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Die Macht der Wachstuchhefte - E-stories

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<strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong><br />

von Karl Böhm<br />

letzte Überarbeitung am 11.01.2005


1<br />

<strong>Die</strong> Sonne brannte auf die kleine Finca, die irgendwo im Süden Spaniens stand. Konrad<br />

Berger hatte zum Essen eine Flasche Rotwein geöffnet, die jetzt halbvoll auf dem Tisch stand.<br />

Seine Frau nahm wie<strong>der</strong> ihr Buch zur Hand und las weiter in dem Roman, den sie vor einigen<br />

Tagen zu lesen begonnen hatte. Sie war das, was man so gemeinhin eine Leseratte nannte,<br />

aber sie hatte trotz ihres nicht mehr jugendlichen Alters den Charme einer duftenden Blume,<br />

die in voller Blüte steht.<br />

Sie saßen beide auf dem zweisitzigen Sofa, das gegenüber dem kleinen Schreibtisch stand.<br />

Der kleine, tiefe quadratische Tisch war gerade so hoch, dass man eine Weile an ihm schreiben<br />

konnte. Und dies tat Konrad Berger jetzt auch. Er musste jetzt einfach das schreiben, was<br />

seine Gedanken ihm auftrugen, ebenso musste Heidelinde Berger jetzt lesen. Es war für beide<br />

jeweils die Entspannung von <strong>der</strong> Entspannung, die sie sich nach langen Wochen anstrengen<strong>der</strong><br />

Arbeit in ihren Ferien verdient hatten.<br />

„Wie gefällt es dir hier?“ fragte plötzlich Heidelinde ihren Mann und legte ihr Buch auf<br />

den Tisch, auf dem auch die zwei Weingläser standen.<br />

„Wie meinst du das?“ fragte Konrad Berger zurück.<br />

„So, wie ich es meinte.“<br />

„Na ja nicht schlecht.“ <strong>Die</strong> Antwort kam etwas zögernd.<br />

„Was heißt hier ‚nicht schlecht’?“ Heidelinde war etwas enttäuscht von <strong>der</strong> Antwort auf<br />

ihre Frage.<br />

„Einige Wochen könnte ich es schon hier aushalten.“ Konrad Berger hatte den dunkelgrünen<br />

Stift auf seinen Seitenspiralblock gelegt. „Aber die ganze Zeit hier in Spanien ...“<br />

“Hast Du in den letzten Tagen Deine üblichen Schmerzen gespürt o<strong>der</strong> nicht?“<br />

„<strong>Die</strong> Beschwerden sind so gut wie ...“<br />

„Siehst Du!“, fuhr Heidelinde ihrem Mann ins Wort, „<strong>Die</strong> Wärme hier lin<strong>der</strong>t Dein<br />

Rheuma sofort. Warum nicht auf Dauer?“<br />

„Aber Heidelinde, Du weißt doch: Wir haben das Haus Deiner Mutter ...“<br />

„ ... im kalten Norden.“ Wie<strong>der</strong> fiel Frau Berger ihren Mann ins Wort. „Dein Arzt sagt<br />

doch selbst, dass Deinen Gelenken stetige Wärme gut tun würde.“<br />

„Lass’ Dr. Vibel aus dem Spiel! Der redet viel, wenn Du bei ihm im Sprechzimmer bist.“<br />

Konrad Berger wurde fast ein wenig ärgerlich. „Wenn er Dich eine Viertelstunde beschwatzt<br />

hat, dann hat er ein reineres Gewissen, Dir den 2,8fachen Satz für Beratung abzuknöpfen.“<br />

„Nun hör’ aber auf!“ Jetzt wurde Heidelinde ärgerlich. „Dr. Vibel hat es Dir schon öfters<br />

gesagt, dass Deinem Rheuma ein wärmeres Klima sehr, sehr gut tun würde.“<br />

„Der hat leicht reden bei seinem Verdienst ...“<br />

„So viel verdient <strong>der</strong> auch nicht mehr wie wir Rente beziehen werden.“ Heidelinde Berger<br />

wirkte sehr überzeugend.<br />

„Werden ist Zukunft, liebe Heidelinde! Noch müssen wir weiter malochen und ...“<br />

„Nichts müssen wir. Wir haben doch das Haus meiner Eltern und die Häuser hier in Spanien<br />

sind wesentlich günstiger als ...“<br />

„ Sag’ bloß ...“ Konrad Berger überkam ein leichtes Frösteln, obwohl ein mil<strong>der</strong> Südwind<br />

über die Terrasse des Hauses durch die offene Tür ins Zimmer strich, das sie seit sechs Jahren<br />

in ihren Ferien an <strong>der</strong> spanischen Mittelmeerküste gemietet hatten.<br />

