Nelly Sachs
Nelly Sachs
Nelly Sachs
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<strong>Nelly</strong> <strong>Sachs</strong><br />
Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird,<br />
so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen<br />
Hiob<br />
O DIE SCHORNSTEINE<br />
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,<br />
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch<br />
Durch die Luft –<br />
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing<br />
Der schwarz wurde<br />
Oder war es ein Sonnenstrahl?<br />
O die Schornsteine!<br />
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –<br />
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein<br />
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?<br />
O die Wohnungen des Todes,<br />
Einladend hergerichtet<br />
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –<br />
O ihr Finger,<br />
Die Eingangsschwelle legend<br />
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –<br />
O ihr Schornsteine,<br />
O ihr Finger,<br />
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft! 1<br />
CHOR DER GERETTETEN<br />
WIR GERETTETEN,<br />
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,<br />
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich –<br />
Unsere Leiber klagen noch nach<br />
Mit ihrer verstümmelten Musik.<br />
Wir Geretteten,<br />
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht<br />
Vor uns in der blauen Luft –<br />
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.<br />
Wir Geretteten,<br />
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.<br />
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.<br />
Wir Geretteten<br />
1 <strong>Nelly</strong> <strong>Sachs</strong>, Werke. Gedichte 1940-1950, hrsg. v. Matthias Weichelt, Berlin, Suhrkamp, 2010, Bd. I, p. 11.
