Lebensberichte â Zeitgeschichte - Olms
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<strong>Lebensberichte</strong> – <strong>Zeitgeschichte</strong><br />
Georg <strong>Olms</strong> Verlag<br />
Hildesheim · Zürich · New York<br />
2005
Welf Botho Elster<br />
Die Grenzen des Gehorsams<br />
Das Leben des Generalmajors<br />
Botho Henning Elster<br />
in Briefen und Zeitzeugnissen<br />
Georg <strong>Olms</strong> Verlag<br />
Hildesheim · Zürich · New York<br />
2005
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen<br />
des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung<br />
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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten<br />
sind im Internet über http:// dnb.ddb.de abrufbar.<br />
ISO 9706<br />
Printed in Germany<br />
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier<br />
Umschlagentwurf: Inga Günther, Hildesheim<br />
Herstellung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza<br />
© Georg <strong>Olms</strong> Verlag AG, Hildesheim 2005<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
www.olms.de<br />
ISSN 1861-4698<br />
ISBN 3-487-08457-0
Inhaltsverzeichnis<br />
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Kriegserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
Privates Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />
Pflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
Kapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
Gefangenschaft und Entsagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />
Neubeginn?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Prolog<br />
Geschichte ist wie eine Sandbank, die sich in den Strömen der Zeit ständig<br />
verändert. Man muß ihre Markungen festhalten, um Ursprünge wie Verläufe<br />
nachvollziehbar und verstehbar zu machen. Denn es ist nichts ohne Geschichte,<br />
keine Gegenwart lebt ohne ihre geschichtliche Erfahrung und Vergangenheit.<br />
Geschichte ist begreifbare Gegenwart und Lehre für die Zukunft.<br />
Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, kann man es als Deutscher<br />
getrost in zwei Hälften teilen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die<br />
erste Hälfte ist geprägt durch zwei von Deutschland ausgehende Weltkriege,<br />
den Untergang des Kaiserreiches, den Versuch einer demokratischen<br />
Republik, ihren Untergang in einem totalitären Regime und dessen katastrophales<br />
Ende. Die letzten fünf Jahrzehnte stehen im Zeichen des Aufbruchs<br />
eines zertrümmerten und für eine unendlich scheinende Zeit geteilten<br />
deutschen Volkes hin zu Freiheit und Frieden sowie einer demokratischen<br />
Verfassung.<br />
Diese Biographie widmet sich dem ersten deutschen halben Jahrhundert,<br />
das durch Größe, Schwäche und Niedergang zugleich gekennzeichnet<br />
ist.<br />
Sie schildert das Schicksal eines Offiziers, dessen Lebenslauf an das Auf<br />
und Ab dieses deutschen Staatswesens gekettet war wie kaum ein anderer.<br />
Die gewaltigen Umbrüche dieser ersten fünf Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts<br />
werden durch diesen Lebensbericht veranschaulicht. Es geht dabei<br />
um die Schilderung einer aufkeimenden, lodernden, aufopferungsvollen,<br />
dann doch widerstrebenden und schließlich verzagenden, entmutigten Lebenskraft<br />
eines inständigen und charakterlich anständigen Dieners seines<br />
Vaterlandes.<br />
Das Leben eines Dieners des Staates wird dabei zum Spiegelbild dessen<br />
Niederganges und zugleich zum Leitbild eines standhaften Charakters, der<br />
zum Vorbild für nachkommende Generationen werden könnte. Denn er hat<br />
nach der – insbesondere im Dritten Reich leider zum Kadavergehorsam pervertierten<br />
– preußischen Tugend gehandelt, wie sie schon von Friedrich Wilhelm<br />
I., König in Preußen, formuliert worden war:<br />
»Der Officier schuldet Gehorsam, es sei den (sic!), es geht gegen die<br />
Ehre.«<br />
Dieser Grundsatz war auch für einen jungen Offizier, der mit 20 Jahren in<br />
den Ersten Weltkrieg zog, wesentlicher Teil seiner ethischen Wertvorstellungen.<br />
7
Botho Henning Elster mußte gut 30 Jahre später erkennen, daß dieser<br />
Eckpfeiler seiner moralischen Weltordnung im nationalsozialistischen<br />
Deutschland keinen Bestand mehr hatte.<br />
Zum Tode verurteilt wurde er für eine Tat, die er gerade unter diesem<br />
Leitstern glaubte verantworten zu können, da durch sie nahezu 20 000 Menschen<br />
unmittelbar das Leben gerettet wurde, das sie bei blindem Gehorsam<br />
ihres Führers gegenüber einem unverantwortlichen Befehl unweigerlich verloren<br />
hätten.<br />
Das Reichskriegsgericht, schon in Torgau tagend, fällte noch am 7. März<br />
1945 dieses Todesurteil.<br />
Sein Rubrum und Tenor lauten:<br />
Reichskriegsgericht, 1. Sen. 9/45<br />
Im Namen des deutschen Volkes!<br />
Feldurteil<br />
In der Strafsache gegen<br />
Generalmajor Elster,<br />
zuletzt Kommandant der Feldkommandantur 541,<br />
jetzt in amerikanischer Kriegsgefangenschaft,<br />
wegen Ungehorsams und Übergabe an den Feind<br />
hat das Reichskriegsgericht, 1. Senat, auf Grund der am 6. und 7. März<br />
1945 durchgeführten Hauptverhandlung in der Sitzung vom 7. März 1945,<br />
an der teilgenommen haben<br />
als Richter<br />
Generalrichter beim Reichskriegsgericht Dr. Lattmann,<br />
Verhandlungsleiter,<br />
Generalleutnant Eberhardt,<br />
Generalleutnant Angerstein,<br />
Generalleutnant Sievers,<br />
Oberstrichter Dr. Weber,<br />
als Vertreter der Anklage:<br />
Oberstrichter Dr. Speckhardt,<br />
als Urkundsbeamter:<br />
Reichskriegsgerichtsoberinspektor Wagner,<br />
für Recht erkannt:<br />
Der Angeklagte wird wegen Übergabe an den Feind zum Tode, zum Verlust<br />
der Wehrwürdigkeit und zum dauernden Verlust der Ehrenrechte verurteilt.<br />
Von Rechts wegen.<br />
8
Kopie Rubrum/Tenor Urteil Reichskriegsgericht vom 7. März 1945<br />
9
Wir werden später, wenn wir den gesamten Hintergrund kennen, den<br />
vollständigen Wortlaut dieses Urteils lesen können. Heute wissen wir diesen<br />
Spruch als eines der vielen nationalsozialistischen Unrechtsurteile einzustufen.<br />
Damals aber, vor 60 Jahren, sah es in vielen Köpfen anders aus. Zwischen<br />
dem Spruch und seinem Vollzug lag nur das Hindernis, daß der Verurteilte<br />
nicht aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft an sein Vaterland<br />
ausgeliefert wurde, wo man mit der Vollstreckung nicht gezögert hätte.<br />
Erst in den neunziger Jahren fand sich das deutsche Parlament bereit,<br />
ein Verdikt über die sogenannten nationalsozialistischen Unrechtsurteile auszusprechen,<br />
und auch das nur nach langen Wehen und politischem Gezerre.<br />
Hingewiesen sei hier nur kurz auf die Genese des sogenannten Justiz-<br />
Aufhebungs-Gesetzes (JustizAufhG) vom 17. Mai 2002 und dessen Vorläufer<br />