„Ja, ich sag’ es ...“<br />

„Du willst das Haus deiner Eltern aufgeben und zu Geld machen und nach Spanien ...“<br />

„Warum nicht!“ Heidelinde stand auf und ging auf die steinerne Terrasse hinaus.<br />

3


Konrad war mit seinen Gedanken alleine, aber nicht lange, denn Heidelinde kam nach<br />

wenigen Minuten in das großzügig eingerichtete Zimmer zurück.<br />

„Mein Entschluss steht fest!“ Heidelinde verschränkte die Arme und stellte sich vor Konrad,<br />

<strong>der</strong> immer noch auf dem kleinen Sofa saß.<br />

„Ich werde unser Häuschen verkaufen und nach Spanien ziehen und ...“<br />

„Nein!“ Konrad Berger stand entschlossen auf. „Nicht nach Spanien, son<strong>der</strong>n an die Atlantikküste<br />

nach Portugal werden wir ziehen. Da ist es im Sommer etwas kühler als in diesem<br />

Backofen hier.“<br />

„Konrad!“ stieß Heidelinde völlig überrascht hervor, eilte die wenigen Schritte zu ihrem<br />

Mann und fiel ihm um den Hals. „Ich wusste ja gar nicht, dass du so geschäftstüchtig bist. In<br />

Portugal ...“<br />

„... sind die Häuser noch ein wenig billiger als hier.“<br />

<strong>Die</strong> untergehende Sonne sah etwas später ein glückliches Ehepaar, das auf <strong>der</strong> Terrasse<br />

saß und eifrig miteinan<strong>der</strong> redend Pläne für seine Zukunft schmiedete.<br />

„Kannst Du damit etwas anfangen?“ Elke Markert sah ihren Mann fragend an und übergab<br />

ihm das Telegramm, das ein Bote vor wenigen Minuten abgegeben hatte.<br />

„WOLLEN IN PORTUGAL BLEIBEN. KOMMEN EINE WOCHE SPAETER. GRUSS<br />

MUTTI UND VATI.“<br />

Heinz Markert las laut und bedächtig den Text des Telegramms. „Hm“, murmelte er<br />

schließlich. „Ich dachte Deine Eltern sind in Spanien. Was wollen die denn in Portugal?“<br />

„Das weiß ich auch nicht, Heinz.“ Elke war genauso ratlos wie ihr Mann. „Wir werden<br />

abwarten müssen.“<br />

„Deine Eltern sind immer für eine Überraschung gut.“ Heinz lachte.<br />

Seine Frau sah ihn fragend an. „Und wann sollen wir dann in den Urlaub fahren? Wir<br />

können doch das Häuschen hier nicht allein lassen.“<br />

Elke und Heinz Markert bewohnten vorübergehend das kleine Haus von Elkes Eltern,<br />

seitdem diese in ihrem Ferienhäuschen in Spanien Urlaub machten. Es war nun schon fast<br />

vier Wochen her, als Elke und Heinz sie auf dem Flughafen in Hannover verabschiedet hatten.<br />

Und jetzt wollten sie noch länger bleiben. <strong>Die</strong> Urlaubsplanung von Elke und Heinz geriet<br />

ins Wanken. Sie mussten ja erst noch in ihre Wohnung in Nürnberg, bevor sie selbst in Urlaub<br />

fahren konnten. Und da war vorher noch einiges zu tun.<br />

Heinz war entschlossen. „Ich werde jetzt in Spanien anrufen“, sagte er und wollte schon<br />

zum Telefonhörer greifen, als das Telefon läutete.<br />

„Markert!?“ meldete sich Heinz.<br />

„Hallo Papi“, klang es an Heinz’ Ohr. Es war seine Tochter Heike, die in Nürnberg geblieben<br />

war, schließlich war sie mit ihren 22 Jahren erwachsen genug, um auf sich selbst aufzupassen.<br />

„Ich muss Mutti unbedingt etwas mitteilen.“<br />

„Du kannst es auch mir sagen.“<br />

„Sei mir bitte nicht böse, Papi, aber ich möchte Mutti sprechen.“<br />

„Wenn Dir Dein Vater nicht gut genug ist, ...“ Heinz’ Stimme klang fast ein wenig beleidigt.<br />

„Elke, für Dich!“<br />

Elke eilte in die <strong>Die</strong>le und übernahm den Hörer von ihrem Mann. „Elke Markert am Apparat“<br />

„Hallo Mutti! Ich muss Dir unbedingt etwas sagen.“<br />

„Ja was denn, Heike?“<br />

„Mutti, ich habe ...“<br />

„Ja was denn, Kind?“<br />

„Mutti, ich habe mich unsterblich verliebt“<br />

„Hättest Du das nicht auch Deinem Vater sagen können?“<br />

4


„Damit er wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Haut fährt. Du weißt doch, was damals war mit Kurt.“ Heikes<br />

