05.04.2014 Aufrufe

Supplementum 3/2011 - Österreichische Gesellschaft für Neurologie

Supplementum 3/2011 - Österreichische Gesellschaft für Neurologie

Supplementum 3/2011 - Österreichische Gesellschaft für Neurologie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

P.b.b. 07Z037411M, Benachrichtigungspostamt 1070 Wien<br />

neurologisch<br />

Fachmagazin für <strong>Neurologie</strong> SUPPLEMENTUM 3/<strong>2011</strong><br />

Offizielles Organ<br />

der Österreichischen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für<br />

<strong>Neurologie</strong><br />

Kongress-Highlights<br />

MedMedia<br />

Verlags Ges.m.b.H.<br />

9. Jahrestagung<br />

der Österreichischen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong>


Editorial<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />

Diese Ausgabe von neurologisch ist einer<br />

Nachlese der 9. Jahrestagung der ÖGN gewidmet,<br />

die im März in Wien stattgefunden<br />

hat. Mit über 660 TeilnehmerInnen, einem<br />

breit gefächerten Kursangebot und vor allem<br />

einem unserer Meinung nach qualitativ hoch<br />

stehenden wissenschaftlichen Programm mit<br />

den Schwerpunkten Neurogenetik und Therapie<br />

in der <strong>Neurologie</strong> blicken wir als Organisatoren<br />

durchaus stolz auf die Veranstaltung<br />

zurück. Wir hoffen, die TeilnehmerInnen<br />

konnten eine gut verständliche Einführung in<br />

die für uns klinische NeurologInnen oft sehr<br />

verwirrende Neurogenetik erhalten. Hier gab<br />

es ja in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung,<br />

die für manche neurologische<br />

Krankheitsbilder völlig neue Aspekte ermöglicht<br />

hat. Die Updates zu neuen Trends in<br />

der Therapie neurologischer Erkrankungen<br />

sollten uns alle auch daran erinnern, wie sehr<br />

sich die <strong>Neurologie</strong> von einer rein diagnostischen<br />

Disziplin zu einem Fach mit einem vielfältigen<br />

therapeutischen Angebot gewandelt<br />

hat.<br />

Die folgenden Beiträge wollen noch einmal<br />

an diese Schwerpunkte erinnern. Gottfried<br />

Kranz hat den Eröffnungsvortrag von Mark<br />

Hallett über die Behandlungsmöglichkeiten<br />

bei Dystonie zusammengefasst. Uwe Zettl<br />

gibt einen Überblick über neue orale Therapiemöglichkeiten<br />

bei multipler Sklerose. Stefan<br />

Greisenegger widmet sich der Schlaganfalltherapie<br />

bei multimorbiden PatientInnen,<br />

neuen Entwicklungen in der Sekundärprophylaxe<br />

des Schlaganfalls und der invasiven<br />

Schlaganfalltherapien. Er fasst damit die<br />

stimulierenden Vorträge von Wilfried Lang,<br />

Hans Christoph Diener und Hagen Huttner<br />

zusammen. Eva Hilger geht der Frage nach,<br />

ob wir unseren kognitiven Abbau beein -<br />

flussen können. Alexander Zimprich fasst seinen<br />

Überblick über die neuen Entwicklungen<br />

in der Neurogenetik zusammen. Johannes<br />

Berger, Michaela Auer-Grumbach, Saskia<br />

Biskup, Stephan Zierz und Fritz Zimprich<br />

weisen auf die Bedeutung der Genetik für<br />

das Verständnis der Pathophysiologie, aber<br />

auch für die Diagnostik der Leukodystrophien,<br />

hereditären Polyneuropathien, Bewegungsstörungen,<br />

Muskelerkrankungen und<br />

Epilepsien hin. Schließlich widmet sich Fahmy<br />

Aboul-Enein noch einem Thema, das durch<br />

die neuen Therapien der MS in letzter Zeit<br />

sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat und<br />

dem ein Spezialthema auf unserem Kongress<br />

gewidmet war: den Infektionen und der Infektionsprophylaxe<br />

bei multipler Sklerose.<br />

Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die von<br />

Elisabeth Stögmann zusammengestellte Sitzung<br />

„Mein lehrreichster Fall“, die bei aller<br />

Wichtigkeit von Evidence-based Medicine unterstreichen<br />

wollte, wie viel wir aus Einzelfällen<br />

für unsere PatientInnen lernen können.<br />

Schließlich hoffen wir, dass Sie alle bei der<br />

„Millionenshow“ Spaß hatten! Dabei gilt<br />

unser besonderer Dank dem Moderator Helmut<br />

Pockberger. Natürlich wurden auch<br />

heuer wieder die besten eingereichten Arbeiten<br />

prämiert. Den so Ausgezeichneten<br />

dürfen wir noch einmal ganz herzlich gratulieren!<br />

Zuletzt sei daran erinnert, dass für den Erfolg<br />

einer Veranstaltung die Hilfe vieler Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter sowohl an der Klinik<br />

als auch im Vorstand und Sekretariat der<br />

ÖGN, aber auch die Unterstützung unserer<br />

Sponsoren aus der Industrie nötig sind. Ihnen<br />

allen ein ganz herzliches Dankeschön! Und<br />

zuallerletzt: Ein Kongress kann immer nur so<br />

gut sein wie seine BesucherInnen: In diesem<br />

Sinne möchten wir uns auch bei allen für<br />

ihre aktive Teilnahme, aber vor allem auch<br />

für die lebendigen Diskussionen bedanken!<br />

Karl Vass<br />

Eduard Auff<br />

Univ.-Prof. Dr. Karl Vass<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität Wien<br />

Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität Wien,<br />

Präsident der ÖGN<br />

3


Inhalt <strong>Supplementum</strong> 3/<strong>2011</strong><br />

KONGRESS-HIGHLIGHTS<br />

Jahrestagung der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong><br />

für <strong>Neurologie</strong>, 16.–19. März <strong>2011</strong><br />

7 Preisverleihungen bei der Jahrestagung<br />

8 Behandlung der Dystonie<br />

G. Kranz, Wien<br />

12 Orale innovative Therapien zur<br />

immunmodulatorischen Behandlung<br />

der schubförmigen MS<br />

U. K. Zettl, Rostock<br />

18 Komplikationen neuer MS-Therapien:<br />

Infektionsprophylaxe und Infektionen<br />

F. Aboul-Enein, Wien<br />

24 Aktuelles und Neues<br />

zur Schlaganfalltherapie<br />

S. Greisenegger, Wien<br />

28 Können wir unseren<br />

kognitiven Abbau beeinflussen?<br />

E. Hilger, Wien<br />

30 Rezente Entwicklungen<br />

in der Neurogenetik<br />

A. Zimprich, Wien<br />

33 Genetik der Epilepsien<br />

F. Zimprich, Wien<br />

40 Genetik der Leukodystrophien<br />

J. Berger, Wien<br />

44 Genetik hereditärer Neuropathien<br />

M. Auer-Grumbach, Graz<br />

48 Neurogenetik der Bewegungsstörungen<br />

S. Biskup, Tübingen<br />

52 Diagnostischer Stellenwert von<br />

Muskelbiopsie und Molekulargenetik<br />

S. Zierz, Halle<br />

Wollen Sie mit uns<br />

in Kontakt treten?<br />

Leserbriefe erwünscht:<br />

neurologisch@medmedia.at oder<br />

Seidengasse 9/Top1.1,<br />

1070 Wien<br />

Chefredaktion<br />

neurologisch<br />

Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager<br />

SMZ Ost, Wien<br />

Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli<br />

Generalsekretär der ÖGN<br />

FOTO: MEDCOMMUNICATIONS<br />

Impressum<br />

Herausgeber: Österreichische <strong>Gesellschaft</strong> für <strong>Neurologie</strong>, Dr. Michael Ackerl, Präsident der ÖGN. Chefredaktion: Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli,<br />

Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager. Medieninhaber und Verlag: MEDMEDIA Verlag und Mediaservice Ges.m.b.H, Seidengasse 9/Top 1.1, 1070 Wien, Tel.: 01/407 31 11-0, E-Mail:<br />

office@medmedia.at. Verlagsleitung: Mag. Gabriele Jerlich. Redaktion: Maria Uhl. Lektorat: onlinelektorat@aon.at. Layout/DTP: Martin Grill. Projektbetreuung: Natascha Fial.<br />

Coverfoto: Reed Messe Wien | G. Szuklits, Fotolia (2). Print: „agensketterl“ Druckerei GmbH, Mauerbach. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift ist zum Einzelpreis von 9,50 Euro plus<br />

MwSt. zu beziehen. Druckauflage: 8.100 Stück im 2. Halbjahr 2010, geprüft von der Österreichischen Auflagenkontrolle. Grundsätze und Ziele von neurologisch: Kontinuierliche<br />

medizinische Fortbildung für Neuro logen, Psychi ater und Allgemeinmediziner. Allgemeine Hinweise: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche und/oder wissenschaftliche<br />

Meinung des jeweiligen Autors wieder und fallen somit in den persönlichen Verantwortungsbereich des Verfassers. Angaben über Dosierungen, Applikationsformen und<br />

Indikationen von pharmazeutischen Spezialitäten müssen vom jeweiligen Anwender auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Trotz sorgfältiger Prüfung übernehmen<br />

Medieninhaber und Herausgeber keinerlei Haftung für drucktechnische und inhaltliche Fehler. Ausgewählte Artikel dieser Ausgabe finden Sie auch unter<br />

www.medmedia.at zum Download. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil<br />

des Werkes darf in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter<br />

Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, verwertet oder verbreitet werden.<br />

5


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Preisverleihungen bei der Jahrestagung<br />

Auch heuer wurden von der ÖGN wieder zahlreiche Preise vergeben<br />

Posterpreise <strong>2011</strong><br />

Von den 134 eingereichten Postern aus den österreichischen neurologischen<br />

Arbeitsgruppen wurden dieses Jahr 6 Arbeiten mit einem Posterpreis,<br />

der jeweils mit 1000 Euro dotiert war, ausgezeichnet:<br />

P14 Hereditäre spastische Paraplegien (HSP):<br />

ein klinischer Algorithmus<br />

Nachbauer W., Napholz A., Eigentler A., Löscher W.,<br />

Poewe W., Bösch S.<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />

P42 Dickkopf-3 (DKK-3) protein in cerebrospinal<br />

fluid (CSF): a biomarker for neuplastic meningitis<br />

Hutterer M. 3 , Medinger M. 2 , Untergasser G. 2 , Steinlechner K. 1 ,<br />

Gstrein I. 1 , Deisenhammer F. 1 , Muigg A. 1 , Trinka E. 3 ,<br />

Gunsilius E. 2 , Stockhammer G. 1<br />

1<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />

2<br />

Tumor Biology and Angiogenesis Laboratory, Division of Hematology<br />

and Oncology, Medical University Innsbruck<br />

3<br />

Department of Neurology, Paracelsus Medical University Salzburg,<br />

Christian Doppler Klinik<br />

P23 Cognitive ability and cerebral perfusion<br />

(HMPAO-SPECT) in individuals with subjective<br />

cognitive complaints with and without cognitive<br />

deficits and with mild cognitive impairment<br />

Zauner H. 1 , Bergmann J. 2 , Kronbichler M. 2 , Golaszewski S. 3 ,<br />

Ladurner G. 3 , Staffen W. 3<br />

1<br />

Rehabilitationszentrum der Pensionsversicherungsanstalt Großgmain<br />

2<br />

Center of Cognitive Research Salzburg<br />

3<br />

Paracelsus Medical University, Christian-Doppler-Klinik, Salzburg<br />

V03 Atraumatische nichtaneurysmatische<br />

Subarachnoidalblutungen an der Hirnkonvexität:<br />

eine unterschätzte Differenzialdiagnose zur TIA?<br />

Gattringer T. 1 , Beitzke M. 1 , Enzinger C. 1, 2 , Wagner G. 3 ,<br />

Niederkorn K. 1 , Ropele S. 1 , Fazekas F. 1<br />

1<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Graz<br />

2<br />

Universitätsklinik für Radiologie, Klinische Abteilung für Neuroradiologie,<br />

Medizinische Universität Graz<br />

3<br />

Institut für medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation,<br />

Medizinische Universität Graz<br />

V09 Posteriores reversibles enzephalopathisches<br />

Syndrom (PRES) – Albumin als neuer Risikofaktor<br />

oder Therapieoption?<br />

Pirker A., Prayer D., Serles W., Auff E., Voller B.<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Wien<br />

V10 Natürlicher Verlauf von therapieresistenten<br />

Epilepsien – eine retrospektive Untersuchung<br />

epilepsiechirurgisch behandelter Patienten<br />

Dobesberger J. 1, 2 , Rohracher A. 2 , Höfler J. 1, 2 , Unterberger J. 2 ,<br />

Walser G. 2 , Kuchukhidze G. 2 , Granbichler C. 2<br />

1<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Paracelsus Medizinische<br />

Privatuniversität, Christian-Doppler-Klinik, Salzburg<br />

2<br />

Universitätsklinik für <strong>Neurologie</strong>, Medizinische Universität Innsbruck<br />

3<br />

Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Innsbruck<br />

JournalistInnenpreis der ÖGN<br />

Heuer wurden zum zweiten Mal im Rahmen der 9. Jahrestagung der<br />

ÖGN JournalistInnenpreise vergeben, um besonders gut behandelte<br />

neuro logische Themen aus Laienmedien zu würdigen. Insgesamt wurden<br />

12 Beiträge – 3 aus dem Bereich Hörfunk, 5 TV und 9 aus Printmedien –<br />

eingereicht. Die 3 mit jeweils 1.500 Euro dotierten JournalistInnenpreise<br />

gingen an:<br />

TV:<br />

Gerlinde Scheiber, ORF – Thema: Epilepsie<br />

Sendedatum: 22. Februar 2010<br />

Sendung: Winterzeit ORF<br />

Hörfunk:<br />

Sabine Fisch, ORF<br />

Thema: Neuro-Aids: Die heimliche Invasion im Gehirn<br />

Sendedatum: 8. April 2010<br />

Sendung: Ö1 – Dimensionen – Die Welt der Wissenschaft<br />

Printmedium:<br />

Robert Buchacher, profil – Thema: Schmerz- und Schmerzbehandlung<br />

erschienen: 25. Jänner 2010 in der Zeitschrift profil<br />

Neuromillionenshow<br />

Erstmals wurde heuer im Rahmen der Jahrestagung<br />

eine neurologische Quizshow ver an -<br />

staltet, die sich sehr reger Beteiligung er -<br />

freute. GewinnerInnen der Neuromillionenshow sind Julia Ferrari, Wien,<br />

Bernadette Calabek, Wien, Walter Struhal, Linz. Ihnen werden die Kosten<br />

für Anfahrt, Übernachtung sowie die Anmeldegebühr für die ÖGN-<br />

Tagung 2012 ersetzt.<br />

7


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Behandlung der Dystonie<br />

Der Eröffnungsvortrag der diesjährigen ÖGN-Jahrestagung war der Behandlung von Dystonien gewidmet.<br />

Prof. Dr. Mark Hallett, Leiter der Human Motor Control Section am National Institute of Health in Bethesda, USA,<br />

skizzierte systematisch die großen Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet gemacht<br />

wurden, und eröffnete den Ausblick auf zukünftige Therapiestrategien.<br />

Einteilung der Dystonien<br />

Die derzeit populärste unter den zahlreichen<br />

Möglichkeiten, Dystonien zu klassifizieren, ist<br />

die Einteilung in primäre und sekundäre Formen.<br />

Mit primären Formen meint man, soweit<br />

dies bekannt ist, genetische Entitäten.<br />

Diese treten meist als generalisierte Dystonien<br />

im Kindesalter und als fokale Formen im Erwachsenenalter<br />

auf, während sekundäre Dystonien<br />

durch definierte Läsionen im Nervensystem<br />

entstehen. Die Liste der primären Dystonien<br />

reicht derzeit bis DYT 20, wobei einige<br />

Formen wahrscheinlich mehrfach in der Klassifizierung<br />

aufscheinen. Für die fokalen Formen<br />

mit Manifestation im Erwachsenenalter,<br />

vertreten durch die zervikale Dystonie (ZD),<br />

den Blepharospasmus (BSP), die fokale Handdystonie<br />

(FHD) und die spasmodische Dysphonie,<br />

sind noch keine Gene bekannt.<br />

Als dritte Form, so betonte Hallett, sollten<br />

die psychogenen Dystonien abgegrenzt werden.<br />

Seit ihrer Erstbeschreibung durch Oppenheim<br />

im Jahr 1911 wurde die Dystonie<br />

von der Diskussion um ihre Organizität begleitet.<br />

Oppenheim selbst vertrat die Ansicht,<br />

es handle sich um die Mischung aus einer<br />

organischen und einer psychischen Störung,<br />

während in der allgemeinen Anschauung damals<br />

von einer rein psychischen Erkrankung<br />

ausgegangen wurde oder man der Ansicht<br />

war, PatientInnen würden die Symptome einfach<br />

simulieren.<br />

Kausale Therapieformen<br />

Bei der Therapie der Dystonien sollte man<br />

zunächst nach kausalen Behandlungsmöglichkeiten<br />

Ausschau halten. Da die Ursache<br />

der meisten Formen jedoch nicht bekannt ist,<br />

kann dieser Ansatz bisher nur bei der Segawa-Dystonie<br />

erfolgen. Diese – auch Dopa-responsive<br />

Dystonie genannte – Form wird<br />

meist autosomal dominant vererbt und entsteht<br />

durch einen Enzymdefekt bei der Dopaminsynthese<br />

(GTP-Cyclohydrolase I), seltener<br />

autosomal rezessiv durch einen Defekt<br />

in der Tyrosinhydroxylase. Dementsprechend<br />

handelt es sich bei der Therapie um eine Dopaminsubstitution.<br />

Obwohl diese Form nur selten vorkommt,<br />

sind die Behandlungserfolge dramatisch und<br />

führen gelegentlich zu Schlagzeilen in den<br />

Medien, wenn etwa ein vermeintliches ICP-<br />

Kind (infantile Zerebralparese) durch eine geringe<br />

L-Dopa-Dosis aus dem Rollstuhl aufsteht.<br />

Die Wirkung scheint mit der Zeit nicht<br />

nachzulassen, wie Hallett durch persönlichen<br />

Kontakt mit Dr. Segawa berichtet, der manche<br />

seiner ursprünglichen PatientInnen nun<br />

seit fast 40 Jahren nachverfolgt. Es gibt dabei<br />

jedoch auch seltenere Fälle, bei denen die<br />

Dystonie erst im Erwachsenenalter als fokale<br />

Form in Erscheinung tritt, sodass man das<br />

Segawa-Syndrom bei der Behandlung von<br />

Dystonien als Differenzialdiagnose nie vergessen<br />

sollte.<br />

Pharmakologische Behandlung<br />

Dr. Gottfried Kranz<br />

Universitätsklinik<br />

für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität<br />

Wien<br />

Ist eine ätiologische Behandlung nicht möglich,<br />

so muss symptomatisch therapiert werden.<br />

L-Dopa kann auch hier versucht werden,<br />

in der Regel sind aber deutlich höhere Dosen<br />

als beim Segawa-Syndrom notwendig, bei oft<br />

geringem Ansprechen. In erster Linie werden<br />

aber andere orale Systemtherapien wie Anticholinergika,<br />

GABAerge Substanzen (Benzodiazepine,<br />

GABA-A; Baclofen, GABA-B)<br />

und im Weiteren auch atypische Antipsychotika<br />

zur Anwendung kommen. Tetrabenazin<br />

verdient besondere Erwähnung. Während es<br />

in Europa auch schon früher bei der Dystonie<br />

Anwendung fand, wurde es in den USA<br />

kaum verwendet. Jancovic et al. zeigten in<br />

einer retrospektiven Untersuchung, dass bei<br />

etwa 60 % seiner über 400 behandelten PatientInnen<br />

deutliche Besserungen zu ver -<br />

zeichnen waren. Die Myoklonus-Dystonie hin -<br />

gegen, DYT 11 und DYT 15, zeigt Ansprechen<br />

auf Äthanol, was Grund zur Hoffnung<br />

gibt, hier pharmakologisch verwandte Sub -<br />

s tanzen zu finden.<br />

Therapie fokaler Dystonien<br />

Andere Therapieverfahren wie neuromuskuläre<br />

Denervierung, periphere Chirurgie und<br />

oberflächliche Hirnstimulation sind mehr den<br />

fokalen Formen vorbehalten.<br />

Botulinumtoxin: Intramuskuläre Injektionen<br />

mit Botulinumtoxin-A stellen derzeit die Therapie<br />

der Wahl bei fokalen Dystonien dar.<br />

Das geringe Nebenwirkungsprofil bei gleichzeitig<br />

meist sehr überzeugendem therapeutischem<br />

Effekt macht den großen Erfolg dieser<br />

Substanzklasse aus. In Europa und den<br />

USA sind derzeit vier Präparate verfügbar,<br />

drei Typ-A-Toxine, Botox ® , Dysport ® und<br />

Xeomin ® und ein Typ-B-Präparat, Neurobloc ® /<br />

8


Myobloc ® . Dennoch hat auch diese rein symptomatische Behandlungsweise<br />

ihre Limitationen. So wäre beispielsweise eine Verlängerung<br />

der Wirkdauer wünschenswert, da viele PatientInnen zwischen<br />

den Injektionsintervallen eine Rückkehr ihrer Symptome erleben.<br />

Systematische Trainingsprogramme: Während begleitende Physiotherapie<br />

auch bei generalisierten Dystonien hilfreich zu sein scheint,<br />

wurde sie bei fokalen Formen, insbesondere bei der fokalen Handdystonie,<br />

im Rahmen von systematischen Trainingsprogrammen eingesetzt.<br />

Wie sich beispielsweise am Schreibkrampf zeigte, ist diese<br />

Form der Dystonie nicht nur absolut aufgabenspezifisch, sondern<br />

lässt sich schon dadurch verbessern, dass ein nur leicht geändertes<br />

Motorprogramm abgerufen wird. Dies kann beim Schreibkrampf<br />

durch eine Schreibhilfe erreicht werden oder dadurch, dass das dystone<br />

motorische Programm leicht verändert und damit umgangen<br />

wird oder der sensible Input modifiziert wird.<br />

Zeuner et al. studierten die Wirkung von motorischer und sensibler<br />

Rehabilitation, indem sie definierte Bewegungsprogramme anwendeten<br />

oder ein Sensibilitätstraining mittels Lesen von Braille-Schrift applizierten.<br />

Sensible abnorme räumliche und zeitliche Diskrimination in den<br />

Händen ist bei fokalen Dystonien bekannt. Interessanterweise stellte<br />

sich heraus, dass das Sensibilitätstraining wirkungsvoller war als das<br />

motorische Training, jedoch auch nur so lange anhielt, so lange trainiert<br />

wurde. Die abnorme sensible Integration ist hier offenbar maßgeblich<br />

beim Abrufen und Entwickeln von abnormen Motorprogrammen.<br />

Periphere Chirurgie: Einen weiteren therapeutischen Ansatz bei fokalen<br />

Dystonien stellen verschiedene Arten von peripheren Operationen<br />

dar. Bei PatientInnen mit ausgeprägtem BSP und schlechtem<br />

Ansprechen auf Botulinumtoxin kann die (partielle) Myektomie eine<br />

gute Therapieoption darstellen. Selektive Denervierung wird häufiger<br />

bei ZD verwendet, hat jedoch häufig nur temporären Erfolg.<br />

Oberflächliche Hirnstimulation: Nichtinvasive oberflächliche Hirnstimulation<br />

befindet sich noch in einem experimentellen Stadium,<br />

scheint jedoch viel versprechend. Pathophysiologischen Konzepten<br />

der Dystonie folgend, handelt es sich bei den Interventionen darum,<br />

die reduzierte motorische Inhibition derart zu modifizieren, dass durch<br />

Erhöhung der inhibitorischen Einflüsse die kortikale Übererregbarkeit<br />

reduziert wird. Dies lässt sich tatsächlich nach inhibitorischen Stimulationsverfahren<br />

wie der niedrigfrequenten transkraniellen Magnetstimulation<br />

(rTMS) oder der direkten elektrischen Gleichstrombehandlung<br />

(DC-Stimulation) elektrophysiologisch nachweisen.<br />

Dass dies auch klinische Auswirkungen auf die Dystonie haben kann,<br />

konnten Murase et al. bei Schreibkrampf demonstrieren. Es zeigte<br />

sich aber, dass die Stimulation von prämotorischen Arealen wirkungsvoller<br />

war als jene vom primär motorischen Kortex. In zwei rezenten<br />

Studien, die am NIH von Kranz et al. durchgeführt wurden, wurde<br />

bei BSP der anteriore cinguläre Kortex als Zielstruktur nichtinvasiver u


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Stimulation etabliert. Gleichzeitig wurden<br />

auch unterschiedliche Stimulationstechniken<br />

und -methoden miteinander verglichen,<br />

wobei rTMS den anderen Methoden überlegen<br />

war. rTMS mit zwei verschiedenen<br />

Verum-Stimulationsspulen brachte gegenüber<br />

Placebo neben einer weitgehenden Normalisierung<br />

der Blinkreflex-Habituation eine<br />

klinische Verbesserung des BSP, die über eine<br />

Stunde anhielt.<br />

Da sich bereits bei M. Parkinson zeigte, dass<br />

wiederholte oberflächliche Hirnstimulationen<br />

einen prolongierten Stimulationseffekt ha -<br />

ben, sollten zukünftig länger dauernde<br />

Stimulationsprotokolle bei Dystonien durchgeführt<br />

werden.<br />

Therapie<br />

generalisierter Dystonien<br />

Neben den bereits erwähnten pharmakologischen<br />

Ansätzen und der Physiotherapie<br />

kommen hier invasive Therapieverfahren in<br />

Betracht. Tiefer gelegene Hirnstrukturen können<br />

mit der läsionellen Hirnchirurgie und der<br />

tiefen Hirnstimulation (THS) erreicht werden.<br />

Während in Europa und den USA vornehmlich<br />

Letztere Anwendung findet, werden in<br />

Japan und China läsionelle Verfahren wie die<br />

stereotaktische Thalamotomie auch bei fokalen<br />

Dystonien durchgeführt, wie vom Neurochirurgen<br />

Dr. Taira aus Tokio zuletzt beschrieben.<br />

Aufgrund der Irreversibilität läsioneller Verfahren<br />

und der Möglichkeit der vielschichtigen<br />

Adaptation der THS wird diese in Europa<br />

und den USA favorisiert. Das Zielgebiet der<br />

Stimulation ist hierbei hauptsächlich der Globus<br />

pallidus internus (GPI). In einer ersten<br />

Arbeit wurden verschiedene Arten von Dystonien<br />

mittels GPI-THS operiert, und es zeigte<br />

sich, dass vor allem PatientInnen mit primärer<br />

Dystonie ansprachen, was sich auch in späteren<br />

Arbeiten bestätigte. Eine französische<br />

Studie zeigte dann, dass dieses gute Ansprechen<br />

über ein Jahr anhielt und dass mit einem<br />

vollen Ansprechen im Mittel erst nach etwa<br />

drei Monaten postoperativ gerechnet werden<br />

kann, auch wenn es immer wieder Fälle gab,<br />

bei denen es auch noch nach einem Jahr zu<br />

Verbesserungen kam.<br />

In einer deutschen Arbeit von Kupsch et al.<br />

wurde dann erstmals ein placebokontrolliertes<br />

Setting gewählt, bei dem zwar zunächst<br />

alle PatientInnen operiert wurden, ein Teil der<br />

PatientInnen jedoch erst nach 3 Monaten stimuliert<br />

wurde. Diese Arbeit zeigte, dass sich<br />

PatientInnen erst unter Stimulation merklich<br />

besserten. In einer weiteren französischen<br />

Studie wurden PatientInnen drei Jahre nachverfolgt,<br />

und der gute Effekt blieb bestehen.<br />

Auch die ZD scheint hier gut anzusprechen,<br />

wie sich in mehreren Studien bestätigte. Bei<br />

kranialer Dystonie gibt es jedoch noch nicht<br />

viele Daten. Ostrem und Starr aus San Francisco<br />

zeigten zuletzt, dass GPI-THS bei PatientInnen<br />

mit zervikaler und zusätzlich kranialer<br />

Dystonie auch im kranialen Bereich<br />

deutliche Verbesserungen bringen kann. Zugleich<br />

traten bei manchen PatientInnen<br />

neben der Verbesserung der Dystonie auch<br />

zunehmende bradykinetische Veränderungen<br />

auf. In einer rezenten Publikation berichteten<br />

die AutorInnen von 9 Patienten mit<br />

ZD, die bei einer Stimulation im Nucleus subthalamicus<br />

ähnlich gute Verbesserungen der<br />

Dystonie erfuhren, ohne jedoch dabei bradykinetisch<br />

zu werden. Darüber hinaus werden<br />

auch immer wieder sehr gute Ergebnisse<br />

bei PatientInnen mit tardiver Dystonie berichtet.<br />

Während beide Verfahren, die THS und die<br />

läsionelle Chirurgie, überzeugende klinische<br />

Effekte haben können, so fehlt uns doch<br />

jedes wirkliche pathophysiologische Verständnis<br />

für deren Wirkungsweise, wie Hallett<br />

betonte. Bemerkenswert scheint in diesem<br />

Zusammenhang die Tatsache, dass der<br />

therapeutische Effekt nach GPI-THS bei Dystonien<br />

verzögert eintritt, während er beispielsweise<br />

nach Thalamus-Stimulation rascher<br />

eintritt. Dies lässt plastische Adaptationsvorgänge<br />

vermuten, deren genaue<br />

Wirkungsweise noch offen ist. Gleiches gilt<br />

für Fragen, die den Stimulationsort und die<br />

Stimulationsparameter betreffen.<br />

Therapie<br />

psychogener Dystonien<br />

Psychogene Ursachen sollten laut Hallett<br />

nicht vernachlässigt werden, da die psychogene<br />

Dystonie eine der häufigsten Formen<br />

psychogener Bewegungsstörungen darstellt.<br />

Sie bereitet allerdings, verglichen mit anderen<br />

psychogenen Bewegungsmustern wie dem<br />

psychogenen Tremor oder psychogenen Myoklonien,<br />

manchmal Schwierigkeiten bei der<br />

Diagnosestellung, was die lange historische<br />

Debatte um die Ursache von Dystonien überhaupt<br />

erklären mag.<br />

Wünschenswert wäre also eine einfache apparative<br />

Methode, um zwischen psychogenen<br />

und organischen Formen unterscheiden zu<br />

können. Die gepaarte assoziative Stimulation<br />

(PAS) könnte sich hier als Methode etablieren.<br />

Diese zeigt abnorme Befunde nur bei organischer<br />

Dystonie, wie Quartarone zeigen konnte.<br />

Bei BSP könnte die Blinkreflex-Habituation als<br />

Test herangezogen werden (Schwingenschuh<br />

et al.). Sollten sich diese Ergebnisse bestätigen,<br />

so hätten wir möglicherweise Instrumente in<br />

der Hand, um formal die Diagnose einer psychogenen<br />

Dystonie zu stellen.<br />

Bevor mit der Behandlung einer psychogenen<br />

Dystonie begonnen werden kann, muss<br />

der/die PatientIn die Diagnose einmal akzeptieren,<br />

was manchmal ein längerer Weg sein<br />

kann. Dazu ist ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis<br />

notwendig. Zur Therapie sollte dann<br />

ein multidisziplinärer Ansatz mit NeurologInnen,<br />

PsychiaterInnen, Physio- und PsychotherapeutInnen<br />

gewählt werden. Psychotherapie<br />

ist hilfreich, hier hat sich zuletzt die kognitive<br />

Verhaltenstherapie als effektiv erwiesen. Antidepressiva<br />

und Anxiolytika können eingesetzt<br />

werden, da komorbide Depressionen<br />

oder Angststörungen vorliegen können,<br />

deren pharmakologische Behandlung die psychogene<br />

Dystonie verbessern kann. Sicherlich<br />

muss auf diesem Gebiet noch einiges getan<br />

werden, aber es ist schon ein wichtiger erster<br />

Schritt, den/die PatientenIn zu diagnostizieren<br />

und so auf die richtige Therapieschiene<br />

zu bringen.<br />

n<br />

10


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Orale innovative Therapien zur<br />

immunmodulatorischen Behandlung<br />

der schubförmigen MS<br />

In den nächsten Monaten werden sowohl innovative orale DMD (Disease-modifying Drugs) als auch neue<br />

orale Substanzen zur symptomatischen Behandlung der multiplen Sklerose zur Verfügung stehen bzw. wird ihre<br />