vom 25. August 1998 und vom 25. Mai 1990. Danach ist das Todesurteil<br />
gegen Botho Henning Elster seit 1998 (also seit mehr als 45 Jahren<br />
nach seinem Tod!) aufgehoben.<br />
Für die Geschichte Bothos interessierte sich die Öffentlichkeit in Deutschland<br />
sechs Jahrzehnte lang nicht. Das wurde erst anders mit einem<br />
Dokumentations-Film, den der Hessische Rundfunk zusammen mit »Arte«<br />
im Jahre 2003 produziert und am 21. Januar 2004 erstmals ausgestrahlt<br />
hatte.<br />
Der Film handelt von jener Tat, die die Verurteilung zum Tode nach sich zog.<br />
Diese Biographie aber beschreibt die Persönlichkeit dieses Mannes, der<br />
die Kraft hatte, einem alten preußischen Grundsatz in einer Zeit Geltung zu<br />
verschaffen, in der Fahnenflucht als das am meisten zu verabscheuende<br />
Verbrechen angesehen wurde.<br />
10
Anfänge<br />
Am 17. Mai 1894 wurde Botho Henning Elster als viertes Kind seiner Eltern<br />
Louise und Otto in Berlin-Steglitz geboren.<br />
Elfriede, Grete und Hanns-Martin waren seine älteren Geschwister.<br />
Das Elternhaus war geprägt durch eine konservative, überwiegend aber<br />
oppositionelle Haltung zur herrschenden offiziellen politischen, d.h. preußischen<br />
Richtung. Es wurde dominiert durch das Wirken des Vaters, Otto<br />
Elster, der als Ordonanzoffizier ausgemustert hatte und sich fortan als freier<br />
Redakteur und Schriftsteller den Lebensunterhalt verdiente.<br />
Otto lebte vom 11.11.1852 bis 1.12.1922. Nach dem Besuch der Gymnasien<br />
in Holzminden und Wolfenbüttel, dessen Abschluß mit dem Beginn<br />
des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 zusammenfiel, trat er gegen<br />
Ende des Feldzuges als Fahnenjunker noch in die hannoversche Armee, in<br />
das herzoglich-braunschweigische Infanterie-Regiment ein. In seiner Jugendzeit<br />
hatte er erste literarische Verbindungen zu dem von ihm hochverehrten<br />
Wilhelm Raabe (1831–1910) geknüpft, standen sich doch die beiden Elternhäuser<br />
im niedersächsischen Eschershausen schräg gegenüber. Während<br />
seiner Braunschweiger Offizierszeit suchte er häufig die Begegnung<br />
mit Wilhelm Raabe in den Künstlertreffs »Feuchter Pinsel«, »Kleiderseller«<br />
und »Herbst’s Weinstuben«. Der Ausspruch Raabes ist überliefert: »Wir sind<br />
vom selben Vogelgeschlecht und aus demselben Nest gefallen.« Später hat<br />
Otto Elster zusammen mit seinem Sohn Dr. phil. Hanns-Martin Elster in den<br />
Jahren 1912, 1913 und 1914 die weithin beachteten Wilhelm-Raabe-Kalender<br />
herausgegeben, deren Weiterführung der Erste Weltkrieg verhinderte,<br />
da Hanns-Martin Militärdienst zu leisten hatte. Schon als aktiver Offizier<br />
begann Otto damit, sich als Schriftsteller zu betätigen. Unter dem Pseudonym<br />
»von Bruneck« veröffentlichte er 1878 das Drama »Der Sozialdemokrat«.<br />
Er verfaßte aber auch eine »Unteroffiziersschule für die Infanterie«.<br />
Eine entscheidende Wende in seinem Leben erfolgte im Jahre 1884. Er war<br />
als Premier-Leutnant der letzte Adjutant des 1884 ohne Thronfolger sterbenden<br />
Herzogs Wilhelm von Braunschweig. Die braunschweigischen Truppen<br />
wurden damit in den preußischen Heeresverband eingegliedert. Wenn<br />
es für Otto Elster als getreuem Anhänger des Welfenhauses schon schmerzlich<br />
genug gewesen wäre, die schwarze Schnüren-Uniform ablegen zu müssen,<br />
den ihm abverlangten Eid auf Preußen konnte er vor seiner Vaterlandsliebe<br />
nicht verantworten – er nahm den Abschied und trat in die Redaktion<br />
des Braunschweiger Tageblattes ein.<br />
Auf Helgoland heiratete Otto am 10.2.1886 Johanna Friederike Louise<br />
Reimers, geb. Wechsung (*12.5.1861, †29.6.1954), Tochter des Braunschweiger<br />
Pianofabrikanten Günther Wechsung (*12.11.1827,<br />
11
†10.11.1898) aus der Firma Wechsung & Steinweg (später: Steinway &<br />
Sons).<br />
1887 wechselte er zum Kreuznacher Generalanzeiger und wurde danach<br />
für zwei Jahre Chefredakteur des Kölner Tageblattes, bevor er 1890<br />
nach Berlin ging. Hier band er sich nicht mehr an eine bestimmte Zeitung.<br />
Vielmehr schrieb er Theaterkritiken ebenso wie politische Leitartikel. Vor<br />
allem aber machte er sich einen Namen als Romanschriftsteller und Verfasser<br />
von Dramen, Lustspielen und Schwänken. Als ehemaliger Offizier hatte<br />
er in Berlin leichten Eingang in die Gesellschaft gefunden und als Theaterkritiker<br />
auch in die dortigen Künstlerkreise.<br />
Schriftstellerisch war Otto in allen Bereichen der Literatur tätig. Seine<br />
Erlebnisse und Erfahrungen während der Offizierszeit und sein politisches<br />
Engagement flossen ein in Erzählungen (»Am Biwakfeuer«), in Lustspiele<br />
wie »Manövertage« und »Das Wachtgespenst«. und in seine vaterländischen<br />
Dramen (»Welfenstolz und Welfenliebe« sowie »Quatrebras«), die beim braunschweigischen<br />
Publikum begeisterte Aufnahme fanden.<br />
Das Schauspiel »Unter dem Totenkopf« erlebte ein politisches Schicksal:<br />
Am Braunschweiger Hoftheater dreimal kurz hintereinander vor ausverkauftem<br />
Haus aufgeführt, verschwand es – vermutlich auf preußische Anordnung<br />
– vom Spielplan. Neben Jugendschriften (»Die Goldgräber von Angra-<br />
Pequena«, »In den Schluchten des Kilima-Ndjaro«), historischen Romanen<br />
(»Zum Sammeln geblasen!«, »Werden und Vergehen«, »Auf dem Schlachtfeld<br />
des Lebens«, »Zwischen den Schlachten«, »Die Welt in Waffen«) und<br />
Romanen, die draußen in der Welt spielten (»Majana«, Roman aus der Südsee,<br />
»Gold und Blut«, Roman aus Südafrika) verfaßte er viele Gesellschaftsund<br />
leichte Liebesromane (»Venus Impreatrix«, »Gräfin Lotte«, »Schwester<br />
Katharina« usw.). Mit seinen Verlegern hatte er, dem das Aushandeln finanzieller<br />
Vorteile nicht lag, nicht immer Glück und dementsprechend auch<br />
geringe wirtschaftliche Erfolge.<br />
Viel Zeit und Energie widmete Otto nach 1890 auch seiner politischen<br />
Tätigkeit, die ihn mehr und mehr dem rein literarischen Schaffen entzog.<br />
Ungeachtet aller Nachteile setzte er sich für die Rechtsansprüche des Welfenhauses<br />
auf den Braunschweiger Herzogsthron ein (nach der Annexion von<br />
Hannover hatte Bismarck im Hinblick auf die voraussehbare Verwaisung des<br />
Braunschweiger Herzogsthrones einen Bundesratsbeschluß erwirkt, wonach<br />
die hannoversche Welfenlinie von der Thronfolge im Herzogtum Braunschweig<br />
ausgeschlossen wurde). 1889 hatte er bereits mit seiner Schrift »Denkmäler,<br />
Denksteine und Erinnerungszeichen an die Herzöge von Braunschweig«<br />
für das Fortleben der welfisch-monarchischen Tradition in seiner Heimat<br />
geworben. Mit seinem in Braunschweig als Rechtsanwalt tätigen Bruder<br />
Robert gründete er nun die »Braunschweigische Landesrechtspartei«, für<br />
die er sogar – wenn auch erfolglos – für den Reichstag kandidierte. In Berlin<br />