Stimme klang nervös.<br />

„Das ist doch alles längst Geschichte“, sagte Elke hastig. Sie hatte jetzt keine Zeit, lange<br />

Telefongespräche zu führen, zu sehr gingen ihr ihre Eltern, von denen sie jetzt nicht genau<br />

wusste, was sie vor hatten, im Kopfe herum.<br />

„Willst Du mir nicht zuhören? Was ist denn los?“ Heike machte sich Sorgen, weil ihre<br />

Mutter so kurz angebunden am Telefon sprach. Immer wenn sie sich so gab, lag etwas in <strong>der</strong><br />

Luft. „Interessiert Dich nicht, was ich in Nürnberg mache, während ...?“<br />

„Doch, doch!“ Elke tat interessiert. „Aber ich habe jetzt an<strong>der</strong>e Dinge im Kopf als Deinen<br />

neuen Freund ... Wie heißt er?“<br />

„Wolfgang.“<br />

„Wolfgang wie?“<br />

„Wolfgang Brenner. Er ist wirklich nett und zuvorkommend, nicht wie Kurt ...“ Heike<br />

merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.<br />

„Stell Dir vor, Heike“, klang es aus dem Hörer. „Oma und Opa wollen nach Portugal ...“<br />

„Was ist denn mit denen los?“ Heikes Stimme nahm einen besorgten Ton an. Das mit dem<br />

Ferienhaus in Spanien, das wusste sie ja. Aber was ist das jetzt mit Portugal? Heike konnte<br />

sich nicht erinnern, dass ihre unternehmungslustigen Großeltern jemals in Portugal waren<br />

o<strong>der</strong> dieses Land auch nur kurz erwähnten.<br />

„Ich weiß nichts genaues“, entgegnete Elke. „Irgendwas haben Oma und Opa vor. Das ist<br />

alles, was ich weiß.“<br />

„Donnerschlag!“ entfuhr es Heike, die von <strong>der</strong> Unternehmungslust ihrer Großeltern ebenso<br />

überrascht war wie ihre Mutter. „Ich glaube ich rufe morgen noch einmal an.“<br />

„Ja, tu das, Heike, Vielleicht wissen wir morgen schon mehr.“ Elke wollte das Gespräch<br />

zwar beenden, aber eine Frage brannte noch auf ihrer Zunge. „Ist in <strong>der</strong> Wohnung in Nürnberg<br />

alles in Ordnung?“<br />

„Mach’ Dir keine Sorgen, Mutti. Alles ist in Nürnberg in bester Ordnung.“<br />

„Gut, dann grüß’ Deinen neuen Freund schön!“<br />

„Werd’ ich machen.“<br />

„Tschüß, Heike!“<br />

„Tschüß, Mutti!“<br />

Mutter und Tochter legten beide gleichzeitig den Hörer auf. Beide taten mehr als 400 km<br />

von einan<strong>der</strong> entfernt einen tiefen Atemzug. Heike aus Vorfreude, denn sie wollte sich heute<br />

Abend noch mit Wolfgang treffen; Elke aus Sorge über das, was sie nicht wusste.<br />

„Na, was hat Heike denn gesprochen?“ wollte Heinz wissen. Seine Frau war nicht <strong>der</strong><br />

Typ, <strong>der</strong> viel von Geheimnissen hielt.<br />

„Heike hat einen neuen Freund. Wolfgang Brenner heißt er.“<br />

„Soso!“<br />

„Nun werde nicht gleich wie<strong>der</strong> eifersüchtig, Heinz!“ Elke Markert wollte vorbauen und<br />

ihren Mann beruhigen. „Heike ist nicht mehr das kleine Mädchen, das Du beschützen musst.“<br />

„Ja, ja, lei<strong>der</strong>!“ Heinz Markert setzte sich seufzend in den großen Lehnstuhl, <strong>der</strong> im großen<br />

Zimmer des kleinen Häuschens stand, welches seine Schwiegereltern in Hannover bewohnten,<br />

wenn sie sich nicht gerade über 2000 km weiter südwestlich aufhielten.<br />

2<br />

In Nürnberg hatte es am späten Nachmittag ein wenig geregnet, aber die Straßen und<br />

Gehsteige <strong>der</strong> alten Stadt trockneten schon langsam wie<strong>der</strong>, als Heike die elterliche Wohnung<br />

verließ, um mit <strong>der</strong> U-Bahn in die Innenstadt zu fahren und sich mit Wolfgang im Café Pin-<br />

5


guin zu treffen, einem zentralen Ort, von dem aus man in wenigen Minuten jeden Punkt <strong>der</strong><br />

südlichen Altstadt von Nürnberg bequem zu Fuß erreichen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Sonne stand noch nicht allzu tief im Westen, als Heike zusammen mit vielen an<strong>der</strong>en<br />

