05.05.2014 Aufrufe

Lebensberichte – Zeitgeschichte - Olms

Lebensberichte – Zeitgeschichte - Olms

Lebensberichte – Zeitgeschichte - Olms

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Lebensberichte</strong> – <strong>Zeitgeschichte</strong><br />

Georg <strong>Olms</strong> Verlag<br />

Hildesheim · Zürich · New York<br />

2005


Welf Botho Elster<br />

Die Grenzen des Gehorsams<br />

Das Leben des Generalmajors<br />

Botho Henning Elster<br />

in Briefen und Zeitzeugnissen<br />

Georg <strong>Olms</strong> Verlag<br />

Hildesheim · Zürich · New York<br />

2005


Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen<br />

des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung<br />

des Verlages unzulässig und strafbar.<br />

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten<br />

sind im Internet über http:// dnb.ddb.de abrufbar.<br />

ISO 9706<br />

Printed in Germany<br />

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier<br />

Umschlagentwurf: Inga Günther, Hildesheim<br />

Herstellung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza<br />

© Georg <strong>Olms</strong> Verlag AG, Hildesheim 2005<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

www.olms.de<br />

ISSN 1861-4698<br />

ISBN 3-487-08457-0


Inhaltsverzeichnis<br />

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Kriegserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />

Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

Privates Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

Pflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Kapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

Gefangenschaft und Entsagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />

Neubeginn?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225


Prolog<br />

Geschichte ist wie eine Sandbank, die sich in den Strömen der Zeit ständig<br />

verändert. Man muß ihre Markungen festhalten, um Ursprünge wie Verläufe<br />

nachvollziehbar und verstehbar zu machen. Denn es ist nichts ohne Geschichte,<br />

keine Gegenwart lebt ohne ihre geschichtliche Erfahrung und Vergangenheit.<br />

Geschichte ist begreifbare Gegenwart und Lehre für die Zukunft.<br />

Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, kann man es als Deutscher<br />

getrost in zwei Hälften teilen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die<br />

erste Hälfte ist geprägt durch zwei von Deutschland ausgehende Weltkriege,<br />

den Untergang des Kaiserreiches, den Versuch einer demokratischen<br />

Republik, ihren Untergang in einem totalitären Regime und dessen katastrophales<br />

Ende. Die letzten fünf Jahrzehnte stehen im Zeichen des Aufbruchs<br />

eines zertrümmerten und für eine unendlich scheinende Zeit geteilten<br />

deutschen Volkes hin zu Freiheit und Frieden sowie einer demokratischen<br />

Verfassung.<br />

Diese Biographie widmet sich dem ersten deutschen halben Jahrhundert,<br />

das durch Größe, Schwäche und Niedergang zugleich gekennzeichnet<br />

ist.<br />

Sie schildert das Schicksal eines Offiziers, dessen Lebenslauf an das Auf<br />

und Ab dieses deutschen Staatswesens gekettet war wie kaum ein anderer.<br />

Die gewaltigen Umbrüche dieser ersten fünf Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts<br />

werden durch diesen Lebensbericht veranschaulicht. Es geht dabei<br />

um die Schilderung einer aufkeimenden, lodernden, aufopferungsvollen,<br />

dann doch widerstrebenden und schließlich verzagenden, entmutigten Lebenskraft<br />

eines inständigen und charakterlich anständigen Dieners seines<br />

Vaterlandes.<br />

Das Leben eines Dieners des Staates wird dabei zum Spiegelbild dessen<br />

Niederganges und zugleich zum Leitbild eines standhaften Charakters, der<br />

zum Vorbild für nachkommende Generationen werden könnte. Denn er hat<br />

nach der – insbesondere im Dritten Reich leider zum Kadavergehorsam pervertierten<br />

– preußischen Tugend gehandelt, wie sie schon von Friedrich Wilhelm<br />

I., König in Preußen, formuliert worden war:<br />

»Der Officier schuldet Gehorsam, es sei den (sic!), es geht gegen die<br />

Ehre.«<br />

Dieser Grundsatz war auch für einen jungen Offizier, der mit 20 Jahren in<br />

den Ersten Weltkrieg zog, wesentlicher Teil seiner ethischen Wertvorstellungen.<br />

7


Botho Henning Elster mußte gut 30 Jahre später erkennen, daß dieser<br />

Eckpfeiler seiner moralischen Weltordnung im nationalsozialistischen<br />

Deutschland keinen Bestand mehr hatte.<br />

Zum Tode verurteilt wurde er für eine Tat, die er gerade unter diesem<br />

Leitstern glaubte verantworten zu können, da durch sie nahezu 20 000 Menschen<br />

unmittelbar das Leben gerettet wurde, das sie bei blindem Gehorsam<br />

ihres Führers gegenüber einem unverantwortlichen Befehl unweigerlich verloren<br />

hätten.<br />

Das Reichskriegsgericht, schon in Torgau tagend, fällte noch am 7. März<br />

1945 dieses Todesurteil.<br />

Sein Rubrum und Tenor lauten:<br />

Reichskriegsgericht, 1. Sen. 9/45<br />

Im Namen des deutschen Volkes!<br />

Feldurteil<br />

In der Strafsache gegen<br />

Generalmajor Elster,<br />

zuletzt Kommandant der Feldkommandantur 541,<br />

jetzt in amerikanischer Kriegsgefangenschaft,<br />

wegen Ungehorsams und Übergabe an den Feind<br />

hat das Reichskriegsgericht, 1. Senat, auf Grund der am 6. und 7. März<br />

1945 durchgeführten Hauptverhandlung in der Sitzung vom 7. März 1945,<br />

an der teilgenommen haben<br />

als Richter<br />

Generalrichter beim Reichskriegsgericht Dr. Lattmann,<br />

Verhandlungsleiter,<br />

Generalleutnant Eberhardt,<br />

Generalleutnant Angerstein,<br />

Generalleutnant Sievers,<br />

Oberstrichter Dr. Weber,<br />

als Vertreter der Anklage:<br />

Oberstrichter Dr. Speckhardt,<br />

als Urkundsbeamter:<br />

Reichskriegsgerichtsoberinspektor Wagner,<br />

für Recht erkannt:<br />

Der Angeklagte wird wegen Übergabe an den Feind zum Tode, zum Verlust<br />

der Wehrwürdigkeit und zum dauernden Verlust der Ehrenrechte verurteilt.<br />

Von Rechts wegen.<br />

8


Kopie Rubrum/Tenor Urteil Reichskriegsgericht vom 7. März 1945<br />

9


Wir werden später, wenn wir den gesamten Hintergrund kennen, den<br />

vollständigen Wortlaut dieses Urteils lesen können. Heute wissen wir diesen<br />

Spruch als eines der vielen nationalsozialistischen Unrechtsurteile einzustufen.<br />

Damals aber, vor 60 Jahren, sah es in vielen Köpfen anders aus. Zwischen<br />

dem Spruch und seinem Vollzug lag nur das Hindernis, daß der Verurteilte<br />

nicht aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft an sein Vaterland<br />

ausgeliefert wurde, wo man mit der Vollstreckung nicht gezögert hätte.<br />

Erst in den neunziger Jahren fand sich das deutsche Parlament bereit,<br />

ein Verdikt über die sogenannten nationalsozialistischen Unrechtsurteile auszusprechen,<br />

und auch das nur nach langen Wehen und politischem Gezerre.<br />

Hingewiesen sei hier nur kurz auf die Genese des sogenannten Justiz-<br />

Aufhebungs-Gesetzes (JustizAufhG) vom 17. Mai 2002 und dessen Vorläufer<br />

vom 25. August 1998 und vom 25. Mai 1990. Danach ist das Todesurteil<br />

gegen Botho Henning Elster seit 1998 (also seit mehr als 45 Jahren<br />

nach seinem Tod!) aufgehoben.<br />

Für die Geschichte Bothos interessierte sich die Öffentlichkeit in Deutschland<br />

sechs Jahrzehnte lang nicht. Das wurde erst anders mit einem<br />

Dokumentations-Film, den der Hessische Rundfunk zusammen mit »Arte«<br />

im Jahre 2003 produziert und am 21. Januar 2004 erstmals ausgestrahlt<br />

hatte.<br />

Der Film handelt von jener Tat, die die Verurteilung zum Tode nach sich zog.<br />