und im Reich mehrte sich aber – je bekannter er wurde – die Gegnerschaft<br />
12
Botho als Student<br />
gegen den großdeutschen Welfenpolitiker. Wichtige Medien wie die Familienzeitschrift<br />
»Über Land und Meer« oder die Illustrierte Wochenschrift »Vom<br />
Fels zum Meer« sowie andere große Zeitungen und Wochenblätter, die die<br />
Romane und Abhandlungen Otto Elsters immer gern gedruckt hatten, zeigten<br />
ihm mehr und mehr die kalte Schulter. Mit seinem öffentlichen Eintreten<br />
für eine Freundschaft mit England und mit seiner Warnung vor der Flottenpolitik<br />
Kaisers Wilhelm II. wuchsen die Anfeindungen, die mit einer Morddrohung<br />
in den Leipziger Neuesten Nachrichten ihren Höhepunkt erreichten.<br />
Für ihn gab es damit Ende der 90er Jahre in Berlin als freier Schriftsteller<br />
und Politiker keine rechte Existenzmöglichkeit mehr. Er verkaufte das<br />
Landhaus in Lichterfelde und suchte vergeblich eine Dauerstellung beim<br />
Herzog Ernst-August von Cumberland in Gmunden. Schließlich folgte er 1901<br />
dem Ruf des Prinzen zu Schaumburg-Lippe, als Archivar und Bibliothekar<br />
auf dessen Schloß Nachod/Böhmen tätig zu sein, wohin er mit seiner Fami-<br />
13
lie zog. Ein ganzes Jahrzehnt konnte er sich dieser erfüllenden Aufgabe widmen.<br />
Die wissenschaftliche Aufarbeitung des noch unerforschten Archivgutes<br />
aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gab ihm die Möglichkeit, seine<br />
militärhistorischen Studien zu erweitern. Seinen schon früher herausgebrachten<br />
Schriften »Bilder aus der Kulturgeschichte des deutschen Heeres« (1891/<br />
1893), »Die historische schwarze Tracht der braunschweigischen Truppen«<br />
(1896) und vor allem der mehrbändigen »Geschichte der stehenden Truppen<br />
im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel von 1600–1806« (1899/<br />
1900) schlossen sich nun »Die Piccolomini-Regimenter im Dreißigjährigen<br />
Kriege« (1903) und »Piccolomini-Studien« (1911) an.<br />
Nach dem Tode des Schloßherrn von Nachod ging die Familie zu Beginn<br />
des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wieder zurück nach Berlin<br />
(Friedenau), wo Otto sich fern aller politischen Betätigung seiner Schriftstellerei<br />
widmete.<br />
Botho Henning Elster war 1900 sechs Jahre alt, als er mit der Familie<br />
nach Schloß Nachod in Böhmen kam. Die Zeit von seinem sechsten bis zu<br />
seinem fünfzehnten Lebensjahr verbrachte er in tschechischen Landen. Er<br />
erlernte gleichsam spielend die tschechische Sprache, während zu Hause<br />
oft auch das Französische gepflegt wurde. Er genoß die Erziehung durch<br />
Privatlehrer des Fürsten zusammen mit dessen Kindern, also eine besondere,<br />
von der allgemeinen Bildungsmöglichkeit abgehobene Schulbildung. Diese<br />
schloß auch den Besuch des Königlichen Gymnasiums in Glatz von Ostern<br />
1905 bis Ostern 1909 ein, wodurch sein Sprachtalent weit über die normalen<br />
Möglichkeiten hinaus gefördert wurde. Von Ostern 1909 bis Februar<br />
1913 besuchte Botho das humanistische Gymnasium in Lüneburg (Johanneum),<br />
wo er das Abitur ablegte.<br />
Mit dieser guten Erziehung und Bildung ausgestattet war er prädestiniert<br />
für die Aufnahme eines Studiums. Die Finanzen des Elternhauses erlaubten<br />
es damals aber nicht mehr, auch diesem Sohn, wie seinem älteren Bruder,<br />
ein Studium zu ermöglichen. So führte sein Weg zum Militär, wie dies damals<br />
üblich war. Bereits im Herbst 1912 bemühte sich Otto um die Aufnahme<br />
seines Sohnes in das Heer und erhielt alsbald die Nachricht, daß dieser,<br />
das Abitur vorausgesetzt, in das in Hildesheim stationierte Infanterie-Regiment<br />
von Voigts-Rhetz (3. Hannoversches) Nr. 79 aufgenommen werden<br />
könne.<br />
14
Kriegserfahrung<br />
So trat der hoffnungsvolle junge Mann unmittelbar nach dem Abitur im Februar<br />
1913 als Fahnenjunker in dieses Regiment ein. Nur anderthalb Jahre<br />
später sollte er mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges ins Feld ziehen!<br />
Im August 1913 wurde er auf die Kriegsschule nach Glogau kommandiert,<br />
wo er, Oktober 1913 zum Fähnrich befördert, im Mai 1914 das Offiziersexamen<br />
bestand, um darauf in das Regiment zurückzutreten. Im Juni 1914<br />
erfolgte die Beförderung zum Leutnant. Botho war nun gerade 20 Jahre alt.<br />
Meinen lieben Eltern ...<br />
15
Bei Kriegsausbruch im August 1914 rückte er mit einer Maschinengewehr-Kompanie<br />
im Res.Inf.Reg. 77 ins Feld und machte den Feldzug durch<br />
Belgien gegen Frankreich als Maschinengewehr-Offizier und später als Kompanie-Führer<br />
einer Infanterie-Kompanie mit. Schon am 12. September 1914<br />
wurde er bei Reims durch Granatsplitter am rechten Unterschenkel verwundet.<br />
Während der Rehabilitationszeit legte Botho ein Kriegstagebuch an. Er<br />
kam bei der rückblickenden Schilderung nur bis zum 11. August 1914 und<br />
hat danach nie wieder irgendeine Aufzeichnung in dieses Tagebuch eingetragen:<br />
»Ich krame jetzt als Verwundeter, wo ich die Zeit und Ruhe dazu finde,<br />
meine Kriegserlebnisse und Erinnerungen aus, soweit sie mir noch frisch<br />
im Gedächtnis stehen und habe dabei den Vorsatz, mit möglichster Gründlichkeit<br />
und mit genauer Wahrhaftigkeit das zu schildern, was ich von Land<br />
und Leuten, Gefechten und französischen und englischen Gefangenen gesehen<br />
und gehört habe.<br />
Leider ist es mir nicht möglich, mit durchgreifenden Zahlenangaben auf<br />
Zeit und Truppen alles zu aktiverem Werte zu bringen, da mir meine<br />
Tagebuchaufzeichnungen, welche ich während des Feldzuges gemacht habe,<br />
durch die Gefangennahme unserer M.G.K. abhanden gekommen sind.<br />
Vor der Mobilmachung – Ende Juli 1914 –<br />
Kurz nachdem wir – am 21. Juli – von Munster wiederkamen, brauste<br />
die Kriegsgefahr durch die Lande, und hatten wir uns nach den anstrengenden<br />
4 Wochen in Munster auf eine behagliche Ruhe bis zu den Herbstmanövern<br />
gefreut, so war es damit nichts.<br />
Es wurde fieberhaft gearbeitet in den Kasernen. Röcke und Stiefel wurden<br />
verpaßt und ausgegeben; nachmittags war nur Kammerarbeit, und morgens<br />
ging es hinaus, um, Schützengräbenarbeiten und Zeltbau etc. noch einmal<br />
rasch in dem Gedächtnis der Leute aufzufrischen.<br />
Zeigte sich ein Soldat in den neuen rohledernen Stiefeln auf der Straße,<br />
dann blieben die guten Hildesheimer stehen und staunten: ›Oh, kiek mol,<br />
dat sind die Kriegsstiebeln!‹ –<br />
Überhaupt war die Bevölkerung wie verwachsen mit dem Regiment,<br />
stundenlang standen die Leute vor den Kasernentoren, um etwas von dem<br />
zu erhaschen, was dort drinnen vorging; die Offiziere sausten mit wichtigen<br />
Mienen aus und ein und die Spannung wuchs von Tag zu Tag. Einmal<br />
hieß es, es wird nichts draus, die Sache schläft wieder ein, und das andere<br />
Mal wieder hatte man schon fast die Mobilmachung erklärt.<br />