Menschen von <strong>der</strong> Rolltreppe wie<strong>der</strong> an die Oberfläche gespült wurde. Sie sah auf die Uhr.<br />

Im Ehekarussell sprudelte das Wasser schäumend aus den Schalen und Schlünden. Einige<br />

Touristen standen vor dem Brunnen herum und betrachteten das Kunstwerk, das ein Eheleben<br />

nach Hans Sachs darstellt. Heike hatte keine Augen für dieses Kunstwerk, das von ebenso<br />

vielen Leuten als vulgär abgewertet wie von ebenso vielen als die Realität treffend charakterisiert<br />

wurde. Sie strebte den Tischen und Stühlen ihres Lieblingscafés zu, die außen aufgestellt<br />

waren. <strong>Die</strong> Uhr des Weißen Turmes schlug acht, als sie an einem freien Tisch Platz nahm, um<br />

auf Wolfgang zu warten. Kam er heute etwas pünktlicher als gestern, wo er sie fast eine halbe<br />

Stunde warten ließ?<br />

Acht nach acht bog ein junger Mann um die Ecke und schlen<strong>der</strong>te auf die Bistrotischchen<br />

zu, die zur Sommerzeit auf dem Platz vor dem Café Pinguin aufgestellt waren. Ein großer<br />

Sonnenschirm spendete fast allen Plätzen seinen Schatten. Doch jetzt am Abend warfen die<br />

Gebäude im Westen des Josephsplatzes, voran <strong>der</strong> Weiße Turm, ihre Schatten auf diesen Teil<br />

<strong>der</strong> Fußgängerzone.<br />

„Hallo!“ rief Wolfgang Brenner, als er die schlanke Gestalt Heikes erblickte. „Bin ich<br />

heute nicht pünktlich?“<br />

„Pünktlicher wolltest Du sagen, Wolfgang.“ Heike lachte ihren neuen Freund an.<br />

„Na ja, Du weißt doch ...“<br />

„Was sollte ich wissen?“ fragte Heike nach.<br />

„Nichts von Bedeutung“, wiegelte Wolfgang ab „Mein Wagen ist wie<strong>der</strong> einmal nicht sofort<br />

angesprungen.“<br />

„Dann kauf’ Dir doch einen neuen.“ Heike kannte Wolfgang zwar erst ein paar Tage, aber<br />

sie waren sich schon so vertraut geworden, dass es sich Heike leisten konnte, Wolfgang ein<br />

wenig auf die Schippe zu nehmen.<br />

„Wie soll ich armer Student wohl in ehrlicher Weise zu einem neuen Wagen kommen?“<br />

„Du wolltest sagen: ich armer, alter ewiger Student ...“<br />

Wolfgang antwortete Heike nicht, son<strong>der</strong>n zog Heike aus dem Stuhl, nahm sie in den Arm<br />

und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Sie ließ ihn gewähren, fuhr ihr doch wie<strong>der</strong> <strong>der</strong>selbe<br />

kalte Schauer den Rücken hinunter wie an jenem Samstagabend auf <strong>der</strong> Geburtstagsparty<br />

ihrer Freundin, bei <strong>der</strong> sie Wolfgang das erste Mal sah und zu stottern begann, als er sie ohne<br />

beson<strong>der</strong>e Absicht ganz unverbindlich ansprach.<br />

„Ich liebe Dich, Heike“, flüsterte er ihr in Ohr.<br />

„Ich Dich auch, Wolfgang“, flüsterte Heike zurück.<br />

Wolfgang setzte sie wie<strong>der</strong> behutsam auf den blauen Plastikstuhl, <strong>der</strong> an den einem Tisch<br />

gegenüber dem Eingang des Cafés stand und rückte einen zweiten herbei, auf den er sich setzte.<br />

Beide sahen sich in die Augen, wie es nur ein verliebtes, junges Paar machen kann, das<br />

sich noch nicht allzu lange kennt. Für Heike war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, für<br />

Wolfgang erst auf den zweiten, denn er hatte schon eine enttäuschte Beziehung hinter sich.<br />

„Was darf es sein?“ fragte die dunkelhäutige Bedienung mit dem Henna am rechten Oberarm.<br />

Wolfgang blickte kurz auf den Tisch und sah, dass Heike sich einen Cappuccino bestellt<br />

hatte.<br />

„Bitte auch einen Cappuccino!“<br />

Als die dunkelhäutige Schöne die Bestellung aufgenommen hatte, wandte er sich Heike<br />

zu, die wohl gemerkt hatte, wie Wolfgang die Bedienung musterte.<br />

„Was machen wir an einem so schönen und warmen Sommerabend, Heike?“<br />

6


„Zuerst trinken wir in aller Ruhe unseren Cappuccino. Dann könnten wir auf die Burg<br />

hinaufgehen. Ich möchte mit Dir reden, denn ich habe Dir etwas zu sagen.“ Heikes Vorschlag<br />

war weniger interessant als die Andeutung, die sie machte.<br />

„Was willst Du mir sagen?“ Wolfgangs Ungeduld sprudelte deutlich hörbar aus ihm heraus.<br />