Zulassung erwartet. Aufgrund der komplexen Analysen zur Wirkungs- und Nebenwirkungsbeurteilung der<br />

einzelnen Substanzen kommen die verschiedenen Zulassungsbehörden zunehmend zu differenten Urteilen.<br />

Dies kann für KlinikerInnen nur bedeuten, auch nach Zulassung dieser innovativen Therapeutika – insbesondere<br />

in der Langzeitanwendung – sehr vigilant in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkungen zu sein.<br />

DDie multiple Sklerose (MS) ist die häufigste<br />

immunmediierte Erkrankung des ZNS, bei der<br />

Umweltfaktoren 4, 10 und genetische Komponenten<br />

6 eine zentrale Rolle bei der Krankheitsentstehung<br />

spielen 9 . Rezente Unter -<br />

suchungen belegen, dass die Neurodege -<br />

neration möglicherweise als Folge der<br />

entzündlichen Reaktion im Krankheitsverlauf<br />

von zunehmender Bedeutung für persistierende<br />

klinische Defizite bei MS-PatientInnen<br />

ist 8 .<br />

Tab. 1: Immuntherapeutika bei schubförmig verlaufender MS<br />

Diese Aspekte implizieren den optimalen Einsatz<br />

sowohl der immunmodulierenden/immunsuppressiven<br />

Therapeutika (DMD) als<br />

auch der symptomatischen Behandlungsmöglichkeiten<br />

für die einzelnen MS-PatientInnen.<br />

Während bei den symptomatischen Behandlungsansätzen<br />

eine Reihe oraler Therapieoptionen<br />

(Analgetika, Antispastika, Antidepressiva<br />

etc.) eingesetzt werden können 5 , stehen<br />

bei den DMD als Basistherapeutika der ersten<br />

Medikation Handelsname Zulassungsjahr * Applikationsart Indikation<br />

Interferon beta-1b Betaferon ® 1995 s.c. Basistherapie<br />

Extavia ®<br />

First Line<br />

Interferon beta-1a Avonex ® 1996 i.m. Basistherapie<br />

First Line<br />

Interferon beta-1a Rebif ® 22 1998 s.c. Basistherapie<br />

First Line<br />

Interferon beta-1a Rebif ® 44 1999 s.c. Basistherapie<br />

First Line<br />

Azathioprin ** Imurek ® 2000 oral Basistherapie<br />

Second Line<br />

Glatirameracetat Copaxone ® 2001 s.c. Basistherapie<br />

First Line<br />

Mitoxantron Novantron ® 2002 i.v. Eskalation<br />

Ebexantron ®<br />

Natalizumab Tysabri ® 2006 i.v. Eskalation<br />

Fingolimod Gilenya ® <strong>2011</strong> oral Eskalation<br />

* in vielen europäischen Staaten<br />

** in Österreich nicht direkt für MS zugelassen<br />

Prof. Dr. Uwe K. Zettl<br />

Klinik und Poliklinik<br />

für <strong>Neurologie</strong>,<br />

AG Neuroimmunologie,<br />

Universität Rostock<br />

Linie nur parenteral anzuwendende Medikamente<br />

(Tab. 1) zur Verfügung 13 .<br />

Die potenziellen Limitierungen einer langjährigen<br />

Injektionstherapie (Beta-Interferone,<br />

Glatirameracetat) sind offensichtlich. Neben<br />

lokalen Reaktionen und Problemen in der<br />

praktischen Handhabbarkeit beeinflusst eine<br />

Injektionstherapie unter Umständen die Lebensqualität<br />

und Adhärenz 12 . Die Abbruchraten<br />

für die derzeitigen DMD liegen in Abhängigkeit<br />

der Betreuungssituation bei bis zu<br />

25 % pro Jahr. In der Initialphase der Therapie<br />

sind es häufig Nebenwirkungen oder eine<br />

Spritzenphobie, die zum Therapieabbruch<br />

führen. Im weiteren Verlauf tritt nicht selten<br />

eine „Injektionsmüdigkeit“ auf, oder es werden<br />

die individuellen Erwartungen der PatientInnen<br />

nicht erfüllt.<br />

Die Wirksamkeit aller Basispräparate, ins -<br />

besondere auf die Schubaktivität der MS, ist<br />

in großen prospektiven Multizenterstudien<br />

nachgewiesen. Leider ist aber ein Teil der PatientInnen<br />

trotz kontinuierlicher Anwendung<br />

der DMD nicht dauerhaft aktivitätsfrei. Die<br />

Langzeitsicherheit dieser Präparate hingegen<br />

ist mit zum Teil über 20 Jahren Therapieerfahrung<br />

gut belegt.<br />

12


Orale Therapieoptionen<br />

Azathioprin<br />

Das bisher einzige „offiziell“ zur Verfügung<br />

stehende orale DMD bei der schubförmigen<br />

MS ist das in den Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Empfehlungen<br />

(MSTKG-Empfehlungen)<br />

als Second Line eingestufte Basistherapeutikum<br />

Azathioprin 13 . In Österreich<br />

ist in der Fachinformation für Azathioprin die<br />

Indikation multiple Sklerose bzw. schubförmige<br />

multiple Sklerose nicht ausdrücklich erwähnt.<br />

Der Vorteil von Azathioprin ist neben der oralen<br />

Applikation die seit über 40 Jahren vorliegende<br />

klinische Erfahrung mit dieser Substanz<br />

in verschiedenen Indikationsgebieten<br />

der Medizin. Eine Limitierung aus heutiger<br />

Sicht stellt hingegen die lückenhafte Studienlage<br />

im Vergleich zu den anderen Basistherapien<br />

bei der MS dar. Weitere Nachteile<br />

von Azathioprin sind, dass es im Körper erst<br />

in die aktive Form umgewandelt werden<br />

muss (Prodrug) und dieser Prozess bis zur<br />

vollen Wirkungsentfaltung bis zu mehreren<br />

Monaten dauern kann. Über den immunsuppressiven<br />

Wirkmechanismus nach längerer<br />

Einnahme (über 3–10 Jahre) steigt das Neoplasierisiko.<br />

Der Wunsch und die Hoffnung, dass neue<br />

Medikamente in Tablettenform zur Behandlung<br />

der MS <strong>2011</strong> zur Verfügung gestellt<br />

werden könnten, wurden bei PatientInnen<br />

mit MS, aber auch bei ÄrztInnen in den letzten<br />

Monaten durch Studienergebnisse genährt.<br />

Die neuen oralen DMD sollten somit nicht<br />

nur die Adhärenz steigern, sondern auch<br />

wirksamer sein als die bisher zur Verfügung<br />

stehenden Basistherapeutika.<br />

FTY720 (Fingolimod, Gilenya ® )<br />

FTY720 ist ein Strukturanalogon von Myriocin,<br />

einem Metaboliten des Pilzes Isaria sinclairii,<br />

welcher in der traditionellen asia -<br />

tischen Medizin verwendet wird. Das oral<br />

applizierte Prodrug FTY720 wird durch die<br />

Sphingosinkinase zu FTY720-Phosphat<br />

Abb. 1: Signalweg von Sphingosinkinase-2 (S1P) und Fingolimod (FTY720).<br />

Die Sphingosinkinase-2 phosphoryliert sowohl Sphingosin als auch Fingolimod und überführt beide in<br />

ihre aktive Formen (S1P und FTY720-P), welche an den S1-Rezeptor binden und internalisiert werden.<br />

Während es nach der Internalisierung von FTY720-P und dem S1P-Rezeptor zur Degradation des<br />

Rezeptors kommt, wird der S1P-Rezeptor nach S1P-Stimulation internalisiert und recycelt.<br />

Tab. 2: FTY720-Studienprogramm<br />

(FTY720-P) aktiviert (Abb. 1). FTY720-P kann<br />

als Agonist an den Sphingosin-1-Phosphat-<br />

Rezeptoren (S1P1, S1P3, S1P4, S1P5) binden.<br />

Die Bindung von FTY720-P an die S1P-Rezeptoren<br />

auf Lymphozyten bewirkt eine Internalisierung<br />

und Down-Regulation dieser<br />

Rezeptoren mit der Folge, dass die Rezirkulation<br />

der Lymphozyten aus den sekundären u<br />

Studie Design Indikation Patienten Dauer<br />

FREEDOMS FTY720 0,5 mg und RRMS 1272 2 Jahre<br />

1,25 mg vs. Placebo (Europa) (Phase III) (Extensionsphase)<br />

FREEDOMS II FTY720 0,5 mg und RRMS 1088 2 Jahre<br />

1,25 mg vs. Placebo (USA) (Phase III) (Extensionsphase)<br />

TRANSFORMS FTY720 0,5 mg und RRMS 1292 1 Jahr<br />

1,25 mg vs. Avonex ® (Phase III) (Extensionsphase)<br />

INFORMS FTY720 0,5 mg vs. Placebo PPMS 630 3 Jahre<br />

(Phase III)<br />

(Extensionsphase)<br />

1201 FTY720 0,5 mg und RRMS 165 6 Monate<br />

1,25 mg vs. Placebo (Japan) (Phase II) (Extensionsphase)<br />

2201 FTY720 1,25 mg und RRMS 281 6 Monate<br />

(Phase II) 5 mg vs. Placebo (Phase II) Übernahme<br />

in 2201E1<br />

2201E1 Offene Extensionsstudie der RRMS > 140 bis zur Einführung<br />

(Phase II Ext) Phase II mit FTY720 1,25 mg (Phase II)<br />

2316 Offene Multi-Center-Studie RRMS 600 16 Wochen mit<br />

(Phase IIIb) zu Verträglichkeit, Sicherheit (Phase IIIb) optionaler<br />

Extension<br />

RRMS = relapsing remitting multiple sclerosis (schubförmig remittierende multiple Sklerose)<br />

PPMS = primary progressive multiple sclerosis (primär progrediente multiple Sklerose)<br />

13


-<br />

-<br />

- -<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Abb. 2: Nebenwirkungen: FTY720 im Vergleich zu IFN-1a IM<br />

Höher mit IFN-1a IM<br />

Höher mit FTY720<br />

Overall AEs<br />

Gamma-glutamyl<br />

transferase increased<br />

Hepatic enzyme increased<br />

Alanine aminotransferase increased<br />

Hypertension<br />

Bronchitis<br />

Depression<br />

Arthralgia<br />

Myalgia<br />

Pyrexia<br />

Infusion-related reaction<br />

Influenza-like illness<br />

Chills<br />

lymphatischen Organen wie Lymphknoten<br />

und Lymphfollikel in die Blutbahn verhindert<br />

wird (Abb. 1).<br />

Dieser Effekt ist in der Regel innerhalb von<br />

Wochen nach Absetzen von FTY720 rever -<br />

sibel. Da S1P-Rezeptoren auch auf anderen<br />

Zellen und Geweben wie Haut, Endothelien,<br />

Herz und Glia sowie Neuronen lokalisiert<br />

sind, werden einerseits weitere therapeu -<br />

tische Effekte (Beeinflussung endothelialer<br />

0,004 0,016 0,063 0,250 1 4 16 64 256<br />

Relative risk with 95%-CI<br />

Abb. 3: Intrazellulärer Metabolismus von Cladribin<br />

TRANSFORMS-Studie;<br />

FTY720 0,5 mg (n = 429)<br />

IFN-1a i.m. (n = 431)<br />

Presentation FDA-Advisory Committee Meeting June 10, 2010<br />

Schrankenfunktion, neuronale Regeneration)<br />

postuliert, deren klinische Relevanz aber noch<br />

gezeigt werden muss, andererseits können<br />

die auf anderen Organen lokalisierten S1P-<br />

Rezeptoren somit aber auch eine Reihe potenzieller<br />

Nebenwirkungen wie Bradykardie<br />

und Blutdruckanstieg erklären.<br />

Klinische Daten: In zwei großen klinischen<br />

Phase-III-Studien (FREEDOMS- und TRANS-<br />

(2-Chlorodeoxyadenosin: 2-CdA) wird intrazellulär durch das Enzym Desoxycytidinkinase (DCK)<br />

phosphoryliert and sequenziell in 2-Chlorodeoxyadenosin-5’-Monophophat (2-CdAMP),<br />

2-Chlorodeoxyadenosin-5’-Diphophat (2-CdADP) und schließlich den aktiven Metaboliten,<br />

2- Chlorodeoxyadenosin-5’-Triphophat (2-CdATP), umgewandelt. In den meisten Körperzellen wird<br />

2-CdATP durch 5’-Nukloeotidasen (5’-NTasen) dephosphoryliert und damit inaktiviert. Aufgrund<br />

der hohen intrazellulären DCK- und niedrigen 5’-Ntase-Aktivität in Lymphozyten kommt es zu einer<br />

selektiven Anreicherung von 2-CdATP. Diese Akkumulation wird durch die Resistenz von Cladribin<br />

gegenüber der Adenosindesaminase (ADA), die durch die Substitution eines Wasserstoffatoms durch<br />

ein Chloratom in Position 2 des Purinringes bedingt ist, weiter verstärkt 11 .<br />

FORMS-Studie) wurde das Medikament auf<br />

seine klinische Wirkung geprüft 2, 7 (Tab. 2).<br />

In der FREEDOMS-Studie wurden zwei unterschiedliche<br />

Dosen der täglich einzunehmenden<br />

Tabletten gegen ein Placebo ge -<br />

testet 7 . Nach zwei Jahren fand man eine<br />

Reduktion der Schubzahl von 54 % bei niedriger<br />

Dosierung (0,5 mg pro Tag) und von<br />

60 % in der höheren Dosierung (1,25 mg<br />

pro Tag). Die Zahl der entzündlichen Hirnläsionen<br />

sank ebenfalls, wie serielle MRT-Aufnahmen<br />

zeigten, und die Behinderungsprogression<br />

wurde signifikant verzögert.<br />

In einer weiteren 12-monatigen Studie<br />

(TRANSFORMS) senkte FTY720 in einer täglichen<br />

Dosis von 0,5 mg gegenüber dem intramuskulär<br />

gegebenen Interferon beta 1a<br />

(Avonex ® ) die Schubzahl um 52 % 1 . Auch<br />

die Zahl neuerer oder größerer MS-Herde im<br />

MRT sank (1,6 gegenüber 2,6) unter einer<br />

FTY720-Behandlung. Hinsichtlich der Krankheitsprogression<br />

zeigten sich keine signifikanten<br />

Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten.<br />

Unter FTY720 kam es in der Gruppe der PatientInnen<br />

mit höherer Dosierung zu teilweise<br />

schwerwiegenden Infektionen. Eine ausgeprägte<br />

Varizella-zoster- und eine nicht beherrschbare<br />

Herpes-simplex-Infektion führten<br />

zum Tod. In der Gruppe mit der niedrigeren<br />

Dosierung zeigten sich diese schwereren Nebenwirkungen<br />

nicht. Deshalb wird die höhere<br />

Dosierung von Fingolimod nicht zur Zulassung<br />

kommen. Weiterhin traten vor allem zu<br />

Beginn der Therapie eine vorübergehende<br />

Abnahme der Herzfrequenz und Blutdruckerhöhungen<br />

sowie Erhöhung der Leberenzyme<br />

auf, die aber keine Bedrohung für die<br />

PatientInnen darstellten (Abb. 2).<br />

Während die US-amerikanische Zulassungsbehörde<br />

FDA im September 2010 FTY720<br />

unter strengen Auflagen zugelassen hat,<br />

wurde die europäische Zulassung erst am<br />

21. 1. <strong>2011</strong> von der EMA unter Einschränkungen<br />

empfohlen. Die konkreten Bedingungen für<br />

den differenzierten Einsatz von FTY720 zur<br />

14


Behandlung der schubförmigen MS in Europa<br />

liegen seit Ende März <strong>2011</strong> als Fachinformationen<br />

vor.<br />

Cladribin (Movectro ® )<br />

Das Prodrug Cladribin (2-Chlorodeoxyade -<br />

nosin) wird intrazellulär zu 2-Chlorodeoxya -<br />

denosinphosphat (2-CdATP) phosphoryliert<br />

(Abb. 3). Dieser Schritt erfolgt durch die Desoxycytidin-Kinase<br />

(DCK), die in T- und B-Lymphozyten,<br />

aber kaum in anderen Zellpopulationen<br />

zu finden ist. Der entstandene Antimetabolit<br />

2-CdATP stört sowohl die Synthese<br />

und Reparatur als auch die Methylierung der<br />

DNA. Die Folge ist eine relativ selektive Lymphozytenapoptose<br />

mit einem Lymphozyten-<br />

Nadir 16 Wochen nach Therapiebeginn, ohne<br />

das angeborene Immunsystem (Granulozyten,<br />

Monozyten/Makrophagen) wesentlich zu<br />

beeinflussen 1 .<br />

Als Injektionslösung (Litak ® ) ist Cladribin zur<br />

Behandlung von Haarzell-Leukämie und Non-<br />

Hodgkin-Lymphomen seit über 13 Jahren zugelassen.<br />

Klinische Daten: Zur Überprüfung des Nutzens<br />

von oral appliziertem Cladribin bei der<br />

schubförmigen MS wurde die CLARITY-Studie<br />

durchgeführt 3 . In dieser Studie wurden zwei<br />

unterschiedliche Dosen von Cladribin gegen<br />

Placebo getestet. Im ersten Jahr erhielten die<br />

TeilnehmerInnen zwei (Gesamtdosis 3,5 mg/<br />

kg KG) oder vier Behandlungszyklen (Gesamtdosis<br />

5,25 mg/kg KG), im zweiten Jahr<br />

zwei Zyklen, d.h. die PatientInnen mussten<br />

nur an wenigen Tagen im Jahr überhaupt<br />

eine Tablette einnehmen.<br />

Nach zwei Jahren gab es eine relative Reduktion<br />

der Schubzahl von 57,6 % in der<br />

niedrigeren Dosierung und von 54,5 % in<br />

der höheren Dosierung gegenüber den PatientInnen<br />

mit der Placebobehandlung. Somit<br />

konnte eine Halbierung der Schubzahl erreicht<br />

werden. Dass sich die Progression der<br />

MS unter Cladribin verzögerte, zeigte sich<br />

sowohl klinisch als auch in den krankheitsassoziierten<br />

Parametern der zerebralen MRT.<br />

Aufgrund des noch nicht eindeutig geklärten<br />

Nebenwirkungsspektrums (lokale Herpeszos<br />

ter-Infektion, Reaktivierung einer Tuberku -<br />

lose, Neoplasien) unter Cladribin hat die EMA<br />

im Januar <strong>2011</strong> vorerst keine Zulassung für<br />

Cladribin zur Behandlung der schubförmigen<br />

MS erteilt. Im Gegensatz zu Europa wurde<br />

Cladribin-Tabletten zur Behandlung der<br />

schubförmigen MS in Russland (Juli 2010)<br />

und Australien (September 2010) zugelassen.<br />

In den USA wurde von der FDA die Entscheidung<br />

über die Zulassung von Cladribin bei<br />

schubförmiger MS Ende 2010 vom „fast track“<br />

in ein „normales“ Zulassungsverfahren überführt<br />

und im März <strong>2011</strong> negativ entschieden.<br />

Über die Langzeitresultate der weiterlaufenden<br />

CLARITY-Studie sowie der ORACLE-Studie<br />

(Cladribin bei sehr früher MS) werden<br />

Ende des Jahres <strong>2011</strong> neue Ergebnisse zur<br />

Beurteilung des Wirkung-Nebenwirkung-Risikoprofils<br />

dieses Medikamentes erwartet. In<br />

einer dritten, gegenwärtig laufenden Studie<br />

mit Cladribin (ONWARD-Studie) wird die Wirkung<br />

dieses Medikamentes gegen Interferon<br />

Beta 1a bei schubförmiger MS getestet. Die<br />

Ergebnisse der ONWARD-Studie werden voraussichtlich<br />

im ersten Halbjahr 2012 vorliegen.<br />

Unabhängig von diesen Studien führt die<br />

Firma Merck Serono eine PREMIERE-Studie<br />

durch, in welche über 8 Jahre Beobachtungen<br />

zur Sicherheit der PatientInnen aufgenommen<br />

werden, die an klinischen Studien mit<br />

Cladribin-Tabletten teilgenommen haben.<br />

Dimethylfumarat,<br />

Laquinimod, Teriflunomid<br />

Neben den beiden Medikamenten FTY720<br />

und Cladribin werden gegenwärtig in großen<br />

prospektiven Phase-III-Studien weitere „orale<br />

DMD“ wie Dimethylfumarat/BG00012 (DE -<br />

FINE- und CONFIRM-Studie), Laquinimod<br />

(ALLEGRO- und BRAVO-Studie) und Teriflunomid<br />

(TEMSO- und TERACLES-Studie) getestet.<br />

Erste Ergebnisse der Phase-III-Studie zum Teriflunomid,<br />

die auf dem europäischen MS-<br />

Kongress Ende 2010 in Göteborg präsentiert<br />

wurden, sind in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkungsspektrum<br />

Hoffnung erweckend.<br />

Sollten sich die Ergebnisse in der finalisierten<br />

Analyse bestätigen, könnte Teriflunomid die<br />

Basistherapie erweitern und gegebenenfalls<br />

sogar in Kombinationstherapie eingesetzt<br />

werden. Problematisch ist die lange Halbwertzeit<br />

dieses DMD, insbesondere bei Kinderwunsch.<br />

Weitere relevante Langzeitergebnisse<br />

werden aber frühestens in der zweiten<br />

Jahreshälfte erwartet.<br />

Erste Ergebnisse aus den Phase-III-Studien zu<br />

Laquinimod und Dimethylfumarat werden im<br />

Laufe dieses Jahres erwartet.<br />

n<br />

1 Aktas O, Ingwersen J, Kieseier B et al., Oral fingolimod<br />

in multiple sclerosis: therapeutic modulation of the<br />

sphingosine-1-phosphate system. Nervenarzt <strong>2011</strong>;<br />

82:215–25<br />

2 Cohen JA, Barkhof F, Comi G et al., Oral fingolimod or<br />

intramuscular interferon for relapsing multiple sclerosis.<br />

N Engl J Med 2010; 362:402–15<br />

3 Giovannoni G, Comi G, Cook S et al., A placebocontrolled<br />

trial of oral cladribine for relapsing multiple<br />

sclerosis. N Engl J Med 2010; 362:416–426<br />

4 Handel AE, Giovannoni G, Ebers GC et al., Environmental<br />

factors and their timing in adult-onset multiple<br />

sclerosis. Nat Rev Neurol 2010; 6:156–66<br />

5 Henze T, Nittenau H, Multiple Sclerosis Therapy<br />

Consensus Group (MSTCG) et al., Symptomatische<br />

Therapie der Multiplen Sklerose. Nervenarzt 2004;<br />

75:S2–S39<br />

6 Hillert J, The genetics of multiple sclerosis. Results<br />

Probl Cell Differ 2010; 51:1–19<br />

7 Kappos L, Radue EW, OConnor P et al., A placebocontrolled<br />

trial of oral fingolimod in relapsing multiple<br />

sclerosis. N Engl J Med 2010; 362:387–401<br />

8 Leray E, Yaouanq J, Le Page E et al., Evidence for a<br />

two-stage disability progression in multiple sclerosis.<br />

Brain 2010; 133:1900–13<br />

9 Mix E, Meyer-Rienecker H, Hartung HP, Zettl UK,<br />

Animal models of multiple sclerosis – Potentials and<br />

limitations. Progress in Neurobiology 2010;<br />

92:386–404<br />

10 Ramagopalan SV, Dobson R, Meier UC et al. (2010),<br />

Multiple sclerosis: risk factors, prodromes, and poten -<br />

tial causal pathways. Lancet Neurol 2010; 7:727–39<br />

11 Schmidt S, Oral cladribine for relapsing-remitting<br />

multiple sclerosis: another purine analogue or a<br />

genuine therapeutic innovation? Nervenarzt 2010;<br />

81:1231–41<br />

12 WHO. Adherence to Long-term Therapies: Evidence for<br />

Action. World Health Organisation 2003<br />

13 Wiendl H, Toyka KV, Multiple Sclerosis Therapy Consensus<br />

Group (MSTCG) et al. (2008), Basic and escalating<br />

immunomodulatory treatments in multiple sclerosis:<br />

Current therapeutic recommendations. J Neurol 2008;<br />

255:1449–1463<br />

14 Zettl UK, Orale innovative Therapien zur Behandlung<br />

der schubförmigen MS. WMW-Skriptum <strong>2011</strong>;<br />

2:26–28<br />

15


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Komplikationen neuer MS-Therapien:<br />

Infektionsprophylaxe und Infektionen<br />

Univ.-Prof. Dr. Jörg Weber, Vorstand der Neurologischen Abteilung, Klinikum Klagenfurt, und Univ.-Prof. Dr.<br />

Heinz Burgmann, Internist und Spezialist für Infektionskrankheiten, Universitätsklinik für Innere Medizin I, Wien,<br />

gaben einen systematischen Überblick über neue Immuntherapeutika wie den VLA-4-Antagonisten (Very Late<br />

Antigen-4) Natalizumab und Fingolimod, therapieassoziierte Infektionskrankheiten und Komplikationen sowie<br />

