epilepsy<strong>2011</strong><br />
www.uni-marburg.de/fb20/neurologie/ezm<br />
15 th EFNS Congress<br />
10.–13. September<br />
Budapest, Hungary<br />
Information:<br />
E-Mail: budapest<strong>2011</strong>@efns.org<br />
Webinfo: www.efns.org/efns<strong>2011</strong><br />
84. Kongress der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong><br />
für <strong>Neurologie</strong> mit Fortbildungsakademie<br />
28. September bis 1. Oktober<br />
Rhein-Main-Hallen, Wiesbaden<br />
Information: Prof. Dr. Jan Kassubek,<br />
Neurologische Universitätsklinik Ulm<br />
D-89081 Ulm, Oberer Eselsberg 45<br />
Tel.: +49 (0)731/177 12 06<br />
E-Mail: jan.kassubek@uni-ulm.de<br />
Webinfo: www.dgn<strong>2011</strong>.de<br />
65
Service –Veranstaltungstermine<br />
43 rd International Danube Neurology Symposium<br />
6.–8. Oktober<br />
Carl Gustav Carus, Technical University of Dresden<br />
D-01307 Dresden, Fiedlerstraße 42/House 91 (MTZ)/<br />
House 40(DEK)<br />
Information:<br />
E-Mail: danube<strong>2011</strong>@cpo-hanser.de<br />
Webinfo: www.danube<strong>2011</strong>.org<br />
5 th World Congress on Controversies in Neurology<br />
13.–16. Oktober<br />
Beijing, China<br />
Webinfo: comtecmed.com/cony/<strong>2011</strong>/<br />
Innsbrucker Neurosonokurse „Kurs 1“<br />
15.–16. Oktober<br />
Information: Dr. Christoph Schmidauer<br />
E-Mail: christoph.schmidauer@uki.at<br />
7 th International Congress on Vascular Dementia<br />
20.–23. Oktober<br />
Riga, Latvia<br />
Information: Congress Secretariat<br />
Tel.: +41 (0)22/908 04 88<br />
Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />
E-Mail: vascular@kenes.com<br />
Webinfo:<br />
www.kenes.com/vascular<strong>2011</strong>/mailshots/ms5.htm?ref5=db1<br />
1 st European NeuroRehabilitation Congress<br />
20.–22. Oktober<br />
Kurhaus Meran<br />
I-39012 Meran, Freiheitsstraße 33 Corso Liberta<br />
Information:<br />
E-Mail: enrc<strong>2011</strong>@come-innsbruck.at<br />
Webinfo: www.enrc<strong>2011</strong>.eu<br />
2. Grazer Neurogeriatrisches Symposium<br />
22. Oktober<br />
Albert-Schweitzer-Klinik<br />
8020 Graz, Albert-Schweitzer-G. 36<br />
Information: OA Dr. Ronald Saurugg, Abteilung für <strong>Neurologie</strong><br />
Fax: +43 (0)316/70 60-1319<br />
E-Mail: ronald.saurugg@stadt.graz.at<br />
9. Südtiroler Neurophysiologisches Wochenende<br />
28.–30. Oktober<br />
Sand in Taufers/Campo Tures<br />
Information: Frau Schleyer<br />
Care Fusion Germany 234 Training Center<br />
97204 Höchberg, Leibnizstraße 7<br />
19. Jahrestagung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> für<br />
Schlafforschung und Schlafmedizin<br />
10.–12. November<br />
Mannheim<br />
Information: Deutsche <strong>Gesellschaft</strong> für Schlafforschung<br />
und Schlafmedizin<br />
E-Mail: dgsm@conventus.de<br />
Webinfo: www.dgsm<strong>2011</strong>.de<br />
XX th World Congress of Neurology<br />
12.–17. November<br />
Marrakesh, Morocco<br />
Information: Kenes International<br />
CH-1211 Geneva 1 Switzerland,<br />
1-3 rue de Chantepoulet, P.O. Box 1726<br />
Tel: +41 (0)22/908 04 88<br />
Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />
E-Mail: wcn@kenes.com<br />
Webinfo: www.kenes.com/404a.htm<br />
Innere Medizin Update – Refresher<br />
30. November bis 4. Dezember<br />
Aula der Wissenschaften, Wien<br />
Information: Forum für medizinische Fortbildung<br />
Tel.: +43 (0)2252/263 263 10<br />
Fax: +43 (0)2252/263 263 40<br />
E-Mail: info@fomf.at<br />
Webinfo: www.fomf.at<br />
6. Deutscher Wirbelsäulenkongress<br />
8.–10. Dezember<br />
Congress Centrum Hamburg<br />
Information: Justus G. Appelt<br />
Tel.: +49 (0)3641/311 63 11<br />
Fax: +49 (0)3641/311 62 40<br />
E-Mail: dwg@conventus.de<br />
Webinfo: www.dwg<strong>2011</strong>.de<br />
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