Diese Biographie aber beschreibt die Persönlichkeit dieses Mannes, der<br />

die Kraft hatte, einem alten preußischen Grundsatz in einer Zeit Geltung zu<br />

verschaffen, in der Fahnenflucht als das am meisten zu verabscheuende<br />

Verbrechen angesehen wurde.<br />

10


Anfänge<br />

Am 17. Mai 1894 wurde Botho Henning Elster als viertes Kind seiner Eltern<br />

Louise und Otto in Berlin-Steglitz geboren.<br />

Elfriede, Grete und Hanns-Martin waren seine älteren Geschwister.<br />

Das Elternhaus war geprägt durch eine konservative, überwiegend aber<br />

oppositionelle Haltung zur herrschenden offiziellen politischen, d.h. preußischen<br />

Richtung. Es wurde dominiert durch das Wirken des Vaters, Otto<br />

Elster, der als Ordonanzoffizier ausgemustert hatte und sich fortan als freier<br />

Redakteur und Schriftsteller den Lebensunterhalt verdiente.<br />

Otto lebte vom 11.11.1852 bis 1.12.1922. Nach dem Besuch der Gymnasien<br />

in Holzminden und Wolfenbüttel, dessen Abschluß mit dem Beginn<br />

des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 zusammenfiel, trat er gegen<br />

Ende des Feldzuges als Fahnenjunker noch in die hannoversche Armee, in<br />

das herzoglich-braunschweigische Infanterie-Regiment ein. In seiner Jugendzeit<br />

hatte er erste literarische Verbindungen zu dem von ihm hochverehrten<br />

Wilhelm Raabe (1831–1910) geknüpft, standen sich doch die beiden Elternhäuser<br />

im niedersächsischen Eschershausen schräg gegenüber. Während<br />

seiner Braunschweiger Offizierszeit suchte er häufig die Begegnung<br />

mit Wilhelm Raabe in den Künstlertreffs »Feuchter Pinsel«, »Kleiderseller«<br />

und »Herbst’s Weinstuben«. Der Ausspruch Raabes ist überliefert: »Wir sind<br />

vom selben Vogelgeschlecht und aus demselben Nest gefallen.« Später hat<br />

Otto Elster zusammen mit seinem Sohn Dr. phil. Hanns-Martin Elster in den<br />

Jahren 1912, 1913 und 1914 die weithin beachteten Wilhelm-Raabe-Kalender<br />

herausgegeben, deren Weiterführung der Erste Weltkrieg verhinderte,<br />

da Hanns-Martin Militärdienst zu leisten hatte. Schon als aktiver Offizier<br />

begann Otto damit, sich als Schriftsteller zu betätigen. Unter dem Pseudonym<br />

»von Bruneck« veröffentlichte er 1878 das Drama »Der Sozialdemokrat«.<br />

Er verfaßte aber auch eine »Unteroffiziersschule für die Infanterie«.<br />

Eine entscheidende Wende in seinem Leben erfolgte im Jahre 1884. Er war<br />

als Premier-Leutnant der letzte Adjutant des 1884 ohne Thronfolger sterbenden<br />

Herzogs Wilhelm von Braunschweig. Die braunschweigischen Truppen<br />

wurden damit in den preußischen Heeresverband eingegliedert. Wenn<br />

es für Otto Elster als getreuem Anhänger des Welfenhauses schon schmerzlich<br />

genug gewesen wäre, die schwarze Schnüren-Uniform ablegen zu müssen,<br />

den ihm abverlangten Eid auf Preußen konnte er vor seiner Vaterlandsliebe<br />

nicht verantworten – er nahm den Abschied und trat in die Redaktion<br />

des Braunschweiger Tageblattes ein.<br />

Auf Helgoland heiratete Otto am 10.2.1886 Johanna Friederike Louise<br />

Reimers, geb. Wechsung (*12.5.1861, †29.6.1954), Tochter des Braunschweiger<br />

Pianofabrikanten Günther Wechsung (*12.11.1827,<br />

11


†10.11.1898) aus der Firma Wechsung & Steinweg (später: Steinway &<br />

Sons).<br />

1887 wechselte er zum Kreuznacher Generalanzeiger und wurde danach<br />

für zwei Jahre Chefredakteur des Kölner Tageblattes, bevor er 1890<br />

nach Berlin ging. Hier band er sich nicht mehr an eine bestimmte Zeitung.<br />

Vielmehr schrieb er Theaterkritiken ebenso wie politische Leitartikel. Vor<br />

allem aber machte er sich einen Namen als Romanschriftsteller und Verfasser<br />

von Dramen, Lustspielen und Schwänken. Als ehemaliger Offizier hatte<br />

er in Berlin leichten Eingang in die Gesellschaft gefunden und als Theaterkritiker<br />

auch in die dortigen Künstlerkreise.<br />

Schriftstellerisch war Otto in allen Bereichen der Literatur tätig. Seine<br />

Erlebnisse und Erfahrungen während der Offizierszeit und sein politisches<br />

Engagement flossen ein in Erzählungen (»Am Biwakfeuer«), in Lustspiele<br />

wie »Manövertage« und »Das Wachtgespenst«. und in seine vaterländischen<br />

Dramen (»Welfenstolz und Welfenliebe« sowie »Quatrebras«), die beim braunschweigischen<br />

Publikum begeisterte Aufnahme fanden.<br />

Das Schauspiel »Unter dem Totenkopf« erlebte ein politisches Schicksal:<br />

Am Braunschweiger Hoftheater dreimal kurz hintereinander vor ausverkauftem<br />

Haus aufgeführt, verschwand es – vermutlich auf preußische Anordnung<br />

– vom Spielplan. Neben Jugendschriften (»Die Goldgräber von Angra-<br />

Pequena«, »In den Schluchten des Kilima-Ndjaro«), historischen Romanen<br />

(»Zum Sammeln geblasen!«, »Werden und Vergehen«, »Auf dem Schlachtfeld<br />

des Lebens«, »Zwischen den Schlachten«, »Die Welt in Waffen«) und<br />

Romanen, die draußen in der Welt spielten (»Majana«, Roman aus der Südsee,<br />

»Gold und Blut«, Roman aus Südafrika) verfaßte er viele Gesellschaftsund<br />

leichte Liebesromane (»Venus Impreatrix«, »Gräfin Lotte«, »Schwester<br />

Katharina« usw.). Mit seinen Verlegern hatte er, dem das Aushandeln finanzieller<br />

Vorteile nicht lag, nicht immer Glück und dementsprechend auch<br />

geringe wirtschaftliche Erfolge.<br />

Viel Zeit und Energie widmete Otto nach 1890 auch seiner politischen<br />

Tätigkeit, die ihn mehr und mehr dem rein literarischen Schaffen entzog.<br />

Ungeachtet aller Nachteile setzte er sich für die Rechtsansprüche des Welfenhauses<br />

auf den Braunschweiger Herzogsthron ein (nach der Annexion von<br />

Hannover hatte Bismarck im Hinblick auf die voraussehbare Verwaisung des<br />

Braunschweiger Herzogsthrones einen Bundesratsbeschluß erwirkt, wonach<br />

die hannoversche Welfenlinie von der Thronfolge im Herzogtum Braunschweig<br />

ausgeschlossen wurde). 1889 hatte er bereits mit seiner Schrift »Denkmäler,<br />

Denksteine und Erinnerungszeichen an die Herzöge von Braunschweig«<br />

für das Fortleben der welfisch-monarchischen Tradition in seiner Heimat<br />

geworben. Mit seinem in Braunschweig als Rechtsanwalt tätigen Bruder<br />

Robert gründete er nun die »Braunschweigische Landesrechtspartei«, für<br />

die er sogar – wenn auch erfolglos – für den Reichstag kandidierte. In Berlin<br />

und im Reich mehrte sich aber – je bekannter er wurde – die Gegnerschaft<br />

12


Botho als Student<br />

gegen den großdeutschen Welfenpolitiker. Wichtige Medien wie die Familienzeitschrift<br />

»Über Land und Meer« oder die Illustrierte Wochenschrift »Vom<br />

Fels zum Meer« sowie andere große Zeitungen und Wochenblätter, die die<br />

Romane und Abhandlungen Otto Elsters immer gern gedruckt hatten, zeigten<br />

ihm mehr und mehr die kalte Schulter. Mit seinem öffentlichen Eintreten<br />

für eine Freundschaft mit England und mit seiner Warnung vor der Flottenpolitik<br />