über spezielle Impfprophylaxe unter Immunsuppression.<br />

Infektion als Komplikation<br />

neuer MS-Therapien: Risiko<br />

und Therapiemöglichkeiten<br />

Natalizumab (Tysabri ® )<br />

Durch die Entwicklung monoklonaler Antikörper<br />

war erstmals ein „hochspezifischer<br />

Eingriff in das Immunsystem“ möglich. Die<br />

Therapie ist erstmals hoch effizient. Natalizumab,<br />

ein gegen das VLA-4-Adhäsionsmolekül<br />

(Very Late Antigen 4) gerichteter monoklonaler<br />

Antikörper, hemmt aktivierte Immunzellen,<br />

die VLA-4 an ihrer Oberfläche<br />

hochregulieren, am Übertritt über die Blut-<br />

Hirn-Schranke in das Gewebe des Gehirns<br />

und Rückenmarks. Die aktivierten Entzündungszellen<br />

verbleiben im Blut und werden<br />

durch Apoptose eliminiert.<br />

Mit Natalizumab behandelte Multiple-Sklerose-PatientInnen<br />

zeigen eine deutliche Reduktion<br />

der Schubrate, Krankheits- und MRT-Aktivität.<br />

1 Trotz der ausgezeichneten Wirksamkeit<br />

bei der schubförmig remittierenden MS<br />

muss die Behandlung mit Natalizumab aufgrund<br />

potenziell lebensbedrohlicher Nebenwirkungen<br />

auf MS-PatientInnen mit einer<br />

hohen Krankheitsaktivität beschränkt bleiben.<br />

Die Indikation muss streng gestellt und<br />

der Nutzen gegen das Risiko sorgfältig abgewogen<br />

werden. 2, 3<br />

Mit einem Risiko von 1 : 1000 erkranken<br />

auch immunkompetente mit Natalizumab<br />

behandelte MS-PatientInnen an einer progressiven<br />

multifokalen Leukenzephalopathie<br />

(PML). Die PML verläuft oft tödlich oder geht<br />

mit schweren Behinderungen einher. 4 Warum<br />

ein MS-Patient an einer PML erkrankt und<br />

ein anderer MS-Patient nicht, ist unklar und<br />

Gegenstand intensiver Forschung. 5–10<br />

Die Durchseuchung mit dem JC-Virus Ø , dem<br />

Erreger der PML, ist hoch. Die Serumprävalenz<br />

von Antikörpern gegen das JC-Virus soll<br />

30 % bis 80 % betragen. 7, 8 Die Streuung<br />

ist durch die Qualität der verschiedenen Testsysteme<br />

(Cut-off, Positiv- und Negativkontrollen<br />

etc.) erklärbar. Ein hoch sensitiver und<br />

spezifischer und validierter JC-Virus-Antikörper-Test<br />

ist erst seit kurzem verfügbar 13 :<br />

(www.unilabs.com).<br />

In der Regel schützt Immunkompetenz vor<br />

Ausbruch einer PML und vor opportunistischen<br />

Infektionskrankheiten. Im Gegensatz<br />

dazu können Immunkompromittierte und Immungeschwächte<br />

wie HIV-Erkrankte, Immunsupprimierte<br />

(Organtransplantation, Chemotherapie),<br />

Lymphom- und Leukämieerkrankte<br />

an einer PML erkranken. Mehr als 80 % aller<br />

an einer PML Erkrankten sind HIV-Infizierte<br />

(Tab. 1). 11 Warum die hoch spezifische und<br />

selektive Therapie mit den zwei völlig unterschiedlichen<br />

monoklonalen Antikörpern Natalizumab<br />

(VLA-4 Antagonist, auf nahezu<br />

allen aktivierten Immunzellen) und Rituximab<br />

(Antikörper gegen das CD20 Molekül auf B-<br />

Lymphozyten) zu einer PML führen können,<br />

ist unbekannt (Tab. 1). 11<br />

Klinische Vigilanz: Ferner ist unklar, ob die<br />

PML durch eine Neuinfektion oder durch Reaktivierung<br />

des JC-Virus ausbricht. 4, 6, 12 Besonders<br />

hervorgehoben werden muss, dass<br />

die JC-Virus-Last bei an PML erkrankten MS-<br />

PatientInnen im Vergleich zu HIV-PatientInnen<br />

deutlich geringer (oft weit unter 500 copies/ml)<br />

ist. Die ultrasensitiven quantitati -<br />

ven Real-Time-PCR können weitaus weniger<br />

(~50 copies/ml JC-Virus-DNA) detektieren.<br />

Die Sensitivität liegt bei ca. 85 %, die Spezi -<br />

Priv.-Doz. Dr.<br />

Fahmy Aboul-Enein<br />

Neurologische Abteilung<br />

des SMZ Ost,<br />

Donauspital Wien<br />

fität bei 90 %. Das NIH bietet eine optimierte<br />

quantitative PCR an, die ~20 copies/ml detektiert.<br />

Welche Rolle die JC-Virus-Antikörper (Titer)<br />

spielen, die mit dem neuen hoch sensitiven<br />

und spezifischen und validierten JC-Virus-Antikörper<br />

(Titer) bestimmt werden können 13 ,<br />

kann derzeit noch nicht abgeschätzt werden.<br />

Möglicherweise haben PatientInnen mit<br />

einen JC-Virus-Antikörpertiter ein erhöhtes<br />

Risiko, nach 2-jähriger Therapie mit Natalizumab<br />

an PML zu erkranken. Dies muss jedoch<br />

noch bestätigt werden.<br />

Nichtsdestotrotz ist „die klinische Vigilanz das<br />

wichtigste Instrument“ für ein frühes Erkennen<br />

der PML. Die rasche Wiederherstellung<br />

der Immunkompetenz ist für die Prognose<br />

der PML wesentlich 4, 14 :<br />

1. keine weitere Verabreichung mit<br />

Natalizumab ‡ ,<br />

2. Plasmapherese (PLEX, Plasma Exchange;<br />

Austausch von 30–60 ml Plasma/kg KG)<br />

bzw. Immunadsorption, um das restliche,<br />

noch zirkulierende Natalizumab aus dem<br />

Organismus zu entfernen,<br />

3. Magnetresonanztomographie: Nachweis<br />

großer konfluierender Läsionen ohne<br />

Kontrastmittelaufnahme (cave: unter<br />

Natalizumab teilweise auch mit<br />

18


Kontrastmittelaufnahme[!]),<br />

4. Nachweis des JC-Virus im Liquor<br />

cerebrospinalis (quantitative ultrasensitive<br />

RT-PCR; < 50 copies/ml),<br />

5. (eventuell) Hirnbiopsie, um das JC-Virus<br />

im Gewebe nachweisen zu können,<br />

6. (eventuell) intravenös hoch dosiertes<br />

Steroid (z. B. 1 g Methylprednisolon i.v.<br />

1-mal/Tag über 5 Tage), bei Hinweisen<br />

auf ein Immunrekonstitutionssyndrom<br />

(IRIS, Immune Reconstitution<br />

Inflammatory Syndrome). 14 Als IRIS wird<br />

eine überschießende Reaktion des<br />

Immunsystems bezeichnet, wenn die<br />

Immunzellen durch „Absetzen und<br />

Auswaschen von Natalizumab“ wieder<br />

durch die Blut-Hirn-Schranke treten<br />

können und JC-Virus-infizierte Zellen<br />

angreifen können. Die überschießende<br />

Immunantwort IRIS scheint neben der<br />

Virus-Clearance auch zu einem<br />

ausgeprägten Kollateralschaden des<br />

ZNS-Gewebes zu führen.<br />

Tab. 1: Häufigkeit der PML<br />

Ob der Nachweis von JC-Virus-Antikörpern<br />

im Serum von PatientInnen klinischen Wert<br />

hat und wenn ja welchen, ist Gegenstand<br />

intensiver Forschung. Insbesondere muss derzeit<br />

vor jeder Interpretation eines positiven<br />

oder negativen JC-Virus-Antikörper-Status<br />

gewarnt werden.<br />

Es gibt Hinweise, dass Mefloquin und Mirtazapin,<br />

die JC-Virus-DNA-Replikation hemmen<br />

können, nichtsdestotrotz sind Therapieversuche<br />

mit Mefloquin und Mirtazapin experimentell.<br />

14–16<br />

Fingolimod (Gilenya ® )<br />

Fingolimod, ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator<br />

(S1PR-Modulator), ist ein<br />

neues Immunsuppressivum mit einem gänzlich<br />

neuen Wirkmechanismus: Immunzellen<br />

wie Lymphozyten werden nicht wie bei vielen<br />

etablierten Chemotherapeutika an der Zellteilung<br />

gehemmt oder in den Zelltod gedrängt,<br />

sondern in den lymphatischen Organen<br />

sequestriert, d. h. „eingesperrt“. Hierdurch<br />

sollen autoreaktive T-Zellen bereits an<br />

ihrer Auswanderung aus den lymphatischen<br />

Organen gehemmt werden, gar nicht erst ins<br />

Blut und vom Blut über die Blut-Hirn-Schranke<br />

ins ZNS gelangen.<br />

Fingolimod führt wie andere Immunsuppressiva<br />

zu einer Leukopenie bzw. Lymphozytopenie.<br />

Ob und wenn ja, in welchem Ausmaß<br />

hierdurch auch die „anderen“ – nicht autoreaktiven<br />

Immunzellen – betroffen sind und<br />

welche Auswirkungen die Sequestrierung für<br />

den gesamten Organismus hat, ist derzeit<br />

noch unklar. Im Langzeitverlauf müssen etwaige<br />

Effekte auf die Immunabwehr von Infektionen<br />

und Tumoren genau untersucht<br />

und bewertet werden.<br />

In einer vor kurzem im New England Journal<br />

Inzidenz der PML 0,5 pro 100.000 Einwohner und Jahr, wobei mehr als 80 %<br />

aller PML-Erkrankungen bei HIV-PatientInnen auftreten.<br />

HIV-Patienten<br />

3–8 % aller HIV-PatientInnen erkranken an einer PML<br />

Malignome<br />

0,07–0,01 % mit Malignomen des hämatopoetischen<br />

Gewebes erkranken an einer PML<br />

Natalizumab (Tysabri ® ) 1 : 1000 beträgt das Risiko für MS-PatientInnen, unter einer<br />

Natalizumab-Therapie an einer PML zu erkranken.<br />

Rituximab (MabThera ® ) 1 : 4000 beträgt das Risiko für SLE-PatientInnen, unter einer<br />

Rituximab-Therapie an einer PML zu erkranken. 11<br />

Im Vergleich zur PML, einer seltenen Infektion durch das JC-Virus, seien folgende Inzidenzen<br />

aufgeführt.<br />

Herpes-Virus-Enzephalitis 1 pro 100.000 EinwohnerInnen und Jahr<br />

Bakterielle Meningitis 6–10 pro 100.000 EinwohnerInnen und Jahr<br />

of Medicine veröffentlichten großen und viel<br />

beachteten randomisierten Doppelblind-Studie<br />

wurden ursprünglich 1292 PatientInnen<br />

mit primär schubhafter MS eingeschlossen<br />

und in 3 Therapiearme (420 PatientInnen<br />

1,25 mg Fingolimod; 429 PatientInnen 0,5<br />

mg Fingolimod und 433 PatientInnen Interferon<br />

beta 1a i.m.) randomisiert. Die Studie<br />

dauerte 12 Monate. 17<br />

Die beiden Fingolimod-Gruppen zeigten eine<br />

Reduktion der jährlichen Schubrate (annualised<br />

relapse rate = primärer Studienendpunkt),<br />

aber auch schwerwiegende Komp -<br />

likationen wie Tumoren, ZNS-Infektionen,<br />

Makulaödem und Herzrhythmusstörungen.<br />

Insgesamt verstarben jedoch 4 StudienpatientInnen,<br />

die mit Fingolimod 1,25 mg behandelt<br />

wurden (Tab. 2). Interessanterweise war<br />

die Abbruchrate, wegen unzureichenden therapeutischen<br />

Effekts in allen Therapiearmen<br />

ähnlich (5/ 5/ 7 = Fingolimod 1,25/Fingolimod<br />

0,5/ Interferon beta 1a). 17<br />

In der mit 1,25 mg Fingolimod behandelten<br />

Gruppe waren eine tödliche Herpes-simplex-<br />

Virus-Enzephalitis aufgetreten sowie eine generalisierte<br />

Varizella-zoster-Infektion. Bei PatientInnen<br />

mit fehlenden Antikörpertitern<br />

gegen Varizella zoster sollten Behandlungsalternativen<br />

geprüft werden bzw. eine entsprechende<br />

Impfung überlegt werden.<br />

Fazit: Viele der neuen Substanzen mit sehr<br />

selektiven Wirkmechanismen und hohem<br />

Wirkungsgrad erlauben „einen selektiven<br />

Eingriff in das menschliche Immunsystem“<br />

und können teilweise auch schwerwiegende<br />

Komplikationen mit sich bringen. Der Nutzen<br />

muss stets gegen das Risiko sehr vorsichtig<br />

und sorgfältig abgewogen werden und MS-<br />

PatientInnen müssen ausführlich über alle Risiken<br />

aufgeklärt werden. Die klinische Vigilanz<br />

und eine strenge Indikationsstellung und<br />

auch ausführliche Aufklärung der PatientInnen<br />

sind für den Gebrauch mit allen neuen<br />

(Immun-)Therapeutika Grundvoraussetzung.<br />

Die klinische Erfahrung und Datenlage sind<br />

zur Zeit rar und nur auf wenige Publikationen<br />

mit insgesamt wenigen Fällen und auf nur<br />

kurze Beobachtungszeiten beschränkt. u<br />

19


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Impfen und Infektionsprophylaxe<br />

bei modernen MS-Therapien<br />

Impfungen sollen und können bestimmte Infektionskrankheiten<br />

verhindern bzw. deren<br />

Verläufe mildern. Die Frage, ob Impfungen<br />

per se bei MS-PatientInnen Schübe auslösen<br />

können, kann derzeit durch die Literatur nicht<br />

eindeutig beantwortet werden, weder eindeutig<br />

„für“ noch eindeutig „wider“. MS ist<br />

eine Erkrankung unbekannter Ursache . MS-<br />

PatientInnen gelten per se weder als immunsupprimiert<br />

noch ist generell bei MS-PatientInnen<br />

ein angeborener oder ein erworbener<br />

Immundefekt bekannt.<br />

Die Impfthematik ist vor allem bei Lebendimpfstoffen<br />

(v. a. Mumps-Masern-Röteln,<br />

MMR), bei Immunsuppression, Chemotherapie<br />

und auch den neuen Immuntherapeutika<br />

sorgfältig für jeden einzelnen Fall, unter Bedachtnahme<br />

auf die Gesamtsituation, einige<br />

theoretische Überlegungen und auf die<br />

Warnhinweise und Kontraindikationen der jeweiligen<br />

Impfstoffe (und Therapeutika) zu<br />

prüfen.<br />

Wesentlich ist, zu entscheiden, ob zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt überhaupt geimpft<br />

werden muss oder nicht, oder ob die Impfung<br />

zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführt<br />

werden muss bzw. soll. Weiterführende Informationen<br />

und die Kontaktadressen weiterer<br />

Ansprechpartner sind bei der Österreichischen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für Infektionskrankheiten<br />

(http://www.oeginfekt.at) erhältlich. Ferner<br />

wurde im April 2010 ein Konsensusartikel in<br />

der Österreichischen Ärztezeitung (kosten-<br />

loser Download: http://www.oeginfekt.at/<br />

publikationen.htm) veröffentlicht. 18<br />

Tab. 2: TRANSFORMS-Studie 16 , Vergleich von Fingolimod versus<br />

niedrigdosiertes Interferon 1beta a i.m.<br />

Fingolimod Fingolimod Interferon<br />

1,25 mg 0,5 mg 1beta a i.m.<br />

Einschluss von PatientInnen 420 429 431<br />

Anzahl, der Pat., welche die Studie 358 385 380<br />

nach 12 Monaten mit Studienmedikation<br />

beendeten.<br />

Jährliche Schubrate 0,2 0,16 0,33<br />

(0,16–0.26) (0,12–0,21) (0,26–0,42)<br />

Nebenwirkungen/Komplikationen:<br />

1a. Herpesvirus-Infektionen 23 9 12<br />

(leicht bis moderat)<br />

1b. Herpesvirus-Infektionen (schwer) 3 (2 tödlich † ) 1 1<br />

2. Bradykardie 4 3 –<br />

(nach 24 h spontan reversibel)<br />

3a AV-Block II° 3 1 –<br />

3b AV-Block I° 2 1 –<br />

4. Makulaödem 4 2 –<br />

5. Leberfunktionsparameter (AAT) 29 36 10<br />

Erhöhung<br />

6. Melanome – 3 –<br />

7. Basaliome 2 3 1<br />

8. Plattenepithelkarzinom der Haut – – 1<br />

9. Mammakarzinome 2 2 –<br />

10. Todesfälle 2 bzw. 4 † – –<br />

† 1. Pat.: primär generalisierte Varizella-Zoster-Infektion (317 Tage nach Studienbeginn, Tod 3 Tage später); 2. Pat.:<br />

Herpes-Virus-Enzephalitis (339 Tage nach Studienbeginn, Tod ca. 2 Monate später); 3. Pat.: Neurologische Verschlech -<br />

terung von letztendlich unklarer Ursache, die zu Aspirationspneumonie und Tod führte. (Absetzen von Fingolimod<br />

11 Monate später, Tod 6 Monate nach Absetzen von Fingolimod). Eine PML konnte jedenfalls nicht nachgewiesen<br />

werden. Bei Baseline betrug der EDSS nach nur 3 Jahren Krankheitsdauer bereits 5.0; 4. Pat.: metastasierendes<br />

Mamma karzinom (Tod 6 Monate nach Absetzen von Fingolimod).<br />

(Ganzkeimimpfstoffe, Spaltimpfstoffe, Subuni t -<br />

impfstoffe und Toxoidimpfstoffe) eingeteilt.<br />

Sehr vereinfacht dargestellt, werden die Impfantigene<br />

in der Regel von Antigen präsentierenden<br />

Zellen (APC, antigen presenting<br />

cells) präsentiert und lösen durch Stimulation<br />

und Interaktion von CD4 + -Helfer-T-Lymphozyten<br />

und B-Lymphozyten eine klonale Vermehrung<br />

von spezifischen Antigen produ -<br />

Applikation bestimmter Antigene: Grundsätzlich<br />

können Impfungen vor diversen Infektionskrankheiten<br />

schützen bzw. deren Ver-<br />

schen CD8 + -T-Lympho zyten-Klonen als auch<br />

zierenden Plasmazellen und/oder spezifi -<br />

lauf mildern. Grundprinzip des Impfens ist (vor allem bei Lebendimpfstoffen) von B- und<br />

die Applikation bestimmter Antigene (von T-Gedächtniszellen aus.<br />

einzelnen Antigenen bis zu ganzen, attenuierten<br />

oder abgetötenen Impfviren), die eine Die Impfantwort ist je nach verwendetem<br />

Immunantwort auslösen. Impfstoffe werden Impfstoff, nach individuellem immunologischen<br />

Background und nach dem zum in 1. Lebendimpfstoffe * und 2. Totimpfstoffe + Zeitpunkt<br />

der Impfung vorliegenden Immunstatus<br />

unterschiedlich. Derzeit wird die Impfantwort<br />

(Impferfolg) gemeinhin durch das Messen<br />

des Impftiters (Ausnahme: Pertussis-Impfung)<br />

bzw. durch den Titeranstieg – vor allem<br />

bei Auffrischungsimpfungen – gemessen. Der<br />

Impftiter bzw. der Titeranstieg zeigen jedoch<br />

nur indirekt eine erfolgreiche Impfantwort an<br />

und lassen nur indirekt auf eine erfolgreiche<br />

Stimulation von B-Lymphozyten (und durch<br />

entsprechende Interaktion von T-Lymphozyten)<br />

schließen. Zu beachten ist, dass der Impfschutz<br />

nicht durch den Impftiter oder den<br />

Titeranstieg vorausgesagt werden kann. Es<br />

sollte der Umkehrschluss gelten, dass bei fehlendem<br />

Impftiter oder fehlendem Titeranstieg<br />

von keiner ausreichenden Immunantwort<br />

20


ausgegangen werden muss. Dies umso mehr,<br />

je komplexer die Gesamtkonstellationen ist:<br />

z. B. bei einem älteren MS-Patienten, der in<br />

der Vergangenheit verschiedene Chemotherapeutika<br />

erhalten hat, unter rezidivierenden<br />

Herpes-zoster-Infektionen leidet und eine Leberinsuffizienz<br />

hat oder unterernährt ist.<br />

Der Impferfolg bzw. die Immunantwort (von<br />

Applikation des Impfantigens über Präsentation<br />

von APC, Stimulation von T- und B-Zellen<br />

bis hin zur Bildung von antigenspezifischen<br />

Antikörpern, antigenspezifischen T-Zellen<br />

und/oder Gedächtniszellen) kann durch vielerlei<br />

Faktoren beeinträchtigt sein:<br />

1. angeborene Immundefekte und<br />

2. erworbene Immundefekte, wobei der<br />

humorale (B-Zellen und Antikörper), der<br />

zelluläre (T-Zellen) sowie eine Kombi -<br />

nation beider Immunschenkel betroffen<br />

sein.<br />

Bei MS-PatientInnen kommen vor allem die<br />

erworbenen Immundefekte, durch chro -<br />

nische Infektionen (Herpesvirusinfektionen,<br />

Hepatitis C, HIV), systemische Erkrankungen<br />

(maligne Erkrankungen, Diabetes mellitus,<br />

Leber- und Niereninsuffizienz, Autoimmunerkrankungen<br />

wie rheumatoide Arthritis und<br />

systemischer Lupus erythematodes), Unterernährung<br />

und vor allem durch Medikamente<br />

bedingte Immundefekte zum Tragen.<br />

„Alte“ Immun(suppressive)-Therapien (Glukokortikoide;<br />

Chemotherapeutika wie z. B.<br />

Cyclophosphamid, Mitoxantron; Calcineurin-<br />

Inhibitoren wie z. B. Cyclosporin) und „neue“<br />

Immun(suppressive)-Therapien (z. B. Rituximab,<br />

Natalizumab, Fingolimod, Cladribin),<br />

die zum Teil „einen selektiven Eingriff ins Immunsystem<br />

erlauben“ können einerseits zu<br />

Infektionskrankheiten und besonders schweren<br />

Verläufen prädisponieren bzw. die Immunantwort<br />

beeinträchtigen. Dies umso<br />

mehr, als bestehende „okkulte“, bislang nicht<br />

detektierte angeborenen oder erworbenen<br />

Immundefekte durch die medikamentöse<br />

Therapie noch zusätzlich verstärkt werden<br />

könnten. Das Altwerden selbst führt zu reduzierter<br />

Antigenpräsentation, reduzierter B-<br />

Zellen-Stimulierbarkeit und einer reduzierten<br />

Antikörperproduktion.<br />

Fazit: Bei MS-PatientInnen gilt die Verwendung<br />

von Totimpfstoffen im Allgemeinen als<br />

sicher. Ob Lebendimpfstoffe (z. B. MMR,<br />

Gelbfieber) oder gar Totimpfstoffe MS-Schübe<br />

auslösen können bzw. gar zur Erstmanifestation<br />

einer MS führen können, ist nach<br />

wie vor umstritten. 19 Ein genaues Zeitschema<br />

bei notwendigen Impfungen (inklusive Auffrischungsimpfungen)<br />

muss bereits vor einer<br />

beabsichtigten Immuntherapie sorgfältig geplant<br />

werden, zumal der Impferfolg herabgesetzt<br />

sein kann und viele Impfstoffe (v. a.<br />

virale Lebendimpfstoffe) bei verschiedensten<br />

Immuntherapien nicht empfohlen sind bzw.<br />

sogar kontraindiziert sind. 18 Die Impfantwort<br />

bzw. der Impferfolg können am Impftiter/-<br />

anstieg interpretiert werden, sind jedoch kein<br />

Garant für einen ausreichenden Impfschutz.<br />

Im Zweifelfall sollten für MS-PatientInnen<br />

unter selektiver und breiter Immunsuppression<br />

und anderen neuen Immuntherapien die<br />

Impfempfehlungen für „PatientInnen unter<br />

schwerer Immunsuppression und für onkologische<br />

PatientInnen“ Anwendung finden. 18<br />

Interessenkonflikt: keiner<br />

Danksagung: Der Autor dankt Univ.-Prof.<br />

Dr. Jörg Weber und Univ.-Prof. Dr. Heinz<br />

Burgmann für die kritische Durchsicht des<br />

Kongressbeitrags.<br />

n<br />

1 Polman CH, O’Connor PW, Havrdova E et al., AFFIRM<br />

Investigators. A randomized, placebo-controlled trial of<br />

natalizumab for relapsing multiple sclerosis. N Engl J<br />

Med. 2006; 354:899–910. free download<br />

2 Bielekova B, Becker BL, Monoclonal antibodies in MS:<br />

mechanisms of action. Neurology. 2010; 74: S31–S40.<br />

3 Aboul-Enein F, Monoklonale Antikörper in der Therapie<br />

der Multiplen Sklerose. Journal für <strong>Neurologie</strong>, Neurochirurgie<br />

und Psychiatrie. 2010; 11:24–29. www.kup.at<br />

free download<br />

4 Clifford DB, De Luca A, Simpson DM et al., Natalizumab-associated<br />

progressive multifocal leukoencephalopathy<br />

in patients with multiple sclerosis: lessons from<br />

28 cases. Lancet Neurol. 2010; 9:438–446<br />

5 Sabath BF, Major EO, Traffic of JC virus from sites of<br />

initial infection to the brain: the path to progressive<br />

multifocal leukoencephalopathy. J Infect Dis. 2002;<br />

186:S180–S186, free download<br />

6 Major EO, Progressive multifocal leukoencephalopathy<br />

in patients on immunomodulatory therapies. Annu Rev<br />

Med. 2010; 61:35–47<br />

7 Padgett BL, Walker DL, Zu Rhein GM et al., Cultivation<br />

of papova-like virus from human brain with progressive<br />

multifocal leucoencephalopathy. Lancet. 1971;<br />

1:1257–1260<br />

8 Knowles WA, Pipkin P, Andrews N et al., Population<br />

based study of antibody to the human polyomaviruses<br />

BKV and JCV and the simian polyomavirus SV40. J Med<br />

Virol. 2003; 71:115–123<br />

9 Major EO, Amemiya K, Tornatore CS, et al. Pathogenesis<br />

and molecular biology of progressive multifocal leukoencephalopathy,<br />

the JC virus-induced demyelinating<br />

disease of the human brain. Clin Microbiol Rev. 1992;<br />

5:49–73. free download<br />

10 Rudick RA, O’Connor PW, Polman CH et al., Assessment<br />

of JC virus DNA in blood and urine from natalizumab-treated<br />

patients. Ann Neurol. 2010; 68:304–310<br />

11 Carson KR, Focosi D, Major EO et al., Monoclonal antibody-associated<br />

progressive multifocal leucoencephalopathy<br />

in patients treated with rituximab, natalizumab,<br />

and efalizumab: a Review from the Research on Adverse<br />

Drug Events and Reports (RADAR) Project. Lancet<br />

Oncol. 2009; 10:816–824.<br />

12 Chen Y, Bord E, Tompkins T et al., Asymptomatic<br />

reactivation of JC virus in patients treated with<br />

natalizumab. N Engl J Med. 2009; 361:1067–1074.<br />

free download<br />

13 Gorelik L, Lerner M, Bixler S et al., Anti-JC virus anti -<br />

bodies: implications for PML risk stratification. Ann<br />

Neurol. 2010; 68:295–303<br />

14 Wenning W, Haghikia A, Laubenberger J et al., Treatment<br />

of progressive multifocal leukoencephalopathy<br />

associated with natalizumab. N Engl J Med. 2009;<br />

361:1075–1080. free download<br />

15 Brickelmaier M, Lugovskoy A, Kartikeyan R et al.,<br />

Identification and characterization of mefloquine<br />

efficacy against JC virus in vitro. Antimicrob Agents<br />

Chemother. 2009; 53:1840–1849. free download<br />

16 Focosi D, Kast RE, Maggi F, et al. 5-HT2a inhibitors for<br />

progressive multifocal leukoencephalopathy: old drugs<br />

for an old disease. J Infect Dis. 2008; 197:328<br />

free download<br />

17 Cohen JA, Barkhof F, Comi G et al.; TRANSFORMS<br />

Study Group. Oral fingolimod or intramuscular inter -<br />

feron for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med.<br />

2010; 362:402–415. free download<br />

18 Burgmann H, Wenisch C, Haditsch M et al., unter<br />

Patronanz der Österreichischen <strong>Gesellschaft</strong> für Infek -<br />

tionskrankheiten. Experten Statement: Impfungen bei<br />

Immunschwäche und Immunsuppression. Österreichische<br />

Ärztezeitung. April 2010; <strong>Supplementum</strong>: S1-S12.<br />

free download http://www.oeginfekt.at/<br />

publikationen.htm<br />

19 Confavreux C, Suissa S, Saddier P et al., Vaccines in<br />

Multiple Sclerosis Study Group. Vaccinations and the<br />

risk of relapse in multiple sclerosis. Vaccines in Multiple<br />

Sclerosis Study Group. N Engl J Med. 2001;<br />

344:319–326. free download<br />

Fußnoten:<br />

Ø JC-Virus: das JC-Virus ist nach den Initialen des Patienten<br />

benannt, aus dessen Gehirn erstmals das kleine Polyoma-Virus<br />

isoliert und bestimmt werden konnte. 6<br />

‡ bei Rituximab (MabThera ® ) dauert die Wirkung typischerweise<br />

viel länger an. Bis die durch den Anti-CD20-<br />

Antikörper zerstörten B-Zellen wieder nachgebildet werden,<br />

vergehen mitunter 6 bis 9 Monate.<br />

per Definition ist die multiple Sklerose (MS) eine Erkrankung<br />

unbekannter Ursache. Eine Hypothese ist, dass die<br />

MS eine chronische entzündliche Autoimmunerkrankung<br />

des ZNS ist, die schubhaft und/oder progredient<br />

ver laufen kann. Die Entzündung soll zu charakteristischer<br />

Demyelinisierung und axonalen Schaden führen.<br />

Diese „Autoimmunität“-Hypothese findet weitläufig<br />

Akzeptanz und scheint durch zahlreiche Therapieansätze<br />

(Immunmodulation, Immunsuppression) bestätigt.<br />

+ Lebendimpfstoffe: Mumps, Masern, Röteln, Varizellen,<br />

Herpes zoster, Gelbfieber.<br />

* Totimpfstoffe: Polio (parenteral), Hepatitis A, Hepatitis B,<br />

FSME, Diphtherie, Pertussis, Tetanus, Influenza,<br />

Haemophilus Influenza Typ b, Cholera, Typhus,<br />

Japan-B-Enzephalitis, Meningokokken<br />

21


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Aktuelles und Neues<br />

zur Schlaganfalltherapie<br />

Verschiedene aktuelle Entwicklungen in der Schlaganfalltherapie standen im Mittelpunkt dieser Session bei der<br />

ÖGN-Jahrestagung. Prim Univ.-Prof. Dr. Wilfried Lang, Wien, befasste sich mit dem Problem Multimorbidität von<br />

Schlaganfall-PatientInnen; Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen, gab einen Überblick zur Sekundärprophylaxe<br />

des ischämischen Insults, und PD Dr. Hagen B. Huttner, Erlangen, behandelte die invasive Schlaganfalltherapie.<br />

Schlaganfall bei multimorbiden<br />

PatientInnen: Doppel- und<br />

Tripletherapie<br />

Multimorbidität stellt bei vielen PatientInnen<br />

mit Schlaganfall ein großes Problem dar. So<br />

braucht eine große Zahl von PatientInnen<br />

eine Polytherapie, wobei eine Reihe pharmakologischer<br />

Interaktionen berücksichtigt werden<br />

müssen. Zuletzt wurde in diesem Zusammenhang<br />

eine Interaktion zwischen Clopidogrel<br />

und Protonenpumpenhemmern (PPI),<br />

insbesondere Omeprazol, diskutiert. Sowohl<br />

Clopidogrel als auch die meisten PPI werden<br />

CYP2C19-abhängig metabolisiert (insbesondere<br />

Omeprazol und Esomeprazol). Bisher<br />

existieren zu dieser wichtigen Frage noch<br />

keine ausreichenden prospektiven klinischen<br />

Daten, inwiefern diese Interaktion mit einem<br />

erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergeht,<br />

allerdings wurden von der FDA und der EMA<br />

Warnungen für den gleichzeitigen Gebrauch<br />

von Clopidogrel und Omeprazol veröffentlicht.<br />

Dem gastroenterologischen Blutungsrisiko<br />

wird nun – auch aufgrund von weiteren<br />

Medikamenteninteraktionen – insgesamt<br />

größere Beachtung geschenkt werden müssen:<br />

Eine rezente Publikation zeigte ein bei<br />

gleichzeitiger Einnahme von SSRI und ASS<br />

um 5 % und im Fall einer gleichzeitigen Einnahme<br />

von SSRI, ASS und NSAR sogar um<br />

12 % erhöhtes GI-Blutungsrisiko. Aktuelle<br />

Richtlinien empfehlen bei PatientInnen > 70<br />

Jahre bei Erstverschreibung von ASS eine zusätzliche<br />

Verschreibung eines PPI, bei > 75-<br />

Jährigen auch bei Weiterverschreibung von<br />

ASS. Die deutsche <strong>Gesellschaft</strong> für Gastroenterologie<br />

veröffentlichte 2010 gemeinsam<br />

mit der deutschen <strong>Gesellschaft</strong> für Kardiologie<br />

in einem gemeinsamen Positionspapier<br />

einen hilfreichen Algorithmus zur gleichzeitigen<br />

Anwendung von Thrombozytenfunktionshemmern<br />

und PPI.<br />

Doppel- und Tripletherapie: In den Studien<br />

MATCH und CHARISMA konnte nachgewiesen<br />

werden, dass eine duale plättchenhemmende<br />

Therapie, bestehend aus Clopidogrel<br />

und ASS, in der Sekundärprophylaxe des<br />

Schlaganfalls im Gegensatz zum akuten Koronarsyndrom<br />

keinen Langzeitnutzen bringt<br />

und mit einem erhöhten Blutungsrisiko assoziiert<br />

ist.<br />

In speziellen Indikationen ist eine solche duale<br />

Therapie nicht vermeidbar, wie zum Beispiel<br />

nach Koronar- oder Karotis-Stent-Implantation.<br />

Eine besondere Herausforderung stellen<br />

dabei PatientInnen mit Vorhofflimmern dar,<br />

bei denen im Falle einer Stent-Implantation<br />

sogar eine Triple-Therapie, bestehend aus<br />

einer oralen Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten,<br />

Clopidogrel und ASS,<br />

zum Einsatz kommen muss. Diesbezügliche<br />

erste Daten zeigen in dieser PatientInnenpopulation<br />

ein exzessiv erhöhtes Blutungsrisiko<br />

(bis 12 % innerhalb von 12 Monaten). In<br />

einem solchen Fall sollten nach Möglichkeit<br />

„beschichtete“ Stents vermieden werden<br />

und „Bare Metal“-Stents zum Einsatz kommen,<br />

da dabei die notwendige Dauer einer<br />

Tripletherapie möglichst kurz gehalten werden<br />

kann. Die rezenten Guidelines der Europäischen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für Kardiologie zum<br />