„Nur Geduld, junger Mann!“ Heike ließ ihn zappeln. Der Abend war noch lange und die<br />

Sonne noch nicht untergegangen.<br />

„Mach’s nicht so spannend, Heike! Erzähl’! Was ist passiert?“ Wolfgang platzte fast vor<br />

Neugier und Ungeduld, aber seine neue Freundin ließ sich nicht von ihm drängen.<br />

„Gut Ding will Weile haben“, zitierte Heike ein altes Sprichwort. „Du wirst es schon noch<br />

erfahren.“<br />

Elke und Hans hatten ihre Sachen gepackt. Sie waren wild entschlossen, das Häuschen in<br />

Hannover seinem Schicksal zu überlassen und nach Hause, nach Nürnberg zurückzufahren,<br />

denn sie wollten noch zwei Wochen alleine Ferien machen, bevor Mitte September für Elke<br />

in <strong>der</strong> Schule wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ernst des Lebens auf sie wartete. Heinz konnte es sich leisten, länger<br />

Ferien zu machen. Er hatte seine Handelsvertretung schon vor Jahren so aufgebaut, dass er<br />

verdiente, wenn er auch nur seine Leute arbeiten ließ, aber Elke wollte wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule<br />

erscheinen. Für sie war <strong>der</strong> Lehrerberuf eine Berufung geworden.<br />

„Ich bring’ schon die Koffer in den Wagen“, rief Heinz seiner Frau zu.<br />

„Mach’ das mal, Liebling!“ Elke war in den kleinen Garten gegangen, um noch mal nach<br />

dem Rechten zu sehen, bevor sie fuhren.<br />

Plötzlich klingelte es an <strong>der</strong> Tür. An dem kleinen Türchen zum Vorgarten stand ein Bote,<br />

<strong>der</strong> ein kleines Kuvert in <strong>der</strong> rechten Hand hielt. Heinz, <strong>der</strong> ein gelbes Auto schon gesehen<br />

hatte, nahm das Telegramm in Empfang und quittierte diesen. Voller Neugier riss er schon auf<br />

dem kurzen Weg ins Haus das Kuvert auf und las:<br />

Haben Häuschen in Portugal gekauft. Kommen am 10.08. 19:20 mit Flug LH0452 in Hannover.<br />

an. Gruß Oma und Opa.<br />

„Elke!“ rief Heinz, nachdem er das Telegramm gelesen hatte. „Oma und Opa kommen am<br />

zehnten an.“<br />

„Am zehnten was ?“ rief Elke zurück.<br />

„August.“ Heinz hielt kurz inne und sah auf seine Armbanduhr. „Verdammt, das ist ja<br />

heute Abend schon!“<br />

„Wann kommen Oma und Opa zurück?“ Elke keuchte. Sie war vom hinteren Teil des<br />

Hauses zu Heinz in den Vorgarten gelaufen.<br />

„Heute Abend kurz nach sieben. Und zwar direkt hierher.“<br />

„Das heißt ...“ Elke schnaufte immer noch etwas schneller als sonst.<br />

„ ... wir können frühestens heute Abend heimfahren, nachdem wir sie vom Flughafen abgeholt<br />

haben“, warf Heinz ein.<br />

„Wie<strong>der</strong> ein Tag futsch!“ Elke war ärgerlich. Ihre Eltern machten es ihr mit ihren spontanen<br />

Entschlüssen nicht gerade leicht, ihr Eheleben und damit auch einen ruhigen Urlaub zu<br />

zweit zu planen. Alles schien über ihr zusammen zu stürzen.<br />

„Mich bringen meine Eltern langsam zur Verzweiflung“; fuhr sie fort, nachdem sie sich<br />

auf die Bank gesetzt hatte, die neben dem Eingang im Vorgarten stand. „Wir können überhaupt<br />

nichts mehr planen. Mir läuft die Zeit in den Ferien weg.“<br />

„Nur ruhig Blut, dann wird alles gut, Elke.“ Heinz versuchte seine Frau zu beruhigen.<br />

„Ist doch wahr!“ stieß Elke trotzig hervor.<br />

„Wir holen Oma und Opa heute Abend vom Flughafen ab, fahren sie hierher und hinterher<br />

heim nach Nürnberg“<br />

7


„Dein Wort in Gottes Gehörgang, Heinz.“ Ein langer Seufzer entfuhr Elke.<br />

Hans nahm seine Frau in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, die etwas feucht<br />

war, denn es war ein warmer Sommertag, an dem kein Wölkchen den blauen Himmel trübte.<br />