Kaisers Wilhelm II. wuchsen die Anfeindungen, die mit einer Morddrohung<br />

in den Leipziger Neuesten Nachrichten ihren Höhepunkt erreichten.<br />

Für ihn gab es damit Ende der 90er Jahre in Berlin als freier Schriftsteller<br />

und Politiker keine rechte Existenzmöglichkeit mehr. Er verkaufte das<br />

Landhaus in Lichterfelde und suchte vergeblich eine Dauerstellung beim<br />

Herzog Ernst-August von Cumberland in Gmunden. Schließlich folgte er 1901<br />

dem Ruf des Prinzen zu Schaumburg-Lippe, als Archivar und Bibliothekar<br />

auf dessen Schloß Nachod/Böhmen tätig zu sein, wohin er mit seiner Fami-<br />

13


lie zog. Ein ganzes Jahrzehnt konnte er sich dieser erfüllenden Aufgabe widmen.<br />

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des noch unerforschten Archivgutes<br />

aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gab ihm die Möglichkeit, seine<br />

militärhistorischen Studien zu erweitern. Seinen schon früher herausgebrachten<br />

Schriften »Bilder aus der Kulturgeschichte des deutschen Heeres« (1891/<br />

1893), »Die historische schwarze Tracht der braunschweigischen Truppen«<br />

(1896) und vor allem der mehrbändigen »Geschichte der stehenden Truppen<br />

im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel von 1600–1806« (1899/<br />

1900) schlossen sich nun »Die Piccolomini-Regimenter im Dreißigjährigen<br />

Kriege« (1903) und »Piccolomini-Studien« (1911) an.<br />

Nach dem Tode des Schloßherrn von Nachod ging die Familie zu Beginn<br />

des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wieder zurück nach Berlin<br />

(Friedenau), wo Otto sich fern aller politischen Betätigung seiner Schriftstellerei<br />

widmete.<br />

Botho Henning Elster war 1900 sechs Jahre alt, als er mit der Familie<br />

nach Schloß Nachod in Böhmen kam. Die Zeit von seinem sechsten bis zu<br />

seinem fünfzehnten Lebensjahr verbrachte er in tschechischen Landen. Er<br />

erlernte gleichsam spielend die tschechische Sprache, während zu Hause<br />

oft auch das Französische gepflegt wurde. Er genoß die Erziehung durch<br />

Privatlehrer des Fürsten zusammen mit dessen Kindern, also eine besondere,<br />

von der allgemeinen Bildungsmöglichkeit abgehobene Schulbildung. Diese<br />

schloß auch den Besuch des Königlichen Gymnasiums in Glatz von Ostern<br />

1905 bis Ostern 1909 ein, wodurch sein Sprachtalent weit über die normalen<br />

Möglichkeiten hinaus gefördert wurde. Von Ostern 1909 bis Februar<br />

1913 besuchte Botho das humanistische Gymnasium in Lüneburg (Johanneum),<br />

wo er das Abitur ablegte.<br />

Mit dieser guten Erziehung und Bildung ausgestattet war er prädestiniert<br />

für die Aufnahme eines Studiums. Die Finanzen des Elternhauses erlaubten<br />

es damals aber nicht mehr, auch diesem Sohn, wie seinem älteren Bruder,<br />

ein Studium zu ermöglichen. So führte sein Weg zum Militär, wie dies damals<br />

üblich war. Bereits im Herbst 1912 bemühte sich Otto um die Aufnahme<br />

seines Sohnes in das Heer und erhielt alsbald die Nachricht, daß dieser,<br />

das Abitur vorausgesetzt, in das in Hildesheim stationierte Infanterie-Regiment<br />

von Voigts-Rhetz (3. Hannoversches) Nr. 79 aufgenommen werden<br />

könne.<br />

14


Kriegserfahrung<br />

So trat der hoffnungsvolle junge Mann unmittelbar nach dem Abitur im Februar<br />

1913 als Fahnenjunker in dieses Regiment ein. Nur anderthalb Jahre<br />

später sollte er mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges ins Feld ziehen!<br />

Im August 1913 wurde er auf die Kriegsschule nach Glogau kommandiert,<br />

wo er, Oktober 1913 zum Fähnrich befördert, im Mai 1914 das Offiziersexamen<br />

bestand, um darauf in das Regiment zurückzutreten. Im Juni 1914<br />

erfolgte die Beförderung zum Leutnant. Botho war nun gerade 20 Jahre alt.<br />

Meinen lieben Eltern ...<br />

15


Bei Kriegsausbruch im August 1914 rückte er mit einer Maschinengewehr-Kompanie<br />

im Res.Inf.Reg. 77 ins Feld und machte den Feldzug durch<br />

Belgien gegen Frankreich als Maschinengewehr-Offizier und später als Kompanie-Führer<br />

einer Infanterie-Kompanie mit. Schon am 12. September 1914<br />

wurde er bei Reims durch Granatsplitter am rechten Unterschenkel verwundet.<br />

Während der Rehabilitationszeit legte Botho ein Kriegstagebuch an. Er<br />

kam bei der rückblickenden Schilderung nur bis zum 11. August 1914 und<br />

hat danach nie wieder irgendeine Aufzeichnung in dieses Tagebuch eingetragen:<br />

»Ich krame jetzt als Verwundeter, wo ich die Zeit und Ruhe dazu finde,<br />

meine Kriegserlebnisse und Erinnerungen aus, soweit sie mir noch frisch<br />

im Gedächtnis stehen und habe dabei den Vorsatz, mit möglichster Gründlichkeit<br />

und mit genauer Wahrhaftigkeit das zu schildern, was ich von Land<br />

und Leuten, Gefechten und französischen und englischen Gefangenen gesehen<br />

und gehört habe.<br />

Leider ist es mir nicht möglich, mit durchgreifenden Zahlenangaben auf<br />

Zeit und Truppen alles zu aktiverem Werte zu bringen, da mir meine<br />

Tagebuchaufzeichnungen, welche ich während des Feldzuges gemacht habe,<br />

durch die Gefangennahme unserer M.G.K. abhanden gekommen sind.<br />

Vor der Mobilmachung – Ende Juli 1914 –<br />

Kurz nachdem wir – am 21. Juli – von Munster wiederkamen, brauste<br />

die Kriegsgefahr durch die Lande, und hatten wir uns nach den anstrengenden<br />

4 Wochen in Munster auf eine behagliche Ruhe bis zu den Herbstmanövern<br />

gefreut, so war es damit nichts.<br />

Es wurde fieberhaft gearbeitet in den Kasernen. Röcke und Stiefel wurden<br />

verpaßt und ausgegeben; nachmittags war nur Kammerarbeit, und morgens<br />

ging es hinaus, um, Schützengräbenarbeiten und Zeltbau etc. noch einmal<br />

rasch in dem Gedächtnis der Leute aufzufrischen.<br />

Zeigte sich ein Soldat in den neuen rohledernen Stiefeln auf der Straße,<br />

dann blieben die guten Hildesheimer stehen und staunten: ›Oh, kiek mol,<br />

dat sind die Kriegsstiebeln!‹ –<br />

Überhaupt war die Bevölkerung wie verwachsen mit dem Regiment,<br />

stundenlang standen die Leute vor den Kasernentoren, um etwas von dem<br />

zu erhaschen, was dort drinnen vorging; die Offiziere sausten mit wichtigen<br />

Mienen aus und ein und die Spannung wuchs von Tag zu Tag. Einmal<br />

hieß es, es wird nichts draus, die Sache schläft wieder ein, und das andere<br />