Bitten euch:<br />
Zeigt uns langsam eure Sonne.<br />
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.<br />
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.<br />
Es könnte sonst eines Vogels Lied,<br />
Das Füllen des Eimers am Brunnen<br />
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen<br />
Und uns wegschäumen –<br />
Wir bitten euch:<br />
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –<br />
Es könnte sein, es könnte sein<br />
Daß wir zu Staub zerfallen –<br />
Vor euren Augen zerfallen in Staub.<br />
Was hält denn unsere Webe zusammen?<br />
Wir odemlos gewordene,<br />
Deren Seele zu Ihm floh aus der Mitternacht<br />
Lange bevor man unseren Leib rettete<br />
In die Arche des Augenblicks.<br />
Wir Geretteten,<br />
Wir drücken eure Hand,<br />
Wir erkennen euer Auge –<br />
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,<br />
Der Abschied im Staub<br />
Hält uns mit euch zusammen. 2<br />
DIE MALERIN [M. Z.] 3<br />
So gingst du, eine Bettlerin, und öffnetest die Tür:<br />
Tod, Tod wo bist du –<br />
Unterm Fuß du –<br />
Zum Schlafmeer mich führ –<br />
Ich wollte die Liebsten malen<br />
Sie fangen schon an zu fahlen<br />
Wie ich den Finger rühr.<br />
Der Sand in meinem löchrigen Schuh<br />
Das warst du – du – du –<br />
Male ich Sand der einmal Fleisch war –<br />
Oder Goldhaar – oder Schwarzhaar –<br />
Oder die Küsse und deine schmeichelnde Hand<br />
Sand male ich, Sand – Sand – Sand –<br />
2 Ebd., pp. 33-34.<br />
3 Ebd., p. 30.
NOBELPREIS 1966<br />
(Geteilt mit Josef Agnon)<br />
Für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren.<br />
REDE ZUR VERLEIHUNG DES NOBELPREISES IN STOCKHOLM<br />
Eure Majestät, Eure Königliche Hoheiten, meine verehrten Zuhörer:<br />
Im Sommer 1939 reiste meine deutsche Freundin nach Schweden, um Selma Lagerlöf aufzusuchen und um ihre<br />
Hilfe zu bitten, eine Freistatt für meine Mutter und mich in Schweden zu erwirken.<br />
Ich hatte das Glück, seit meiner Jugend mit Selma Lagerlöf im Briefwechsel zu stehen. Aus ihrem Werk erwuchs<br />
mir die Liebe zu ihrem Heimatland.<br />
Der Malerprinz Eugen und die Dichterin setzten sich für das Rettungswerk ein.<br />
Im Frühjahr 1940, nach qualvoller Zeit, trafen wir in Stockholm ein. Die Besetzung Dänemarks und Norwegens<br />
war schon geschehen. Die große Dichterin trafen wir nicht mehr am Leben. Ohne die Sprache zu verstehen,<br />
oder einen Menschen zu kennen, atmeten wir die Freiheit ein.<br />
Heute, nach 26 Jahren, gedenke ich der Worte meines Vaters, die er an jedem 10. Dezember in meiner<br />
Heimatstadt Berlin äußerte: Nun feiern sie in Stockholm das Nobelfest.<br />
Dank der Wahl der schwedischen Akademie befinde ich mich jetzt mitten in dieser Feier. Es will mir scheinen,<br />
als wäre ein Märchen Wirklichkeit geworden.<br />
In der Flucht<br />
welch großer Empfang<br />
unterwegs –<br />
Eingehüllt<br />
in der Winde Tuch<br />
Füße im Gebet des Sandes<br />
der niemals Amen sagen kann<br />
denn er muß<br />
von der Flosse in den Flügel<br />
und weiter –<br />
Der kranke Schmetterling<br />
weiß bald wieder vom Meer –<br />
Dieser Stein<br />
mit der Inschrift der Fliege<br />
hat sich mir in die Hand gegeben –<br />
An Stelle von Heimat<br />
halte ich die Verwandlungen der Welt – 4<br />
4 <strong>Nelly</strong> <strong>Sachs</strong>, Prosa. Übertragungen, hrsg. v. Aris Fioretos, Berlin, Suhrkamp, 2010, Bd. IV, S. 99-100.
Aus: Leben unter Bedrohung (1956)<br />
[…] Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stießen an die Tür.<br />
Sofort sagten sie, die Zeit gehört uns!<br />
Die Tür war die erste Haut die aufgerissen wurde. Die Haut des Heims. Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer. Aus der Familie<br />
wurden Teile ausgeschnitten, Teile, die in die weit fort eroberte Zeit verfrachtet wurden. In die Zeit der gekrümmten Finger und der<br />
starken Schritte. Mit der die Vögel zogen mit dem Angesicht des Frühlings.<br />
Und dies geschah auf dieser Erde. Geschah und kann geschehen. […]<br />
Fünf Tage lebte ich ohne Sprache unter einem Hexenprozeß. Meine Stimme war zu den Fischen geflohen. Geflohen ohne sich um<br />
die übrigen Glieder zu kümmern, die im Salz des Schreckens standen.<br />
Die Stimme floh, da sie keine Antwort mehr wußte und »sagen« verboten war. […] Leben unter Bedrohung! 5<br />
ALS DER GROSSE Schrecken kam<br />
wurde ich stumm –<br />
Fisch mit der Totenseite<br />
nach oben gekehrt<br />
Luftblasen bezahlten den kämpfenden Atem<br />
Alle Worte Flüchtlinge<br />
in ihre unsterblichen Verstecke<br />
wo die Zeugungskraft ihre Sterngeburten<br />
buchstabieren muß<br />
und die Zeit ihr Wissen verliert<br />
in die Rätsel des Lichts – 6<br />
HÖLLE IST NACKT aus Schmerz –<br />
Suchen<br />
sprachlos<br />
suchen<br />
Überfahrt in die Rabennacht<br />
mit allen Sintfluten<br />
und Eiszeitaltern umgürtet<br />
Luft anmalen<br />
mit dem was wächst hinter der Haut<br />
Steuermann geköpft mit dem Abschiedsmesser<br />
Muschellaut ertrinkt<br />
Su Su Su 7<br />
WEINE AUS DIE entfesselte Schwere der Angst<br />
Zwei Schmetterlinge halten das Gewicht der Welten für dich<br />
und ich lege deine Träne in dieses Wort:<br />
Deine Angst ist ins Leuchten geraten – 8<br />
5 <strong>Nelly</strong> <strong>Sachs</strong>, Werke. Prosa. Übertragungen, hrsg. v. Aris Fioretos, Berlin, Suhrkamp, 2010, Bd. IV, S. 12-14.<br />
6 <strong>Nelly</strong> <strong>Sachs</strong>, Werke. Gedichte 1951-1970, hrsg. v. Ariane Huml und Matthias Weichelt, Berlin, Suhrkamp, 2010,<br />
Bd. II, S. 167-168.<br />
7 Ebd., S. 170.<br />
8 Ebd., S. 160.