Im Kasino ging es lebhaft her, unwillig schalten wir jungen Leutnants<br />
auf das lange Warten und die Verzögerung der Entscheidung; gab es doch<br />
für uns nichts Schöneres und Höheres, endlich einmal all das, was wir ge-<br />
16
lernt und unseren Leuten in langer Friedensarbeit beigebracht hatten, zu<br />
erproben und wirklich einmal Krieg zu spielen, nicht nur in Manövern und<br />
auf den Truppenübungsplätzen.<br />
So hob sich die Stimmung im Kasino von Tag zu Tag mehr. Unter dem<br />
Grundsatze: ›So jung kommen wir nicht mehr zusammen!‹ und: ›Bezahlen<br />
tut’s der liebe Gott!‹ floß der perlende Sekt, wir sahen uns schon draußen,<br />
von Sieg zu Sieg eilend und dann heimkehrend nach raschem, frischen,<br />
fröhlichen Krieg in das bekränzte Hildesheim unter den wehenden Fahnen!<br />
Und nun liegen schon so viele von meinen treuen Kameraden, die mit<br />
uns geschwärmt hatten von Sieg und Heimkehr, unter dem kühlen Rasen<br />
und über ihre schlichten Heldengräber tanzt und braust der Herbstwind.<br />
– – –<br />
Ich hatte als Mobilmachungsorder, als Leutnant und Zugführer in die<br />
11. Komp. des I.R 79 einzutreten, und freute mich darauf, nun wohl auch<br />
mit meinen alten Leuten, mit denen ich als Fahnenjunker in Reih und Glied<br />
gestanden hatte, ins Feld zu ziehen, mit meinen alten Unteroffizieren und<br />
meinem Hauptmann Böhm. Und das kam anders.<br />
Sonnabend, am 1. August, war die Spannung auf das Höchste gestiegen;<br />
alles lag bereit und fix und fertig hätte das Regiment, ohne die Reserven,<br />
ausrücken können.<br />
Ich war gerade auf dem Batl.-Geschäftszimmer und jedesmal, wenn das<br />
Telefon rasselte, hielten wir den Atem an und glaubten, die Mobilmachung<br />
wäre raus.<br />
Die Menschen drängten auf den Straßen, keinen hielt es zu Hause und<br />
fiebernd stand die Menge vor den Zeitungsbüros und Telegraphenämtern.<br />
Da endlich um 6¼ war es heraus: ›Die Mobilmachung ist angeordnet,<br />
als erster Mob.tag gilt der Sonntag, der 2. August. Ein Brausen ging durch<br />
die Welt, eine befriedigte Genugtuung machte sich bemerkbar; hatten wir<br />
doch nicht unüberlegt und überschnell die Mobilmachung befohlen, sondern<br />
sie erst angeordnet nach den Sticheleien und Grenzverletzungen der<br />
anderen Mächte.<br />
Wir Offiziere aber jubelten. –<br />
Mobilmachungstage<br />
Als ich am Abend des Sonnabends über den Hohen Weg (in Hildesheim)<br />
ging, kam mir Beguelin entgegen: ›Wissen Sie schon, Elster, Sie sind zur<br />
Maschinen-Gewehr-Kompanie vom Reserve-Infanterie-Regiment 77, das<br />
hier zusammengestellt wird, kommandiert; haben Sie schon Sättel und Packtaschen<br />
usw.?‹<br />
Ich traute meinen Ohren nicht, stürmte sofort auf das Rgtsgeschäftszimmer<br />
und erhielt da Gewißheit. Es stimmte! Aber ich hörte es immer<br />
noch wie im Traum, als blutjunger Leutnant von 1½ Monaten sollte ich<br />
17
zwei Pferde bekommen, beritten werden und nicht die Riesenmärsche zu<br />
Fuß zu machen brauchen.<br />
Am Sonntagmorgen telegraphierte ich gleich an die Eltern: ›Bin zur MGK<br />
Res.Rgt. 77 kommandiert. Bleibe noch länger Brief unterwegs Gruß =<br />
Botho‹<br />
Die waren inzwischen in aller Hast aus dem stillen Ostseebade Nest<br />
abgereist nach Berlin und waren nun unterwegs nach Hildesheim, um mich<br />
vor dem Ausrücken noch einmal zu sehen.<br />
Inzwischen bekam ich den Mobilmachungskalender der M.G.K., da ich<br />
vorläufig als einziger Offizier vertreten war; der Kompanieführer Oberltn.<br />
v. Heugel, Elisabether Garderegt., kam erst laut dem Kalender am Montag,<br />
die beiden anderen Leutnants, Lt. d. Res. Faust und Lt. d. Res. Thiemann,<br />
erst am Dienstag. So half ich denn als Batl.adjutant mit bei der Aufstellung<br />
des Regiments.<br />
Montag, den 3. Aug., kamen die Eltern und Grete seegebräunt und<br />
sonnverbrannt direkt aus Nest und hatten auch Onkel Adolf mitgebracht.<br />
Die Cafés mit ihrer improvisierten Kriegsmusik waren ihnen zu laut, so<br />
setzten wir uns in den Ratskeller; sie blieben über Nacht und am anderen<br />
Morgen bummelten wir bei dem sonnigsten Wetter durch Hildesheim.<br />
Mittags reisten sie ab, ich brachte sie zur Bahn und traf dort gleichzeitig<br />
mehrere Gardeoffiziere, meist Elisabether, die ich nun, da sie Hildesheim<br />
nicht kannten, zu dem Regtsgeschäftszimmer führte. Unter ihnen war auch<br />
Heugel, der zukünftige Komp.führer meiner M.G.K., wie sich gleich herausstellte.<br />
Ich brachte ihn dann noch zu seiner Wohnung, übergab ihm den<br />
Mob.Kalender und hielt ihm Vortrag über die sofort notwendigen Anordnungen.<br />
Nun kurz, die Mob.tage gingen hin im Fluge, von morgens bis abends<br />
war man auf den Beinen, die beiden anderen Leutnants kannte ich schon<br />
von früher her aus dem 79. Rgt.<br />
Pferdemusterung, Mannschaftseinkleidung, Fahrzeug- und Waffenrevision,<br />
alles das ging hintereinander tagtäglich und man wußte nicht, wo<br />
einem der Kopf stand.<br />
Aber eine stramme Zucht wurde von Anfang an innegehalten, was bei<br />
den Reservemannschaften zum Teil sehr nötig und zweckdienlich war.<br />
Es klappte alles wie am Schnürchen, der Mob.machungskalender war<br />
hervorragend durchgearbeitet; alles bis auf den letzten Hufnagel und das<br />
letzte Schräubchen war angeführt und auf das Itüpfelchen vorhanden. Ich<br />
wurde Waffenoffizier und hatte dadurch viel Arbeit. Nur ein Übelstand war<br />
dabei, der unverantwortlich war: Lt. Thiemann war überhaupt noch niemals<br />
bei der M.G.K. gewesen und hatte überhaupt keine Ahnung, wie ein<br />
M.G. aussieht und Lt. Faust hatte als Reserveoffizier früher wohl mal bei<br />
der M.G.K. geübt, aber jetzt auch nicht mehr viel Ahnung.<br />
18
Also hieß es Exerzieren und nochmal Exerzieren und zwar die beiden<br />
Offiziere! Es war eine zeitraubende Zugabe für uns. So gingen die Tage hin.<br />
Die Pferde kamen, alles ungerittene Biester vom Kohlenwagen oder<br />
Möbelwagen, und so etwas sollte man nun reiten!<br />
Ich bekam einen Schimmel und einen Rappen. Beide natürlich niemals<br />
geritten! Der Schimmel war ein hübsches Tier, gut gebaut und Sehnen wie<br />
Stahl. Der Rappe hatte einen Senkrücken, der sich nach hinten wohlgefällig<br />
abdachte und einen Entenbauch, an dem kein Sattelgurt saß.<br />
Nun wurden sie erst etwas zurecht gestutzt, die Schwänze beschnitten,<br />
dto. die Mähnen, aber an ein Reiten im wirklichen Sinne war nicht zu<br />
denken, von Schenkeldruck und Hilfen keine Ahnung, sie reagierten überhaupt<br />
nicht darauf. Aber besser als gar nichts, sagte ich mir immer, und mit<br />
der Zeit würde ich sie wohl schon in die Zügel bekommen.<br />
Sonnabendnacht wollten wir abrücken, morgens war noch einmal ein<br />
Scharfschießen bei Steuerwald.<br />
Ich mußte als Jüngster früher heraus, um die Posten, die das Gebäude<br />