Mal wieder hatte man schon fast die Mobilmachung erklärt.<br />

Im Kasino ging es lebhaft her, unwillig schalten wir jungen Leutnants<br />

auf das lange Warten und die Verzögerung der Entscheidung; gab es doch<br />

für uns nichts Schöneres und Höheres, endlich einmal all das, was wir ge-<br />

16


lernt und unseren Leuten in langer Friedensarbeit beigebracht hatten, zu<br />

erproben und wirklich einmal Krieg zu spielen, nicht nur in Manövern und<br />

auf den Truppenübungsplätzen.<br />

So hob sich die Stimmung im Kasino von Tag zu Tag mehr. Unter dem<br />

Grundsatze: ›So jung kommen wir nicht mehr zusammen!‹ und: ›Bezahlen<br />

tut’s der liebe Gott!‹ floß der perlende Sekt, wir sahen uns schon draußen,<br />

von Sieg zu Sieg eilend und dann heimkehrend nach raschem, frischen,<br />

fröhlichen Krieg in das bekränzte Hildesheim unter den wehenden Fahnen!<br />

Und nun liegen schon so viele von meinen treuen Kameraden, die mit<br />

uns geschwärmt hatten von Sieg und Heimkehr, unter dem kühlen Rasen<br />

und über ihre schlichten Heldengräber tanzt und braust der Herbstwind.<br />

– – –<br />

Ich hatte als Mobilmachungsorder, als Leutnant und Zugführer in die<br />

11. Komp. des I.R 79 einzutreten, und freute mich darauf, nun wohl auch<br />

mit meinen alten Leuten, mit denen ich als Fahnenjunker in Reih und Glied<br />

gestanden hatte, ins Feld zu ziehen, mit meinen alten Unteroffizieren und<br />

meinem Hauptmann Böhm. Und das kam anders.<br />

Sonnabend, am 1. August, war die Spannung auf das Höchste gestiegen;<br />

alles lag bereit und fix und fertig hätte das Regiment, ohne die Reserven,<br />

ausrücken können.<br />

Ich war gerade auf dem Batl.-Geschäftszimmer und jedesmal, wenn das<br />

Telefon rasselte, hielten wir den Atem an und glaubten, die Mobilmachung<br />

wäre raus.<br />

Die Menschen drängten auf den Straßen, keinen hielt es zu Hause und<br />

fiebernd stand die Menge vor den Zeitungsbüros und Telegraphenämtern.<br />

Da endlich um 6¼ war es heraus: ›Die Mobilmachung ist angeordnet,<br />

als erster Mob.tag gilt der Sonntag, der 2. August. Ein Brausen ging durch<br />

die Welt, eine befriedigte Genugtuung machte sich bemerkbar; hatten wir<br />

doch nicht unüberlegt und überschnell die Mobilmachung befohlen, sondern<br />

sie erst angeordnet nach den Sticheleien und Grenzverletzungen der<br />

anderen Mächte.<br />

Wir Offiziere aber jubelten. –<br />

Mobilmachungstage<br />

Als ich am Abend des Sonnabends über den Hohen Weg (in Hildesheim)<br />

ging, kam mir Beguelin entgegen: ›Wissen Sie schon, Elster, Sie sind zur<br />

Maschinen-Gewehr-Kompanie vom Reserve-Infanterie-Regiment 77, das<br />

hier zusammengestellt wird, kommandiert; haben Sie schon Sättel und Packtaschen<br />

usw.?‹<br />

Ich traute meinen Ohren nicht, stürmte sofort auf das Rgtsgeschäftszimmer<br />

und erhielt da Gewißheit. Es stimmte! Aber ich hörte es immer<br />

noch wie im Traum, als blutjunger Leutnant von 1½ Monaten sollte ich<br />

17


zwei Pferde bekommen, beritten werden und nicht die Riesenmärsche zu<br />

Fuß zu machen brauchen.<br />

Am Sonntagmorgen telegraphierte ich gleich an die Eltern: ›Bin zur MGK<br />

Res.Rgt. 77 kommandiert. Bleibe noch länger Brief unterwegs Gruß =<br />

Botho‹<br />

Die waren inzwischen in aller Hast aus dem stillen Ostseebade Nest<br />

abgereist nach Berlin und waren nun unterwegs nach Hildesheim, um mich<br />

vor dem Ausrücken noch einmal zu sehen.<br />

Inzwischen bekam ich den Mobilmachungskalender der M.G.K., da ich<br />

vorläufig als einziger Offizier vertreten war; der Kompanieführer Oberltn.<br />

v. Heugel, Elisabether Garderegt., kam erst laut dem Kalender am Montag,<br />

die beiden anderen Leutnants, Lt. d. Res. Faust und Lt. d. Res. Thiemann,<br />

erst am Dienstag. So half ich denn als Batl.adjutant mit bei der Aufstellung<br />

des Regiments.<br />

Montag, den 3. Aug., kamen die Eltern und Grete seegebräunt und<br />

sonnverbrannt direkt aus Nest und hatten auch Onkel Adolf mitgebracht.<br />

Die Cafés mit ihrer improvisierten Kriegsmusik waren ihnen zu laut, so<br />

setzten wir uns in den Ratskeller; sie blieben über Nacht und am anderen<br />

Morgen bummelten wir bei dem sonnigsten Wetter durch Hildesheim.<br />

Mittags reisten sie ab, ich brachte sie zur Bahn und traf dort gleichzeitig<br />

mehrere Gardeoffiziere, meist Elisabether, die ich nun, da sie Hildesheim<br />

nicht kannten, zu dem Regtsgeschäftszimmer führte. Unter ihnen war auch<br />

Heugel, der zukünftige Komp.führer meiner M.G.K., wie sich gleich herausstellte.<br />

Ich brachte ihn dann noch zu seiner Wohnung, übergab ihm den<br />

Mob.Kalender und hielt ihm Vortrag über die sofort notwendigen Anordnungen.<br />

Nun kurz, die Mob.tage gingen hin im Fluge, von morgens bis abends<br />

war man auf den Beinen, die beiden anderen Leutnants kannte ich schon<br />

von früher her aus dem 79. Rgt.<br />

Pferdemusterung, Mannschaftseinkleidung, Fahrzeug- und Waffenrevision,<br />

alles das ging hintereinander tagtäglich und man wußte nicht, wo<br />

einem der Kopf stand.<br />

Aber eine stramme Zucht wurde von Anfang an innegehalten, was bei<br />

den Reservemannschaften zum Teil sehr nötig und zweckdienlich war.<br />

Es klappte alles wie am Schnürchen, der Mob.machungskalender war<br />

hervorragend durchgearbeitet; alles bis auf den letzten Hufnagel und das<br />

letzte Schräubchen war angeführt und auf das Itüpfelchen vorhanden. Ich<br />

wurde Waffenoffizier und hatte dadurch viel Arbeit. Nur ein Übelstand war<br />

dabei, der unverantwortlich war: Lt. Thiemann war überhaupt noch niemals<br />

bei der M.G.K. gewesen und hatte überhaupt keine Ahnung, wie ein<br />

M.G. aussieht und Lt. Faust hatte als Reserveoffizier früher wohl mal bei<br />

der M.G.K. geübt, aber jetzt auch nicht mehr viel Ahnung.<br />

18


Also hieß es Exerzieren und nochmal Exerzieren und zwar die beiden<br />

Offiziere! Es war eine zeitraubende Zugabe für uns. So gingen die Tage hin.<br />

Die Pferde kamen, alles ungerittene Biester vom Kohlenwagen oder<br />

Möbelwagen, und so etwas sollte man nun reiten!<br />

Ich bekam einen Schimmel und einen Rappen. Beide natürlich niemals<br />

geritten! Der Schimmel war ein hübsches Tier, gut gebaut und Sehnen wie<br />

Stahl. Der Rappe hatte einen Senkrücken, der sich nach hinten wohlgefällig<br />

abdachte und einen Entenbauch, an dem kein Sattelgurt saß.<br />

Nun wurden sie erst etwas zurecht gestutzt, die Schwänze beschnitten,<br />

dto. die Mähnen, aber an ein Reiten im wirklichen Sinne war nicht zu<br />

denken, von Schenkeldruck und Hilfen keine Ahnung, sie reagierten überhaupt<br />

nicht darauf. Aber besser als gar nichts, sagte ich mir immer, und mit<br />

der Zeit würde ich sie wohl schon in die Zügel bekommen.<br />

Sonnabendnacht wollten wir abrücken, morgens war noch einmal ein<br />

Scharfschießen bei Steuerwald.<br />

Ich mußte als Jüngster früher heraus, um die Posten, die das Gebäude<br />

absperrten, zu revidieren, und kariolte infolgedessen bei Morgengrauen<br />

alleine los; mein Schimmel wurde mir vorgeführt, er witterte schon wieder<br />

Unheil und beschielte mich mißtrauisch; aber er ließ mich doch aufsitzen<br />

und hinaus ging’s aus dem Kasernentore.<br />

Ich segelte durch die Stadt, ich ritt den Gaul nicht, nein, ich ›fuhr‹ ihn<br />

sozusagen um die Häuserecken herum und ich mußte jeweilig am rechten<br />

oder linken Zügel ziehen, wie der Lohnkutscher auf dem Milchwagen. Draußen<br />

bei Steuerwald traf ich unseren Regtskommandeur, einen Oberst Wrigth<br />

(Reith), bei dem ich mich meldete und kurz darauf kam auch die M.G.K.<br />

Die erste Ausfahrt mit den neuen Gäulen ging ganz leidlich von statten,<br />

außer daß einige Gäule zeitweise aus den Strängen geschlagen hatten.<br />

Dann ging es ans Gefechtsexerzieren und Scharfschießen auf alle denkbaren<br />

Ziele; die Leute schossen, dafür, daß sie solange Zeit kein Maschinengewehr<br />