Thema Behandlung des Vorhofflimmerns<br />

gehen auch auf diese Problematik ein und<br />

inkludieren einen Behandlungsalgorithmus.<br />

Sekundärprophylaxe<br />

des ischämischen Insults<br />

Dr. Stefan Greisenegger<br />

Universitätsklinik<br />

für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität<br />

Wien<br />

Persistierendes Foramen ovale (PFO)<br />

In der so genannten CLOSURE-Studie wurde<br />

in Form eines prospektiven, randomisierten,<br />

offenen Studiendesigns bei PatientInnen<br />

(Alter 18–60 Jahre) mit kryptogenem Schlaganfall<br />

und PFO die Überlegenheit eines<br />

Schirmchenverschlusses des PFO mit einer<br />

konservativen Therapie (ASS oder orale Antikoagulation<br />

mit Warfarin) hinsichtlich der<br />

Rezidivrate ischämischer Insulte/TIA untersucht.<br />

Nach dem Schirmchenverschluss erhielten<br />

die PatientInnen für 6 Monate ASS<br />

und Clopidogrel kombiniert, gefolgt von<br />

einer ASS-Therapie. Innerhalb von zwei Jahren<br />

konnten 909 PatientInnen eingeschlossen<br />

werden.<br />

24


In der Auswertung zeigte sich kein Unterschied<br />

hinsichtlich der Vermeidung ischämischer<br />

Ereignisse zwischen den beiden Gruppen,<br />

allerdings ereigneten sich in der Interventionsgruppe<br />

bei 3 % mit dem Schirm chen -<br />

verschluss assoziierte Komplikationen; auch<br />

zeigte sich eine signifikant erhöhte Rate von<br />

Vorhofflimmern in der Interventionsgruppe.<br />

Überdies fanden TEE-Kontrollen nach 24 Monaten<br />

bei lediglich 86 % einen kompletten<br />

Verschluss.<br />

Zusammenfassend zeigt diese Studie, dass<br />

ein Schirmchenverschluss des PFO in der Sekundärprophylaxe<br />

des kryptogenen ischämischen<br />

Schlaganfalls keinen Nutzen bringt und<br />

mit einem erhöhten Interventionsrisiko assoziiert<br />

ist. Die Gruppe der kryptogenen Schlaganfälle<br />

inkludiert multiple Ätiologien, und ein<br />

PFO dürfte zumeist eher eine Koinzidenz darstellen.<br />

Nicht auszuschließen ist aber, dass<br />

ein Schirmchenverschluss in streng selektionierten<br />

PatientInnengruppen, z. B. mit gesicherter<br />

paradoxer Embolie, doch sinnvoll ist.<br />

Neue Antikoagulantien bei<br />

PatientInnen mit Vorhoffflimmern<br />

Bisher wurde die Sekundärprophylaxe kardiogener<br />

Embolien, insbesondere bei Vorhofflimmern,<br />

mittels oraler Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten<br />

durchgeführt. Nun liegen<br />

3 im letzten Jahr publizierte Studien mit<br />

neuen Antikoagulantien vor. Dabigatran ist<br />

ein direkter Thrombinantagonist, Rivaroxaban<br />

und Apixaban sind Faktor-Xa-Antagonisten.<br />

Die Vorteile dieser neuen Substanzen sind<br />

eine im Vergleich zu den Vitamin-K-Antagonisten<br />

hohe Spezifität, kaum bestehende Interaktionen<br />

mit Nahrungsmitteln und anderen<br />

Medikamenten und dass sie in einer fixen<br />

Dosis oral eingenommen werden können,<br />

wobei die engmaschigen Gerinnungskontrollen<br />

nicht mehr notwendig sind.<br />

In der RE-LY-Studie wurde untersucht, ob<br />

Dabigatran das Risiko für Schlaganfälle und<br />

systemische Embolien bei PatientInnen mit<br />

Vorhofflimmern ebenso wirksam reduziert<br />

wie die Therapie mit Warfarin. 18.113 PatientInnen<br />

wurden in eine von drei Studiengruppen<br />

randomisiert: 1. Dabigatran 110 mg<br />

2-mal täglich, 2. Dabigatran 150 mg 2-mal<br />

täglich oder 3. Warfarin.<br />

RE-LY wurde nach dem sog. PROBE-Studiendesign<br />

(„prospective, randomized, open<br />

with blinded endpoint evaluation“) durchgeführt.<br />

Das heißt, die PrüfärztInnen wussten,<br />

ob die PatientInnen Dabigatran oder Warfarin<br />

erhielten. Die zugeteilte Dosis von Dabigatran<br />

war allerdings unbekannt. Die Auswertung<br />

der Endpunktereignisse erfolgte durch ein für<br />

die Behandlungsgruppe verblindetes Evaluierungskomitee.<br />

Während bei den mit Warfarin antikoagulierten<br />

PatientInnen 1,69 % einen Schlaganfall<br />

oder eine systemische Embolie pro Jahr erlitten,<br />

waren es 1,53 % pro Jahr unter der<br />

niedrigeren Dabigatran-Dosis und 1,11 % pro<br />

Jahr bei den mit 2-mal 150 mg Dabigatran<br />

behandelten PatientInnen. Die niedrige Dabigatran-Dosis<br />

war somit gleich wirksam und<br />

die höhere Dosis signifikant wirksamer als<br />

Warfarin (relative Risikoreduktion 34 %;<br />

p < 0,001). Die Häufigkeit intrakranieller Blutungen<br />

wurde um 70–80 % reduziert. Diese<br />

Befunde waren auch konsistent für die ca.<br />

20 % RE-LY-PatientInnen, die in der Vergangenheit<br />

einen Schlaganfall oder eine TIA<br />

erlitten hatten. Allerdings war der Nutzen<br />

von Dabigatran in Zentren mit schlechter Einstellungsqualität<br />

(OAK im therapeutischen<br />

Bereich) am größten und in den wenigen<br />

Zentren mit sehr guter Einstellung waren die<br />

oben genannten Vorteile von Dabigatran<br />

nicht mehr nachzuweisen.<br />

Die ROCKET-AF-Studie verglich die Wirksamkeit<br />

und Sicherheit von einmal pro Tag<br />

eingenommenem Rivaroxaban 20 mg, einem<br />

FXa-Antagonisten, mit Warfarin. Insgesamt<br />

konnten 14.269 PatientInnen eingeschlossen<br />

werden. Ein wesentlicher Unterschied zu den<br />

anderen Studien liegt in der Zahl der PatientInnen<br />

mit hohem Schlaganfallrisiko gemessen<br />

am CHADS2-Score. Der mediane<br />

CHADS2-Skalenwert betrug 4, in RE-LY 2.<br />

Mehr als 50 % der PatientInnen in ROCKET-<br />

AF gegenüber etwa 20 % in RE-LY hatten<br />

in der Vergangenheit einen Schlaganfall oder<br />

eine TIA erlitten.<br />

Hinsichtlich des primären Endpunkts Schlaganfall<br />

oder systemische Embolie war Rivaroxaban<br />

(jährliche Ereignisrate 1,71 %) dem<br />

Warfarin (2,16 %) nicht unterlegen. Darüber<br />

hinaus zeigte sich eine signifikante Überlegenheit<br />

von Rivaroxaban für die in Behandlung<br />

befindlichen PatientInnen („on treatment“),<br />

nicht aber für die Gesamtpopulation<br />

der Studie („Intention-to-treat-Analyse“). Die<br />

Rate der Hirnblutungen war signifikant niedriger<br />

unter Rivaroxaban (0,26 %/Jahr) im Vergleich<br />

zu Warfarin (0,44 %/Jahr). Die Rate<br />

der schweren oder zumindest klinisch relevanten<br />

Blutungen unterschied sich nicht.<br />

Die AVERROES-Studie, die erst kürzlich publiziert<br />

wurde, untersuchte im Vergleich zu<br />

den beiden oben angeführten Studien ein<br />

anderes PatientInnenkollektiv. Es wurden<br />

5.600 PatientInnen eingeschlossen, die eine<br />

Indikation zur Antikoagulation bei VHF hatten,<br />

aber entweder nach ärztlicher Einschätzung<br />

nicht mit Warfarin antikoaguliert werden<br />

konnten (ca. 60 %) oder selbst die Warfarin-Einnahme<br />

ablehnten. In der randomisierten,<br />

doppelblinden Studie erhielten die PatientInnen<br />

entweder Apixaban 5 mg zweimal<br />

täglich oder ASS. Bis zum Einschluss in die<br />

Studie waren 40 % der PatientInnen auf Warfarin<br />

eingestellt. Zusammenfassend erwies<br />

sich Apixaban als klar wirksamer als ASS (Hazard-Ratio<br />

für Apixaban, 0,45; 95%-CI, 0,32<br />

bis 0,62; p < 0,001), ohne das Blutungsrisiko<br />

zu erhöhen, weshalb die Studie vorzeitig abgebrochen<br />

wurde.<br />

Die Daten der ARISTOTLE-Studie, die die<br />

Wirksamkeit einer Therapie mit Apixaban im<br />

Vergleich zu Warfarin bei PatientInnen mit<br />

VHF untersucht, werden <strong>2011</strong> erwartet.<br />

Invasive<br />

Schlaganfalltherapie<br />

Die Thrombolysetherapie des ischämischen<br />

Schlaganfalls mit rtPA stellt derzeit die einzi- u<br />

25


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

ge kurative Behandlungsmöglichkeit dar und<br />

hat seit der Zulassung die akute Schlaganfalltherapie<br />

revolutioniert. Ein Problem stellte<br />

bis vor kurzem jedoch der beschränkte Zugang<br />

zu dieser Therapie dar, nachdem die<br />

Behandlung auf die ersten 3 Stunden nach<br />

Onset der Symptomatik beschränkt war. In<br />

diesem Zusammenhang war die Publikation<br />

der ECASS-III-Studie 2008, in der nachgewiesen<br />

werden konnte, dass eine Therapie mit<br />

rtPA auch bis 4,5 Stunden nach Symptombeginn<br />

einen signifikanten Vorteil zeigt, ein<br />

großer Vorschritt. Eine Metaanalyse aller großen<br />

Thrombolysestudien mit intravenös verabreichtem<br />

rtPA konnte dieses Ergebnis kürzlich<br />

bestätigen (die europäische Zulassung für<br />

dieses Zeitfenster wird in den kommenden<br />

Monaten erwartet).<br />

Trotz dieser Fortschritte scheint eine Reihe<br />

weiterer Verbesserungen in Zusammenhang<br />

mit der Lyse-Therapie möglich: einerseits<br />

durch eine Minimierung des Zeitverlustes vor<br />

allem im präklinischen Bereich und durch eine<br />

Ausdehnung des Zeitfensters auf die ersten<br />

6 Stunden (wird derzeit in der IST-3-Studie<br />

untersucht) sowie andererseits durch Alternativen<br />

zur systemischen Lysetherapie. Diesbezüglich<br />

stehen derzeit 3 interventionelle<br />

Behandlungsansätze zur Verfügung und sind<br />

teilweise in manchen Schlaganfallzentren<br />

schon im Routinemanagement des Schlaganfalls<br />

implementiert:<br />

1. die rein intraarterielle Thrombolyse -<br />

therapie<br />

2. eine interventionelle Behandlung mittels<br />

so genannter „Devices“ zur<br />

mechanischen Thrombusentfernung,<br />

eventuell mit zusätzlicher intraarterieller<br />

rtPA-Verabreichung<br />

3. das so genannte „Bridging-Konzept“<br />

(zunächst intravenöser Beginn und dann<br />

weiterführende interventionelle Therapie<br />

mit/ohne zusätzliche intraarterielle(r)<br />

rtPA-Applikation)<br />

Intraarterielle Thrombolyse: Mittels einer<br />

intraarteriellen Verabreichung von rtPA auf<br />

katheterinterventioneller Basis lässt sich eine<br />

im Vergleich zur systemischen (i.v.) Lyse erhöhte<br />

lokale Konzentration des Thrombolytikums<br />

erzielen. Dabei wird die Substanz<br />

entweder unmittelbar vor dem okkludierenden<br />

Thrombus oder innerhalb des Thrombus<br />

appliziert. Prinzipiell kommen für eine<br />

katheterinterventionelle Behandlung entsprechend<br />

nur PatientInnen infrage, bei<br />

denen ein proximaler Gefäßverschluss vorliegt<br />

(distale A. carotis interna, Carotis-T,<br />

proximaler Verschluss der A. cerebri media<br />

– M1- oder M2-Segment – oder Arteria basilaris).<br />

Die Wirksamkeit der intraarteriellen<br />

Thrombolyse konnte in der randomisierten<br />

PROACT-II-Studie nachgewiesen werden, in<br />

der innerhalb eines Zeitfensters von 6 Stunden<br />

Pro-Urokinase gegen Heparin verglichen<br />

wurde. Trotz einer hohen Blutungsrate<br />

von 10 % in der Pro-Urokinase-Gruppe war<br />

die Mortalität nicht signifikant unterschiedlich.<br />

Trotz dieser viel versprechenden Ergebnisse<br />

wurde die Zulassung nicht erteilt und<br />

eine weitere, große, randomisierte Studie<br />

gefordert.<br />

Rekanalisation mit Devices: Ein weiteres<br />

relevantes Ergebnis von PROACT II war die<br />

hohe Rekanalisationsrate von 60 %. Insgesamt<br />

ist die Rekanalisation des okkludierten<br />

Gefäßes ein wesentlicher Faktor zur Erzielung<br />

eines guten Outcomes nach ischämischem<br />

Insult, nicht zuletzt, weil die Effektivität von<br />

rtPA abnehmen dürfte, je proximaler der Gefäßverschluss<br />

ist. Eine Rekanalisierung eines<br />

proximalen Verschlusses der A. cerebri media<br />

durch i.v. Lyse lässt sich nur in einem Viertel<br />

der Fälle nachweisen.<br />

Die mechanische Rekanalisation mittels Devices<br />

bietet einige Vorteile gegenüber der<br />

„pharmakologischen“ Thrombolyse: Einerseits<br />

kann die Dosis des Thrombolytikums reduziert<br />

oder ganz vermieden werden, andererseits<br />

könnte durch den Wegfall des Einsatzes<br />

einer thrombolytischen Substanz ein<br />

Einsatz theoretisch auch außerhalb des 6-<br />

Stunden-Zeitfensters möglich sein. Man kann<br />

Devices, die proximal des Thrombus zum Einsatz<br />

kommen (z. B. Thrombus-Aspiration mittels<br />

Penumbra-System), von solchen unterscheiden,<br />

die distal des Thrombus „Widerhaken“<br />

entfalten, damit den Thrombus mobilisieren<br />

und – ähnlich einem Korkenzieher<br />

– zurückziehen. Gemeinsam sind den neuen<br />

Devices hohe Rekanalisationsraten, die diejenigen<br />

der rein intraarteriellen Thrombolyse<br />

noch übertreffen (im Fall des Penumbra-Sys -<br />

tems in bis zu 80 %).<br />

Derzeit gibt es noch keine Studien, die die<br />

hohen Rekanalisationsraten in ein günstiges<br />

klinisches Outcome übersetzen (im Falle von<br />

Penumbra konnten zum Beispiel nur bei 25 %<br />

eine modified Rankin Scale von 0–2 erreicht<br />

werden, bei einer Mortalität von 33 % (!),<br />

wobei der klinische Schweregrad der PatientInnen<br />

allerdings sehr hoch war). Der entscheidende<br />

Faktor dürfte auch dabei der Faktor<br />

Zeit bis zur Rekanalisation sein. Einschränkend<br />

ist weiters, dass keine der verfügbaren<br />

Devices innerhalb einer randomisierten Studie<br />

evaluiert wurde und damit in Ermangelung<br />

valider Kontrollgruppen keine Aussagen das<br />

Outcome betreffend gemacht werden können.<br />

Auch die Beschränkung auf spezialisierte<br />

Schlaganfallzentren mit hoher Expertise im<br />

Umgang mit katheterbasierter Angiographie<br />

der kraniozervikalen Gefäße ist eine weitere<br />

Limitierung, ebenso wie die hohen Kosten<br />

und natürlich der Zeitverlust bis zur Angiographie.<br />

Bridging-Konzepte vereinen den Nutzen<br />

eines raschen Einsatzes von i.v. rtPA mit einer<br />

anschließenden intraarteriellen Thrombolyse<br />

(mit oder ohne zusätzliche mechanische Rekanalisation).<br />

Hierbei ist noch unklar, inwiefern<br />

die systemische Lyse in einer geringeren<br />

Dosis (0,6 mg/kg KG anstatt 0,9 mg/kg KG),<br />

verabreicht werden sollte, wobei rezente<br />

Daten auf einen Vorteil der vollen Dosis hindeuten.<br />

Auch für das Bridging-Konzept existieren<br />

derzeit keine RCT, wobei die derzeit<br />

laufende IMS-III-Studie untersucht, inwieweit<br />

eine systemische Thrombolyse innerhalb von<br />

3 Stunden einem Bridging (initiale i.v Lyse<br />

mit rtPA in einer Dosis von 0,6 mg/kg KG<br />

über 40 min mit anschließender interventioneller<br />

Therapie bei Vorliegen eines Gefäßverschlusses,<br />

wobei der Einsatz von Devices erlaubt<br />

ist) unterlegen ist.<br />

n<br />

26


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Können wir unseren<br />

kognitiven Abbau beeinflussen?<br />

Angesichts der demografischen Entwicklungen zählen Demenzen zu den größten gesundheits- und sozial -<br />

politischen Herausforderungen der nahen Zukunft. Innerhalb der Gruppe der senilen Demenzen macht die<br />

Demenz vom Alzheimer-Typ mit etwa 65 % den größten Anteil aus. Populationsbasierte Studien zeigen, dass es<br />

ab dem 60. Lebensjahr alle 5 Jahre zu einer Verdopplung von Inzidenz und Prävalenz der Alzheimer-Krankheit<br />

kommt. Mit der steigenden Zahl an Demenzerkrankungen gewinnt die Frage nach möglichen präventiven<br />

Strategien an Dringlichkeit.<br />

EEin Schwerpunkt der epidemiologischen Demenzforschung<br />

besteht daher in der Identifizierung<br />

von Faktoren, die mit einem erhöhten<br />

oder reduzierten Risiko für einen kognitiven<br />

Abbau assoziiert sind. Faktoren, die<br />

untersucht wurden, umfassen Nahrungsbzw.<br />

Nahrungsergänzungsmittel, unterschiedliche<br />

Medikamente, medizinische Konditionen<br />

bzw. Grunderkrankungen sowie<br />

Umwelt- und Lebensstilfaktoren.<br />

Datenlage<br />

Ernährung: Zwei prospektive Kohortenstudien<br />

aus den USA kamen zu dem Schluss,<br />

dass das Einhalten einer mediterranen Diät<br />

(charakterisiert durch einen hohen Anteil<br />

pflanzlicher Lebensmittel, regelmäßigen Verzehr<br />

von Olivenöl und Fisch sowie mäßigen<br />

Weinkonsum) mit einem reduzierten Risiko<br />

für eine milde kognitive Störung oder eine<br />

Demenz vom Alzheimer-Typ assoziiert ist. In<br />

einer französischen Beobachtungsstudie war<br />

das Einhalten dieser Diätform mit einem langsameren<br />

Punkteverlust im MMSE assoziiert,<br />

nicht aber mit der Leistung in anderen kognitiven<br />

Tests oder mit dem Demenzrisiko 1 .<br />

Angesichts der vermuteten neuroprotektiven<br />

Wirkung mehrfach ungesättigter Fettsäuren<br />

untersuchten mehrere Studien den Effekt von<br />

Omega-3-Fettsäuren auf kognitive Funktionen.<br />

In einer placebokontrollierten Doppelblindstudie<br />

(mit allerdings kurzer Studiendauer<br />

von 26 Wochen) zeigte sich kein Hinweis<br />

auf einen die Kognition günstig beeinflussenden<br />

Effekt von EPA (Eicosapentaensäure)<br />

oder DHA (Docosahexaensäure). Die Daten<br />

einiger großer Beobachtungsstudien haben<br />

hingegen einen günstigen Effekt vermuten<br />

lassen 2 .<br />

Vitamine: Sowohl in Beobachtungs- als auch<br />

kontrollierten Studien wurde die mögliche<br />

Assoziation von B-Vitaminen (B 6 , B 12 ) sowie<br />

Folsäure mit kognitiven Funktionen untersucht<br />

3 . Eine ähnlich breite Datenlage existiert<br />

für Vitamin E, Vitamin C und Beta-Karoten.<br />

Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht konsistent;<br />

in Zusammenschau der Befunde ist<br />

jedoch nicht davon auszugehen, dass eine<br />

dieser Substanzen einen nennenswerten demenzpräventiven<br />

bzw. die Kognition fördernden<br />

Effekt aufweist 2 .<br />

Alkohol: Inwiefern geringer bis moderater<br />

Alkoholkonsum eine vorteilhafte Assoziation<br />

mit dem kognitiven Abbau aufweist, war wiederholt<br />

Gegenstand intensiver Diskussionen.<br />

Einzelne Beobachtungsstudien berichteten<br />

über ein vermindertes Risiko für einen kognitiven<br />

Abbau bei mäßigem Alkoholkonsum,<br />

allerdings besteht Unklarheit hinsichtlich<br />

der möglichen individuellen demenzpräventiven<br />

„Schwellendosis“ oder der Art des<br />

Alkohols. Nach heutigem Wissensstand kann<br />

Alkoholkonsum, nicht zuletzt aufgrund seines<br />

toxischen und Abhängigkeitspotenzials,<br />

nicht zur Demenzprävention empfohlen werden<br />

4 .<br />

NSAR, Statine: Der Umstand, dass inflammatorische<br />

Prozesse (sei es kausal oder im<br />

Sinne eines Epiphänomens) an der Pathophysiologie<br />

der Alzheimer-Demenz mit beteiligt<br />

Dr. Eva Hilger<br />

Universitätsklinik für<br />

<strong>Neurologie</strong>, Medizinische<br />

Universität Wien<br />

sind, hat entzündungshemmende Substanzen<br />

zunächst als mögliche Kandidaten für<br />

therapeutische oder präventive Interventionen<br />

erscheinen lassen. Allerdings konnte in<br />

methodisch einwandfreien, kontrollierten<br />

Studien weder für Aspirin noch für die NSAR<br />

Naproxen und Celecoxib eine Assoziation<br />

zwischen der Einnahme dieser Substanzen<br />

und einem kognitiven Effekt gezeigt werden<br />

5 . Entgegen früheren Annahmen haben<br />

rezente Untersuchungen ebenso keinen Hinweis<br />

auf eine signifikante Assoziation zwischen<br />

der Einnahme von Statinen und dem<br />

kognitiven Abbau erbracht. So zeigte sich in<br />

zwei randomisierten, placebokontrollierten<br />

Studien zu Simvastatin (Heart Protection<br />

Study, n = 20.536) und Pravastatin (PRO-<br />

SPER-Studie, n = 5804) kein die Kognition<br />

beeinflussender Effekt von Statinen 6 .<br />

Hormonsubstitution: Während sich in Meta -<br />

analysen von Beobachtungsstudien zunächst<br />

Hinweise auf ein vermindertes Demenzrisiko<br />

bei Frauen unter Hormonsubstitutionspräparaten<br />

(Östrogen, Dehydroepiandrosteron) ergaben,<br />

haben kontrollierte Studien diskrepante<br />

Ergebnisse – mitunter sogar den Befund<br />

eines erhöhten Demenzrisikos unter<br />

Östrogensubstitution – erbracht 2 . Eine rezente<br />

Untersuchung 7 lässt vermuten, dass die<br />

28


perimenopausale Hormontherapie einen demenzpräventiven<br />

Effekt aufweisen dürfte,<br />

wohingegen die Therapie in der späten Menopause<br />

mit einem erhöhten Demenzrisiko<br />

assoziiert zu sein scheint. Diese Ergebnisse<br />

würden die „Critical Window Theory“ stärken,<br />

wonach Interventionen in Abhängigkeit<br />

des Zeitfensters, in dem sie erfolgen, differenzielle<br />

Effekte aufweisen könnten.<br />

Acetylcholinesterasehemmer: Nach gegenwärtigem<br />

Stand der Daten sind Acetylcholinesterasehemmer<br />

vermutlich nicht in der<br />

Lage, die Konversion von einer milden kognitiven<br />

Störung zur Demenz vom Alzheimertyp<br />

zu verhindern. Für Donepezil wurde in<br />

einer 48-wöchigen placebokontrollierten,<br />

randomisierten Studie gezeigt, dass es zwar<br />

zu signifikanten (wenngleich geringen) Verbesserungen<br />

in der modifizierten ADAS-Cog-<br />

Skala kam, nicht aber zu einer Verbesserung<br />

des globalen Funktionsniveaus 8 .<br />

Ginkgo biloba: Zu der möglichen demenzpräventiven<br />

Wirkung von Ginkgo b. liegen,<br />

trotz des breiten Einsatzes dieser Substanz,<br />

wenige Daten vor. Eine randomisierte, doppelblinde,<br />

placebokontrollierte Studie (n =<br />

3069) mit einem mittleren Follow-up-Zeitraum<br />

von 6,1 Jahren kam zu dem Ergebnis,<br />

dass Ginkgo b. in der untersuchten Dosierung<br />

von 2-mal 120 mg/d weder bei kognitiv gesunden<br />

Individuen noch bei PatientInnen mit<br />

milder kognitiver Störung zu einer Reduktion<br />

der Demenz-Inzidenzrate führt 9 .<br />

Vaskuläre Risikofaktoren: Die Bedeutung<br />

vaskulärer Erkrankungen für die Demenz vom<br />

Alzheimer-Typ erklärt sich zum einen aus dem<br />

Umstand, dass ein großer Anteil der Altersdemenzen<br />

sogenannte „Mischdemenzen“<br />

sind, bei denen sich neuropathologisch ein<br />

Nebeneinander von zerebrovaskulären Veränderungen<br />

und Alzheimer-Pathologie findet.<br />

Zum anderen wird vermutet, dass vaskuläre<br />

Veränderungen den Krankheitsverlauf primär<br />

neurodegenerativer Demenzen ungünstig beeinflussen<br />

und somit als „Treiber“ der Progression<br />

bei der Alzheimer-Demenz wirken.<br />

Eine Reihe an Untersuchungen widmete sich<br />

der Fragestellung, inwiefern die konsequente<br />

Therapie vaskulärer Erkrankungen einen die<br />

Kognition günstig beeinflussenden Effekt<br />

aufweist. 6 Studien untersuchten, ob eine<br />

konsequente antihypertensive Behandlung<br />

mit einer Reduktion des Risikos für einen kognitiven<br />

Abbau assoziiert ist. Trotz repräsentativer<br />

Studienpopulationen und Beobachtungszeiträume<br />

(Fallzahlen zwischen n = 2418<br />

und n = 6105; Follow-up bis 5 Jahre) fand<br />

sich in 5 von 6 Studien kein Hinweis auf<br />

einen signifikanten demenzpräventiven Effekt<br />

von Antihypertensiva 6 .<br />

Hingegen lassen die Ergebnisse einer Meta -<br />

analyse aus 6 Studien mit Follow-up-Zeiträumen<br />

von bis zu 6 Jahren vermuten, dass der<br />

Diabetes mellitus mit einem erhöhten Risiko<br />

für die Entwicklung einer kognitiven Störung<br />

(Odds Ratio: 1,2) einhergeht. Ähnliches dürfte<br />

für das metabolische Syndrom gelten. Für<br />

Adipositas ist die Datenlage nicht konsistent;<br />

eine sichere Assoziation mit kognitivem<br />

RESÜMEE<br />

Bei kritischer Durchsicht der verfügbaren<br />

Datenlage zu möglichen demenzpräventiven<br />

Faktoren und Anwendung der Kriterien<br />

der „Evidence-based Medicine“<br />

ergeben sich vergleichsweise wenige verlässliche<br />

Empfehlungen. Mit Sicherheit<br />

kann die adäquate und rechtzeitige Behandlung<br />

vaskulärer Erkrankungen und<br />

Risikofaktoren als primär demenzpräventive<br />

Maßnahme empfohlen werden. Eine<br />

an Fisch und pflanzlichen Nahrungsmitteln<br />

reiche Ernährung bzw. ein an die<br />

mediterrane Diät angelehntes Ernährungsverhalten<br />

könnten protektiv bezüglich<br />

des Auftretens einer Demenz sein,<br />

wenngleich die Datenlage derzeit keine<br />

spezifischen Ernährungsempfehlungen<br />

zulässt. Sicher empfohlen werden kann<br />

lediglich, dass einer ausgewogenen Kostform<br />

mit Vermeidung von Übergewicht<br />

der Vorzug gegeben werden sollte. In<br />

jedem Fall sind ein sozial und geistig aktives<br />

Leben sowie regelmäßige körperliche<br />

Bewegung anzuraten, nachdem sich<br />

in etlichen Studien Hinweise darauf ergaben,<br />

dass diese Maßnahmen – vermutlich<br />

durch Steigerung der kognitiven<br />

Reservekapazität – den kognitiven Ab -<br />

bau verlangsamen oder hinauszögern<br />

dürften.<br />

Abbau konnte nicht bewiesen werden 2 . Aktueller<br />

Tabakkonsum (bzw. Rauchen bis ins<br />

höhere Lebensalter) wurde in prospektiven<br />

Studien als unabhängiger Risikofaktor für<br />

einen akzelerierten kognitiven Abbau identifiziert.<br />

Umwelt- und Lebensstilfaktoren: Nahezu<br />

alle hierzu durchgeführten Beobachtungsstudien<br />

deuten darauf hin, dass physische Aktivität<br />

(Richtwert: moderates aerobes Training<br />

– z. B. Wandern – 3-mal wöchentlich für die<br />

Dauer einer Stunde) mit einem verminderten<br />

Risiko für die Entwicklung einer kognitiven<br />

Störung assoziiert ist. Auch in einer kontrollierten<br />

24-wöchigen Studie mit 170 TeilnehmerInnen<br />

führte physische Aktivität zu geringen,<br />

aber signifikanten Verbesserungen<br />

der Kognition 10 .<br />

Observations- und kontrollierte Studien lassen<br />

ebenso vermuten, dass kognitives Training<br />

mit einem moderaten, aber robusten<br />

Effekt auf die Kognition assoziiert ist. So<br />

wurde beispielsweise in einer kontrollierten<br />

Studie mit repräsentativem Sample (n = 2832)<br />

gezeigt, dass das spezifische Training in bestimmten<br />

kognitiven Domänen zu Verbesserungen<br />

der Alltagsfähigkeiten führte. Die Verbesserungen<br />

in den trainierten kognitiven<br />

Teilleistungen waren bis zu 5 Jahre nach der<br />

Intervention nachweisbar 2 .<br />

Zudem gibt es Hinweise darauf, dass (Aus-) -<br />

Bildungsniveau und beruflicher Status das<br />

Demenzrisiko beeinflussen. Insbesondere ein<br />

hoher Bildungsgrad dürfte einen präventiven<br />

Faktor darstellen 11 . Auch ein aktives Freizeitverhalten<br />

(Hobbies, hohes Ausmaß an sozialen<br />

Interaktionen etc.) wurde in einigen Beobachtungsstudien<br />

als möglicher demenzprotektiver<br />

Faktor identifiziert 2 .<br />

Ein Erklärungsmodell für den Zusammenhang<br />

zwischen körperlich und kognitiv aktivem Lebensstil<br />

und einem reduzierten Demenzrisiko<br />

stellt das Konzept der „kognitiven Reserve“<br />

dar. Hierunter wird die Fähigkeit des Gehirns<br />

verstanden, Alterungsprozesse oder Läsionen<br />

zu „verkraften“ und die klinische Manifestation<br />

von Erkrankungen zu minimieren oder<br />

zu verzögern. Das (krankheitsunspezifische)<br />

Konzept der kognitiven Reserve ist das derzeit<br />

gängigste Modell zur Kompensation von<br />

Neurodegeneration und erklärt unter anderem<br />

die häufig zu beobachtende Diskrepanz u<br />

29


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

zwischen Pathologie (d. h. neurodegenera tiven Veränderungen des alternden<br />

Gehirns) und Klinik (d. h. Anzeichen einer Hirnleistungsstörung<br />

zu Lebzeiten). Grundlage der kognitiven Reserve dürfte die aktivitätsabhängige<br />