Heinz ließ die Koffer im Wagen, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Garage parkte, die zu dem kleinen Häuschen<br />

gehörte, welches etwas außerhalb des Zentrums in einem Vorort von Hannover stand, <strong>der</strong> sich<br />

erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte und fast ausschließlich mit kleinen<br />

Einfamilienhäuschen bebaut war. Elkes Großeltern hatten es nach dem Zusammenbruch errichtet<br />

und Elkes Eltern übernahmen es, als die Großeltern kurz hintereinan<strong>der</strong> starben. <strong>Die</strong>s<br />

war noch nicht allzu lange her, aber es genügen oft nur wenige Jahre, bis das, was einst lieben<br />

Menschen gehörte, in Vergessenheit gerät.<br />

Heinz und Elke Markert fuhren erst gegen sechs Uhr abends zum Flughafen und warteten<br />

auf die Eltern von Elke. Beide waren ungeheuer gespannt auf das, was nun kommen sollte,<br />

denn die nur angedeuteten Hinweise von Konrad und Heidelinde Berger stifteten mehr Verwirrung<br />

als Klarheit. Was hatten die unternehmungslustigen älteren Herrschaften vor? Wie<br />

wollten sie das neue Haus finanzieren? Heinz und Elke gingen tausend Fragen durch den<br />

Kopf. Sie merkten es nicht, als <strong>der</strong> Monitor bei <strong>der</strong> Flugankunft die Landung von Flug<br />

LH0452 ankündigte. In Zeiten immer mehr fallen<strong>der</strong> Grenzen in Europa dauerte es auch nicht<br />

lange bis Familie Berger lachend und von <strong>der</strong> Sonne Spaniens gebräunt am Ende des langen<br />

Ganges erschienen, <strong>der</strong> vom Terminal zum Ausgang führte.<br />

„Hallo ihr beiden!“ rief Heidelinde, als sie Heinz und Elke am Ausgang sah.<br />

„Hallo ihr Immobilienhaie!“ rief Heinz seinen Schwiegereltern im Spaß zu. Das letzte<br />

Wort ließ einen Herrn mittleren Alters in dunklem Anzug zusammenzucken, <strong>der</strong> mit nur<br />

leichtem Gepäck schnellen Schrittes ebenfalls dem Ausgang zustrebte.<br />

<strong>Die</strong> Begrüßung von Elkes Eltern war überaus herzlich, wenn auch Heidelinde sofort bemerkte,<br />

dass Elke heute irgendwie zurückhaltend war, ein Verhalten, das sie an ihrer Tochter<br />

nur sehr selten beobachten konnte, denn Elke war ein offener Mensch, <strong>der</strong> seine Gefühle nicht<br />

unterdrückte und immer sagte, was er dachte und fühlte.<br />

Elke wollte schon ihre Mutter über alles ausfragen, aber diese winkte ab „Fahrt uns erst<br />

einmal nach Hause!“ bat sie. „Dann wird sich alles für Euch aufklären.“<br />

<strong>Die</strong>s erhöhte die Neugier und Ungeduld bei Elke und Heinz umso mehr.<br />

Es dauerte noch eine Weile, bis die beiden Koffer von Heidelinde und Konrad Berger bei<br />

<strong>der</strong> Gepäckausgabe auf dem Band dort ankamen, wo Heinz schon in voller Ungeduld stand.<br />

Hektisch packte er sie auf den Kofferkuli und schob die Koffer eilig auf den Parkplatz, wo<br />

Elke und ihre Eltern schon mit mindestens ebenso großer Ungeduld warteten.<br />

Eine knappe halbe Stunde später, die Sonne stand schon tief im Westen, hielt Heinz vor<br />

dem Garagentor, hinter dem <strong>der</strong> Wagen seiner Schwiegereltern stand.<br />

„Endlich wie<strong>der</strong> daheim!“ seufzte Heidelinde.<br />

„Es wird bald nicht mehr unser Zuhause sein“, orakelte Konrad Berger. Ein freudiger<br />

Schein flackerte über sein Gesicht.<br />

„Was soll das heißen?“ Elke war entsetzt.<br />

„Lasst uns erst ins Wohnzimmer gehen, dann werden wir Euch alles erzählen.“ Auch auf<br />

Heidelindes Gesicht flackerte ein heiteres Erleuchten auf.<br />

Elke zuckte mit den Achseln. „Ich füge mich meinem Schicksal“; sagte sie resignierend.<br />

„Kopf hoch, Elke!“ Ihr Mann versuchte sie zu trösten. „Bald werden wir alles erfahren.“<br />