in die Hände bekommen hatten, ganz ausgezeichnet; wir Offiziere<br />

schossen auch, und da meine Leistungen doch etwas abstachen von<br />

denen der beiden andern Leutnants, was dadurch bedingt war, daß ich während<br />

meiner Fahnenjunkerzeit und auch später auf Kriegsschule am M.G.<br />

tätig gewesen war, so erzielte ich ganz gute Resultate und höre immer noch<br />

stolz die Worte Heugels: ›Mit Ihnen will ich die Franzosen schon klein<br />

kriegen! Wenn jeder so schießt wie Sie!‹<br />

Mittags rückten wir wieder ein und abends war Ausmarsch. Noch ein<br />

letztes Abschiednehmen von allen Bekannten und Kameraden. Abends saß<br />

ich dann noch einmal mit Lt. Thiemann im ›Wienerhof‹ zusammen, schon<br />

feldmarschmäßig gerüstet. Hätte er damals gewußt, daß das seine Henkersmahlzeit<br />

sein sollte, der arme, liebe Kerl, und daß er nie wieder zurückkehren<br />

würde! – – –<br />

19


Um 11:00 Uhr abends war das Verladen der M.G. auf dem Güterbahnhof<br />

angesetzt, um 10:30 Uhr war Abmarsch aus der Kaserne. Dicht gedrängt<br />

standen die Menschenmassen rechts und links der Straßen und von<br />

allen Seiten flogen uns Rosen zu – – Rosen, aber Dornen daran!<br />

Dumpf rasselten wir durch die Stadt dem Bahnhofe zu. Hier auf den<br />

Kopf- und Seitenrampen des Güterbahnhofs zischten die grünlich leuchtenden<br />

Bogenlampen und legten sich mit einem geisterhaften Schein über<br />

das Gekribbel unter ihnen. Auch dort bekamen wir noch Blumen über Blumen<br />

von verschiedenen jungen Mädchen und Damen der Hildesheimer<br />

Gesellschaft, mit denen man schon in den Kasinoräumen getollt hatte.<br />

Das Verladen der M.G.K. war hervorragend organisiert von der Eisenbahnverwaltung,<br />

und binnen 40 Minuten waren alle Fahrzeuge und Pferde<br />

fix und fertig verladen. So hatten wir denn noch lange Zeit bis zur Abfahrt<br />

um 1:40 Uhr und gingen noch einmal hinüber in den Wartesaal des Bahnhofes.<br />

Einschub:<br />

Nachstehend gebe ich die Abschrift einiger Briefe wieder, die ich während<br />

der Mobilmachung und vorher geschrieben habe.<br />

Freitag, den 31. Juli 1914:<br />

›Meine lieben Eltern! In Eile sende ich Euch diese Zeilen. Wir stehen in<br />

ernsten Stunden und warten jede Stunde auf den Mobilmachungsbefehl. Es<br />

ist alles geheim und geht auf Diensteid, also darf ich Euch mehr noch nicht<br />

schreiben. Es geht los, soviel ist sicher. Wir warten mit Gottvertrauen. Wenn<br />

es Euch bangt, seid ruhig, ich gehe mit Gott, aber Wiederkehr? Wir wollen<br />

stark sein. Wir kämpfen mit freier Brust für eine gerechte Sache. Heute<br />

kann ich Euch nicht mehr schreiben, ich habe zu viel zu tun. Morgen mehr.<br />

Mit den herzlichsten Küssen umarmt Euch in treuer Liebe Euer Botho.‹<br />

Brief vom 2. August 1914:<br />

›Meine lieben Eltern! Nun ist die Entscheidung gefallen. Der Krieg geht<br />

los! Und wir gehen mit freudiger Begeisterung hinein. Wir kämpfen für<br />

eine gute Sache und mit dem Bewußtsein, unsere ganze Pflicht getan zu<br />

haben und im Besitze unserer ganzen Kraft zu sein. Wohin uns die nächsten<br />

Tage hinberufen werden, weiß selbst der Oberst noch nicht. Am 5. Mob.tage,<br />

also am 6. Aug., rückt Regt. 79 aus. Ihr könnt Euch denken, was für eine<br />

Arbeit bis dahin noch geleistet werden muß. Ich hatte bis gestern die<br />

Mob.bestimmung, als Zugführer und Leutnant bei der 11/79 einzutreten.<br />

Gestern mittag wurde die vom Regiment geändert. Ich trete als Leutnant<br />

zur Maschinen-Gewehr-Kompanie des Reserve-Regiments 77!<br />

20


Stellt Euch vor, habe ich nicht geradezu unglaubliches Glück! Ich werde<br />

beritten, bekomme zwei Pferde gestellt und bin auch am 7. Mob.tag schon<br />

mit im Felde. Daß ich vom Regiment wegkomme, tut mir ja leid, aber das<br />

geht vielen so, und ich kann noch von Glück sagen, daß ich im X. Korps<br />

bleibe und zum Res.R. 77 trete, das gleichzeitig mit den aktiven Regimentern<br />

mobil ist. Viele kommen zu den Ersatz-Batallionen und müssen warten<br />

und warten.<br />

Das Res.Rgt. 77 tritt hier in Hildesheim zusammen. Ich bin zum dritten<br />

Mob.tage stellvertretender Batl.adjutant I/R.R 77.<br />

Nun wird alles umgestoßen. Ich brauche dadurch, daß ich zur M.G.K.<br />

komme, keinen Tornister mehr, dagegen muß ich mir zwei eigene Sattelzeuge<br />

kaufen, ebenso Sattel- und Packtaschen, 2 Zaumzeuge etc. Dazu meine<br />

Stiefelhosen in Reithosen umändern lassen usw. Na, ich sage Euch, eine<br />

dollere Schweinerei habe ich noch nicht erlebt!<br />

Hurra, es geht los! Mein Säbel ist schon geschliffen!<br />

Bleibt vorläufig in Berlin, ich bleibe noch bis zum 7. Mob.tage hier. Wir<br />

können uns immer noch sehen. Ihr riskiert evtl. nur, daß Ihr hier mehrere<br />

Tage liegen müßt, da von morgen und übermorgen ab die großen Truppentransporte<br />

losgehen.<br />

Vorläufig viele, viele Grüße. Es umarmt Euch alle Euer treuer Botho‹<br />

Zur festgesetzten Zeit fuhren wir ab, ein letzter Händedruck, ein letztes<br />

Lebewohl und Winken, dann tauchte der Zug immer mehr ins Dunkle und<br />

man war allein mit seinen Blumen, allein mit seinen Gedanken.<br />

Der Zug stampfte und rollte der Grenze entgegen.<br />

Die Fahrt an die Grenze – 9./10. August 1914 –<br />

Die Maschine zog an, die Lichter des Bahnhofs und die winkenden Gestalten<br />

wurden immer kleiner, bis wir schließlich ganz im Dunkel untertauchten.<br />

Wir waren allein, fuhren ›in den Krieg‹, wie wir sagten, und waren doch<br />

so übermütig, als ginge es ins Manöver.<br />

Wohin es ging, ob nach den Russen oder den Franzosen, erfuhren wir<br />

Offiziere erst, als wir im Zuge saßen, da gab uns Heugel bekannt, daß wir<br />

Montag morgen – Sonnabendnacht waren wir abgefahren – in Zülpich bei<br />

Euskirchen westlich Köln ausgeladen würden und dann in Belgien einmarschieren<br />