Plastizität des Gehirns sein: Demnach führt die lebenslange<br />

„Stimulation“ des Gehirns (z. B. durch intensive Ausbildung, anspruchsvolle<br />

berufliche Qualifikation oder hohes Ausmaß kognitiver Aktivitäten<br />

und sozialer Interaktionen) zu einer Erhöhung der Widerstandfähigkeit<br />

gegenüber pathologischen Prozessen. Als neurobiologische Substrate<br />

der kognitiven Reserve werden strukturelle und funktionelle Veränderungen<br />

(z. B. die Vergrößerung, die parallele Anlage oder der effizientere<br />

Gebrauch neuronaler Netzwerke, die Nutzung alternativer Netzwerke<br />

oder neurochemische Veränderungen) vermutet.<br />

Limitationen<br />

Die Interpretation der vorliegenden Daten muss aus mehreren Gründen<br />

mit Zurückhaltung erfolgen. Die Mehrheit der Befunde entstammt offenen<br />

Beobachtungsstudien, während die Anzahl randomisierter, kontrollierter<br />

Studien gering ist. Auch existieren Heterogenitäten hinsichtlich<br />

der untersuchten Studienpopulationen, der verwendeten Diagnosekriterien<br />

für „kognitive Störung“ oder „Demenz“ sowie der psychometrischen<br />

Tests, mit denen kognitive Leistungen evaluiert wurden. All<br />

dies limitiert die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen. Darüber hinaus<br />

wurden viele Daten in Studien mit primär anderen (z. B. internis -<br />

tischen) Fragestellungen erhoben, im Rahmen derer kognitive Veränderungen<br />

nur als sekundäre Parameter mit erfasst wurden.<br />

Generell ist zu beachten, dass medizinische Konditionen – und damit<br />

auch die Demenz – komplexe Erkrankungen sind, die der Beeinflussung<br />

durch eine Vielzahl an Variablen unterliegen. Das Auftreten einer Assoziation<br />

muss somit nicht immer zwingend eine Kausalität bedeuten.<br />

Möglich wäre außerdem, dass bestimmte Interventionen unterschiedliche<br />

Effekte zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebenszyklus haben. So<br />

ist beispielsweise nicht auszuschließen, dass einzelne Interventionen in<br />

Abhängigkeit des Lebensalters, in dem sie erfolgen (und auch der<br />

Dauer der Anwendung), differenzielle Effekt aufweisen könnten. n<br />

1 Féart C et al., Adherence to a Mediterranean diet, cognitive decline, and risk of dementia.<br />

JAMA 2009; 302(6):638–48<br />

2 Plassman BL et al., Systematic review: factors associated with risk for and possible prevention<br />

of cognitive decline in later life. Ann Intern Med 2010; 153(3):182–93<br />

3 Dangour AD et al., B-vitamins and fatty acids in the prevention and treatment of Alzheimer's<br />

disease and dementia: a systematic review. J Alzheimers Dis 2010; 22(1):205–24<br />

4 Panza F et al., Alcohol drinking, cognitive functions in older age, predementia, and<br />

dementia syndromes. J Alzheimers Dis 2009; 17:7–31<br />

5 ADAPT Research Group. Cognitive function over time in the Alzheimer's Disease Antiinflammatory<br />

Prevention Trial (ADAPT): results of a randomized, controlled trial of naproxen<br />

and celecoxib. Arch Neurol 2008; 65(7):896–905<br />

6 Ligthart SA et al., Treatment of cardiovascular risk factors to prevent cognitive decline and<br />

dementia: a systematic review. Vasc Health Risk Manag 2010; 6:775–85<br />

7 Whitmer et al., Timing of Hormone Therapy and Dementia: The Critical Window Theory<br />

Revisited. Ann Neurol 2001; 69:163–9<br />

8 Doody RS et al., Donepezil treatment of patients with MCI: a 48-week randomized, placebo-controlled<br />

trial. Neurology 2009; 72(18):1555–61. Epub 2009 Jan 28<br />

9 DeKosky ST et al., Ginkgo biloba for prevention of dementia: a randomized controlled<br />

trial. JAMA 2008; 300:2253–2262<br />

10 Lautenschlager NT et al., Greenop KR, Almeida OP. Effect of physical activity on cognitive<br />

function in older adults at risk for Alzheimer disease: a randomized trial. JAMA 2008;<br />

300(9):1027–37<br />

11 Marengoni A et al., Socioeconomic Status During Lifetime and Cognitive Impairment No-<br />

Dementia in Late Life: The Population-Based Aging in the Chianti Area (InCHIANTI) Study.<br />

J Alzheimers Dis <strong>2011</strong> Feb 1 [Epub ahead of print]<br />

Rezente Entwicklungen<br />

Als MedizinerInnen haben wir in der Regel keine<br />

systematische Ausbildung in der Genetik und<br />

Molekularbiologie absolviert. Gleichzeitig hat<br />

es in den letzten 10 bis 20 Jahren, insbesondere<br />

seit der Fertigstellung des humanen Genom -<br />

projektes, enorme Fortschritte auf diesen<br />

Gebieten gegeben. Da für das Verständnis der<br />

medizinisch genetischen Literatur ein zum Teil<br />

sehr umfangreiches Vorwissen nötig ist, möchte<br />

ich hier auf einige grundlegende genetische<br />

Themen näher eingehen.<br />

NNur ein kleiner Teil des menschlichen Genoms (etwa 2 %)<br />

kodiert für die geschätzten 20.000 Gene. Der größte Teil des<br />

Genoms wird durch (scheinbar) nutzlose DNA-Abschnitte eingenommen.<br />

Solche Abschnitte werden häufig als „Junk-DNA“<br />

bezeichnet, obwohl mit zunehmendem Wissen klarer wird,<br />

dass auch solchen Bereichen des Genoms wichtige Aufgaben<br />

zukommen können, die wir allerdings noch kaum verstehen.<br />

Genverwandte Abschnitte umfassen 38 % des Genoms (1152<br />

Millionen Basenpaare [Mb]). Dazu zählen „Pseudo-Gene“ und<br />

Genfragmente, also DNA-Abschnitte, die z.B. durch Duplikationen<br />

entstanden, aber nicht funktionstüchtig sind, und<br />

Gene, die im Laufe der Evolution stillgelegt wurden. Auch intronische<br />

DNA-Abschnitte und regulatorische Regionen (Promotoren<br />

und UTR also „Untranslated Regions“ in einem Gen)<br />

zählen zur genverwandten DNA.<br />

Mutationen und Polymorphismen<br />

Mutationen<br />

Unterschiede in der Basensequenz (auf Einzelbasenebene) zwischen<br />

zwei Individuen (etwa 1-mal pro 1000 bp) bzw. Abweichungen<br />

von einer (nichtexistenten) Idealsequenz können<br />

als Mutationen oder Polymorphismen vorliegen, wobei die<br />

Übergänge zwischen diesen Begriffen fließend sind.<br />

Von einer Mutation spricht man, wenn eine schwere und seltene<br />

krankheitsverursachende Veränderung in der Sequenz<br />

vorliegt, die z. B. mit einem vorzeitigen Abbruch der Proteinbildung<br />

einhergeht oder durch den Austausch einer wesentlichen<br />

Aminosäure die Funktionalität des Proteins schwer beeinträchtigt.<br />

30


in der Neurogenetik<br />

Polymorphismen<br />

Als Polymorphismus bezeichnet man eine Variante,<br />

die häufiger vorkommt („Minor Allele<br />

Frequency“, MAF > 1 %) und in den meisten<br />

Fällen keine funktionelle Bedeutung hat (stille<br />

Polymorphismen).<br />

SNP: Nur ca. 500.000 der ca. 10 Mio. bekannten<br />

Einzelbasen-Polymorphismen („Single<br />

Nucleotide Polymorphisms“, SNP) dürften<br />

mit einer (geringen) funktionellen Auswirkung<br />

vergesellschaftet sein (funktionelle Polymorphismen).<br />

Eine große Herausforderung<br />

wird es sein, diese funktionellen Polymorphismen<br />

und deren Auswirkungen zu identifizieren.<br />

Man nimmt an, dass komplexe Erkrankungen<br />

zum Großteil durch eine Kombination<br />

solcher krankheitsmodulierender SNP und<br />

anderer Polymorphismen verursacht sein<br />

könnten.<br />

VNTR: Neben SNP existieren aber noch andere<br />

Polymorphismen im Genom. Variable-<br />

Number-Tandem-Repeat-Polymorphismen<br />

(VNTR) sind Abschnitte einer DNA-Sequenz,<br />

die ca. 10 bis 100 bp lang sein können (auch<br />

als Minisatelliten bezeichnet) und tandemartig<br />

wiederholt sind. Besonders relevant dürften<br />

solche VNTR in regulatorischen Genabschnitten<br />

sein, wenn sie Bindungsstellen für<br />

DNA-bindende Proteine (z. B. Transkriptionsfaktoren)<br />

enthalten.<br />

STR und Trinucleotid-repeat-<br />

Expansionen: Mikrosatelliten<br />

(oder Short Tandem Repeats, STR)<br />

sind sehr kurze DNA-Abschnitte<br />

(2–6 bp), die ebenfalls oft in<br />

großer Zahl tandemartig hintereinander<br />

liegen. In der Medizin relevant sind Erkrankungen,<br />

die durch instabile „Trinucleotidrepeat-Expansionen“<br />

hervorgerufen werden,<br />

z. B. verschiedene spinozerebelläre Ataxien<br />

oder die Huntingtonsche Erkrankung.<br />

Priv.-Doz. Dr.<br />

Alexander Zimprich<br />

Universitätsklinik<br />

für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität<br />

Wien<br />

CNP: Seit kurzem weiß man, dass auch Variationen<br />

im Sinne von Duplikationen und<br />

Deletionen auf subchromosomaler Ebenen<br />

(Kilobasen- bis Megabasenbereich) weitaus<br />

häufiger existieren als bisher angenommen.<br />

Als Beispiel einer solchen Variation sei die<br />

Duplikation eines 1,5 Mb langen Abschnittes<br />

am Chromosom 17 genannt, die für die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung<br />

verantwortlich<br />

ist. In mehreren Aufsehen erregenden Arbeiten<br />

der letzten Jahre konnte gezeigt werden,<br />

dass jedes einzelne Individuum scheinbar<br />

Dutzende bis Hunderte solcher als „Large<br />

scale Copy Number repeat“-Polymorphismen<br />

(CNP) bezeichneter Variationen in sich trägt,<br />

die auch entsprechend vererbt werden können.<br />

Mehrere Studien in den letzten Jahren<br />

konnten einen Zusammenhang dieser CNP<br />

mit neurologischen Entwicklungsstörungen<br />

nachweisen. So fand man z. B bei PatientInnen<br />

mit Autismus und Schizophrenie eine<br />

deutlich höhere Anzahl an CNP als bei Gesunden.<br />

Architektur genetischer<br />

Erkrankungen und Methoden<br />

der Genfindung<br />

Große Erfolge gab es in den letzten Jahrzehnten<br />

vor allem bei der Entschlüsselung<br />

Mendelscher, also monogenetischer, Erkrankungen.<br />

(In der gängigen Vorstellung werden<br />

monogenetische Erkrankungen geradezu mit<br />

genetisch bedingten Erkrankungen gleichgesetzt,<br />

obwohl die Genetik bei komplexen Erkrankungen<br />

eine nicht minder wichtige Rolle<br />

spielt.)<br />

Monogenetische Erkrankungen: Die Methode<br />

der Wahl zur Entschlüsselung monogenetischer<br />

Erkrankungen ist konzeptionell<br />

einfach. Am Beginn steht die Ermittlung des<br />

Suszeptibilitätsgenortes mittels Kopplungsanalyse.<br />

Ausgangspunkt ist dabei eine große<br />

Familie (vorzugsweise mit mehren betroffenen<br />

Personen). Dabei sucht man nach jenen<br />

chromosomalen Abschnitten, die allen u<br />

Abb. 1: Mutationen<br />

Abb. 2: CNV – copy number variations<br />

• Duplikationen/<br />

Insertionen/Deletionen auf<br />

subchromosomaler Ebene<br />

kB bis Mb<br />

Duplikationen Deletion Chr. 15<br />

Mutationen in<br />

regulatorischen Sequenzen<br />

• Promoter<br />

• upstream regulatory region<br />

• Exon-Intron-Grenze<br />

Schwierig zu erkennen<br />

Mutationen in<br />

kodierender Sequenz<br />

missense<br />

nonsense<br />

frameshift<br />

• Jedes Individuum<br />

Dutzende bis Hunderte<br />

CNV<br />

• Wahrscheinlich nicht<br />

erkannter Einfluss auf<br />

viele Krankheitsbilder<br />

31


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

erkrankten Personen in der Familie gemeinsam<br />

sind. Man kann nun für jeden einzelnen<br />

dieser chromosomalen Abschnitte unter Berücksichtigung<br />

der Familiengröße, Phänokopie-Rate<br />

und anderer Variablen die Wahrscheinlichkeit<br />

berechnen, dass er mit der Erkrankung<br />

assoziiert ist, also in unmittelbarer<br />

Nähe zum Krankheitsgen sitzt. Dieser Wert<br />

wird LOD-Score genannt (logarithm of the<br />

odds). LOD-Scores über 3 gelten als signifikant.<br />

Je nach Lage und exakter Größe dieser<br />

Region können sich aber mehrere dutzend<br />

bis hundert Gene darin befinden.<br />

Kennt man nun den ungefähren Genort,<br />

versucht man in einem 2. Schritt die Kandidatenregion<br />

weiter einzugrenzen, indem<br />

man mehr Marker in diese Region typisiert<br />

und hofft, dass z. B. eine betroffene Person<br />

in der Familie eine so genannte Schlüsselrekombination<br />

hat; d. h. dass es genau in<br />

der Kandidatenregion zu einer Rekombination<br />

zwischen dem mutationstragenden<br />

Chromosom und dem gesunden Chromosom<br />

gekommen ist.<br />

Im nächsten Schritt, dem so genannten positionellen<br />

Klonieren, versucht man nun die<br />

„schuldige“ Mutation zu finden. Dabei werden<br />

oft sämtliche proteinkodierende Abschnitte<br />

(Exone) dieser Gene in so einem Bereich<br />

systematisch Base für Base durchsequenziert.<br />

Vom Arbeitsumfang würde dies<br />

typischerweise mehrere Personen über mehrere<br />

Monate, manchmal sogar Jahre beschäftigen.<br />

Um seltene, nicht kankheitsverursachende<br />

Polymorphismen, die in diesem Chromosomenabschnitt<br />

ebenfalls mit der<br />

Erkrankung segregieren, von der schuldigen<br />

Mutation zu unterscheiden, müssen die Ergebnisse<br />

auch immer mit gesunden, nicht<br />

verwandten Kontrollpersonen verglichen<br />

werden (hier liegt vor allem das Potenzial<br />

falsch positiver Ergebnisse). Seit wenigen Monaten<br />

existieren jedoch neue Methoden, mit<br />

denen es möglich ist, den gesamten proteinkodierenden<br />

Teil des menschlichen Genoms<br />

innerhalb weniger Tage zu analysieren (Exom-<br />

Sequenzierung).<br />

Komplexe, nichtmendelsche Erkrankungen:<br />

Seit geraumer Zeit weiß man, dass das<br />

Erkrankungsrisiko auch bei komplexen, nichtmendelschen<br />

Erkrankungen durch genetische<br />

Varianten beeinflusst werden kann. Niedrigrisikoallele<br />

erhöhen die Wahrscheinlichkeit,<br />

mit der eine bestimmte Erkrankung auftritt,<br />

nur geringfügig. Die allermeisten TrägerInnen<br />

solcher Varianten bleiben zeitlebens von<br />

der Erkrankung verschont. Pro Allel-Variante<br />

erhöht sich das Risiko um ca. 50 %. In anderen<br />

Worten: Nimmt man das Lebenszeit-<br />

Risiko für eine bestimmte Erkrankung mit<br />

ca. 1 % an, dann haben TrägerInnen eines<br />

solchen Niedrigrisikoallels ein 1,5%iges Risiko.<br />

Niedrigrisikoallele werden mittels genomweiter<br />

Assoziationsanalysen (GWA) ermittelt. Bei<br />

einer GWA werden die DNA von mehreren<br />

hundert bis vielen tausend PatientInnen mit<br />

ebenso vielen gesunden Kontrollen verglichen<br />

und hunderttausende Genvarianten, so<br />

genannte Single-Nukleotid-Polymorphismen<br />

(SNP), genotypisiert. Ein SNP stellt die einfachste<br />

Form einer genetischen Variation dar.<br />

An einer bestimmten Stelle im Genom ist ein<br />

Nukleotid durch ein anderes ersetzt, also z<br />

B. statt einem Adenin (A) findet sich eine<br />

RESÜMEE<br />

Es waren immer die technologischen Entwicklungen,<br />

die den Fortschritt in der<br />

Genetik vorantrieben. So war es die Kartierung<br />

der genetischen Marker bzw. die<br />

Fertigstellung des humanen Genomprojektes,<br />

die die positionelle Klonierung der<br />

ersten Hochrisikogene ermöglicht haben.<br />

Es war die Entwicklung der DNA-Chip-<br />

Technologie, die die Entdeckung von<br />

Niedrigrisikogenen vorantrieb. So stehen<br />

wir erneut vor einem technologischen<br />

Wandel. Die rasanten Fortschritte in der<br />

Sequenziertechnologie machen es seit<br />

wenigen Monaten möglich, den gesamten<br />

proteinkodierenden Teil eines/-r PatientIn<br />

innerhalb weniger Tage komplett<br />

zu sequenzieren. Es ist daher zu erwarten,<br />

dass in den nächsten Jahren eine<br />

Reihe weiterer familiärer Hochrisikogene<br />

identifiziert werden. Man darf nicht vergessen,<br />

dass bisher nur ein kleiner Teil<br />

aller vermuteten Hochrisikogene entdeckt<br />

ist.<br />

Cytosin (C). In den meisten Fällen haben diese<br />

Veränderungen keinen Einfluss auf Proteinform<br />

oder -menge.<br />

Man nimmt an, dass es insgesamt ca. 10<br />

Millionen SNP im menschlichen Genom gibt,<br />

wobei aber nur ca. 1 Million mit einer Frequenz<br />

von 5 % und darüber vorkommen<br />

(häufige „common“ SNP). Nur diese häufigen<br />

SNP werden bei GWA untersucht. Dabei wird<br />

die Frequenz jedes einzelnen SNP in der Patientengruppe<br />

mit der in der Kontrollgruppe<br />

verglichen. Findet sich eine signifikante Abweichung<br />

in einer der beiden Gruppen, deutet<br />

das darauf hin, dass diese Variante (bzw.<br />

das Gen, in der sich die Variante befindet)<br />

mit der Erkrankung in einem Zusammenhang<br />

steht. Dabei ist es nicht die SNP-Variante<br />

selbst, die das Erkrankungsrisiko verursacht,<br />

sondern es sind genetische Varianten in unmittelbarer<br />

Nähe des getesteten SNP. Ursächliche<br />

Variante und positiv getestete SNP befinden<br />

sich in räumlicher Nähe auf dem gleichen<br />

Chromsomenabschnitt und werden<br />

gemeinsam vererbt (Linkage-Disequilibrium).<br />

Man nimmt an, dass die eigentlich ursächliche<br />

Variante nur geringfügig das Expressionsniveau<br />

des Gens oder, im Falle von Aminosäureveränderungen,<br />

die räumliche Struktur<br />

eines Proteins ändert. Allzu dramatische<br />

Veränderungen würde man eher nicht erwarten,<br />

sonst wäre der Effekt stärker.<br />

Der große Vorteil einer GWA liegt in der<br />

umfassenden genomweiten und hypothesenfreien<br />

Herangehensweise. Ein Nachteil<br />

dieser Methodik besteht in der Unmenge<br />

der zu analysierenden Einzeldaten. Um die<br />

echt positiven SNP von den falsch positiven<br />

verlässlich zu trennen, benötigt man entweder<br />

einen sehr niedrigen Signifikanzwert<br />

(p < 10 –8 ) oder man genotypisiert die weniger<br />

stark positiven SNP (10 –5 bis 10 –3 ) in<br />

einem zweiten unabhängigen PatientInnenkollektiv.<br />

In den letzten 5 Jahren wurden<br />

über 12.000 solcher Niedrigrisikoloci in<br />

über 200 GWA-Analysen identifiziert; darunter<br />

auch in einer Reihe neurologischer<br />

Erkrankungen wie Parkinson, essenzieller<br />

Tremor, Restless-Legs-Syndrom und multiple<br />

Sklerose. Die Entdeckung dieser Niedrigrisikoallele<br />

wird uns helfen, die pathogenen<br />

Stoffwechselwege dieser Erkrankungen<br />

besser zu verstehen.<br />

n<br />

32


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Genetik der Epilepsien<br />

Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass Epilepsien zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen<br />

zählen. So beträgt die kumulative Inzidenz für Epilepsien bis zum 85 Lebensjahr um 4,5 %, und wenn man auch<br />

Gelegenheitsanfälle und Fieberkrämpfe berücksichtigt, nähern wir uns der 10%-Marke 1 .<br />

DDie häufige Frequenz von Anfällen in der Bevölkerung<br />

sowie eine Reihe anderer experimenteller<br />

Untersuchungen und Beobachtungen<br />

legen nahe, dass eine mehr oder minder<br />

hohe Anfallsbereitschaft in vielen Personen<br />

prinzipiell vorgegeben ist, es aber meistens<br />

nur unter bestimmten provozierenden Bedingungen<br />

zum Überschreiten der Anfallsschwelle<br />

kommt 2 . Nach diesem Konzept wird<br />

diese individuell sehr unterschiedlich ausgeprägte<br />

Anfallssuszeptibilität durch das Gleichgewicht<br />

vieler pro- und antikonvulsiver Kräfte<br />

geprägt. Diese die Erregungsbereitschaft bestimmenden<br />

Faktoren wären in erster Linie<br />

genetisch determiniert, etwa könnte ein erregungsdämpfender<br />

Ionenkanal in einer aktiveren<br />

oder inaktivern Form vorliegen.<br />

Ein wesentlicher Punkt dieses Konzeptes<br />

wäre der, dass viele Gene das Gleichgewicht<br />

der Anfallsbereitschaft beeinflussen können.<br />

Je nachdem welche Gene welche Variationen<br />

aufweisen und in welcher Konstellation diese<br />

vorlägen, könnten klinisch sehr unterschiedliche<br />

Epilepsien mit einer manchmal offensichtlichen,<br />

meistens aber versteckten genetischen<br />

Ätiologie resultieren. An einem Ende<br />

des Spektrums lägen „genetisch einfache“<br />

monogenetische Epilepsien, am anderen<br />

Ende komplexe polygenetische Epilepsien.<br />

Monogenetische Epilepsien<br />

Am offensichtlichsten ist die genetische Ätiologie<br />

dann, wenn eine familiäre Epilepsie besteht,<br />

die nach den Mendelschen Gesetzen<br />

übertragen wird. Man spricht auch von monogenetischen<br />

Epilepsien, da hier Variation<br />

oder Mutationen in einzelnen Hauptgenen<br />

vorliegen. Die jeweilige Effektgröße der Mutationen<br />

ist so hoch, dass ein einzelnes Gen<br />

ausreicht, um die Erkrankung auszulösen.<br />

Diese monogenetischen Epilepsien sind zwar<br />

selten anzutreffen, aber ideal geeignet für<br />

die Suche nach den zugrunde liegenden<br />

Genen. So ist der beachtliche Fortschritt, den<br />

wir in den letzten 15 Jahren auf dem Gebiet<br />

der Epilepsiegenetik verzeichnen konnten,<br />

fast ausschließlich auf die Erforschung monogenetischer<br />

Epilepsien zurückzuführen 3 .<br />

Dabei konnten viele interessante Erkenntnisse<br />

gewonnen werden, unter anderem jene, dass<br />

sehr viele unterschiedliche Gene eine Epilepsie<br />

verursachen können. Insgesamt sind in<br />

der OMIM-Datenbank über 200 Gene gelis -<br />

tet, die bei Mutationen im Phänotyp – neben<br />

anderen Symptomen – auch epileptische<br />

Anfälle aufweisen (http://www.ncbi.nlm.nih.<br />

gov/omim). In der Tabelle findet sich eine<br />

subjektive Auswahl der klinisch oder wissenschaftlich<br />

interessantesten Epilepsie-Gene.<br />

Zunächst zeigt sich, nicht überraschend, dass<br />

viele dieser Gene für Ionenkanäle, Neurotransmitter-Rezeptoren<br />

oder assoziierte Gene<br />

kodieren. Darüber hinaus sind aber noch viele<br />

Gene mit anderen zellulären Funktionen in<br />

der Liste vertreten.<br />

Das prominenteste unter den Epilepsie-<br />

Genen ist das SCN1A-Gen, das für die porenbildende<br />

Alpha-1-Untereinheit eines wichtigen<br />

spannungsabhängigen Natriumkanals<br />

kodiert 4, 5 . Dieser NaV1.1-Natriumkanal wird<br />

ubiquitär im ZNS (v.a. am Zellkörper) exprimiert<br />

und ist für das Aktionspotenzial essenziell.<br />

Viele antiepileptische Medikamente<br />

(Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin) entfalten<br />

ihre Wirkung über diesen Kanal, indem<br />

sie den inaktiven Zustand des Kanals verlängern).<br />

Mutationen in diesem Kanal-Gen können<br />

zum autosomal dominanten GEFS-plus-Syndrom<br />

führen, das durch sehr variable Anfalls -<br />

Univ.-Prof. Dr.<br />

Fritz Zimprich<br />

Universitätsklinik<br />

für <strong>Neurologie</strong>,<br />

Medizinische Universität<br />

Wien<br />

typen (einfache Fieberkrämpfe, generalisierte<br />

tonisch-klonische Anfälle bis hin zu fokalen<br />

Anfällen) gekennzeichnet ist (GEFS plus steht<br />

für „generalised epilepsy febrile seizures<br />

plus“). Mutationen, die zu einem kompletten<br />

Funktionsverlust des Kanals führen und meist<br />

de novo auftreten, sind mit einem schwereren<br />

Phänotyp, dem Dravet-Syndrom, vergesellschaftet.<br />

Dabei handelt es sich um eine<br />

frühkindliche Enzephalopathie mit therapieresistenten<br />

Anfällen, einer Ataxie und einer<br />

globalen Entwicklungsbeeinträchtigung. Als<br />

möglicher Mechanismus wird eine Haploinsuffizienz<br />

vermutet, wobei der Kanal bevorzugt<br />

in inhibierenden Interneuronen ausfällt,<br />

womit die Erregungsbereitschaft in neuronalen<br />

Netwerken erhöht wird 4, 5 .<br />

Viele andere Ionenkanal-Gene und Synapsen-Gene<br />

konnten mit Epilepsien assoziiert<br />

werden. Dazu zählen Kaliumkanal-Gene, kaliumkanalassoziierte<br />

Gene (LGI1), Chloridkanal-Gene,<br />

Kalziumkanal-Gene, Gene für Acetylcholinrezeptoren,<br />

GABA-Rezeptoren oder<br />

Glutamatrezeptoren. Interessant, weil entgegen<br />

ursprünglichen Annahmen, ist, dass auch<br />

fokale Epilepsien durch Ionenkanalmutationen<br />

ausgelöst werden können, etwa die autosomal<br />

dominante nächtliche Frontallappen -<br />

epilepsie, der Mutationen im Acetylcholin -<br />

rezeptor-Gen CHRNA4 zugrunde liegen 6 .<br />

Rolle bei der neuronale Migration: Unter<br />

den Epilepsie-Genen befinden sich mehrere, u<br />

33


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Tab.: Auswahl klinisch oder wissenschaftlich interessanter Epilepsie-Gene<br />