absperrten, zu revidieren, und kariolte infolgedessen bei Morgengrauen<br />
alleine los; mein Schimmel wurde mir vorgeführt, er witterte schon wieder<br />
Unheil und beschielte mich mißtrauisch; aber er ließ mich doch aufsitzen<br />
und hinaus ging’s aus dem Kasernentore.<br />
Ich segelte durch die Stadt, ich ritt den Gaul nicht, nein, ich ›fuhr‹ ihn<br />
sozusagen um die Häuserecken herum und ich mußte jeweilig am rechten<br />
oder linken Zügel ziehen, wie der Lohnkutscher auf dem Milchwagen. Draußen<br />
bei Steuerwald traf ich unseren Regtskommandeur, einen Oberst Wrigth<br />
(Reith), bei dem ich mich meldete und kurz darauf kam auch die M.G.K.<br />
Die erste Ausfahrt mit den neuen Gäulen ging ganz leidlich von statten,<br />
außer daß einige Gäule zeitweise aus den Strängen geschlagen hatten.<br />
Dann ging es ans Gefechtsexerzieren und Scharfschießen auf alle denkbaren<br />
Ziele; die Leute schossen, dafür, daß sie solange Zeit kein Maschinengewehr<br />
in die Hände bekommen hatten, ganz ausgezeichnet; wir Offiziere<br />
schossen auch, und da meine Leistungen doch etwas abstachen von<br />
denen der beiden andern Leutnants, was dadurch bedingt war, daß ich während<br />
meiner Fahnenjunkerzeit und auch später auf Kriegsschule am M.G.<br />
tätig gewesen war, so erzielte ich ganz gute Resultate und höre immer noch<br />
stolz die Worte Heugels: ›Mit Ihnen will ich die Franzosen schon klein<br />
kriegen! Wenn jeder so schießt wie Sie!‹<br />
Mittags rückten wir wieder ein und abends war Ausmarsch. Noch ein<br />
letztes Abschiednehmen von allen Bekannten und Kameraden. Abends saß<br />
ich dann noch einmal mit Lt. Thiemann im ›Wienerhof‹ zusammen, schon<br />
feldmarschmäßig gerüstet. Hätte er damals gewußt, daß das seine Henkersmahlzeit<br />
sein sollte, der arme, liebe Kerl, und daß er nie wieder zurückkehren<br />
würde! – – –<br />
19
Um 11:00 Uhr abends war das Verladen der M.G. auf dem Güterbahnhof<br />
angesetzt, um 10:30 Uhr war Abmarsch aus der Kaserne. Dicht gedrängt<br />
standen die Menschenmassen rechts und links der Straßen und von<br />
allen Seiten flogen uns Rosen zu – – Rosen, aber Dornen daran!<br />
Dumpf rasselten wir durch die Stadt dem Bahnhofe zu. Hier auf den<br />
Kopf- und Seitenrampen des Güterbahnhofs zischten die grünlich leuchtenden<br />
Bogenlampen und legten sich mit einem geisterhaften Schein über<br />
das Gekribbel unter ihnen. Auch dort bekamen wir noch Blumen über Blumen<br />
von verschiedenen jungen Mädchen und Damen der Hildesheimer<br />
Gesellschaft, mit denen man schon in den Kasinoräumen getollt hatte.<br />
Das Verladen der M.G.K. war hervorragend organisiert von der Eisenbahnverwaltung,<br />
und binnen 40 Minuten waren alle Fahrzeuge und Pferde<br />
fix und fertig verladen. So hatten wir denn noch lange Zeit bis zur Abfahrt<br />
um 1:40 Uhr und gingen noch einmal hinüber in den Wartesaal des Bahnhofes.<br />
Einschub:<br />
Nachstehend gebe ich die Abschrift einiger Briefe wieder, die ich während<br />
der Mobilmachung und vorher geschrieben habe.<br />
Freitag, den 31. Juli 1914:<br />
›Meine lieben Eltern! In Eile sende ich Euch diese Zeilen. Wir stehen in<br />
ernsten Stunden und warten jede Stunde auf den Mobilmachungsbefehl. Es<br />
ist alles geheim und geht auf Diensteid, also darf ich Euch mehr noch nicht<br />
schreiben. Es geht los, soviel ist sicher. Wir warten mit Gottvertrauen. Wenn<br />
es Euch bangt, seid ruhig, ich gehe mit Gott, aber Wiederkehr? Wir wollen<br />
stark sein. Wir kämpfen mit freier Brust für eine gerechte Sache. Heute<br />
kann ich Euch nicht mehr schreiben, ich habe zu viel zu tun. Morgen mehr.<br />
Mit den herzlichsten Küssen umarmt Euch in treuer Liebe Euer Botho.‹<br />
Brief vom 2. August 1914:<br />
›Meine lieben Eltern! Nun ist die Entscheidung gefallen. Der Krieg geht<br />
los! Und wir gehen mit freudiger Begeisterung hinein. Wir kämpfen für<br />
eine gute Sache und mit dem Bewußtsein, unsere ganze Pflicht getan zu<br />
haben und im Besitze unserer ganzen Kraft zu sein. Wohin uns die nächsten<br />
Tage hinberufen werden, weiß selbst der Oberst noch nicht. Am 5. Mob.tage,<br />
also am 6. Aug., rückt Regt. 79 aus. Ihr könnt Euch denken, was für eine<br />
Arbeit bis dahin noch geleistet werden muß. Ich hatte bis gestern die<br />
Mob.bestimmung, als Zugführer und Leutnant bei der 11/79 einzutreten.<br />
Gestern mittag wurde die vom Regiment geändert. Ich trete als Leutnant<br />
zur Maschinen-Gewehr-Kompanie des Reserve-Regiments 77!<br />
20
Stellt Euch vor, habe ich nicht geradezu unglaubliches Glück! Ich werde<br />
beritten, bekomme zwei Pferde gestellt und bin auch am 7. Mob.tag schon<br />
mit im Felde. Daß ich vom Regiment wegkomme, tut mir ja leid, aber das<br />
geht vielen so, und ich kann noch von Glück sagen, daß ich im X. Korps<br />
bleibe und zum Res.R. 77 trete, das gleichzeitig mit den aktiven Regimentern<br />
mobil ist. Viele kommen zu den Ersatz-Batallionen und müssen warten<br />
und warten.<br />
Das Res.Rgt. 77 tritt hier in Hildesheim zusammen. Ich bin zum dritten<br />
Mob.tage stellvertretender Batl.adjutant I/R.R 77.<br />
Nun wird alles umgestoßen. Ich brauche dadurch, daß ich zur M.G.K.<br />
komme, keinen Tornister mehr, dagegen muß ich mir zwei eigene Sattelzeuge<br />
kaufen, ebenso Sattel- und Packtaschen, 2 Zaumzeuge etc. Dazu meine<br />
Stiefelhosen in Reithosen umändern lassen usw. Na, ich sage Euch, eine<br />
dollere Schweinerei habe ich noch nicht erlebt!<br />
Hurra, es geht los! Mein Säbel ist schon geschliffen!<br />
Bleibt vorläufig in Berlin, ich bleibe noch bis zum 7. Mob.tage hier. Wir<br />
können uns immer noch sehen. Ihr riskiert evtl. nur, daß Ihr hier mehrere<br />
Tage liegen müßt, da von morgen und übermorgen ab die großen Truppentransporte<br />
losgehen.<br />
Vorläufig viele, viele Grüße. Es umarmt Euch alle Euer treuer Botho‹<br />
Zur festgesetzten Zeit fuhren wir ab, ein letzter Händedruck, ein letztes<br />
Lebewohl und Winken, dann tauchte der Zug immer mehr ins Dunkle und<br />
man war allein mit seinen Blumen, allein mit seinen Gedanken.<br />
Der Zug stampfte und rollte der Grenze entgegen.<br />
Die Fahrt an die Grenze – 9./10. August 1914 –<br />
Die Maschine zog an, die Lichter des Bahnhofs und die winkenden Gestalten<br />
wurden immer kleiner, bis wir schließlich ganz im Dunkel untertauchten.<br />
Wir waren allein, fuhren ›in den Krieg‹, wie wir sagten, und waren doch<br />
so übermütig, als ginge es ins Manöver.<br />
Wohin es ging, ob nach den Russen oder den Franzosen, erfuhren wir<br />
Offiziere erst, als wir im Zuge saßen, da gab uns Heugel bekannt, daß wir<br />
Montag morgen – Sonnabendnacht waren wir abgefahren – in Zülpich bei<br />
Euskirchen westlich Köln ausgeladen würden und dann in Belgien einmarschieren<br />
würden. So etwas ähnliches hatten wir uns schon gedacht und<br />