würden. So etwas ähnliches hatten wir uns schon gedacht und<br />

waren nun befriedigt, ›die Bestätigung unseres Scharfsinns‹ zu erhalten!<br />

Wir wünschten uns gegenseitig eine Gute Nacht und legten uns langgestreckt<br />

auf die Polster unserer II.-Klasse-Coupés und schliefen bald den<br />

Schlaf der Gerechten, bis uns am frühen Morgen das erste Frührot weckte.<br />

Der Zug rollte noch immer.<br />

21


Bald machten wir Halt – in Holzminden – und bekamen Verpflegung<br />

von den auf den Bahnhöfen eingerichteten freiwilligen und militärischen<br />

Verpfl.stationen.<br />

In Holzminden hängte sich auch die M.G.K. R.I.R. 91 an unseren Zug<br />

an, der schier endlos wurde.<br />

Ein wunderbarer frischer Hochsommertag brach an. Kein Wölkchen<br />

am Himmel und strahlender Sonnenschein überall. Es war, als hätte sich<br />

unser Heimatland zum Sonntag und Abschied noch einmal besonders schön<br />

gemacht. Um 8:00 Uhr morgens bekamen wir Mittagessen und nun ging es<br />

weiter von Station zu Station.<br />

Wir hatten uns auf die M.G.-Fahrzeuge gesetzt und fuhren so durch das<br />

wunderbare Weserland und Westfalen. Und überall hilfreiche, segenspendende<br />

Hände und Glückwünsche auf fröhliches Wiedersehen und Freude<br />

und Jubel.<br />

Unsere Fahrzeuge waren mit Eichenlaub bekränzt und kleine Fähnchen<br />

flatterten an den Waggons.<br />

Fast von jeder Station sandten wir Karten nach Hause.<br />

Wie wir nun so dauernd auf allen Stationen mit Kaffee, Limonade,<br />

Würstchen, belegten Broten, Kuchen, Schokolade, Zwiebelkuchen usw. und<br />

allem möglichen und unmöglichen anderem vollgestopft waren und abends<br />

durch Barmen-Elberfeld kamen, konnten wir wirklich nichts mehr bewältigen.<br />

Wir waren ›voll‹.<br />

Auf der Fahrt bis Köln erfuhren wir dann, daß Lüttich völlig in unserem<br />

Besitz ist und der Jubel war unbeschreiblich.<br />

Abends kamen wir nach Köln, wo es schon etwas kriegerischer aussah<br />

als im Inlande. Bahnhöfe dunkel und nur die riesigen Scheinwerfer tasteten<br />

am Himmel entlang. Hier standen schon endlose Züge von Militär auf den<br />

riesigen Bahnhöfen. Dann ging’s bei Dunkelheit weiter und wir krochen<br />

wieder in unsere Coupés und schliefen so fest, daß wir erst aufwachten, als<br />

der Zug mit einem hörbaren Quietschen und Knirschen und einem unsanften<br />

Ruck stehen blieb: Wir waren in Zülpich, unserer Endstation, angelangt.<br />

Vollständig verschmiert, verdreckt und verschlafen stiegen wir aus. Die<br />

Wagen wurden abgeladen, Pferde ausgeschirrt und hinein ging’s bei Morgentau<br />

und Morgendämmerung nach Zülpich.<br />

Unsere Reiseroute war gewesen: Hildesheim – Elze – Gandersheim –<br />

Holzminden – Stadtberge – Meschede – Arnsberg – Schwert – Hagen –<br />

Barmen – Elberfeld – Opladen – Mülheim – Köln – Euskirchen – Zülpich.<br />

Abfahrt von Hildesheim war in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag<br />

um 1:40 Uhr, Ankunft in Zülpich Montag morgen um 3:15 Uhr.<br />

22


Die letzten Tage in Deutschland und der Einmarsch in Belgien<br />

In Zülpich wurden die Quartierzettel verteilt und im Nu war alles verschwunden.<br />

Um 10:00 Uhr war Appell und Fahrzeugreinigen und um 1:00<br />

Uhr ging es per Fußmarsch weiter.<br />

Die Quartiere waren nun meist so eingerichtet, daß immer zwei von uns<br />

4 Offizieren ein Quartier bekamen. Da nun Heugel Kompanieführer war,<br />

hatte er auch als Ältester stets das beste Quartier zu beanspruchen. Mich<br />

nahm er als zweiten immer mit und so kam es vielfach, daß ich als jüngster<br />

bessere Quartiere hatte, als Faust und Thiemann.<br />

Vielfach änderte sich die Sachlage aber auch dahin, daß wir, namentlich<br />

später in Belgien, alle vier zusammen lagen. Dann waren durch eine Tücke<br />

des Schicksals meist nur drei Betten da, und ich mußte teils grimmig, teils<br />

schadenfroh einem der drei anderen das schöne weiche Unterbett wegziehen<br />

und mich auf der Erde einnisten, während der Betreffende als Strafe<br />

auf der harten Matratze schlief, aber beileibe nicht das Zugeständnis machte,<br />

daß er härter oder gar schlechter geschlafen als ich auf der Erde: Er<br />

hatte doch ein Bett gehabt! So gab es vielfach Spaß und Stimmung durch<br />

diese Schlafgelegenheiten, namentlich wenn wir uns dann als Nachthemden<br />

die spitzendurchbrochenen Spinngewebe einer belgischen oder französischen<br />

Komtesse überstülpten – wir Barbaren!! Aber eins nach dem anderen,<br />

davon also später.<br />

In Zülpich wohnten Heugel und ich bei einem Kommerzienrat Sieger.<br />

Der gute Mann tischte uns morgens um 8:00 Uhr schon ein Diner auf mit<br />

Rheinwein Ia. Dann gab es ein warmes Bad und für jeden ein wunderschönes<br />

sonniges Fremdenzimmer und blütenweiß und sauber legten wir uns<br />

hin und schliefen so wunderbar wie noch nie.<br />

Aber lange dauerte diese Umschlingung von Morpheus Armen leider<br />

nicht. Die rauhe Wirklichkeit kam in Gestalt meines treuen Burschen und<br />

weckte mich mit einer geradezu vorschriftswidrigen Rücksichtslosigkeit und<br />

Ausdauer, wofür ich ihm, wie auch später, Dank schuldete, denn pünktlich<br />

mußte man sein.<br />

Der Appell um 10:00 Uhr ging vorüber, dann bummelten wir noch in<br />

die Stadt und wollten einen Photographenapparat kaufen. Aber in dem<br />

gottverlassenen Nest gab es ein solches übernormales Kulturerzeugnis noch<br />

nicht und unser Bemühen war umsonst.<br />

Um 1:00 Uhr war Abmarsch.<br />

Die Sonne stach durch den Helm mit glühenden Strahlen und es war<br />

eine Hitze zum Umkommen. Zum Glück ging der Marsch nicht weit, 10<br />

Kilometer. Aber zwischendurch übten wir, da wir allein marschierten, hatten<br />

wir Gelegenheit dazu, Geländefahren und Gefechtsexerzieren. Die Gäule<br />

waren natürlich noch gar nicht eingefahren und stutzten vor jedem Wiesengraben.<br />

Ein Fahrzeug mußte ausgeschirrt und von Mannschaften übergesetzt<br />

23


werden, na, kurz und gut, man ›schwitzte‹, wie es nur dieses schöne Wort in<br />

vollster Stärke ausdrücken kann und als wir am Spätnachmittag in Bürvenich<br />

ankamen, war von der ›blütenweißen Sauberkeit‹ des Morgens nicht viel<br />

übrig geblieben.<br />

Heugel und ich lagen bei einem Herrn Brauereibesitzer Nagelschmidt<br />

im Quartier in einer Villa auf einem kleinen Berge über dem Dorfe. Als<br />

erste Begrüßung wurde uns von der Haushälterin mitgeteilt: ›Frau Nagelschmidt<br />

ist tot.‹ So, so, sagte Heugel und sieht mich an. Wir wurden nicht<br />

klug aus dieser seltsamen Begrüßung. Herr Nagelschmidt saß in der großen,<br />

wunderschön eingerichteten Villa mutterseelen allein. Alle Läden waren<br />

herabgelassen, wir trafen ihn im Dunkeln. Heugel stieß mich an und<br />

wir waren sichtlich bemüht, irgendein Scherzwort zu finden, um endlich<br />

unser uns in der Kehle sitzendes Lachen loszuwerden.<br />

Den Herrn Nagelschmidt zu beschreiben, würde zuviel Platz wegnehmen,<br />

darum fasse ich seine ganzen Eigenarten kurz in der einen Bezeichnung<br />

zusammen: Er war ein sonderbarer Kauz; nebenbei schien er Sozialdemokrat,<br />

oder doch stark links zu sein, hatte kein Zutrauen zu unseren<br />

Waffen und zu den Offizieren nun schon gar nicht!<br />

Unseren Vorsatz, ihn eines besseren zu belehren, besorgten wir dann am<br />

Abend mit 4 vereinten Zungen auch kräftig (Faust und Thiemann wohnten<br />

beim Pfaffen unten im Dorf). Mit einer eigenartigen ›Kriegsunverfrorenheit‹,<br />

die wohl auch zum großen Teil durch die merkwürdige Art des Herrn<br />

Nagelschmidt hervorgerufen war, verlangten wir ein warmes Bad und schön<br />

kaltes Bier, wonach wir uns bis zum Abendessen, das wir selbstherrlich auf<br />

½ acht Uhr ansetzten, schlafen legen wollten. Statt des Gewünschten bekamen<br />

wir aber das Gegenteil, nämlich ein kaltes Bad – der Badeofen wäre<br />

kaputt – und warmes Bier – bei der Hitze ...<br />

Dafür saufen wir Dir den Weinkeller leer, hatten wir uns vorgenommen.<br />

Abends saßen wir dann auch wirklich auf der roterleuchteten Veranda<br />

bei einer ausgezeichneten Bowle zusammen. Ein wunderschöner Sommerabend<br />

dehnte sich über die friedlichen Dörfer. Weit sah man noch die erleuchteten<br />