„Hoffentlich!“<br />

Das Wohnzimmer war das größte Zimmer des Hauses und lag im westlichen Teil des<br />

kleinen Anwesens, das Heidelinde und Konrad Berger in Hannover bewohnten. Es war gemütlich<br />

eingerichtet. Eine L-förmige Polstergarnitur und ein dazu passen<strong>der</strong> Tisch bildeten<br />

den Mittelpunkt des Raumes, dessen vier Fenster während <strong>der</strong> Abwesenheit seiner Bewohner<br />

geschlossen waren. An diesem Sommerabend war es noch angenehm warm. Im Zimmer<br />

8


herrschte die aufgestaute Schwüle stehen<strong>der</strong> Luft <strong>der</strong> letzten vier Stunden, in denen das Zimmer<br />

nicht gelüftet wurde.<br />

„Habt Ihr denn nicht gelüftet?“, rief Heidelinde, als sie das Zimmer betrat. „Hier mieft es<br />

ja, als wäre letztes Jahrhun<strong>der</strong>t zuletzt gelüftet worden.<br />

„Doch, doch! Wir haben jeden Tag mindestens zwei Stunden die Fenster aufgemacht.“<br />

Elke war sich bewusst, dass dies bei <strong>der</strong> herrschenden Temperatur etwas zu wenig war.<br />

„Viel zu kurz, Elke. Das ist hier die Westseite, die bekommt am längsten die Sonne ab“,<br />

sagte Heidelinde und öffnete alle Fenster des Wohnzimmers.<br />

Ein leichter Luftzug vertrieb die abgestandene Luft nach wenigen Minuten, die man nutzte,<br />

um die von Heinz und Elke auf dem Tisch in <strong>der</strong> Küche gelegte Post grob zu sichten.<br />

Elke und Heinz standen etwas betreten dabei. Sie sagten kein Wort und wagten es auch<br />

nicht, weitere Fragen zu stellen. Sie wollten alles auf sich zukommen lassen. Endlich, nach<br />

ewig währenden Minuten bat Konrad sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.<br />

„Ich seh’s Euch an den Nasenspitzen an. Ihr platzt vor Neugier“, sagte er ruhig und setzte<br />

sich ebenfalls auf die Couch.<br />

Elke wollte etwas einwenden, hatte schon Luft geholt, unterließ es aber zu fragen.<br />

„Wolltest Du etwas sagen, Elke?“<br />

„Nein, nein, Papa!“ stieß die Angesprochene hervor. Da betrat Heidelinde das Wohnzimmer.<br />

Ohne sich zu setzen begann sie:<br />

„Um es kurz zu machen, meine Lieben: Wir haben uns ein Haus in Portugal gekauft, weil<br />

<strong>der</strong> Preis günstiger war als in Spanien. Außerdem ist es an <strong>der</strong> Atlantikküste nicht so heiß wie<br />

in Südspanien. Gleichzeitig ...“<br />

„Und wie habt Ihr das finanziert?“ Elke musste diese Frage loswerden.<br />

„Nur Geduld, Elke!“ beschwichtigte Konrad seine Tochter. „Heidelinde wird es Euch<br />

gleich erklären.“<br />

„Gleichzeitig“, fuhr Heidelinde fort, „haben wir dieses Haus hier an einen Portugiesen<br />

verkauft, <strong>der</strong> zusammen mit seinem Sohn ein Lokal hier in Hannover betreiben will.“<br />

Heinz und Elke schauten sich fassungslos an und sagten kein Wort.<br />

„Wir haben also unser neues Zuhause in Cascais...“<br />

„In Cascais... ?“ Elke verstand die Welt nicht mehr. So viel Unternehmungsgeist hatte sie<br />

ihren Eltern nicht zugetraut.<br />

„... in Cascais bei Lissabon durch den Verkauf dieses Hauses finanziert und sogar noch<br />

einen kleinen Überschuss erzielt, den wir für die Renovierung des Hauses in Portugal einsetzen<br />

werden.“<br />

„Und wann wollt Ihr hier ausziehen?“ Elke konnte es noch immer nicht fassen, dass <strong>der</strong><br />

Entschluss ihrer Eltern, dem kühlen Norden den Rücken zu kehren, endgültig feststand.<br />

„Der neue Besitzer soll am 1. Oktober hier einziehen“, erklärte Konrad ruhig. „Wir haben<br />

also...“<br />

„... wenig Zeit und wollen das Haus so schnell wie möglich räumen“, unterbrach ihn Heidelinde.<br />

„Am besten wird sein, den ganzen alten Plun<strong>der</strong>...“<br />

„Alter Plun<strong>der</strong>?“ schrie Elke, die kurz vorm Explodieren schien. „Weißt Du denn Mutter,<br />

was da alles noch von Großmutter auf dem Dachboden und im Keller steht?“<br />

„Das kommt alles ungesehen in den Container“, sagte Elkes Mutter kurz entschlossen.<br />