waren nun befriedigt, ›die Bestätigung unseres Scharfsinns‹ zu erhalten!<br />
Wir wünschten uns gegenseitig eine Gute Nacht und legten uns langgestreckt<br />
auf die Polster unserer II.-Klasse-Coupés und schliefen bald den<br />
Schlaf der Gerechten, bis uns am frühen Morgen das erste Frührot weckte.<br />
Der Zug rollte noch immer.<br />
21
Bald machten wir Halt – in Holzminden – und bekamen Verpflegung<br />
von den auf den Bahnhöfen eingerichteten freiwilligen und militärischen<br />
Verpfl.stationen.<br />
In Holzminden hängte sich auch die M.G.K. R.I.R. 91 an unseren Zug<br />
an, der schier endlos wurde.<br />
Ein wunderbarer frischer Hochsommertag brach an. Kein Wölkchen<br />
am Himmel und strahlender Sonnenschein überall. Es war, als hätte sich<br />
unser Heimatland zum Sonntag und Abschied noch einmal besonders schön<br />
gemacht. Um 8:00 Uhr morgens bekamen wir Mittagessen und nun ging es<br />
weiter von Station zu Station.<br />
Wir hatten uns auf die M.G.-Fahrzeuge gesetzt und fuhren so durch das<br />
wunderbare Weserland und Westfalen. Und überall hilfreiche, segenspendende<br />
Hände und Glückwünsche auf fröhliches Wiedersehen und Freude<br />
und Jubel.<br />
Unsere Fahrzeuge waren mit Eichenlaub bekränzt und kleine Fähnchen<br />
flatterten an den Waggons.<br />
Fast von jeder Station sandten wir Karten nach Hause.<br />
Wie wir nun so dauernd auf allen Stationen mit Kaffee, Limonade,<br />
Würstchen, belegten Broten, Kuchen, Schokolade, Zwiebelkuchen usw. und<br />
allem möglichen und unmöglichen anderem vollgestopft waren und abends<br />
durch Barmen-Elberfeld kamen, konnten wir wirklich nichts mehr bewältigen.<br />
Wir waren ›voll‹.<br />
Auf der Fahrt bis Köln erfuhren wir dann, daß Lüttich völlig in unserem<br />
Besitz ist und der Jubel war unbeschreiblich.<br />
Abends kamen wir nach Köln, wo es schon etwas kriegerischer aussah<br />
als im Inlande. Bahnhöfe dunkel und nur die riesigen Scheinwerfer tasteten<br />
am Himmel entlang. Hier standen schon endlose Züge von Militär auf den<br />
riesigen Bahnhöfen. Dann ging’s bei Dunkelheit weiter und wir krochen<br />
wieder in unsere Coupés und schliefen so fest, daß wir erst aufwachten, als<br />
der Zug mit einem hörbaren Quietschen und Knirschen und einem unsanften<br />
Ruck stehen blieb: Wir waren in Zülpich, unserer Endstation, angelangt.<br />
Vollständig verschmiert, verdreckt und verschlafen stiegen wir aus. Die<br />
Wagen wurden abgeladen, Pferde ausgeschirrt und hinein ging’s bei Morgentau<br />
und Morgendämmerung nach Zülpich.<br />
Unsere Reiseroute war gewesen: Hildesheim – Elze – Gandersheim –<br />
Holzminden – Stadtberge – Meschede – Arnsberg – Schwert – Hagen –<br />
Barmen – Elberfeld – Opladen – Mülheim – Köln – Euskirchen – Zülpich.<br />
Abfahrt von Hildesheim war in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag<br />
um 1:40 Uhr, Ankunft in Zülpich Montag morgen um 3:15 Uhr.<br />
22
Die letzten Tage in Deutschland und der Einmarsch in Belgien<br />
In Zülpich wurden die Quartierzettel verteilt und im Nu war alles verschwunden.<br />
Um 10:00 Uhr war Appell und Fahrzeugreinigen und um 1:00<br />
Uhr ging es per Fußmarsch weiter.<br />
Die Quartiere waren nun meist so eingerichtet, daß immer zwei von uns<br />
4 Offizieren ein Quartier bekamen. Da nun Heugel Kompanieführer war,<br />
hatte er auch als Ältester stets das beste Quartier zu beanspruchen. Mich<br />
nahm er als zweiten immer mit und so kam es vielfach, daß ich als jüngster<br />
bessere Quartiere hatte, als Faust und Thiemann.<br />
Vielfach änderte sich die Sachlage aber auch dahin, daß wir, namentlich<br />
später in Belgien, alle vier zusammen lagen. Dann waren durch eine Tücke<br />
des Schicksals meist nur drei Betten da, und ich mußte teils grimmig, teils<br />
schadenfroh einem der drei anderen das schöne weiche Unterbett wegziehen<br />
und mich auf der Erde einnisten, während der Betreffende als Strafe<br />
auf der harten Matratze schlief, aber beileibe nicht das Zugeständnis machte,<br />
daß er härter oder gar schlechter geschlafen als ich auf der Erde: Er<br />
hatte doch ein Bett gehabt! So gab es vielfach Spaß und Stimmung durch<br />
diese Schlafgelegenheiten, namentlich wenn wir uns dann als Nachthemden<br />
die spitzendurchbrochenen Spinngewebe einer belgischen oder französischen<br />
Komtesse überstülpten – wir Barbaren!! Aber eins nach dem anderen,<br />
davon also später.<br />
In Zülpich wohnten Heugel und ich bei einem Kommerzienrat Sieger.<br />
Der gute Mann tischte uns morgens um 8:00 Uhr schon ein Diner auf mit<br />
Rheinwein Ia. Dann gab es ein warmes Bad und für jeden ein wunderschönes<br />
sonniges Fremdenzimmer und blütenweiß und sauber legten wir uns<br />
hin und schliefen so wunderbar wie noch nie.<br />
Aber lange dauerte diese Umschlingung von Morpheus Armen leider<br />
nicht. Die rauhe Wirklichkeit kam in Gestalt meines treuen Burschen und<br />
weckte mich mit einer geradezu vorschriftswidrigen Rücksichtslosigkeit und<br />
Ausdauer, wofür ich ihm, wie auch später, Dank schuldete, denn pünktlich<br />
mußte man sein.<br />
Der Appell um 10:00 Uhr ging vorüber, dann bummelten wir noch in<br />
die Stadt und wollten einen Photographenapparat kaufen. Aber in dem<br />
gottverlassenen Nest gab es ein solches übernormales Kulturerzeugnis noch<br />
nicht und unser Bemühen war umsonst.<br />
Um 1:00 Uhr war Abmarsch.<br />
Die Sonne stach durch den Helm mit glühenden Strahlen und es war<br />
eine Hitze zum Umkommen. Zum Glück ging der Marsch nicht weit, 10<br />
Kilometer. Aber zwischendurch übten wir, da wir allein marschierten, hatten<br />
wir Gelegenheit dazu, Geländefahren und Gefechtsexerzieren. Die Gäule<br />
waren natürlich noch gar nicht eingefahren und stutzten vor jedem Wiesengraben.<br />
Ein Fahrzeug mußte ausgeschirrt und von Mannschaften übergesetzt<br />
23
werden, na, kurz und gut, man ›schwitzte‹, wie es nur dieses schöne Wort in<br />
vollster Stärke ausdrücken kann und als wir am Spätnachmittag in Bürvenich<br />
ankamen, war von der ›blütenweißen Sauberkeit‹ des Morgens nicht viel<br />
übrig geblieben.<br />
Heugel und ich lagen bei einem Herrn Brauereibesitzer Nagelschmidt<br />
im Quartier in einer Villa auf einem kleinen Berge über dem Dorfe. Als<br />
erste Begrüßung wurde uns von der Haushälterin mitgeteilt: ›Frau Nagelschmidt<br />
ist tot.‹ So, so, sagte Heugel und sieht mich an. Wir wurden nicht<br />
klug aus dieser seltsamen Begrüßung. Herr Nagelschmidt saß in der großen,<br />
wunderschön eingerichteten Villa mutterseelen allein. Alle Läden waren<br />
herabgelassen, wir trafen ihn im Dunkeln. Heugel stieß mich an und<br />
wir waren sichtlich bemüht, irgendein Scherzwort zu finden, um endlich<br />
unser uns in der Kehle sitzendes Lachen loszuwerden.<br />
Den Herrn Nagelschmidt zu beschreiben, würde zuviel Platz wegnehmen,<br />
darum fasse ich seine ganzen Eigenarten kurz in der einen Bezeichnung<br />