Punkte der Bauernhäuser und hinten, am Horizont blitzte bisweilen<br />

etwas auf, die Scheinwerfer von Köln, das einzige was uns an den<br />

Krieg erinnerte. Wir fühlten uns immer noch wie im Manöver.<br />

Plötzlich ein paar fröhliche Rufe, und Leutnant Faust und Thiemann<br />

nebst dem Pfaffen tauchten aus dem Dunkel auf und kommen auf die Veranda.<br />

Leider aber war die Bowle schon zur Neige gegangen, Herr<br />

Nagelschmidt stieg selbst in den Keller und holte Moselwein herauf, aber<br />

im Gegensatz zur Bowle einen solchen Saurius, daß sich der Besuch nach<br />

der ersten Flasche wieder verzog und dann unten beim Pfaff, wie mir Faust<br />

andern Tags erzählte, sich erstmal mit Rheinwein den Mund ausgespült<br />

hatte.<br />

24


In aller Frühe ging es am nächsten Morgen weiter, für uns alle mit einem<br />

doch etwas schweren Kopf. Unser nächstes Ziel war Bergbuir.<br />

In Bergbuir, einem geradezu idyllisch gelegenen Eifeldörfchen, quartierten<br />

wir am 11.8. Auf dem Marsche dorthin kam uns ein eigener Flieger mit<br />

dem Eisernen Kreuz entgegen. Jeder glaubte natürlich, es wäre ein feindlicher<br />

und es hat nicht viel gefehlt, hätten wir losgeschossen, das vorderste<br />

Maschinengewehr war schon fertig gemacht.<br />

Bergbuir selber ist ein ganz kleines armseliges Dörfchen. Wir – die<br />

M.G.K., lag alleine in dem Dorfe. Ich bekam ein Quartier bei einer Witwe<br />

..., eines alten Bauern Frau, deren Sohn auch noch im Hause war und sich<br />

diebisch freute, daß er Ersatz-Reservist war. Meine Pferde standen in einer<br />

Art Hühnerstall, ich selber wurde in der guten Stube, die voll von Heiligenbildern<br />

und Ablaßzetteln hing, auf ›das‹ Wachstuchsofa placiert und mußte<br />

eine Art Mittagessen zu mir nehmen, aus dem ich auch nach langem Nachdenken<br />

nicht klug wurde.<br />

Um so besser schmeckte der Kaffee und das Weißbrot mit Butter und<br />

Gelée. Nach dem Essen Dienst abgehalten. In dem einzigen Wirtshaus, das<br />

aus einer Wirtsstube und einer sehr niedlichen, sauberen Wirtstochter bestand,<br />

vereinigten wir Offiziere uns dann und nahmen im Garten unter<br />

einem riesigen Birnbaum unsere Kaffeemahlzeit ein.<br />

Später saßen wir noch lange beim Schein einer Lampe im schweigenden<br />

Garten und entkorkten des Wirtes letzten sauren Wein. Des Wirts Töchterlein<br />

war bei all ihrer Niedlichkeit leider zu schüchtern, so daß wir noch<br />

nicht einmal den üblichen Manöverkuß bekommen haben.<br />

Abends krachte ich dann in das – vermutlich – einzige Bett in meiner<br />

Quartierwirtin armseligen Kate und suchte mir die schon ausgelegene Kuhle<br />

in dem Bett, um wenigstens sicher zu sein, mich nicht am nächsten Morgen<br />

neben dem Bette vorzufinden.<br />

Heugel schreibt von Bergbuir: In B. liege ich bei einem kleinen Bauern<br />

in der Dachstube, wo ich tatsächlich unter dem Mittelbalken nicht stehen<br />

kann. Der Mann gibt sich aber Mühe, den ganzen Tag muß ich rohen Schinken<br />

fressen.«<br />

Weiter reicht dieses »Kriegstagebuch« nicht. Man darf annehmen, daß<br />

die weiteren Ereignisse von solcher Wucht waren, daß es dem Tagebuchschreiber<br />

verging, diese in Schriftform und in der launigen Art wie bisher<br />

festzuhalten. Ganz sicher setzte sich das Kriegserlebnis nicht in der beschaulichen<br />

Form fort, wie es hier geschildert werden konnte. Noch nicht<br />

einmal die erste Schlacht, an der Botho teilnahm, hat er beschrieben und in<br />

Worten festgehalten. – – –<br />

Botho wurde bereits in dem ersten der Marne-Schlacht folgenden Gefecht<br />

verwundet (12. September 1914, Granatsplitter rechter Unterschenkel).<br />

25


Nach seiner Genesung trat Botho am 23.11.1914 zum Res.Inf.Reg. 259<br />

und kämpfte ab Februar 1915 zunächst als Frontoffizier, sodann als Adjutant<br />