Gen-Symbol Protein Funktion Phänotyp<br />

ALDH7A1 Antiquitin Enzym, Aldehyd- Pyridoxinabhängige Epilepsie<br />

Detoxifikation<br />

ARX Aristaless-related Homeobox-Gen, X-Chr.-Lissenzephalie<br />

Homeobox Transkriptionsfaktor<br />

CACNA1A P/Q-Kalziumkanal Neuronale Erregung IGE, Anfälle bei familiärer<br />

hemiplegischer Migräne,<br />

EA 2 oder SCA6<br />

CACNA1H Kalziumkanal Neuronale Erregung CEA<br />

CACNA1H T-Typ-Kalziumkanal Neuronale Erregung IGE, CEA<br />

CACNB4 Kalziumkanal, Neuronale Erregung Anfälle bei EA5<br />

Beta-4-Untereinheit<br />

CHRNA4 Acetylcholinrezeptor Neuronale Erregung AD nächtliche<br />

Frontallappenepilepsie<br />

CLCN2 Chloridkanal Neuronale Erregung IGE<br />

CSTB Cystatin-B Proteaseinhibitor Unverricht-Lundborg-progressive<br />

Myoklonusepilepsie<br />

DCX Doublecortin Neuronale Migration, Subkortikale laminäre<br />

Mikrotubulusfunktion Heterotopie, X-Chr.-<br />

Lissenzephalie<br />

EFHC1 EF-Hand-Domain- Kalziumkanal- JME, CEA<br />

containing Protein 1 assoziiert, Apoptose<br />

EPM2A Laforin Proteinphosphatase, PME, Lafora-Typ<br />

Glykogenmetabolismus<br />

FLNA Filamin A Aktin-Zytoskelett, Periventrikuläre noduläre<br />

neuronale Migration Heterotopie (X-Chr.)<br />

GABRA1 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung JME<br />

GABRA1 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung CEA<br />

GABRG2 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung CEA<br />

GABRG2 GABA-Rezeptor Neuronale Erregung Familiäre Fieberkrämpfe 8,<br />

GEFS+, Dravet-Syndrom<br />

GRIA3 Glutamatrezeptor Neuronale Erregung Anfälle bei X-Chr.-<br />

(AMPA 3)<br />

Retardierung<br />

KCNA1 Shaker-Typ- Neuronale Erregung Anfälle bei Myokymie<br />

Kaliumkanal<br />

und EA1<br />

KCNMA1 Kaliumkanal (BK) Neuronale Erregung Generalisierte Anfälle bei<br />

paroxysmaler nonkinesiogener<br />

Dyskinesie<br />

KCNQ2 Kaliumkanal Neuronale Erregung Benigne familiäre<br />

Neugeborenenkrämpfe<br />

KCNQ3 Kaliumkanal Neuronale Erregung Benigne familiäre<br />

Neugeborenenkrämpfe<br />

KCTD7 Kaliumkanal- Im Detail unklar PME Typ 3<br />

assoziiert<br />

LGI1 Leucine-rich Glioma Kaliumkanalassoziiert, AD laterale Temporallappeninactivated-1<br />

neuronale Erregung epilepsie<br />

protein<br />

MECP2 Methyl-CpG-Binding DNA-Methylierung Rett-Syndrom<br />

Protein 2<br />

MFSD8 Major facilitator Lysosomales Protein Neuronale Ceroidsuperfamily<br />

domain- Lipofuszinose 7<br />

containing protein-8<br />

MTND4, NADH-Dehydro- Mitochondriales MELAS<br />

MTTL1 genase Komplex-I-Enzym<br />

und andere<br />

die eine Rolle bei der neuronalen Migration<br />

bzw. der korrekten „Verschaltung“ von Netzwerken<br />

spielen. Eine Störung der neuronalen<br />

Migration liegt offensichtlich bei der subkortikalen<br />

laminären Heterotopie vor, wo Mutationen<br />

im mikrotubulusassoziierten Doublecortin-Gen<br />

gefunden werden konnten, oder<br />

bei der periventrikulären nodulären Heterotopie<br />

mit Fehlfunktion im Aktinzytoskelett<br />

durch Mutationen im Filamin-A-Gen. Analoge<br />

Störungen in der Netzwerkorganisation<br />

vermutet man auch bei Epilepsien, die durch<br />

Gene mit Bedeutung im Apoptose-Mechanismus<br />

verursacht werden (z.B. das EFHC1-<br />

Gen oder MAPK10-Gen) 6, 7 .<br />

Funktion im DNA-Haushalt Andere Epilepsie-Gene<br />

erfüllen eine Funktion im DNA-<br />

Haushalt und können so sekundär die Funktion<br />

anderer Gene beeinflussen. So liegen<br />

dem Rett-Syndrom Mutationen im MECP2-<br />

Gen zugrunde mit konsekutiven Störungen<br />

der DNA-Methylierung. Weitere Epilepsie-<br />

Gene haben eine Bedeutung im mitochondrialen<br />

Stoffwechsel und könnten über eine<br />

Beeinträchtigung des Energiehaushaltes von<br />

Nervenzellen pathogen wirken, während andere<br />

Epilepsie-Gene in sonstige essenzielle<br />

Haushaltsfunktionen von Nerven- oder Gliazellen<br />

involviert sind. Schließlich muss aber<br />

auch erwähnt werden, dass der Pathomechanismus<br />

für viele epilepsieassoziierten<br />

Gene noch weitgehend unklar ist 6 .<br />

Es ist zu vermuten, dass sich diese Liste in<br />

naher Zukunft um viele Gene erweitern wird,<br />

da mit dem Fortschreiten der Technik (Exomsequenzierungen)<br />

neue Familien (mit jeweils<br />

neuen Genmutationen) mit geringem Aufwand<br />

untersucht werden können.<br />

Genotypische und phänotypische Heterogenität:<br />

So verschieden die Funktionen<br />

der einzelnen Gene sind – und trotz der Unterschiede<br />

der assoziierten Epilepsie-Phänotypen<br />

–, können einige allgemeine Punkte<br />

hervorgehoben werden, die für viele monogenetischen<br />

Epilepsien zutreffen 1, 3, 5 .<br />

Es fällt eine große Überlappung der durch<br />

verschiedene Gene verursachten Phänotypen<br />

auf (genotypische Heterogenität). So können<br />

34


Tab.: Fortsetzung<br />

klinisch nicht differenzierbare Formen der<br />

idiopathisch generalisierten Epilepsien (IGE)<br />

durch Chloridkanal-Gene, Calciumkanal-<br />

Gene oder GABA-Rezeptor-Gene verursacht<br />

werden. Ebenso kann das GEFS-plus-Syndrom<br />

durch unterschiedliche Natriumkanal-<br />

Gene aber ebenso durch GABA-Rezeptoren<br />

bedingt sein. Auch viele der kindlichen epileptischen<br />

Enzephalopathien präsentieren<br />

sich mit einer ähnlichen Klinik.<br />

Umgekehrt können Mutationen in ein und<br />

demselben Gen ein heterogenes Spektrum<br />

klinischer Phänotypen verursachen (phänotypische<br />

Heterogenität). Als Beispiel seien die<br />

oben erwähnten unterschiedliche Phänotypen<br />

beim GEFS-plus-Syndrom bzw. beim<br />

schwereren Dravet-Syndrom genannt, denen<br />

allen SCN1A-Mutationen zugrunde liegen.<br />

Die phänotypische Heterogenität wird unter<br />

anderem auch auf den Einfluss modulierender<br />

Genfaktoren zurückgeführt.<br />

Mendelsche Epilepsien<br />

und copy number variations<br />

Eine wesentliche Erkenntnis der letzten Jahre<br />

ist, dass Mendelsche Epilepsien auch durch<br />

sog. „copy number variations“ (CNV) verursacht<br />

werden können. Bei diesen CNV, die<br />

auch bei gesunden Personen überraschend<br />

häufig vorkommen, handelt es sich um Deletionen<br />

oder Duplikationen längerer DNA-<br />

Abschnitte (Hunderte bis Millionen Basenpaare).<br />

So ist eine 1,5 Millionen Basenpaare lange<br />

Deletion am Chromosom 15q13 für etwa 1 %<br />

aller idiopathisch generalisierten Epilepsien<br />

(IGE) verantwortlich. Manche dieser PatientInnen<br />

zeigen eine mentale Retardierung, andere<br />

sind aber kognitiv völlig unauffällig, mit<br />

einer lediglich milden IGE 8 . Ein sehr verdächtiges<br />

Kandidaten-Gen in dieser Region ist die<br />

Alpha-7-Untereinheit des Acetylcholinrezeptors.<br />

(Allerdings stehen die endgültigen Beweise<br />

für die Schuld dieses Gens noch aus,<br />

da bislang keine Mutationen – etwa bei anderen<br />

IGE-PatientInnen – gefunden werden<br />

konnten.) Weitere Mikrodeletionen, die mit<br />

Epilepsien in Zusammenhang gebracht wurden,<br />

sind in den Regionen 15q11.2 and<br />

16p13.11 lokalisiert 9 . u<br />

Gen-Symbol Protein Funktion Phänotyp<br />

MTTK Mitochondrial tRNA Mitochondriale MERRF<br />

und andere for Lysin Funktion<br />

NHLRC1 Malin, Proteasomenfunktion PME Typ 2B<br />

Ubiquitin-Ligase<br />

PAFAH (LIS1) Platelet-activating Reelin-Aktivierung, Miller-Dieker-Lissenzephalie-<br />

Factor-Acetylhydro- neuronale Migration Syndrom<br />

lase<br />

PPT1 Palmitoyl-Protein- Lipidmetabolismus Neuronale Ceroid-<br />

Thioesterase Lipofuszinose 1<br />

PRICKLE1 Nukleärer Rezeptor Transkription PME Typ 1B<br />

RELN Reelin Guidance, neuronale Lissenzephalie<br />

Migration<br />

SCN1A Natriumkanal, Neuronale Erregung GEFS+, Dravet-Syndrom<br />

Alpha-1-Untereinheit<br />

SCN1B Natriumkanal, Neuronale Erregung GEFS+<br />

Beta-1-Untereinheit<br />

SCN2A Natriumkanal, Neuronale Erregung Benigne familiäre infantile<br />

Alpha-2-Untereinheit<br />

Anfälle, Frühkindliche<br />

epileptische Enzephalopathie<br />

SLC1A3 Glutamat Neuronale Erregung Anfälle bei EA 6<br />

Transporter<br />

SLC2A1 GLUT1, Gehirnstoffwechsel Anfälle bei GLUT1-<br />

Glukosetransporter,<br />

Defizienz-Syndrome<br />

Blut-Hirn-Schranke<br />

SRPX2 Sushi-Repeat- Neuronale Migration? Rolando-Epilepsie mit<br />

containing Protein,<br />

Sprechdyspraxie, bilaterale<br />

X-linked 2<br />

perisylvische Polymikrogyrie<br />

SYN1 Synapsin I Neuronale Erregung X-Chr. Epilepsie mit mentaler<br />

Retardierung<br />

TPP1 Tripeptidyl-Peptidase Lysosomale Peptidase Neuronale Ceroid-<br />

Lipofuszinose 2<br />

TSC1 Hamartin Hamartin-Tuberin- Tuberöse Sklerose 1,<br />

Komplex, Tumorsup- fokale kortikale Dysplasie<br />

pression, vesikulärer<br />

Transport<br />

TSC2 Tuberin Hamartin-Tuberin- Tuberöse Sklerose 2<br />

Komplex, Tumorsuppression,<br />

vesikulärer<br />

Transport<br />

TUBA1A Tubulin Neuronale Migration, Lissenzephalie<br />

Mikrotubulusfunktion<br />

UBE3A Ubiquitin- Proteasomenfunktion Angelman-Syndrom<br />

Protein-Ligase<br />

VLDLR Very Low Density Reelin-Aktivierung, Anfälle bei AR zerebellärer<br />

Lipoprotein Receptor Neuronale Migration Ataxia und mentaler<br />

Retardierung<br />

CDKL5 Cyclin-dependent Kinase, essenziell für Rett-Symdrom,<br />

Kinase-like 5 Gehirnentwicklung West-Syndrom<br />

MAPK10 Mitogen-activated Kinase, Apoptosepfad Epileptische Enzephalopathie,<br />

Protein Kinase 10<br />

Lennox-Gastaut-Typ<br />

SIAT9 Sialyltransferase Gangliosid- Amisches frühkindliches<br />

metabolismus Epilepsie-Syndrom<br />

AD = autosomal dominant; AR = autosomal rezessiv; CEA = Absence-Epilepsie des Schulalters;<br />

GEFS+ = generalized epilepsy febrile seizures plus; IGE = idiopathisch generalisierte Epilepsie;<br />

JME = juvenile Myoklonusepilepsie; PME = progressive Myoklonusepilepsie<br />

SCA = spinozerebelläre Ataxie<br />

35


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Komplexe Epilepsien<br />

Im Gegensatz zu genetisch einfachen Mendelschen<br />

Epilepsien liegt der überwiegenden<br />

Mehrheit aller PatientInnen mit kryptogener<br />

Epilepsie eine genetisch komplexe Ätiologie<br />

zugrunde. Obwohl die Genetik dieser Epilepsieformen<br />

zur Zeit noch sehr schlecht verstanden<br />

wird, lassen sich zwei Punkte zweifelsfrei<br />

feststellen, nämlich, dass der genetische<br />

Beitrag an der Gesamtätiologie hoch ist<br />

und dass in den jeweiligen PatientInnen mehrere<br />

Gene an der Pathogenese beteiligt sein<br />

müssen, also eine polygenetische Ätiologie<br />

vorliegt.<br />

Die Höhe der genetische Ätiologie lässt sich<br />

annähernd durch die Heritabilität ermitteln.<br />

(Diese Maßzahl, die man aus Familien- und<br />

Zwillingsstudien errechnen kann, gibt eigentlich<br />

die Varianz des Anfallsrisikos wieder, die<br />

durch vererbte Faktoren erklärt werden<br />

kann.) Für Epilepsien liegt die Heritabilität je<br />

nach Untersuchung und Epilepsiesyndrom<br />

zwischen 70 % und 90 %, also beachtlich<br />

hoch. Dies gilt im Übrigen sowohl für die<br />

idiopathisch generalisierte als auch fokale<br />

Epilepsien.<br />

Die polygenetische Genese ergibt sich aus<br />

dem exponenziellen Abfall des Epilepsierisikos<br />

für Verwandte mit der Nähe der Verwandtschaft<br />

zum Indexpatienten. (Das Risiko<br />

ist oft um das 30-Fache erhöht in monogenetischen<br />

Zwillingen, 3- bis 11-fach in Verwandten<br />

1. Grades, aber nicht mehr signifikant<br />

erhöht in Verwandten 2. Grades.) Die<br />

Erklärung dafür ist, dass die (notwendige)<br />

gleichzeitige Vererbung mehrerer ätiologisch<br />

relevanter Gene exponenziell unwahrscheinlicher<br />

wird, je geringer der gemeinsame Anteil<br />

am Abstammungs-Genom ist 1, 10 .<br />

Offene Fragen: Viele andere entscheidende<br />

Punkte bei komplexen Epilepsien sind aber<br />

nach wie vor ungeklärt 11, 12 :<br />

• So ist unbekannt, wie viele Gene zu<br />

komplexen Epilepsien beitragen können<br />

(weder bei einzelnen PatientInnen noch<br />

in der gesamten Population). Wenn man<br />

von den monogenetischen Epilepsien<br />

extrapoliert, muss man annehmen, dass<br />

RESÜMEE<br />

Zusammenfassend kann gesagt werden,<br />

dass in der kurzen Zeit seit der Entde -<br />

ckung der ersten Epilepsie-Gene wirklich<br />

große Fortschritte bei monogenetischen<br />

Epilepsien gemacht werden konnten. So<br />

kennen wir heute hunderte Epilepsie-<br />

Gene, die uns nicht nur ein besseres Verständnis<br />

der Pathogenese von Epilepsien<br />

ermöglichen, sondern auch für die Klinik<br />

relevant sind. Der Durchbruch bei den<br />

häufigen „komplexen“ Epilepsien steht<br />

noch aus, insbesondere warten wir auf<br />

die Lösung der Frage nach dem Substrat<br />

der nachgewiesen hohen Heritabilität<br />

von kryptogenen Epilepsien.<br />

(in der Gesamtbevölkerung) wohl<br />

Dutzende bis Hunderte verschiedener<br />

Gene das Epilepsierisiko beeinflussen<br />

können.<br />

• Unbekannt ist auch, nach welcher Art<br />

von genetischen Varianten eigentlich<br />

gesucht werden muss. Es ist eher un -<br />

wahrscheinlich, dass in diesem Zusam -<br />

men hang jene genetischen Mutationen<br />

eine Rolle spielen werden, die mit einem<br />

schweren Funktionsverlust des Proteins<br />

einhergehen und häufig für monogene -<br />

tische Epilepsien verant wortlich sind (z.B.<br />

Mutationen, die ein Stopp-Codon ein -<br />

fügen). Es ist eher anzunehmen, dass<br />

Varianten mit einer geringeren Aus wir -<br />

kung auf die Funktion des Genproduktes<br />

von Bedeutung sind, etwa solche, die<br />

das Ausmaß der Expression beeinflussen<br />

oder über das Spleißverhalten<br />

entscheiden. Ein großes Problem besteht<br />

allerdings darin, dass diese funktionellen<br />

Varianten nur äußerst schwierig von den<br />

weitaus häufigeren unbedeutenden<br />

Zufallsvariationen abzugrenzen sind.<br />

• Eine andere offene Frage besteht darin,<br />

ob es sich bei den kausalen Variationen<br />

um wenige unterschiedliche handelt, die<br />

häufig vorkommen (common variants),<br />

oder, ob jede(r) PatientIn seine/ihre<br />

eigenen „privaten“ Mutationen trägt<br />

(multiple rare variants). Diese Frage ist<br />

relevant, weil für beide Möglichkeiten<br />

sehr unterschiedliche Forschungsstrategien<br />

Erfolg versprechend sind. (Nur<br />

bei den common variants wird man<br />

aus statistischen Gründen mit<br />

Assoziationsstudien Erfolg haben<br />

können.)<br />

Das Urteil, welche der Möglichkeiten<br />

eher zutrifft, steht noch aus, allerdings<br />

hat die Suche nach common variants<br />

bislang, trotz erheblicher internationaler<br />

Anstrengungen, noch wenig Erfolge<br />

gebracht 11, 12 . Ein seltenes Beispiel für<br />

eine häufige funktionelle Variante sei<br />

hier dennoch genannt, nämlich ein<br />

Einzelbasenpolymorphismus (SNP) im<br />

bereits erwähnten Natriumkanal-Gen<br />

SCN1A . Dieser SNP, den ca. 50 % der<br />

SCN1A-Gene aufweisen, verhindert die<br />

Bildung einer Spleißvariante des Kanals,<br />

die normalerweise in der Kindheit ex -<br />

primiert wird. Nach mittlerweile bestä -<br />

tigten Untersuchungen scheinen Kinder<br />

mit diesem SNP häufiger Fieberkrämpfe<br />

zu erleiden. Die Risikoerhöhung für die<br />

Einzelperson ist zwar gering, aber auf<br />

Populationsebene könnte der SNP durch<br />

seine Häufigkeit für einen beträchtlichen<br />

Teil von Fieberkrämpfen verantwortlich<br />

sein 13 .<br />

n<br />

1 Zimprich F, Grundlagen und Zahlen zur genetische<br />

Beratung bei komplexen Epilepsien. J Neurol Neurochir<br />

Psychiatr 2009;10<br />

2 Baulac S et al., Fever, genes, and epilepsy. Lancet<br />

Neurol 2004; 3:421–30<br />

3 Helbig I et al., Navigating the channels and beyond:<br />

unravelling the genetics of the epilepsies. Lancet<br />

Neurol 2008; 7:231–45<br />

4 Catterall WA, Kalume F and Oakley JC, NaV1.1<br />

channels and epilepsy. J Physiol 2010; 588:1849–59<br />

5 Scheffer IE et al., Dravet syndrome or genetic<br />

(generalized) epilepsy with febrile seizures plus?<br />

Brain Dev 2009; 31:394–400<br />

6 OMIM-Database:<br />

7 Liu JS, Molecular genetics of neuronal migration<br />

disorders. Curr Neurol Neurosci Rep <strong>2011</strong>; 11:171–8<br />

8 Helbig I et al., 15q13.3 microdeletions increase risk of<br />

idiopathic generalized epilepsy. Nat Genet 2009;<br />

41:160–2<br />

9 de Kovel CG et al., Recurrent microdeletions at<br />

15q11.2 and 16p13.11 predispose to idiopathic<br />

generalized epilepsies. Brain 2010; 133:23–32<br />

10 Kjeldsen MJ et al., Genetic factors in seizures: a<br />

population-based study of 47,626 US, Norwegian and<br />

Danish twin pairs. Twin Res Hum Genet 2005;<br />

8:138–47<br />

11 Bodmer W and Bonilla C, Common and rare variants in<br />

multifactorial susceptibility to common diseases. Nat<br />

Genet 2008; 40:695–701<br />

12 Cirulli ET and Goldstein DB, Uncovering the roles of<br />

rare variants in common disease through whole-genome<br />

sequencing. Nat Rev Genet 2010; 11:415–25<br />

13 Schlachter K et al., A splice site variant in the sodium<br />

channel gene SCN1A confers risk of febrile seizures.<br />

Neurology 2009; 72:974–8<br />

36


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Genetik der Leukodystrophien<br />

Der Begriff Leukodystrophie fasst alle progressiv verlaufenden Erbkrankheiten zusammen, die zu einer<br />

Zerstörung der weißen Substanz im Gehirn oder Rückenmark führen. Leukodystrophien liegen oft metabolische<br />

Defekte zu Grunde, die entweder zu einer fehlerhaften Entwicklung des Myelins oder zu einer Zerstörung von<br />

intaktem Myelin führen. Entmarkungen, die durch Infektionen oder Tumoren ausgelöst werden, fallen jedoch<br />

nicht unter den Begriff Leukodystrophie.<br />

Die Zahl der bekannten Gene, bei denen genetische<br />

Defekte zu Leukodystrophien führen<br />

können, steigt stetig an. In der Tabelle sind die<br />

häufigsten Leukodystrophien, deren Gennamen,<br />

Abkürzungen, chromosomale Lokalisation<br />

sowie deren Erbgang aufgelistet. Zudem<br />

ist die OMIM-Nummer (Online Mendelian Inheritance<br />

in Man) angegeben, unter der auf<br />

der Website des „National Institutes of Health“<br />

weitere Informationen zu den einzelnen<br />

Leukodystrophien gefunden werden können<br />

(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim).<br />

Die Leukodystrophien können in peroxiso -<br />

male und lysosomale Leukodystrophien (z. B.<br />

X-chromosomale Adrenoleukodystrophie,<br />

metachromatische Leukodystrophie, Globoidzellleukodystrophie),<br />

vakuolisierende Leukodystrophien<br />

(z.B.: Alexander-Syndrom, CACH-<br />

Syndrom, Canavan-Krankheit, vakuolisierende<br />

megalenzephale Leukodystrophie mit<br />

subkortikalen Zysten) und hypomyelinisierende<br />

Leukodystrophien (z.B.: Morbus Pelizaeus-<br />

Merzbacher) eingeteilt werden.<br />

X-chromosomale Adrenoleukodystrophie<br />

(X-ALD): Mutationen im ABCD1-Gen sind<br />

die genetische Ursache für die X-chromosomale<br />

Adrenoleukodystrophie (X-ALD). Das<br />

ABCD1-Gen kodiert für den ATP-Bindungskassettentransporter<br />

D1, der Coenzym-A-aktivierte<br />

überlangkettige Fettsäuren aus dem<br />

Zytosol in das Peroxisom transportiert, wo sie<br />

normalerweise abgebaut werden. Bei X-ALD<br />

kommt es deshalb immer zu einer Speicherung<br />

der überlangkettigen Fettsäuren.<br />

X-ALD umfasst ein breites klinisches Spektrum.<br />

Etwa 45 % der männlichen Träger einer<br />

Mutation im ABCD1-Gen entwickeln im Alter<br />

zwischen 5 und 12 Jahren eine kindlich zerebrale<br />

Verlaufsform mit einer entzündlichen<br />

Demyelinisierung, die in einem neurovegetativen<br />

Status mündet und nach einigen Jahren<br />

zum Tod führt. Wenn sich keine kindlich zerebrale<br />

Verlaufsform entwickelt, kommt es<br />

zumeist im Alter zwischen 20 und 45 Jahren<br />

zu Gangstörungen, spastischer Paraparese<br />

und Inkontinenz. Diese Verlaufsform wird als<br />

Adrenomyeloneuropathie (AMN) bezeichnet<br />

und kann auch im erwachsenen Alter in eine<br />

zerebrale, demyelinisierende Verlaufsform<br />

übergehen.<br />

Etwa 70 % aller männlichen X-ALD-Patienten<br />

entwickeln eine Nebennierenrindeninsuffizienz.<br />

Die heterozygoten Erbträgerinnen können<br />

Symptome ähnlich der AMN entwickeln,<br />

die jedoch nie entzündlich werden. Alle Verlaufsformen<br />

können durch dieselbe ABCD1-<br />

Genmutation verursacht werden und auch<br />

innerhalb einer Familie auftreten. Es gibt<br />

keine Genotyp-Phänotyp-Korrelation. Im zentralen<br />

Nervensystem dürften an der Pathologie<br />

überwiegend Oligodendroglia- und<br />

Mikro gliazellen beteiligt sein (Abb.). Sowohl<br />

Umweltfaktoren als auch genetische Faktoren<br />

scheinen für die klinische Manifestation von<br />

X-ALD verantwortlich zu sein.<br />

Metachromatische Leukodystrophie (MLD)<br />

ist eine autosomal-rezessiv vererbte lysosomale<br />

Stoffwechselerkrankung, die zu einer<br />

Demyelinisierung im zentralen und peripheren<br />

Nervensystem führt. Nach dem Zeitpunkt<br />

des Krankheitsbeginns, den Symptomen und<br />

der Progression der Erkrankung unterscheidet<br />

man drei klinische Formen: spätinfantil, juvenil<br />

und adult.<br />

Univ.-Prof. Mag. Dr.<br />

Johannes Berger<br />

Zentrum für Hirnforschung,<br />

Medizinische Universität<br />

Wien<br />

Die Krankheit ist durch genetische Veränderungen<br />

des Enzyms Arylsulfatase A (ARSA)<br />

bedingt. Man kennt derzeit über 60 MLD<br />

verursachende Arylsulfatase-A-Mutationen.<br />

Diese Mutationen lassen sich in zwei Gruppen<br />

unterteilen:<br />

1) Mutationen ohne enzymatische Aktivität<br />

(0-Typ-Mutationen) und<br />

2) Mutationen mit Restaktivität (R-Typ-<br />

Mutationen).<br />

MLD-PatientInnen mit zwei 0-Typ-Mutationen<br />

(ohne Enzymaktivität) sind von der<br />

schwersten spätinfantilen Form von MLD betroffen,<br />

wohingegen PatientInnen mit zwei<br />

R-Typ-Mutationen (es ist noch Enzymaktivität<br />

vorhanden) an der adulten Form erkranken.<br />

Hat ein/eine PatientIn eine 0-Typ-Mutation<br />

zusammen mit einer R-Typ-Mutation, so wird<br />

der/die PatientIn in Abhängigkeit von der<br />

Höhe der Restaktivität (der R-Typ-Mutation)<br />

entweder an der juvenilen oder adulten Form<br />

der MLD erkranken. Zudem konnte gezeigt<br />

werden, dass erwachsene PatientInnen, homozygot<br />

für die Mutation der Aminosäure<br />

Prolin 426 zu Leucin, als Erstsymptomatik<br />

überwiegend neurologische Symptome wie<br />

spastische Paraparese oder zerebelläre Ataxie<br />

aufweisen, wohingegen PatientInnen mit der<br />

Mutation der Aminosäure Isoleucin 179 zu<br />

Serin überwiegend mit schizophrenieähnli-<br />

40


chen Verhaltensauffälligkeiten beginnen.<br />

Die Diagnose der metachromatischen Leukodystrophie<br />

wird durch das Auftreten einer<br />

„Pseudodefizienz“ (Arylsulfatase-A-Mutationen,<br />

die die Enzymaktivität zwar um mehr<br />

als 70 % reduzieren, jedoch immer noch genügend<br />

Restaktivität lassen, sodass der/die<br />

TrägerIn nicht erkrankt) erschwert. Das heißt,<br />

bei MLD besteht ein sehr klarer Zusammenhang<br />

zwischen der Art der Mutation und der<br />

damit einhergehenden Stabilität und Restaktivität<br />

des Enzyms und der Art und Schwere<br />

der Symptome.<br />

Globoidzellleukodystrophie (GLD), auch<br />

Morbus Krabbe genannt, wird autosomal-rezessiv<br />

vererbt. Dieser Leukodystrophie liegen<br />

Mutationen in dem Gen zugrunde, das für<br />

das lysosomale Enzym Galactosylceramidase<br />

kodiert. Die krankheitscharakteristischen Globoidzellen<br />

leiten sich von Makrophagen her,<br />

die durch hydrolisierte Galactosylceramide induziert<br />

werden. Die Demyelinisierung im zentralen<br />

und peripheren Nervensystem könnte<br />

möglicherweise von der Anreicherung zelltoxischer<br />

Metaboliten Galactosylsphingosin<br />

oder „Psychosin“ herrühren.<br />

Morbus Alexander ist durch autosomal-dominante<br />

Mutationen im GFAP-Gen bedingt.<br />

In den meisten Fällen ist die Mutation im<br />

GFAP-Gen spontan entstanden, da sie oft in<br />

den Eltern nicht nachgewiesen werden kann.<br />

Das GFAP-Gen kodiert für das saure Gliafibrillen-Protein,<br />

das sich in PatientInnen mit<br />

Alexander-Syndrom in so genannten Rosenthal-Fasern<br />

in Astrozyten ablagert (Abb.). Der<br />

klinische Verlauf ist hoch variabel. Die infantile,<br />

schwere Verlaufsform beginnt innerhalb<br />

der ersten zwei Jahre mit progredienter Megalenzephalie,<br />

verzögerter psychomotorischen<br />

Entwicklung, Ataxie sowie einer zumeist<br />

im Frontallappen zu beobachtende<br />

Myelinauffälligkeit. Der klinische Verlauf der<br />

juvenilen und adulten Form ist sehr variabel<br />

und beginnt häufig mit spastischer Paraplegie.<br />

Eine starke Überexpression des humanen<br />

GFAP-Gens in Astrozyten der Maus wirkt<br />

letal, während eine gemäßigte Expression als<br />

Mausmodell zum Studium der molekularen<br />

Mechanismen der Krankheit dient. u<br />

Tab.: Die häufigsten Leukodystrophien<br />

Erkrankung (Abkürzung) Gen-Name (chromosomale Lokalisation) Art der Vererbung McKusick-Nummer<br />

X-chromosomale Adreno- ATP-Bindungskassetten-Transporter D1; X-chromosomal 300100<br />

leukodystrophie (X-ALD)<br />

ABCD1 (Xq28)<br />

Metachromatische Arylsulfatase A; ASA (22q13) autosomal rezessiv 250100<br />

Leukodystrophie (MLD) Saposin B; PSAP (10q22.1) autosomal rezessiv 176801<br />

Globoidzellleukodystrophie Galactocerebrosidase; GALC (14q31) autosomal rezessiv 245200<br />

(GLD) oder Morbus Krabbe<br />

Morbus Alexander (AxD) saure Gliafaserprotein; GFAP (11q13) autosomal dominant 203450<br />

CACH-Syndrome („Childhood eines der 5 Gene kodierend für eukaryotischen autosomal rezessiv 603896<br />

Ataxia with Central Nervous Translationsinitiationsfaktor 2B; EIF2B1-EIF2B5<br />

System Hypomyelination“ (12q24.3, 14q24,1p34.1, 2p23.3, 2q27)<br />

oder VWM „Vanishing White<br />

Matter“)<br />

Morbus Canavan (CD) Aspartoacylase; ASPA (17pter-p13) autosomal rezessiv 271900<br />

Megalenzephalie – zystische MLC1; MLC1 (22q13.33) autosomal rezessiv 604004<br />

Leukodystrophie (MLC) Ein 2. Gen, das die Krankheit ebenfalls autosomal rezessiv<br />

verursachen kann, wird vermutet<br />

Osteodysplasie, lipomembranöse TYRO Protein-Tyrosinkinase-bindendes Protein; autosomal rezessiv 221770<br />

polyzystische-sklerosierende TYROBP (19q13.1)<br />

Leukoenzephalopathie (PLOSL) Triggering Receptor Expressed on Myeloid Cells2; autosomal rezessiv<br />

TREM2 (6p21.2)<br />

Morbus Pelizaeus-Merzbacher (PMD) Proteolipidprotein; PLP (Xq22) X-chromosomal 312080<br />

Sjören-Larsson-Syndrom (SLS) Aldehyddehydrogenase 3A2; ALDH3A2 (17p11.2) autosomal rezessiv 270200<br />

Zerebrotendinöse Xanthomatose Sterol-27-Hydroxylase; CYP27A1 (2q33-qter) autosomal rezessiv 213700<br />

(CTX)<br />

41


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Abb.: Leukodystrophien<br />