zusammen: Er war ein sonderbarer Kauz; nebenbei schien er Sozialdemokrat,<br />
oder doch stark links zu sein, hatte kein Zutrauen zu unseren<br />
Waffen und zu den Offizieren nun schon gar nicht!<br />
Unseren Vorsatz, ihn eines besseren zu belehren, besorgten wir dann am<br />
Abend mit 4 vereinten Zungen auch kräftig (Faust und Thiemann wohnten<br />
beim Pfaffen unten im Dorf). Mit einer eigenartigen ›Kriegsunverfrorenheit‹,<br />
die wohl auch zum großen Teil durch die merkwürdige Art des Herrn<br />
Nagelschmidt hervorgerufen war, verlangten wir ein warmes Bad und schön<br />
kaltes Bier, wonach wir uns bis zum Abendessen, das wir selbstherrlich auf<br />
½ acht Uhr ansetzten, schlafen legen wollten. Statt des Gewünschten bekamen<br />
wir aber das Gegenteil, nämlich ein kaltes Bad – der Badeofen wäre<br />
kaputt – und warmes Bier – bei der Hitze ...<br />
Dafür saufen wir Dir den Weinkeller leer, hatten wir uns vorgenommen.<br />
Abends saßen wir dann auch wirklich auf der roterleuchteten Veranda<br />
bei einer ausgezeichneten Bowle zusammen. Ein wunderschöner Sommerabend<br />
dehnte sich über die friedlichen Dörfer. Weit sah man noch die erleuchteten<br />
Punkte der Bauernhäuser und hinten, am Horizont blitzte bisweilen<br />
etwas auf, die Scheinwerfer von Köln, das einzige was uns an den<br />
Krieg erinnerte. Wir fühlten uns immer noch wie im Manöver.<br />
Plötzlich ein paar fröhliche Rufe, und Leutnant Faust und Thiemann<br />
nebst dem Pfaffen tauchten aus dem Dunkel auf und kommen auf die Veranda.<br />
Leider aber war die Bowle schon zur Neige gegangen, Herr<br />
Nagelschmidt stieg selbst in den Keller und holte Moselwein herauf, aber<br />
im Gegensatz zur Bowle einen solchen Saurius, daß sich der Besuch nach<br />
der ersten Flasche wieder verzog und dann unten beim Pfaff, wie mir Faust<br />
andern Tags erzählte, sich erstmal mit Rheinwein den Mund ausgespült<br />
hatte.<br />
24
In aller Frühe ging es am nächsten Morgen weiter, für uns alle mit einem<br />
doch etwas schweren Kopf. Unser nächstes Ziel war Bergbuir.<br />
In Bergbuir, einem geradezu idyllisch gelegenen Eifeldörfchen, quartierten<br />
wir am 11.8. Auf dem Marsche dorthin kam uns ein eigener Flieger mit<br />
dem Eisernen Kreuz entgegen. Jeder glaubte natürlich, es wäre ein feindlicher<br />
und es hat nicht viel gefehlt, hätten wir losgeschossen, das vorderste<br />
Maschinengewehr war schon fertig gemacht.<br />
Bergbuir selber ist ein ganz kleines armseliges Dörfchen. Wir – die<br />
M.G.K., lag alleine in dem Dorfe. Ich bekam ein Quartier bei einer Witwe<br />
..., eines alten Bauern Frau, deren Sohn auch noch im Hause war und sich<br />
diebisch freute, daß er Ersatz-Reservist war. Meine Pferde standen in einer<br />
Art Hühnerstall, ich selber wurde in der guten Stube, die voll von Heiligenbildern<br />
und Ablaßzetteln hing, auf ›das‹ Wachstuchsofa placiert und mußte<br />
eine Art Mittagessen zu mir nehmen, aus dem ich auch nach langem Nachdenken<br />
nicht klug wurde.<br />
Um so besser schmeckte der Kaffee und das Weißbrot mit Butter und<br />
Gelée. Nach dem Essen Dienst abgehalten. In dem einzigen Wirtshaus, das<br />
aus einer Wirtsstube und einer sehr niedlichen, sauberen Wirtstochter bestand,<br />
vereinigten wir Offiziere uns dann und nahmen im Garten unter<br />
einem riesigen Birnbaum unsere Kaffeemahlzeit ein.<br />
Später saßen wir noch lange beim Schein einer Lampe im schweigenden<br />
Garten und entkorkten des Wirtes letzten sauren Wein. Des Wirts Töchterlein<br />
war bei all ihrer Niedlichkeit leider zu schüchtern, so daß wir noch<br />
nicht einmal den üblichen Manöverkuß bekommen haben.<br />
Abends krachte ich dann in das – vermutlich – einzige Bett in meiner<br />
Quartierwirtin armseligen Kate und suchte mir die schon ausgelegene Kuhle<br />
in dem Bett, um wenigstens sicher zu sein, mich nicht am nächsten Morgen<br />
neben dem Bette vorzufinden.<br />
Heugel schreibt von Bergbuir: In B. liege ich bei einem kleinen Bauern<br />
in der Dachstube, wo ich tatsächlich unter dem Mittelbalken nicht stehen<br />
kann. Der Mann gibt sich aber Mühe, den ganzen Tag muß ich rohen Schinken<br />
fressen.«<br />
Weiter reicht dieses »Kriegstagebuch« nicht. Man darf annehmen, daß<br />
die weiteren Ereignisse von solcher Wucht waren, daß es dem Tagebuchschreiber<br />
verging, diese in Schriftform und in der launigen Art wie bisher<br />
festzuhalten. Ganz sicher setzte sich das Kriegserlebnis nicht in der beschaulichen<br />
Form fort, wie es hier geschildert werden konnte. Noch nicht<br />
einmal die erste Schlacht, an der Botho teilnahm, hat er beschrieben und in<br />
Worten festgehalten. – – –<br />
Botho wurde bereits in dem ersten der Marne-Schlacht folgenden Gefecht<br />
verwundet (12. September 1914, Granatsplitter rechter Unterschenkel).<br />
25
Nach seiner Genesung trat Botho am 23.11.1914 zum Res.Inf.Reg. 259<br />
und kämpfte ab Februar 1915 zunächst als Frontoffizier, sodann als Adjutant<br />
eines Bataillons im Feldzug gegen Rußland mit.<br />
Im Mai 1915 wurde er bereits mit 21 Jahren Regiments-Adjutant. In<br />
dieser Stellung hat Botho über drei Jahre ohne Unterbrechung den Krieg im<br />
Osten und Westen bei einer Großkampfdivision miterlebt und durchgestanden.<br />
Dem Kriegsranglisten-Auszug können wir die Gefechte entnehmen, an<br />
denen er mitgewirkt hat:<br />
Zunächst an der Westfront:<br />
21.08.1914 Gefecht bei Liberchies<br />
23.08.1914 Gefecht bei Namur<br />
04.09.1914 Gefecht bei Orbaiz<br />
06.–09.09.1914 Marne-Schlacht<br />
12.09.1914 Gefecht bei Changigny (Verwundung)<br />
Dann an der Ostfront:<br />
04.–22.02.1915 Winterschlacht in den Masuren<br />
23.02.–06.03.1915 Gefecht am Bobr<br />
09.–12.03.1915 Gefecht bei Seiny<br />
18.03.–04.04.1915 Kämpfe in der befestigten Feldstellung<br />
zwischen Arys und Sowa<br />
29.04.–09.05.1915 Vorstoß nach Litauen und Kurland<br />
28.04.1915 Gefecht bei Kielmey<br />
30.04.1915 Gefecht bei Schaulen (Schawli)<br />
07.05.–13.07.1915 Gefechte an der unteren Dubissa<br />
19.–26.05.1915 Gefecht um Rossimil<br />
27.–29.05.1915 Gefecht bei Girdakol<br />
04.–07.06.1915 Gefecht bei Sitoiviany<br />
08.–09.06.1915 Gefecht bei Hyize<br />
09.05.–13.07.1915 Gefechte am Windewski-Kanal und<br />
der oberen Windau<br />
09.–15.05.1915 Gefecht bei Schaulen<br />
14.–27.07.1915 Schlacht um Schaulen (Schawli)<br />
30.7–07.08.1915 Schlacht bei Kupischki<br />
12.–19.08.1915 Schlacht bei Schimanzy – Penedeli<br />
29.08.–08.09.1915 Stellungskämpfe an der oberen Swenta und Jara<br />
09.09.–01.11.1915 Schlacht vor Dünaburg<br />
11.09.1915 Gefecht bei Verpl<br />
12.09.1915 Gefecht bei Okmista<br />
26
13.09–01.11.1915 Kämpfe um den Brückenkopf von Dünaburg<br />
17.09.1915 Gefecht bei Schödern und bei Rudset<br />
21.–24.09.1915 Gefecht bei Stemensee und Römkensee<br />
30.09.1915 Gefecht bei Grendsen<br />