eines Bataillons im Feldzug gegen Rußland mit.<br />

Im Mai 1915 wurde er bereits mit 21 Jahren Regiments-Adjutant. In<br />

dieser Stellung hat Botho über drei Jahre ohne Unterbrechung den Krieg im<br />

Osten und Westen bei einer Großkampfdivision miterlebt und durchgestanden.<br />

Dem Kriegsranglisten-Auszug können wir die Gefechte entnehmen, an<br />

denen er mitgewirkt hat:<br />

Zunächst an der Westfront:<br />

21.08.1914 Gefecht bei Liberchies<br />

23.08.1914 Gefecht bei Namur<br />

04.09.1914 Gefecht bei Orbaiz<br />

06.–09.09.1914 Marne-Schlacht<br />

12.09.1914 Gefecht bei Changigny (Verwundung)<br />

Dann an der Ostfront:<br />

04.–22.02.1915 Winterschlacht in den Masuren<br />

23.02.–06.03.1915 Gefecht am Bobr<br />

09.–12.03.1915 Gefecht bei Seiny<br />

18.03.–04.04.1915 Kämpfe in der befestigten Feldstellung<br />

zwischen Arys und Sowa<br />

29.04.–09.05.1915 Vorstoß nach Litauen und Kurland<br />

28.04.1915 Gefecht bei Kielmey<br />

30.04.1915 Gefecht bei Schaulen (Schawli)<br />

07.05.–13.07.1915 Gefechte an der unteren Dubissa<br />

19.–26.05.1915 Gefecht um Rossimil<br />

27.–29.05.1915 Gefecht bei Girdakol<br />

04.–07.06.1915 Gefecht bei Sitoiviany<br />

08.–09.06.1915 Gefecht bei Hyize<br />

09.05.–13.07.1915 Gefechte am Windewski-Kanal und<br />

der oberen Windau<br />

09.–15.05.1915 Gefecht bei Schaulen<br />

14.–27.07.1915 Schlacht um Schaulen (Schawli)<br />

30.7–07.08.1915 Schlacht bei Kupischki<br />

12.–19.08.1915 Schlacht bei Schimanzy – Penedeli<br />

29.08.–08.09.1915 Stellungskämpfe an der oberen Swenta und Jara<br />

09.09.–01.11.1915 Schlacht vor Dünaburg<br />

11.09.1915 Gefecht bei Verpl<br />

12.09.1915 Gefecht bei Okmista<br />

26


13.09–01.11.1915 Kämpfe um den Brückenkopf von Dünaburg<br />

17.09.1915 Gefecht bei Schödern und bei Rudset<br />

21.–24.09.1915 Gefecht bei Stemensee und Römkensee<br />

30.09.1915 Gefecht bei Grendsen<br />

06.–09.10.1915 Gefecht bei Gorbmarka<br />

09.10.1915 Gefecht bei Kutnikie Poppe<br />

11.–13.10.1915 Gefecht bei Wildschany – Kokinsee<br />

16.–31.10.1915 Kämpfe bei Schloßberg und Illuxt<br />

01.11.1915–06.04.1917 Stellungskämpfe um Dünaburg<br />

und wieder an der Westfront:<br />

19.4.–08.05.1917 Stellungskämpfe im Oberelsaß<br />

21.–27.05.1917 Doppelschlacht Aisne – Champagne<br />

22.05.–06.08.1917 Stellungskämpfe am Chemin des dames<br />

23.08.08.–14.10.1917 Erstürmung der 1.französ. Stellung westl. von<br />

Allomant; Erstürmung der französ. Stellung<br />

südöstl. Vauxaitlon; Stellungskämpfe vor Verdun<br />

09.–12.10.1917 Abwehrschlacht bei Verdun (Verwundung)<br />

Im Verlaufe dieser Kriegsjahre erhielt Botho bereits am 9. September<br />

1914 das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Das Eiserne Kreuz 1. Klasse wurde ihm<br />

am 9. April 1916 verliehen. Am 20. Juli 1917 erfolgte die Verleihung des<br />

Hamburgischen Hanseatenkreuzes, auf das er immer ganz besonders stolz<br />

war. Diese außerordentliche Auszeichnung wurde ihm immerhin vor seiner<br />

Beförderung zum Oberleutnant und vor seiner erst im Oktober 1917 erlittenen<br />

schweren Verwundung verliehen!<br />

Er war damit als dreiundzwanzigjähriger Leutnant mit einer besonderen<br />

Auszeichnung geehrt worden! Weitere Auszeichnungen folgten: Herzog Ernst<br />

August zu Braunschweig und Lüneburg verlieh ihm am 3. Juli 1918 das<br />

Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse. Das Kreuz der Ritter des Königlichen<br />

Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern (Königlich Preußischer Orden)<br />

wurde ihm am 16. August 1918 verliehen.<br />

Während der Schlacht um Verdun erlitt er am 10. Oktober 1917 eine<br />

schwere Verwundung am Kopf: Ein Granatsplitter durchdrang seitlich den<br />

Mund und verursachte schwerste Gebißschäden. Sein sicherer Tod wäre es<br />

gewesen, wenn der Splitter eine etwas andere Richtung oder Höhe gehabt<br />

hätte. So aber war er gerade noch davongekommen, trug zeitlebens eine<br />

deutlich sichtbare Narbe an der linken Wange davon und hatte immerfort<br />

mit erheblichen Zahnproblemen zu tun. Sie würden sich später noch einmal<br />

als entscheidend für seine weiteren Einsätze im Zweiten Weltkrieg erweisen.<br />

Am 18. Oktober 1917 wurde Botho zum Oberleutnant befördert.<br />

27


Während seiner unterschiedlichsten Verwendungen erwarb er sich die<br />

Qualifikation eines Generalstabsanwärters und erhielt im Februar 1918 ein<br />

Kommando zum Generalstabskursus nach Hagen i/Els.<br />

Am 7. Juli 1918 wurde er Adjutant der 78. Res.Inf.Brigade und am<br />

16.8.1918 der 213. Inf.Division als Brigade-Adjutant überwiesen. Als solcher<br />

hat er bei zwei Brigaden während der Großkämpfe an der Westfront bis<br />

zum Waffenstillstand Dienst getan.<br />

Im November 1918 wurde er zum Bevollmächtigten Generalstabsoffizier<br />

des Chefs des Feldeisenbahnwesens beim Armee-Oberkommando der 5. Armee<br />

kommandiert und hat dort Eisenbahntransportangelegenheiten bearbeitet.<br />

All diese besonderen Verwendungen kamen nicht von ungefähr. Die dienstlichen<br />

Beurteilungen, die über Botho im Ersten Weltkrieg abgegeben wurden,<br />

charakterisieren auf eindringliche Weise seine Persönlichkeit.<br />

Der Kommandeur des Res.Inf.Reg. 259 urteilt über ihn am 10.7.1918:<br />

»Oberleutnant Elster ist eine recht gute militärische Erscheinung von<br />

mittlerer Größe, körperlich sehr gewandt, guter Reiter. Seine Führung ist<br />

inner- wie außerdienstlich tadellos. Er hat gute gesellschaftliche Formen,<br />

ein liebenswürdiges, immer heiteres, sehr frisches bescheidenes Wesen und<br />

ist daher unter den Kameraden besonders beliebt. Sehr musikalisch (spielt<br />

gut Klavier) veranlagt, trägt er durch seinen Humor viel zur Erheiterung im<br />

Kameradenkreise bei. Dabei ist er bei seinem jugendlichen Alter von sehr<br />

ernstem und gesetztem Wesen. Dienstlich sehr befähigt. Seit drei Jahren<br />

Regiments-Adjutant, hat er als solcher dem Regiment im Feldzuge bei seinem<br />

Fleiß, großer Pflichttreue, Umsicht und besonders gutem taktischem<br />

Verständnis und schneller Auffassungsgabe hervorragende Dienste geleistet.<br />

Im Gefecht fällt er durch große Ruhe und Unerschrockenheit auf. Er<br />

eignet sich zur Verwendung in der höheren Adjutantur und im Generalstab.<br />

Ein in mannigfacher Beziehung besonders befähigter Offizier, ein ebenso<br />

sympathischer Mensch und Kamerad.«<br />

Unter dem 9.8.1918 erstattet der Kommandeur der 78. Res. Inf. Brigade<br />

folgendes Dienstleistungszeugnis:<br />

»Oberleutnant Elster hat sich in der Zeit der Vertretung des Brigade-<br />

Adjutanten seit 7.7.1918 und besonders in den Kampftagen ab 18.7. in<br />

jeder Beziehung voll bewährt. Er zeigte in den schwierigsten Gefechtslagen<br />

seine gleichbleibende Ruhe und den klaren Kopf. Seine vorausschauenden<br />

Vorschläge und Anordnungen waren wie seine Befehlstechnik mustergültig.<br />

Diese Eigenschaften lassen ihn in Verbindung mit seinen angenehmen<br />

28


Umgangsformen zur Verwendung als Adjutant bei höheren Stäben sowie,<br />

bei weiterer Ausbildung, im Generalstabe als besonders geeignet erscheinen.«<br />

Und weiter:<br />

Am 18. 8. 1918 urteilt der Bataillonskommandeur im Res.Inf.Reg. 259<br />

wie folgt:<br />

»Oberleutnant Elster hat dem Regiment seit seinem Bestehen angehört<br />

und zunächst als Bataillons-Adjutant, von Mai 1915 an als Regiments-Adjutant<br />

an den Kämpfen desselben teilgenommen. Von sehr guter militärischer<br />

Veranlagung besitzt er ein klares taktisches Verständnis und ist infolgedessen<br />

seinen Kommandeuren stets ein ausgezeichneter Berater gewesen. In<br />

ernsten Kampftagen und schwierigen Lagen ist er nie versagt. Eine schnelle<br />

Auffassungsgabe verbunden mit logischer scharfer Denkweise ermöglicht<br />

es ihm, selbständig Entschlüsse zu fassen und Maßnahmen zu ergreifen. Er<br />

besitzt ein ausgesprochenes Organisationstalent. Infolge seines taktvollen<br />

Wesens im Umgang mit Vorgesetzten war er als Adjutant eine besonders<br />

geeignete Persönlichkeit, die es auch stets verstanden hat, die Pflege guter<br />

Kameradschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl im Offizierskorps des<br />

Regiments zu stärken und hochzuhalten. Oberleutnant Elster eignet sich<br />

nach seinen Fähigkeiten, Leistungen und nach seiner Persönlichkeit voll<br />

und ganz zum Adjutanten bei einem höheren Stabe.«<br />

Ein in dieser Weise ausgezeichneter, mittlerweile bald 25-jähriger Offizier<br />

trat im Januar 1919 nach der Demobilmachung zum Friedenstruppenteil,<br />

dem Infanterie-Regiment Nr. 79, zurück, in das er 1913 mit knapp 19 Jahren<br />

als Fahnenjunker eingetreten war ...<br />

29

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!