Morbus Canavan, eine autosomal-rezessiv<br />

vererbte neurodegenerative Erkrankung, ist<br />

durch Rumpfhypotonie und Makrozephalie<br />

sowie spastische Paresen, Opisthotonus, Kontaktverlust,<br />

Erblindung und Krämpfe mit unterschiedlichem<br />

zeitlichem Beginn gekennzeichnet.<br />

Die Leukodystrophie ist durch Mutationen<br />

im Aspartoacylase-Gen bedingt, das<br />

für das Enzym Aspartoacylase kodiert, welches<br />

in Oligodendrozyten N-Acetylaspartat in<br />

Asparaginsäure und Essigsäure spaltet. Diagnostisch<br />

findet man eine 50-fache Anreicherung<br />

von N-Acetylaspartat im Harn.<br />

MLC: Bei 80 % der PatientInnen mit vakuolisierender<br />

megalenzephaler Leukodystrophie<br />

mit subkortikalen Zysten (MLC) wurden Mutationen<br />

im MLC1-Gen gefunden. Die autosomal<br />

rezessive Erbkrankheit ist durch eine<br />

frühe, infantile Makroenzephalie sowie durch<br />

eine verzögerte motorische und kognitive<br />

Entwicklung charakterisiert. Im MRT sind diffuse<br />

Veränderungen der zerebralen weißen<br />

Substanz sowie subkortikale Zysten zu beobachten.<br />

Da nicht alle PatientInnen eine Mutation<br />

im MLC1-Gen aufweisen, vermutet<br />

man noch weitere für diese Leukodystrophie<br />

verantwortliche Gene. Die Funktion von<br />

MLC1 sowie der molekulare Mechanismus,<br />

der zu MLC führt, sind noch unklar.<br />

CACH-Syndrom: Die genetische Ursache des<br />

CACH-Syndroms liegt in einem von 5 Genen,<br />

die für den eukaryotischen Translationsinitiationsfaktor<br />

2b kodieren. Der eukaryotische<br />

Translationsinitiationsfaktor 2b ist an der Regulierung<br />

der Proteinsynthese unter zellulärem<br />

Stress beteiligt. Demzufolge exazerbieren<br />

die Symptome unter zellulärem Stress, wie<br />

zum Beispiel bei Fieberschüben oder Schädeltrauma.<br />

Den Namen erhält das CACH-Syndrom aus<br />

der „Childhood Ataxia with Central nervous<br />

system Hypomyelinatinon“. Aufgrund der<br />

charakteristischen Demyelinisierung wird das<br />

Syndrom auch VWM-Erkrankung genannt<br />

nach der „Vanishing White Matter Disease“.<br />

Auch diese Leukenzephalopathie ist klinisch<br />

extrem heterogen, und die Symptome können<br />

mit 4 Monaten oder mit 30 Jahren (Mittelwert<br />

3,9 Jahre) beginnen. Die Erkrankung<br />

kann rasch zum Tode führen oder ohne neurologische<br />

Symptome verlaufen.<br />

Das CACH-Syndrom wurde ursprünglich von<br />

Van der Knaap mittels Bildgebung charakterisiert,<br />

so wurde eine Gruppe von PatientInnen<br />

identifiziert und die erste Mutation entdeckt.<br />

Da die PatientInnenzahl für die genetische<br />

Untersuchung sehr klein war, konnte die genetische<br />

Krankheitsursache nur entdeckt werden,<br />

weil bei allen PatientInnen dieser Untersuchung<br />

das gleiche Gen betroffen war. In<br />

der Zwischenzeit hat man jedoch bei etwa<br />

148 beschriebenen PatientInnen Mutationen<br />

in allen 5 Genen entdeckt, die für den eukaryotischen<br />

Translationsinitiationsfaktor 2b<br />

kodieren. Auch wenn einzelne Mutationen im<br />

EIF2B5-Gen (Arginin 113 nach Histidin) und<br />

im EIF2B2-Gen (Glutaminsäure 213 nach Glyzin)<br />

signifikant öfter mit einem milderen Verlauf<br />

assoziiert sind, existiert keine klare Assoziation<br />

einzelner Gene oder Mutationen mit<br />

der klinischen Manifestation der Erkrankung.<br />

Morbus Pelizaeus-Merzbacher (PMD) ist<br />

eine X-chromosomale dysmyelinisierende Erkrankung.<br />

Der klinische Verlauf ist sehr heterogen<br />

und reicht von der schweren „konnatalen“<br />

Form – wobei ein nahezu völliges<br />

Fehlen der psychomotorischen Entwicklung<br />

vorliegt und der Tod bereits nach einigen Monaten<br />

auftreten kann – bis zu der mildesten<br />

Form (spastische Paraplegie Typ 2, SPG2), bei<br />

der nur eine Spastizität der unteren Extremitäten<br />

beobachtet wird.<br />

Genetisch sind alle Formen durch Veränderungen<br />

im Proteolipidprotein-Gen (PLP-Gen)<br />

charakterisiert. Das Proteolipidprotein wird in<br />

Oligodendrogliazellen gebildet und ist das<br />

häufigste Protein in der Myelinscheide. Es<br />

wurde eine klare Korrelation zwischen dem<br />

Proteolipidprotein-Genotyp und dem klinischen<br />

Verlauf der Erkrankung festgestellt. Einzelne<br />

Aminosäure-Veränderungen in hochkonservierten<br />

Regionen führen zu der schwersten<br />

Form. Aminosäure-Änderungen in<br />

weniger konservierten Regionen, Nonsens-<br />

Mutationen, kleinere Deletionen oder der vollständige<br />

Verlust des Proteolipidprotein-Gens<br />

durch größere Deletionen führen zu der milderen<br />

Verlaufsform. Bei Duplikationen des<br />

Proteolipidprotein-Gens liegt meist eine<br />

schwere Verlaufsform vor. Untersuchungen an<br />

42


Mausmodellen haben gezeigt, dass nach einer<br />

Überexpression des Proteolipidproteins dieses<br />

das endoplasmatische Retikulum schädigt und<br />

so die Funktionsfähigkeit vieler Proteine<br />

negativ beeinflusst. Die zusätzliche<br />

Beeinträchtigung anderer Proteine<br />

ist der Grund, warum Punktmutationen<br />

oder Duplikationen<br />

einen schwereren Verlauf bewirken<br />

als der völlige Verlust des Proteolipidprotein-Gens,<br />

der keine Schädigung<br />

des endoplasmatischen Retikulums<br />

bewirkt („gain of function“).<br />

Zellweger-Spektrum und RCPD:<br />

Bei vielen weiteren genetischen Erkrankungen,<br />

wie z. B. nahezu allen<br />

peroxiosmalen Erkrankungen inklusive<br />

dem Zellweger-Spektrum (Mutationen<br />

in vielen PEX-Genen) oder<br />

RCPD (Typ 1–3 mit Mutationen in<br />

PEX7, DAPAT oder AGPS-Gen),<br />

kommt es ebenfalls zu einer Demyelinisierung,<br />

womit auch diese Erkrankungen<br />

in die Definition der Leukodystrophien<br />

fallen.<br />

Auch im 21. Jahrhundert ist die genetische<br />

Ursache von etwa einem<br />

Drittel aller Leukodystrophien noch<br />

immer ungeklärt. Da bei Leukodystrophien<br />

verschiedene Zelltypen primär<br />

betroffen sind (Abb.) und die<br />

molekularen Mechanismen, die zur<br />

De- oder Dysmyelinisierung führen,<br />

sehr unterschiedlich sind, ist eine gezielte,<br />

auf die entsprechende Leukodystrophie<br />

abgestimmte Therapie<br />

notwendig.<br />

Bei vielen Leukodystrophien ist jedoch<br />

zurzeit noch keine effektive<br />

Therapie möglich. Hoffnung kann<br />

jedoch aus einer EU-weiten gemeinschaftlichen<br />

Anstrengung geschöpft<br />

werden, in der 18 verschiedene Forschungslabors<br />

gemeinsam an der<br />

Entwicklung effektiver Therapien zur<br />

Behandlung von Leukodystrophien<br />

arbeiten. Das von Frankreich aus koordinierte<br />

EU-Projekt wird mit 8 Millionen<br />

Euro gefördert. Auch die zunehmende<br />

Präsenz von PatientInnenorganisationen stellt<br />

für Betroffene zumeist eine große Stütze dar.<br />

Im deutschsprachigen Raum ist der „Bundesverein<br />

Leukodystrophie“ (www.bvlev.de) hervorzuheben.<br />

n


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Genetik hereditärer Neuropathien<br />

Die hereditären Neuropathien (auch bekannt als Charcot-Marie-Tooth- = CMT-Syndrom) sind mit einer<br />

Prävalenz von 1 : 2500 die häufigsten vererbten Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Durch ihren meist<br />

frühen Krankheitsbeginn im Kindes- und Jugendalter stellen sie für die Betroffenen eine lebenslange Erkrankung<br />

mit ständiger – meist leichter – Progredienz dar und bringen somit erhebliche physische Einschränkungen, aber<br />

gleichzeitig auch eine hohe psychische Belastung mit sich.<br />

Bei hereditären Neuropathien führen die pathognomonische<br />

distale Muskelschwäche<br />

und -atrophie zur Fußdeformität und Fußheberschwäche<br />

mit typischem Gangbild („Steppergang“;<br />

Abb.), die Atrophie in den kleinen<br />

Handmuskeln kann erhebliche feinmotorische<br />

Einschränkungen bedingen. Sensible<br />

und autonome Ausfälle mit entsprechenden<br />

Komplikationen wie Infektionen bis hin zur<br />

Amputation kommen in variabler Ausprägung<br />

bei bestimmten genetischen Unterformen<br />

vor. Weiters belastend ist für die Betroffenen<br />

das Risiko der Weitervererbung auf die<br />

Nachkommen. In Österreich sind autosomal<br />

dominant vererbte Formen am häufigsten,<br />

gefolgt von der x-gebunden vererbten hereditären<br />

Neuropathie, die dadurch erkannt<br />

wird, dass im Stammbaum eine Vererbung<br />

vom Vater auf den Sohn fehlt und auch Männer<br />

meist erheblich schwerer betroffen sind<br />

als Frauen. In beiden Fällen wird die Erkrankung<br />

mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit an die<br />

Kinder weitergegeben. Wesentlich seltener<br />

findet man in Österreich die klassische autosomal<br />

rezessive CMT-Erkrankung, und hier<br />

wiederum tritt sie meist in Familien auf, in<br />

denen Konsanguinität vorkommt, besonders<br />

in bestimmten ethnischen Gruppen. Das Risiko,<br />

ein weiteres erkranktes Kind zu haben,<br />

liegt hier bei 25 %.<br />

Genetische Heterogenität<br />

der hereditären Neuropathien<br />

Die starke genetische Heterogenität der hereditären<br />

Neuropathien, die in den letzten<br />

beiden Jahrzehnten anhand umfangreicher<br />

Familienstudien gezeigt werden konnte, ist<br />

überraschend, insbesondere da oft dem völlig<br />

gleichen Phänotyp einige verschiedene Genotypen<br />

zugrunde liegen. Dies bringt eine<br />

hohe Herausforderung für die erfolgreiche<br />

genetische Zuordnung mit sich. Dem stehen<br />

oft hohe Kosten gegenüber, die bei Anforderung<br />

der Sequenzierung mehrerer großer<br />

Gene entstehen. Mittlerweile sind mehr als<br />

40 Gene bekannt, die zum CMT-Syndrom<br />

führen können. Viele weitere noch unbekannte<br />

Gene sind zu vermuten, da Statistiken<br />

zeigen, dass derzeit nur zwischen 50 und 70 %<br />

der PatientInnen mit CMT-Syndrom eindeutig<br />

genetisch zugeordnet werden können.<br />

Abb.: Typischer Hohlfuß und<br />

Atrophie der Unterschenkelmus -<br />

kulatur bei einem Patienten mit<br />

hereditärer Polyneuropathie<br />

Univ.-Prof. Dr. Michaela<br />

Auer-Grumbach, MD<br />

Abteilung für Innere<br />

Medizin, Endokrinologie<br />

und Stoffwechsel,<br />

Medizinische Universität<br />

Graz<br />

Wie kommt man<br />

vom Phänotyp zum Genotyp?<br />

Die erste entscheidende Frage ist, ob der/die<br />

zu untersuchende PatientIn tatsächlich an<br />

einer hereditären Neuropathie leidet, oder ob<br />

auch eine andere, meist erworbene Ursache<br />

in Frage kommt. Liegt der klassische Phänotyp<br />

vor, und ist auch die Familienanamnese<br />

eindeutig positiv, so ist eine hereditäre Ursache<br />

naheliegend. Tritt die Erkrankung „sporadisch“<br />

(das heißt ohne Familienanamnese)<br />

auf, so müssen mögliche Differenzialdiag -<br />

nosen sorgfältig ausgeschlossen werden. Tabelle<br />

1 fasst die wichtigsten Differenzialdiagnosen<br />

zusammen.<br />

Besteht nach Durchführung der wichtigsten<br />

Untersuchungen zum Ausschluss einer erworbenen<br />

Ursache (MRT, Labor, EMG, internistische<br />

Durchuntersuchung, eventuell Nervenbiopsie<br />

etc.) weiterhin der Verdacht auf eine<br />

hereditäre Neuropathie, so wird empfohlen,<br />

folgende Parameter in der Anamnese sowie<br />

der klinischen und elektrophysiologischen<br />

Untersuchung genau zu erfassen bzw. zu dokumentieren<br />

und bei Einleitung der genetischen<br />

Diagnostik anzuführen:<br />

1. Zeitpunkt des Krankheitsbeginns<br />

2. Erste Krankheitszeichen<br />

3. Erbgang: autosomal dominant, auto -<br />

somal rezessiv, x-gebunden, sporadisch<br />

44


Tab. 1: Die wichtigsten Differenzialdiagnosen hereditärer Neuropathien<br />

4. Schmerzen: wie, seit wann, wo?<br />

5. Krankheitsverlauf bei anderen<br />

betroffenen Familienmitgliedern<br />

6. Verteilung der Muskelatrophie und<br />

-schwäche an den oberen und unteren<br />

Extremitäten? Liegt zusätzlich eine<br />

proximale Muskelschwäche vor; sind<br />

die Ausfälle symmetrisch oder<br />

asymmetrisch?<br />

7. Muskeleigenreflexe (sie können fehlen,<br />

abgeschwächt, normal oder gesteigert<br />

sein)<br />

8. Sensible Ausfälle (welche sensiblen<br />

Qualitäten sind betroffen?)<br />

9. Trophische Störungen, Wundheilungsprobleme,<br />

Amputationen?<br />

10. Deformierung der Wirbelsäule (v. a.<br />

Skoliose?)<br />

11. Zusatzsymptome (beim Indexpatienten<br />

oder bei anderen Familienmitgliedern):<br />

Hyperelastizität der Haut oder Über -<br />

beweglichkeit der Gelenke?, Stimm -<br />

bandlähmung, Heiserkeit?, Zwerch fell -<br />

lähmung?; Hypakusis bzw. Taubheit?,<br />

Optikusatrophie?<br />

12. Elektrophysiologische Untersuchung:<br />

meist genügt die Durchführung der<br />

NLG-Untersuchung, wobei hier immer<br />

zumindest ein motorischer und<br />

sensibler Nerv an der oberen und<br />

unteren Extremität gemessen werden<br />

sollte (vorzugsweise N. medianus<br />

motorisch und sensibel an einer oberen<br />

Extremität, sowie N. peroneus und/oder<br />

N. tibialis motorisch und N. suralis<br />

an einer unteren Extremität). Die<br />

motorische NLG am N. medianus<br />

erlaubt die weitere Zuordnung zu<br />

demyelinisierenden (< 38 m/sec; Typ 1),<br />

axonalen (> 38 m/sec, Typ 2) oder<br />

intermediären Formen (Intermediärtyp)<br />

bzw. zur rein motorischen distalen<br />

hereditären Neuropathie (dHMN) mit<br />

normaler sensibler NLG).<br />

Es ist zu beachten, dass all diese Symptome<br />

insbesondere bei den autosomal dominant<br />

vererbten Formen auch innerhalb derselben<br />

a. Angeborene oder (seltener) erworbene Rückenmarkserkrankungen, z.B. Spina bifida<br />

occulta, Tethered-Cord-Fehlbildung u.a. Oft schildert der Patient/die Patientin hier<br />

gleichzeitig eine Miktionsstörung.<br />

b. Tumoren der peripheren Nerven (z.B. entlang des Plexus lumbosacralis bzw. im Verlauf<br />

des N. ischiadicus). Typisch ist hier oft die langsame, meist einseitige Entwicklung eines<br />

Hohlfußes und einer distalen Muskelschwäche bei axonaler Nervenschädigung.<br />

c. Entzündliche Erkrankung der peripheren Nerven, insbesondere chronisch inflammatorische<br />

demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)<br />

d. Diverse Stoffwechselerkrankungen<br />

e. Amyloidneuropathien, selten paraneoplastische oder toxische Neuropathien<br />

f. Distale Myopathien (eventuell erhöhte CK-Werte, EMG myopathisch)<br />

Familie äußerst variabel in Ausprägung und<br />

Schweregrad auftreten und manchmal bei<br />

einzelnen Personen sogar völlig fehlen können.<br />

Für dieses Phänomen der unterschiedlichen<br />

Penetranz werden Umweltfaktoren<br />

bzw. andere genetische Ursachen (sog. „Modifier<br />

Gene“) verantwortlich gemacht, eine<br />

zufrieden stellende Aufklärung konnte hierfür<br />

jedoch bisher nicht gefunden werden.<br />

Das Wissen um diese starke Variabilität der<br />

Krankheitsausprägung ist aber in jedem Fall<br />

ein wesentlicher Punkt in der genetischen<br />

Beratung des/der Betroffenen. Insbesondere<br />

wenn ein Kinderwunsch besteht, muss<br />

der/die Ratsuchende über diese möglichen<br />

Penetranzschwankungen der CMT-Erkrankung<br />

informiert werden.<br />

Sinnvolle<br />

genetische Diagnostik<br />

Nach oben angeführter Diagnostik kann über<br />

das weitere Vorgehen der genetischen Untersuchung<br />

entschieden werden. Grundsätzlich<br />

muss man zwischen Diagnostik im Rahmen<br />

der Routineabklärung (Basisdiagnostik)<br />

und Diagnostik im Rahmen der Forschung<br />

unterscheiden.<br />

Diagnostik im Rahmen<br />

der Routineabklärung<br />

Diese richtet sich einerseits nach dem erhobenen<br />

Befund und andererseits nach der allgemein<br />

bekannten Häufigkeit der genetischen<br />

Ursache in bestimmten CMT-Genen:<br />

Liegt ein klassischer CMT-Phänotyp vor<br />

(HMSN, distale motorische Ausfälle, kaum<br />

oder geringe sensible Ausfälle) mit demyelinisierender<br />

(Typ 1), axonaler (Typ 2) oder axonal-demyelinisierender<br />

(Intermediärtyp) Neuropathie,<br />

so sollten folgende Gene in angeführter<br />

Reihenfolge getestet werden:<br />

Typ 1 bzw. Intermediärtyp:<br />

- PMP22-Duplikations-/Deletionsscreening),<br />

wenn negativ<br />

- MPZ-Sequenzierung, wenn negativ<br />

- Cx32 (=GJB1)-Sequenzierung (bei Hinweis<br />

für einen x-chromosomalen Erbgang);<br />

wenn negativ<br />

- PMP22-Sequenzierung, wenn negativ<br />

- MFN2-Sequenzierung<br />

Typ 2:<br />

- PMP22-Deletionsscreening: v. a. bei<br />

Hinweis auf Druckparesen<br />

- MPZ-Sequenzierung, wenn negativ<br />

- Cx32-(= GJB1-)Sequenzierung (bei Hinweis<br />

für einen x-chromosomalen Erbgang),<br />

wenn negativ<br />

- MFN2-Sequenzierung<br />

Liegt ein CMT-Phänotyp mit typischen Zu -<br />

satzsymptomen vor, so kann das entsprechende<br />

Gen direkt untersucht werden und<br />

die Diagnostik der oben angeführten häufigsten<br />

Gene umgangen werden. Die wichtigsten<br />

möglichen Zusatzsymptome und die entsprechenden<br />

zugehörigen Gene sind in Tabelle<br />

2 zusammengefasst.<br />

Zuletzt ist zu berücksichtigen, dass bei sorgfältiger<br />

Erhebung der Familienanamnese u<br />

45


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Tab. 2: CMT-Phänotyp mit den wichtigsten, typischen Zusatzsymptomen<br />

CMT-Phänotyp + typische Zusatzsymptome Ursächliche Gene<br />

HMSN (CMT) 1, 2 oder intermediate + ausgeprä- GJB1 (gap junction protein beta1 gene)<br />

gte symmetrische Atrophie aller kleinen Handmuskeln,<br />

keine Vererbung von Vater auf Sohn<br />

Krankheitsbeginn in den ersten Lebensjahren, MPZ (myelin protein zero gene),<br />

oft sporadisch, sehr schwerer Verlauf, meist HMSN wenn negativ,<br />

(CMT) 1 (historisch:<br />

PMP22 (peripheral myelin protein<br />

„Dejerine-Sottas-Syndrom = DSS)<br />

22 gene)<br />

HMSN (CMT) 1, 2 oder intermediate +<br />

MPZ (myelin protein zero gene)<br />

Hörschädigung<br />

Starke Skoliose,<br />

SH3TC2 (SH3 domain and tetratricoautosomal<br />

rezessiver Erbgang<br />

peptide repeats 2 = KIAA1985 gene),<br />

Screening beginnen mit Exon 11, wenn<br />

negativ, gesamtes Gen sequenzieren<br />

Skoliose, Stimmbandlähmung (Heiserkeit), TRPV4 (transient receptor potential<br />

Körpergröße im unteren Normbereich, Mitbeteili- vanniloid 4 gene);<br />

gung der Schultergürtelmuskulatur, bei Kindern Screening beginnen mit Exons 4–6,<br />

eventuell Arthrogrypose bei Geburt, Phänotyp wenn negativ, gesamtes Gen<br />

einer kongenitalen distalen hereditären motori- sequenzieren<br />

schen Neuropathie (dHMN)<br />

(Überwiegend) distale motorische Neuropathie, BSCL2 (Berardinelli Seip congenital<br />

asymmetrische Muskelatrophie initial beschränkt lipodystrophy 2 gene), Exon 3<br />

auf M. interosseus dorsalis I und Thenarmuskulatur,<br />

lebhafte Muskeleigenreflexe +/– Spastik<br />

HMSN (CMT) 2 mit Atrophie des N. opticus MFN2 (mitofusin 2)<br />

immer nach Möglichkeit genetische Vorbefunde<br />

bei verwandten Betroffenen eingeholt<br />

werden sollten. Liegt hier bereits ein eindeutiges<br />

Ergebnis vor, so können bei Untersuchung<br />

weiterer Familienmitglieder die Kosten<br />

für die genetische Untersuchung erheblich<br />

gesenkt werden.<br />

Diagnostik im<br />

Rahmen der Forschung<br />

Führt die oben gezeigte Basisdiagnostik zu<br />

keinem Ergebnis, so sollte nach Absprache<br />

und bei Interesse mit Einverständnis des/der<br />

PatientIn die weitere Abklärung im Rahmen<br />

der Forschung angestrebt und eingeleitet<br />

werden.<br />

Das derzeit vom Österreichischen Forschungsfond<br />

(FWF) geförderte Forschungsprojekt<br />

wird die Untersuchung der seltenen<br />

CMT-Gene in den nächsten 3 Jahren ermöglichen.<br />

Ziele des Projektes sind die weitere<br />

Erfassung epidemiologischer Daten zur Häufigkeit<br />

und Verteilung verschiedener genetischer<br />

Unterformen der CMT-Erkrankung<br />

sowie die Identifikation neuer CMT-Gene in<br />

österreichischen Familien.<br />

Bisher konnten in Österreich bei CMT-PatientInnen<br />

Mutationen in 22 verschiedenen<br />

Genen identifiziert werden. Am häufigsten<br />

ist die CMT1A-Erkrankung, welche durch<br />

eine Duplikation am Chromosom 17p11.2<br />

bedingt ist, die das PMP22-Gen beinhaltet,<br />

gefolgt von Deletionen in diesem Bereich und<br />

weiters Mutationen im GJB-Gen (CMTX) so -<br />

wie im MPZ-Gen (CMT1B). Ein weiterer „Hot<br />

Spot“ in Österreich ist die p.N88S-Mutation<br />

im Exon 3 des BSCL2-Gens, die auf einen<br />

Founder-Effekt im 17. Jahrhundert zurück -<br />

geführt werden kann.<br />

Ausblick<br />

Es ist zu erwarten, dass sich die genetische<br />

Diagnostik der hereditären Neuropathien<br />

sowie auch vieler anderer genetisch determinierter<br />

Erkrankungen in den nächsten Jahren<br />

entscheidend verändern bzw. weiterentwikkeln<br />

wird. Die Sequenztechnologie hat in den<br />

letzten Jahren eine rasche und nahezu revolutionäre<br />

Entwicklung durchgemacht. So ist<br />

es nun bereits möglich geworden, mehrere<br />

bzw. alle bisher bekannten CMT-Gene gleichzeitig<br />

zu sequenzieren, wodurch die Kosten<br />

erheblich reduziert werden konnten. Allerdings<br />

stehen diese diagnostischen Möglichkeiten<br />

derzeit nur im Forschungsbereich zur<br />

Verfügung.<br />

Ebenso ist es nun möglich geworden, das<br />

gesamte (kodierende) Genom eines Individuums<br />

zu sequenzieren. Dadurch besteht die<br />

berechtigte Hoffnung, dass die genetischen<br />

Ursachen vieler noch unklarer Krankheiten –<br />

so auch der hereditären Polyneuropathien –<br />

zukünftig noch besser verstanden werden<br />

und sich dadurch auch eventuell neue Möglichkeiten<br />

für Prävention und Behandlung ergeben.<br />

Die Auswertung und Interpretation<br />

der durch diese umfassenden Untersuchungen<br />

erhobenen Daten ist aber bislang noch<br />

schwierig und wirft viele Wertefragen auf,<br />

sodass die unmittelbare Umsetzung in die<br />

diagnostische Praxis derzeit noch nicht gegeben<br />

ist.<br />

n<br />

46


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Neurogenetik der Bewegungsstörungen<br />

Im folgenden Kurzbeitrag soll ein Überblick gegeben werden, wie die modernen Methoden der Humangenetik<br />

dazu beitragen können, die Diagnose einer Bewegungsstörung zu sichern, insbesondere wenn es über eine<br />

positive Familienanamnese oder einen frühen Erkrankungsbeginn deutliche Hinweise auf eine genetische<br />

Beteiligung der Erkrankung gibt.<br />

Eine unklare und klinisch schwer einzuordnende<br />

erbliche Bewegungsstörung kann über<br />

die Identifizierung des veränderten Gens klassifiziert<br />

werden, und dies kann teilweise sogar<br />

Möglichkeiten der gezielten Therapieoption<br />

liefern. Damit ergeben sich für die behandelnden<br />

Ärzte/-innen, aber auch für die PatientInnen<br />

und deren Familien folgende nicht<br />

zu unterschätzende zusätzliche Informationen:<br />

Zum einen kann die Prognose der Erkrankung<br />

besser abgeschätzt werden, wenn<br />

die zugrunde liegende genetische Veränderung<br />

bereits bekannt ist. Je mehr PatientInnen<br />

mit Veränderungen im gleichen Gen weltweit<br />

bekannt sind, desto besser können klinische<br />

Ausprägung, Progression und Therapieansprechrate<br />

beurteilt werden. In Kenntnis des<br />

Erbganges können Angehörige beraten werden,<br />

und insbesondere bei gleichermaßen betroffenen<br />

Angehörigen können langwierige<br />

und teilweise auch invasive diagnostische<br />

Maßnahmen vermieden werden. Durch<br />

Kenntnis der Ursache der Erkrankung ist im<br />

Einzelfall eine gezielte Therapie möglich.<br />

Technologischer Fortschritt: Mit der Einführung<br />

der Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

erlebt die Humangenetik eine Revolution in<br />

vielen Aspekten. Dies erfordert ein Umdenken<br />

mit überwiegend positiven, aber ebenso<br />

wichtigen kritischen Gesichtspunkten. Die<br />

Zeiten, in denen von NeurologInnen indizierte<br />

oder von Ratsuchenden gewünschte genetische<br />

Diagnostik sich über Monate bis Jahre<br />

bis zum mitgeteilten Ergebnis hinzog, werden<br />

der Vergangenheit angehören. Der „Goldstandard“<br />

in der genetischen Diagnostik wird<br />

zu großen Teilen ersetzt werden, wird aber<br />

in der Validierung der Ergebnisse einen wichtigen<br />

Stellenwert beibehalten. Deutschland<br />

hat sich mit dem seit kurzem in Kraft getretenen<br />

Gendiagnostikgesetz für die bevorstehende<br />

Revolution in der humangenetischen<br />

Diagnostik gerüstet.<br />

Eine genetische Diagnostik ist generell nur<br />

dann sinnvoll, wenn sie Konsequenzen aus<br />

therapeutischer oder prophylaktischer Sicht<br />

nach sich zieht oder den/die Ratsuchende(n)<br />

und seine/ihre Familie entlastet. Das Recht<br />

auf Nichtwissen besteht zu jedem Zeitpunkt.<br />

Darauf sollte in der genetischen Beratung vor<br />

der Testung sowie nach der Testung hingewiesen<br />

werden. An einem Beispiel aus der<br />

täglichen Praxis soll erläutert werden, weshalb<br />

die Humangenetik den technologischen<br />

Fortschritt als Quantensprung für Ihre eigene<br />

Disziplin, für die PatientInnen und für das<br />

Gesundheitssystem zu Recht erlebt.<br />

Vom Exom<br />

zum Diagnostik-Panel<br />

Die Hochdurchsatz-Sequenzierung erlaubt<br />

auf den heute zur Verfügung stehenden Sequenziermaschinen<br />

die gleichzeitige Sequenzierung<br />

aller menschlichen Gene innerhalb<br />

einer Woche. Dies wird als Exom-Sequenzierung<br />

bezeichnet; das Exom ist die Gesamtheit<br />

aller kodierenden Abschnitte im Genom. Die<br />

Sequenzierung eines Exoms ist dann sinnvoll,<br />

wenn<br />

• starke Hinweise für eine genetische<br />

Erkrankung vorliegen,<br />

• alle bekannten Gene zu der vorliegenden<br />

Erkrankung ausgeschlossen wurden<br />

und<br />

• dieser Ansatz in Rahmen eines<br />

Forschungsprojektes von ExpertInnen auf<br />

diesem Gebiet angewendet und<br />

ausgewertet wird.<br />

Dr. med. Dr. rer. nat.<br />

Saskia Biskup<br />

Fachärztin für Humangenetik<br />

Hertie-Institut für Klinische<br />

Hirnforschung, Praxis<br />

für Humangenetik<br />

und CeGaT GmbH,<br />

Tübingen, Deutschland<br />

Ein Diagnostik-Panel hingegen ist die gezielte<br />

und gleichzeitige Untersuchung einer Liste<br />

von bekannten Genen, die als Ursache einer<br />

bestimmten Erkrankung bereits beschrieben<br />

sind. Bislang war die genetische Diagnostik<br />

in diesen Fällen enorm zeitaufwendig und<br />

wurde aufgrund der hohen damit verbundenen<br />

Kosten oft nicht durchgeführt.<br />

Ein Diagnostik-Panel grenzt sich von dem rein<br />

wissenschaftlichen und explorativen Ansatz<br />

einer Exom-Sequenzierung deutlich ab. Das<br />

Diagnostik-Panel wird von dem/der einsendenden<br />

Arzt/Ärztin beauftragt. Es werden<br />

ausschließlich die mit der Erkrankung in Zusammenhang<br />

gebrachten Gene untersucht.<br />

Abschließend wird ein Befund erstellt und an<br />

den/die einsendenden Arzt/Ärztin übermittelt.<br />

Dieser Befund enthält detaillierte Angaben<br />

über gefundene Varianten, die durch<br />

Sanger-Sequenzierung validiert und in Bezug<br />

auf die vorliegende Erkrankung interpretiert<br />

werden.<br />

Diagnostik-Panel am Beispiel<br />

Parkinson und Demenz<br />

Das Parkinson-Syndrom gehört zusammen<br />

mit der Alzheimerschen Erkrankung zu den<br />

häufigsten neurodegenerativen Erkrankun-<br />

48


gen weltweit. Beide Erkrankungen treten<br />

meist sporadisch auf und manifestieren sich<br />

in der Regel bei über 65-jährigen Menschen.<br />

Bei stetig steigender Lebenserwartung stellen<br />

Parkinson- und Alzheimersche Erkrankung<br />

zwei der größten medizinischen und sozioökonomischen<br />

Herausforderungen der Zukunft<br />

dar.<br />

Die Ursache des Nervenzelltodes ist in den<br />

allermeisten Fällen ungeklärt. Ob und wann<br />

eine Person vom Untergang der Nervenzellen<br />

betroffen sein wird, ist derzeit unmöglich vorherzusagen.<br />

Sobald jedoch Symptome auftreten,<br />

ist ein Großteil der betroffenen Nervenzellen<br />

bereits abgestorben. Derzeitige<br />

Therapiekonzepte greifen deshalb schlecht<br />

bis gar nicht, weil der Zeitpunkt der Intervention<br />

um Jahre zu spät kommt. Eine molekulargenetische<br />

Untersuchung erschließt<br />

sich hier nicht unmittelbar. Warum sollte<br />

der/die Ratsuchende wissen wollen, ob er/sie<br />

eine Veranlagung für eine neurodegenerative<br />

Erkrankung trägt, solange keine Therapien<br />

verfügbar sind?<br />

Genetische Biomarker: Seit knapp über<br />

10 Jahren sind genetische Ursachen für Parkinson-<br />

und Alzheimer-Erkrankung beschrieben.<br />

Diese genetischen Untersuchungen<br />

haben bei beiden Erkrankungen entscheidend<br />

zum Verständnis des Nervenzelluntergangs<br />

beigetragen. Die Genprodukte werden<br />

Abb.: Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

intensiv erforscht, um neue innovative Therapiekonzepte<br />

voranzutreiben. Erstmals mit<br />

der Identifizierung der veränderten Gene war<br />

es möglich, Biomarker, in diesem Fall „genetische<br />

Biomarker“, zu beschreiben, die das<br />

Auftreten der Erkrankung zu einem in der<br />

Zukunft liegenden Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

voraussagen können. Damit ist<br />

ein Personenkreis definierbar geworden, der<br />

Zugang zu Therapien Jahrzehnte vor Ausbruch<br />

der Erkrankung bekommen könnte.<br />

Auch wenn diese Therapien derzeit noch<br />

nicht verfügbar sind, so kann dennoch behauptet<br />

werden, dass die veränderten Genprodukte<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit die<br />