06.–09.10.1915 Gefecht bei Gorbmarka<br />
09.10.1915 Gefecht bei Kutnikie Poppe<br />
11.–13.10.1915 Gefecht bei Wildschany – Kokinsee<br />
16.–31.10.1915 Kämpfe bei Schloßberg und Illuxt<br />
01.11.1915–06.04.1917 Stellungskämpfe um Dünaburg<br />
und wieder an der Westfront:<br />
19.4.–08.05.1917 Stellungskämpfe im Oberelsaß<br />
21.–27.05.1917 Doppelschlacht Aisne – Champagne<br />
22.05.–06.08.1917 Stellungskämpfe am Chemin des dames<br />
23.08.08.–14.10.1917 Erstürmung der 1.französ. Stellung westl. von<br />
Allomant; Erstürmung der französ. Stellung<br />
südöstl. Vauxaitlon; Stellungskämpfe vor Verdun<br />
09.–12.10.1917 Abwehrschlacht bei Verdun (Verwundung)<br />
Im Verlaufe dieser Kriegsjahre erhielt Botho bereits am 9. September<br />
1914 das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Das Eiserne Kreuz 1. Klasse wurde ihm<br />
am 9. April 1916 verliehen. Am 20. Juli 1917 erfolgte die Verleihung des<br />
Hamburgischen Hanseatenkreuzes, auf das er immer ganz besonders stolz<br />
war. Diese außerordentliche Auszeichnung wurde ihm immerhin vor seiner<br />
Beförderung zum Oberleutnant und vor seiner erst im Oktober 1917 erlittenen<br />
schweren Verwundung verliehen!<br />
Er war damit als dreiundzwanzigjähriger Leutnant mit einer besonderen<br />
Auszeichnung geehrt worden! Weitere Auszeichnungen folgten: Herzog Ernst<br />
August zu Braunschweig und Lüneburg verlieh ihm am 3. Juli 1918 das<br />
Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse. Das Kreuz der Ritter des Königlichen<br />
Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern (Königlich Preußischer Orden)<br />
wurde ihm am 16. August 1918 verliehen.<br />
Während der Schlacht um Verdun erlitt er am 10. Oktober 1917 eine<br />
schwere Verwundung am Kopf: Ein Granatsplitter durchdrang seitlich den<br />
Mund und verursachte schwerste Gebißschäden. Sein sicherer Tod wäre es<br />
gewesen, wenn der Splitter eine etwas andere Richtung oder Höhe gehabt<br />
hätte. So aber war er gerade noch davongekommen, trug zeitlebens eine<br />
deutlich sichtbare Narbe an der linken Wange davon und hatte immerfort<br />
mit erheblichen Zahnproblemen zu tun. Sie würden sich später noch einmal<br />
als entscheidend für seine weiteren Einsätze im Zweiten Weltkrieg erweisen.<br />
Am 18. Oktober 1917 wurde Botho zum Oberleutnant befördert.<br />
27
Während seiner unterschiedlichsten Verwendungen erwarb er sich die<br />
Qualifikation eines Generalstabsanwärters und erhielt im Februar 1918 ein<br />
Kommando zum Generalstabskursus nach Hagen i/Els.<br />
Am 7. Juli 1918 wurde er Adjutant der 78. Res.Inf.Brigade und am<br />
16.8.1918 der 213. Inf.Division als Brigade-Adjutant überwiesen. Als solcher<br />
hat er bei zwei Brigaden während der Großkämpfe an der Westfront bis<br />
zum Waffenstillstand Dienst getan.<br />
Im November 1918 wurde er zum Bevollmächtigten Generalstabsoffizier<br />
des Chefs des Feldeisenbahnwesens beim Armee-Oberkommando der 5. Armee<br />
kommandiert und hat dort Eisenbahntransportangelegenheiten bearbeitet.<br />
All diese besonderen Verwendungen kamen nicht von ungefähr. Die dienstlichen<br />
Beurteilungen, die über Botho im Ersten Weltkrieg abgegeben wurden,<br />
charakterisieren auf eindringliche Weise seine Persönlichkeit.<br />
Der Kommandeur des Res.Inf.Reg. 259 urteilt über ihn am 10.7.1918:<br />
»Oberleutnant Elster ist eine recht gute militärische Erscheinung von<br />
mittlerer Größe, körperlich sehr gewandt, guter Reiter. Seine Führung ist<br />
inner- wie außerdienstlich tadellos. Er hat gute gesellschaftliche Formen,<br />
ein liebenswürdiges, immer heiteres, sehr frisches bescheidenes Wesen und<br />
ist daher unter den Kameraden besonders beliebt. Sehr musikalisch (spielt<br />
gut Klavier) veranlagt, trägt er durch seinen Humor viel zur Erheiterung im<br />
Kameradenkreise bei. Dabei ist er bei seinem jugendlichen Alter von sehr<br />
ernstem und gesetztem Wesen. Dienstlich sehr befähigt. Seit drei Jahren<br />
Regiments-Adjutant, hat er als solcher dem Regiment im Feldzuge bei seinem<br />
Fleiß, großer Pflichttreue, Umsicht und besonders gutem taktischem<br />
Verständnis und schneller Auffassungsgabe hervorragende Dienste geleistet.<br />
Im Gefecht fällt er durch große Ruhe und Unerschrockenheit auf. Er<br />
eignet sich zur Verwendung in der höheren Adjutantur und im Generalstab.<br />
Ein in mannigfacher Beziehung besonders befähigter Offizier, ein ebenso<br />
sympathischer Mensch und Kamerad.«<br />
Unter dem 9.8.1918 erstattet der Kommandeur der 78. Res. Inf. Brigade<br />
folgendes Dienstleistungszeugnis:<br />
»Oberleutnant Elster hat sich in der Zeit der Vertretung des Brigade-<br />
Adjutanten seit 7.7.1918 und besonders in den Kampftagen ab 18.7. in<br />
jeder Beziehung voll bewährt. Er zeigte in den schwierigsten Gefechtslagen<br />
seine gleichbleibende Ruhe und den klaren Kopf. Seine vorausschauenden<br />
Vorschläge und Anordnungen waren wie seine Befehlstechnik mustergültig.<br />
Diese Eigenschaften lassen ihn in Verbindung mit seinen angenehmen<br />
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Umgangsformen zur Verwendung als Adjutant bei höheren Stäben sowie,<br />
bei weiterer Ausbildung, im Generalstabe als besonders geeignet erscheinen.«<br />
Und weiter:<br />
Am 18. 8. 1918 urteilt der Bataillonskommandeur im Res.Inf.Reg. 259<br />
wie folgt:<br />
»Oberleutnant Elster hat dem Regiment seit seinem Bestehen angehört<br />
und zunächst als Bataillons-Adjutant, von Mai 1915 an als Regiments-Adjutant<br />
an den Kämpfen desselben teilgenommen. Von sehr guter militärischer<br />
Veranlagung besitzt er ein klares taktisches Verständnis und ist infolgedessen<br />
seinen Kommandeuren stets ein ausgezeichneter Berater gewesen. In<br />
ernsten Kampftagen und schwierigen Lagen ist er nie versagt. Eine schnelle<br />
Auffassungsgabe verbunden mit logischer scharfer Denkweise ermöglicht<br />
es ihm, selbständig Entschlüsse zu fassen und Maßnahmen zu ergreifen. Er<br />
besitzt ein ausgesprochenes Organisationstalent. Infolge seines taktvollen<br />
Wesens im Umgang mit Vorgesetzten war er als Adjutant eine besonders<br />
geeignete Persönlichkeit, die es auch stets verstanden hat, die Pflege guter<br />
Kameradschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl im Offizierskorps des<br />
Regiments zu stärken und hochzuhalten. Oberleutnant Elster eignet sich<br />
nach seinen Fähigkeiten, Leistungen und nach seiner Persönlichkeit voll<br />
und ganz zum Adjutanten bei einem höheren Stabe.«<br />
Ein in dieser Weise ausgezeichneter, mittlerweile bald 25-jähriger Offizier<br />
trat im Januar 1919 nach der Demobilmachung zum Friedenstruppenteil,<br />
dem Infanterie-Regiment Nr. 79, zurück, in das er 1913 mit knapp 19 Jahren<br />
als Fahnenjunker eingetreten war ...<br />
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