Angriffspunkte für die Therapien der Zukunft<br />

darstellen werden.<br />

Der Schlüssel zu den veränderten Genen<br />

waren Familien, in denen Demenz oder Parkinson-Syndrom<br />

gehäuft auftraten. Im Falle<br />

des Parkinson-Syndroms wurden bis heute<br />

16 Genorte im Erbgut für familiäre autosomal<br />

rezessive und dominante Formen beschrieben.<br />

Da nur ein kleiner Teil von ca. 10 %<br />

der familiären Fälle derzeit genetisch auf -<br />

geklärt werden kann, ist zu erwarten, dass<br />

die Liste der Parkinson-Syndrom verursachenden<br />

Gene wachsen wird. Der Großteil<br />

des Wissens, das wir bis zum heutigen Zeitpunkt<br />

über die Pathogenese der Parkinson-<br />

Erkrankung haben, leitet sich von den Genen<br />

ab, die im Zusammenhang mit der Erkrankung<br />

beschrieben wurden. Das Gen ist somit<br />

der erste Hinweis auf den Ort der Funktionsstörung<br />

innerhalb der erkrankten Zelle.<br />

Weitere Gene werden wie Puzzleteile das<br />

komplexe Bild neurodegenerativer Erkrankungen<br />

ergänzen und hoffentlich in naher<br />

Zukunft einen entscheidenden weiteren<br />

Schritt im Verständnis der Erkrankung ermöglichen.<br />

Unser derzeitiges Parkinson-Demenz-Panel<br />

untersucht im Fall von Parkinson 16 Gene,<br />

im Fall von Demenzerkrankungen 19 Gene.<br />

Die Liste der Gene wird rapide wachsen, nicht<br />

zuletzt durch die Möglichkeit, Familien, die<br />

von der Erkrankung betroffen sind, durch<br />

einen hypothesenfreien Ansatz auf Veränderungen<br />

im gesamten Genom im Rahmen<br />

einer Forschungsfragestellung zu untersuchen.<br />

Wie bei der rein diagnostischen Fragestellung<br />

sollte der/die Ratsuchende auch bei dieser<br />

Forschungsfragestellung im Rahmen des<br />

Gendiagnostikgesetzes aufgeklärt werden.<br />

Dazu gehört insbesondere der Hinweis auf<br />

den möglichen Umgang mit Zufallsbefunden,<br />

auf die mögliche Vernichtung der Probe nach<br />

Abschluss der Untersuchung, auf die Anonymisierung<br />

und Verwendung der Probe für<br />

weitere Untersuchungen und auf das Recht<br />

auf Nichtwissen zu jedem Zeitpunkt.<br />

Ausblick auf eine<br />

personalisierte Medizin …<br />

Revolutionär aus Sicht der Humangenetik ist<br />

die schnelle und kosteneffiziente Sequenzierung<br />

von mehreren tausend menschlichen<br />

Genen innerhalb weniger Tage. Revolutionär<br />

ist zudem der Ausblick in eine personalisierte<br />

Medizin, der darauf basiert, dass jede Erkrankung<br />

individuelle Unterschiede aufgrund unterschiedlicher<br />

genetischer Prädisposition besitzt.<br />

Die Hoffnung ist es, mit diesem Wissen<br />

eines Tages Krankheiten individuell, also wesentlich<br />

gezielter als heute behandeln zu können.<br />

Ein verändertes Gen ist ein wesentlicher<br />

Schlüssel zum Verständnis einer Krankheit.<br />

Auch wenn die individualisierte Therapie zum<br />

Beispiel bei den neurodegenerativen Erkran- u<br />

49


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

kungen in weiter Ferne liegt, so wird bereits<br />

jetzt die Basis für die Therapien der Zukunft<br />

gelegt.<br />

… und offene Fragen<br />

Bei aller Euphorie, die die Genetik seit einiger<br />

Zeit durchlebt, ist zu bedenken, dass die Ergebnisse<br />

der Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

Fragen aufwerfen werden, die zum jetzigen<br />

Zeitpunkt nicht beantwortet werden können.<br />

Dazu gehört die Identifizierung von bislang<br />

unbekannten Varianten im Genom eines Ratsuchenden,<br />

Varianten von unklarer Signifikanz<br />

(VUS). Dazu gehört, dass in vielen Fällen<br />

auch trotz Hochdurchsatz-Sequenzierung die<br />

Ursache der Erkrankung nicht gefunden wird,<br />

sei es, weil gar keine genetische Ursache vorliegt<br />

oder weil die Ursache in den nicht untersuchten<br />

Bereichen des Genoms liegt, oder<br />

RESÜMEE<br />

Es ist zu hoffen, dass die Hochdurchsatz-<br />

Diagnostik in vielen Laboren Einzug hält<br />

und damit nicht nur zu deutlich höheren<br />

Aufklärungsquoten von genetisch bedingten<br />

Erkrankungen beiträgt, sondern<br />

die genetische Diagnostik auch als<br />

schnelle, effiziente, kostengünstige und<br />

sinnvolle Methode in der Wahrnehmung<br />

bei Ratsuchenden, Betroffenen, ÄrztInnen<br />

und WissenschaftlerInnen etabliert.<br />

weil erst das Zusammenspiel mehrerer veränderter<br />

Gene mit der Umwelt zu der Erkrankung<br />

führt, oder weil veränderte Genprodukte<br />

(RNA oder Proteine) die eigentliche<br />

Ursache der Erkrankung sind.<br />

Die Hochdurchsatz-Sequenzierung ist eine<br />

Screening-Methode, ähnlich einer Kernspin-<br />

Untersuchung. Das Erbgut wird dabei beleuchtet,<br />

und es kann passieren, dass Veränderungen<br />

gefunden werden, die als Zufallsbefunde<br />

bezeichnet werden. Der Umgang<br />

mit Zufallsbefunden, insbesondere wenn<br />

diese schwerwiegende Konsequenzen für<br />

den/die PatientIn haben, ist eine große Herausforderung<br />

für ÄrztInnen und Ratsuchende.<br />

Der/die Ratsuchende muss darüber genau<br />

wie über das Auffinden von Varianten unklarer<br />

Signifikanz im Vorfeld aufgeklärt werden.<br />

Das Ergebnis einer genetischen Untersuchung<br />

soll im Rahmen einer Beratung mitgeteilt<br />

werden. Das Gendiagnostikgesetz, das<br />

seit Februar 2010 in Deutschland in Kraft ist,<br />

hat Richtlinien für die Durchführung der genetischen<br />

Diagnostik festgelegt, die sich direkt<br />

auch für die Hochdurchsatz-Diagnostik<br />

anwenden lassen.<br />

n<br />

Behavioral and motor<br />

interfaces of movement disorders:<br />

From laboratory to patient care<br />

15 th International Congress of<br />

Parkinson’s Disease and Movement<br />

Disorders<br />

5.–9. Juni <strong>2011</strong><br />

Toronto, ON, Kanada<br />

Information: Pandani Viaggi<br />

Via G. Fara, 13 <strong>2011</strong>24 Milano, Italy<br />

Tel.: +39 02/669 30 07<br />

E-Mail: info.congressi@pandani.it<br />

Webinfo: www.movementdisorders.org/<br />

congress/congress11/<br />

GHEORGHE ROMAN - FOTOLIA<br />

50


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Neurogenetik – Muskelerkrankungen:<br />

Diagnostischer Stellenwert<br />

von Muskelbiopsie und Molekulargenetik<br />

Bei einer ständig wachsenden Zahl von Myopathien werden derzeit die zugrunde liegenden genetischen Defekte<br />

identifiziert. Dies führt dazu, dass die Diagnose einer Myopathie allein aus der molekulargenetischen<br />

Untersuchung von Leukozyten möglich ist. Solange jedoch eine umfangreiche Genchip-Diagnostik im klinischen<br />

Alltag noch nicht als Screening-Methode einsetzbar ist, erfordert die zielgerichtete molekulare Diagnostik<br />

weiterhin die subtile Analyse des Phänotyps, der elektrophysiologischen Befunde und der histologischen<br />

Veränderungen.<br />

Die Diagnostik von Myopathien umfasst<br />

neben der Analyse des Phänotyps das EMG,<br />

die Muskelbiopsie einschließlich biochemischer<br />

Untersuchungen sowie die Identifi -<br />

zierung des Gendefekts. Im Einzelfall sind<br />

jedoch nicht alle diese Untersuchungen von<br />

gleicher Bedeutung.<br />

Diagnostische Szenarien<br />

Hinsichtlich der Notwendigkeit einer Muskelbiopsie<br />

und der Möglichkeit einer zielgerichteten<br />

molekulargenetischen Diagnostik lassen<br />

sich folgende Algorithmen formulieren:<br />

1. Charakteristische elektrophysiologische<br />

Befunde ohne Indikation zur Muskelbiopsie:<br />

Wenn aufgrund der Klinik und der<br />

EMG-Veränderungen der Verdacht auf eine<br />

Myotonie besteht, ist die Diagnose aufgrund<br />

des Phänotyps und der Molekulargenetik<br />

ohne Muskelbiopsie möglich. Am häufigs -<br />

ten ist hierbei an die myotone Dystrophie<br />

Curschmann-Steinert (DM1) sowie die<br />

PROMM (DM2) zu denken.<br />

2. Charakteristische Phänotypen ohne Indikation<br />

zur Elektrophysiologie und Muskelbiopsie:<br />

Myopathien können ohne EMG-<br />

Untersuchung und ohne Muskelbiopsie molekulargenetisch<br />

bestätigt werden, wenn sie<br />

mit einem spezifischen und typischen Phänotyp<br />

einhergehen (z. B. okulopharyngeale<br />

Muskeldystrophie, fazioskapulohumerale<br />

Muskeldystrophie (FSHD), Carnitin-Palmitoyl-<br />

Transferase-II-Mangel (CPT-II-Mangel) sowie<br />

Prof. Dr. Stephan Zierz<br />

Neurologische<br />

Universitätsklinik,<br />

Universitätsklinikum<br />

Halle/Saale, Deutschland<br />

die Kernhüllen-Myopathien Hauptmann-<br />

Thannhauser und Emery-Dreifuss).<br />

Bei der im Erwachsenenalter sehr häufigen<br />

FSHD sind eine Achsel-Brust-Falte und ein<br />

positives Beevor-Zeichen (Abb. 1) sehr spezifische<br />

klinische Zeichen. Die Möglichkeit der<br />

molekularen Diagnostik bei der FSHD hat inzwischen<br />

dazu geführt, dass sich das phänotypische<br />

Spektrum der FSHD deutlich erweitert<br />

hat. So kann z. B. auch eine als Kamptokormie<br />

imponierende isolierte axiale<br />

Abb. 1: Beevor-Zeichen bei FSHD: Verschiebung des Bauchnabels nach kranial bei Kopfbeugung im Liegen.<br />

52


Myopathie Phänotyp einer atypischen und<br />

oligosymptomatischen FSHD sein.<br />

Der muskuläre CPT-II-Mangel äußert sich lediglich<br />

durch Attacken von Myalgien und<br />

Rhabdomyolyse. Eine Muskelbiopsie im symptomfreien<br />

Intervall ist häufig unauffällig. Da<br />

etwa 90 % der Allele bei dieser Erkrankung<br />

die S113L-Mutation aufweisen, ist bei entsprechendem<br />

charakteristischem Phänotyp<br />

(Tab. 1) die Diagnose auch ohne biochemischen<br />

Nachweis des Enzymdefektes zu stellen.<br />

3. Gezielte molekulare Suche erst aufgrund<br />

von Phänotyp und Myopathologie<br />

möglich: Eine Vielzahl genetisch extrem heterogener<br />

Myopathien lassen sich aufgrund<br />

sehr ähnlicher Phänotypen einigen wenigen<br />

klinisch definierten Gruppen zuordnen. Dazu<br />

gehören die Gliedergürtel-Muskeldystrophien,<br />

die distalen Myopathien sowie einige<br />

kongenitale Myopathien mit Strukturanomalien.<br />

In all diesen Fällen erfordert die Diagnose<br />

eine Muskelbiopsie, deren myopathologische<br />

und biochemische (z.B. Western Blot) Untersuchung<br />

eine zielgerichtete spezifische molekulare<br />

Diagnostik ermöglicht. Dies wird<br />

besonders deutlich bei der genetisch heterogenen<br />

Gruppe der Gliedergürtelmuskeldystrophien<br />

(Tab. 2, 3).<br />

Bei den so genannten kongenitalen Myopathien<br />

mit Strukturanomalien war in der Vergangenheit<br />

der charakteristische Nachweis<br />

der myopathologischen Strukturveränderungen<br />

für die Diagnose ausreichend (z. B. zentronukleäre<br />

Myopathie, myofibrilläre Myopathie,<br />

Nemaline-Rod-Myopathie). In der Zwischenzeit<br />

hat sich jedoch herausgestellt, dass<br />

diese myopathologischen Entitäten auf jeweils<br />

mehreren unterschiedlichen Gendefekten<br />

beruhen können (Abb. 2, 3, 4).<br />

4. Variable Phänotypen mit unspezifischen<br />

myopathologischen Veränderungen: Einige<br />

erst kürzlich identifizierte Gendefekte u<br />

Tab. 1: Klinik des muskulären Carnitin-Palmitoyltransferase-II-Mangels<br />

Patienten<br />

Attacken mit<br />

Myalgien 27/28 96 %<br />

Myoglobinurie 22/28 79 %<br />

Paresen 17/28 61 %<br />

Nierenversagen 5/28 18 %<br />

Auslösefaktoren<br />

Körperl. Belastung 27/28 96 %<br />

Infektionen 13/28 46 %<br />

Fasten 5/28 18 %<br />

Kälte 4/28 14 %<br />

Tab. 2: Gliedergürtel-Muskeldystrophien (autosomal-rezessive Formen)<br />

Genort<br />

Genprodukt<br />

LGMD2A 15q15.1 Calpain 3<br />

LGMD2B 2p13.3 Dysferlin<br />

LGMD2C 13q12 -Sarkoglykan<br />

LGMD2D 17q12-21 -Sarkoglykan (Adhalin)<br />

LGMD2E 4q12 -Sarkoglykan<br />

LGMD2F 5q33-34 -Sarkoglykan<br />

LGMD2G 17q11-12 Telethonin<br />

LGMD2H 9q31-33 E3-Ubiquitin-Ligase<br />

LGMD2I 19q13.3 Fukutin-related Protein<br />

LGMD2J 2q31 Titin<br />

LGMD2K<br />

POMT1<br />

LGMD2L Anoctamin 5<br />

Tab. 3: Gliedergürtel-Muskeldystrophien (autosomal-dominante Formen)<br />

Genort<br />

Genprodukt<br />

LGMD1A 5q31 Myotilin<br />

LGMD1B 1q11-q21.2 Lamin A/C<br />

LGMD1C 3p25 Caveolin-3<br />

LGMD1D 7q –<br />

LGMD1E 6q23 –<br />

LGMD1F 7q32.1-32.2 –<br />

LGMD1G 4p21 –<br />

53


KONGRESS-<br />

HIGHLIGHTS<br />

Abb. 2: Zentronukleäre<br />

(myotubuläre) Myopathie<br />

Abb. 4: Myofibrilläre Myopathien<br />

Abb. 3: Nemaline-Rod-Myopathie<br />

Gen-Produkte<br />

• Dynamin<br />

•MYF6<br />

• Amphiphysin<br />

• Myotubularin<br />

Gen-Produkte<br />

• -Tropomyosin (TMP3)<br />

• -Tropomyosin (TMP2)<br />

• Nebulin<br />

• Actin-<br />

• Troponin T (TNNT1)<br />

• Cofilin-2 (CFL2)<br />

Gen-Produkte<br />

• B-Crystallin<br />

• Desmin<br />

• Filamin C<br />

• Myotylin<br />

• ZASP<br />

• BAG3<br />

können selbst innerhalb einer Familie zu unterschiedlichen<br />

Phänotypen führen. Dazu<br />

zählen die Anoctamin-5-Myopathie sowie die<br />

Matrin-3-Myopathie.<br />

Bei der Myopathie aufgrund einer Mutation<br />

im Anoctamin 5 kann es dabei sowohl zu<br />

einem Gliedergürtel-Phänotyp als auch zu<br />

einem distalen Phänotyp kommen. Da es bislang<br />

auch keine geeigneten Antikörper für<br />

die Immunhistochemie oder den Western-<br />

Blot gibt und die myopathologischen Veränderungen<br />

sehr unspezifisch sind, kommt der<br />

molekulargenetischen Analyse eine besondere<br />

Bedeutung zu.<br />

Ebenso kann eine Mutation des Kernmatrix-<br />

Proteins Matrin 3 zu einer distalen Myopathie<br />

mit oder ohne Stimmbandlähmung führen,<br />

andererseits aber auch mit einer axialen<br />

Schwäche mit Kamptokormie, proximalen<br />

Paresen und Myalgien assoziiert sein. Da im<br />

EMG auch myotone Zeichen gefunden werden<br />

können, ist der distale Phänotyp auch<br />

eine nahe Differenzialdiagnose zur myotonen<br />

Dystrophie Curschmann-Steinert. Die<br />

Lichtmikroskopie ist unspezifisch, allerdings<br />

finden sich elektronenmikroskopisch charakteristische<br />

Kernveränderungen (abnorme In-<br />

Abb. 5: mtDNA-Deletionen bei mitochondrialer<br />

CPEO<br />

Abb. 6: Intergenomische Kommunikation. Defekte nukleär<br />

kodierter Proteine führen zu multiplen Deletionen der mtDNA<br />

Cytoplasm<br />

Protein (e.g. ANT1, POLG, Twinkle)<br />

Nuclear DNA<br />

mtDNA<br />

Multiple Deletionen<br />

Singuläre Deletion<br />

Nucleus<br />

Mitochondrium<br />

Kontrolle<br />

54


vaginationen, perinukleäre Rarefizierung der<br />

Sarkomere).<br />

5. Mitochondriale Erkrankungen: Bei mitochondrialen<br />

Erkrankungen lassen sich die<br />

Mutationen der mtDNA zuverlässig nur aus<br />

dem Muskelgewebe, nicht aber aus dem peripheren<br />

Blut nachweisen. Die Indikation zur<br />

molekularen Diagnostik beruht auf dem Phänotyp,<br />

dem Laktatspiegel sowie den typischen<br />

myopathologischen Veränderungen.<br />

Eine Sonderstellung nimmt die häufige CPEO<br />

ein: Während die sporadische CPEO auf singulären<br />

Deletionen der mtDNA beruht, findet<br />

man bei autosomal vererbter CPEO multiple<br />

Deletionen der mtDNA, die wiederum auf<br />

nukleären Mutationen beruhen. Dieses Prinzip<br />

der Schädigung der mtDNA durch Defekte<br />

nukleär kodierter Proteine wird als Defekt<br />

der intergenomischen Kommunikation<br />

bezeichnet (Abb. 5).<br />

RESÜMEE<br />

Es gibt eine Reihe von Myopathien, bei denen der typische Phänotyp ausreicht, um eine<br />

gezielte molekulargenetisch gesicherte Diagnose zu stellen. Demgegenüber gibt es immer<br />

noch die Mehrzahl von Myopathien, bei denen die Diagnose selbst oder auch die gezielte<br />

molekulargenetische Diagnostik von Phänotyp und myopathologischem Befund abhängt.<br />

Zukünftige Chip-Technologien werden sicherlich die Zahl der Myopathien, bei denen<br />

noch eine Biopsie notwendig ist, verringern.<br />

Die Möglichkeit der molekulargenetischen Diagnostik hat aber auch dazu geführt, dass<br />

sich die phänotypischen Kriterien vieler klassischer Myopathien deutlich erweitert und<br />

verändert haben (z. B. bei der FSHD) und dass sich klassische myopathologisch definierte<br />

Myopathien jeweils mehreren verschiedenen Gendefekten zuordnen lassen (z. B. zentro -<br />

nukleäre Myopathien und myofibrilläre Myopathien).<br />

Obgleich sowohl bei singulären wie auch bei<br />

multiplen Deletionen eine Vielzahl akzessorischer<br />

Symptome anderer Organsysteme mit<br />

der CPEO vergesellschaftet sein kann, findet<br />

sich z. B eine Retinabeteiligung nur bei singulären,<br />

nicht jedoch bei multiplen Deletionen.<br />

Andererseits ist ein SANDO-Syndrom<br />

(sensory ataxia, neuropathy, dysarthria, ophthalmoplegia)<br />

nur bei multiplen Deletionen zu<br />

finden. Häufig liegt den multiplen Deletionen<br />

beim SANDO-Syndrom eine nukleäre Mutation<br />

im Polymerase--Gen zugrunde. n<br />

55


Service –Veranstaltungstermine<br />

ÖGN-Sekretariat: Tanja Weinhart<br />

Garnisongasse 7/22, 1090 Wien<br />

Tel.: +43 (0)1/512 80 91-19<br />

E-Mail: weinhart@admicos.com<br />

5. Waldviertler <strong>Neurologie</strong>-Frühling<br />

28. Mai<br />

Landesklinikum Waldviertel Horn-Allentsteig<br />

Webinfo: www.waldviertler-neurofruehling.com<br />

Twenty-first Meeting of the<br />

European Neurological Society<br />

28.–31. Mai<br />

Lisboa Convention Centre, Lissabon, Portugal<br />

Webinfo: www.ensinfo.org<br />

61. Congrès de la société de neurochirurgie<br />

1.–4. Juni<br />

Wien<br />

Information: Ärztezentrale Med. Info<br />

1014 Wien, Helferstorferstrasse 4<br />

Tel.: +43 (0)1/531 16-38 oder +43 (0)1/531 16-38<br />

Fax: +43 (0)1/531 16-61<br />

E-Mail: azmedinfo@media.co.at<br />

7. Gemeinsame Jahrestagung der Deutschen,<br />

Österreichischen und Schweizerischen Sektionen der<br />

internationalen Liga gegen Epilepsie<br />

1.–4. Juni<br />

Graz<br />

Information:<br />

Priv.-Doz. Dr. Michael Feichtinger (Tagungspräsident) oder<br />

Univ.-Prof. Dr. Barbara Plecko (Koorganisatorin)<br />

Webinfo: http://www.epilepsie-graz<strong>2011</strong>.at/<br />

9. Neuroimaging-Akademie<br />

3.–4. Juni<br />

LKH Villach, Abteilung für <strong>Neurologie</strong><br />

9500 Villach, Nikolaigasse 43<br />

Seminarräume im EG<br />

Information: ÖGN-Sekretariat<br />

15 th International Congress of Parkinson’s Disease<br />

and Movement Disorders<br />

5.–9. Juni<br />

Toronto, ON, Kanada<br />

Information: Pandani Viaggi<br />

Via G. Fara, 13 <strong>2011</strong>24 Milano, Italy<br />

Tel.: +39 02/669 30 07<br />

E-Mail: info.congressi@pandani.it<br />

Webinfo: www.movementdisorders.org/congress/congress11/<br />

5. Kremser Konferenz<br />

„Dysphagie-Assessment und Therapie“<br />

7. Juni<br />

Donau-Universität Krems<br />

Information:<br />

Fax: +43 (0)2732/893 4810<br />

E-Mail: andrea_mueller@donau-uni.ac.at<br />

Facharztausbildungsseminar der ÖGN<br />

9.–11. Juni<br />

Oberösterreichische Ärztekammer, Brennersaal<br />

4010 Linz, Dinghoferstraße 4<br />

Information: ÖGN-Sekretariat<br />

6. Innsbrucker EEG-Kurs<br />

17.–19. Juni<br />

Parkhotel Hall, Hall in Tirol<br />

Information: OÄ Dr. Iris Unterberger<br />

Univ.-Klinik für <strong>Neurologie</strong><br />

Anichstraße 35, 6020 Innsbruck<br />

Webinfo: www.oegkn.at<br />

Schmerzakademie der ÖGN und ÖGPP<br />

„Pain-Summer-School <strong>2011</strong>“<br />

21.–25. Juni<br />

Information: ÖGN-Sekretariat<br />

4 th International Epilepsy Colloquium<br />

27.–29. Juni<br />

Philipps-University Marburg, Alte Aula<br />

Lahntor 3, D-35033 Marburg<br />

Information: Congrex Deutschland GmbH<br />

Hauptstr. 18, D-79576 Weil am Rhein<br />

Tel.: +49 (0)7621/98 33-0<br />

Fax: +49 (0)7621/787 14<br />

E-Mail: weil@congrex.com<br />

Webinfo: www.congrex.de/epilepsy<strong>2011</strong><br />

www.uni-marburg.de/fb20/neurologie/ezm<br />

15 th EFNS Congress<br />

10.–13. September<br />

Budapest, Hungary<br />

Information:<br />

E-Mail: budapest<strong>2011</strong>@efns.org<br />

Webinfo: www.efns.org/efns<strong>2011</strong><br />

84. Kongress der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong><br />

für <strong>Neurologie</strong> mit Fortbildungsakademie<br />

28. September bis 1. Oktober<br />

Rhein-Main-Hallen, Wiesbaden<br />

Information: Prof. Dr. Jan Kassubek,<br />

Neurologische Universitätsklinik Ulm<br />

D-89081 Ulm, Oberer Eselsberg 45<br />

Tel.: +49 (0)731/177 12 06<br />

E-Mail: jan.kassubek@uni-ulm.de<br />

Webinfo: www.dgn<strong>2011</strong>.de<br />

65


Service –Veranstaltungstermine<br />

43 rd International Danube Neurology Symposium<br />

6.–8. Oktober<br />

Carl Gustav Carus, Technical University of Dresden<br />

D-01307 Dresden, Fiedlerstraße 42/House 91 (MTZ)/<br />

House 40(DEK)<br />

Information:<br />

E-Mail: danube<strong>2011</strong>@cpo-hanser.de<br />

Webinfo: www.danube<strong>2011</strong>.org<br />

5 th World Congress on Controversies in Neurology<br />

13.–16. Oktober<br />

Beijing, China<br />

Webinfo: comtecmed.com/cony/<strong>2011</strong>/<br />

Innsbrucker Neurosonokurse „Kurs 1“<br />

15.–16. Oktober<br />

Information: Dr. Christoph Schmidauer<br />

E-Mail: christoph.schmidauer@uki.at<br />

7 th International Congress on Vascular Dementia<br />

20.–23. Oktober<br />

Riga, Latvia<br />

Information: Congress Secretariat<br />

Tel.: +41 (0)22/908 04 88<br />

Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />

E-Mail: vascular@kenes.com<br />

Webinfo:<br />

www.kenes.com/vascular<strong>2011</strong>/mailshots/ms5.htm?ref5=db1<br />

1 st European NeuroRehabilitation Congress<br />

20.–22. Oktober<br />

Kurhaus Meran<br />

I-39012 Meran, Freiheitsstraße 33 Corso Liberta<br />

Information:<br />

E-Mail: enrc<strong>2011</strong>@come-innsbruck.at<br />

Webinfo: www.enrc<strong>2011</strong>.eu<br />

2. Grazer Neurogeriatrisches Symposium<br />

22. Oktober<br />

Albert-Schweitzer-Klinik<br />

8020 Graz, Albert-Schweitzer-G. 36<br />

Information: OA Dr. Ronald Saurugg, Abteilung für <strong>Neurologie</strong><br />

Fax: +43 (0)316/70 60-1319<br />

E-Mail: ronald.saurugg@stadt.graz.at<br />

9. Südtiroler Neurophysiologisches Wochenende<br />

28.–30. Oktober<br />

Sand in Taufers/Campo Tures<br />

Information: Frau Schleyer<br />

Care Fusion Germany 234 Training Center<br />

97204 Höchberg, Leibnizstraße 7<br />

19. Jahrestagung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> für<br />

Schlafforschung und Schlafmedizin<br />

10.–12. November<br />

Mannheim<br />

Information: Deutsche <strong>Gesellschaft</strong> für Schlafforschung<br />

und Schlafmedizin<br />

E-Mail: dgsm@conventus.de<br />

Webinfo: www.dgsm<strong>2011</strong>.de<br />

XX th World Congress of Neurology<br />

12.–17. November<br />

Marrakesh, Morocco<br />

Information: Kenes International<br />

CH-1211 Geneva 1 Switzerland,<br />

1-3 rue de Chantepoulet, P.O. Box 1726<br />

Tel: +41 (0)22/908 04 88<br />

Fax: +41 (0)22/906 91 40<br />

E-Mail: wcn@kenes.com<br />

Webinfo: www.kenes.com/404a.htm<br />

Innere Medizin Update – Refresher<br />

30. November bis 4. Dezember<br />

Aula der Wissenschaften, Wien<br />

Information: Forum für medizinische Fortbildung<br />

Tel.: +43 (0)2252/263 263 10<br />

Fax: +43 (0)2252/263 263 40<br />

E-Mail: info@fomf.at<br />

Webinfo: www.fomf.at<br />

6. Deutscher Wirbelsäulenkongress<br />

8.–10. Dezember<br />

Congress Centrum Hamburg<br />

Information: Justus G. Appelt<br />

Tel.: +49 (0)3641/311 63 11<br />

Fax: +49 (0)3641/311 62 40<br />

E-Mail: dwg@conventus.de<br />

Webinfo: www.dwg<strong>2011</strong>.de<br />

66

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!