„Nicht ungesehen!“ schrie Elke, die aufgesprungen war und sich trotzig vor ihre Mutter<br />

stellte, die beiden Arme in die Seiten gestützt. „Da gibt’s bestimmt noch Interessantes wie<strong>der</strong>zuentdecken.<br />

Ich kann es nicht zulassen, wie das Andenken von Großmutter einfach ungesehen<br />

in den Müll wan<strong>der</strong>t.“<br />

„Da ist doch nichts von Bedeutung da oben“, versuchte Heidelinde abzuwiegeln. „Mutter<br />

hat uns doch so gut wie nichts vermacht. Das weiß ich.“<br />

„Weißt Du das genau?“<br />

„Aber Elke, Du kannst Dich doch erinnern...“<br />

9


„Ich kann mich an nichts erinnern“, trotzte Elke. „Ich kann als Geschichtslehrerin...“<br />

„Jetzt lass’ doch diese Platte“<br />

„Mutter! Du kannst doch nicht Hals über Kopf...“<br />

„Was heißt da Hals über Kopf? Wir haben doch noch ein bisschen Zeit.“<br />

„Du meinst, Ihr habt Zeit. Ich habe keine Zeit, ich will in den Urlaub fahren und Ihr..“<br />

„Jetzt ist aber Schluss mit <strong>der</strong> Streiterei“, ging Elkes Vater dazwischen. „Es sind doch<br />

noch fast vier Wochen Ferien. Fahrt doch erst Ende August, dann bleibt noch Zeit in aller Ruhe...“<br />

„Ja, in aller Ruhe...“ Elkes Stimme schrillte nicht mehr so stark.<br />

„Elke, ...“,<br />

versuchte Heinz seine Frau zu beruhigen.<br />

„Lass’ mich!“ Elke war noch immer wütend.<br />

„Also, wenn Dir so viel daran liegt...“ Heidelinde lenkte ein. „... dann stöbert erst einmal<br />

auf dem Dachboden. Aber nicht jetzt!“<br />

„Nein, wir fahren jetzt nach Nürnberg, kommen am Wochenende zurück und durchforsten<br />

den Fundus da oben“; schlug Heinz vor.<br />

Elke atmete auf. Der Vorschlag ihres Mannes schien ihr vernünftig. Sie wollte jetzt nicht<br />

weiter mit ihrer Mutter streiten und sie wusste auch, dass sie ihre Mutter in ihrer Meinung<br />

über altes Gerümpel nicht umstimmen konnte. <strong>Die</strong>se hatte mit dem Leben hier abgeschlossen<br />

und wollte weg. Das hatte sie schon begriffen. Und eine Erklärung für das plötzliche Wegziehen<br />

schrieb sie dem immer stärker werdenden Rheuma ihres Vaters zu, über das dieser in <strong>der</strong><br />

letzten Zeit mehr und mehr klagte.<br />

„Also, ich finde den Vorschlag von Heinz gut.“ Konrad nickte seinem Schwiegersohn<br />

wohlwollend zu.<br />

„Wenn Dir so sehr an den Sachen Deiner Großmutter liegt, Elke, dann sollst Du selbstverständlich...“<br />

Heidelinde unterbrach sich selbst.<br />

Elke war auf ihre Mutter zugegangen. Ihre Umarmung war gleichzeitig eine Entschuldigung<br />

für ihren temperamentvollen Auftritt, <strong>der</strong> schon viele Züge eines Zornausbruches zeigte.<br />

„Dann ist ja alles wie<strong>der</strong> gut“, stellte Konrad zufrieden fest. „Ihr trinkt jetzt noch ein<br />

Tässchen Kaffee und dann könnt Ihr fahren. Aber es wird noch spät werden...“<br />

„... bis wir heimkommen. Aber wir müssen zunächst zurück nach Nürnberg“ Elkes Stimme<br />

hatte wie<strong>der</strong> ihre normale, etwas dunkle Tonart angenommen.<br />

Der Familienfrieden war wie<strong>der</strong> hergestellt und langsam wurde es dunkel, als Heinz und<br />

Elke sich verabschiedeten. Sie hatten noch gut fünf Stunden Fahrt vor sich und wer wusste<br />

schon, was in dieser Nacht noch alles auf <strong>der</strong> Autobahn los sein konnte.<br />

„Gute Fahrt! Und ruft morgen früh an, ob Ihr gut angekommen seid!“ Heidelinde und<br />

Konrad winkten, als <strong>der</strong> Wagen von Elke und Hans langsam auf die schmale Straße einbog,<br />

die an dem kleinen Häuschen vorbeiführte.<br />

„Adieu, Elke!“ Heidelinde seufzte, nachdem das Auto aus ihren Augen verschwunden<br />

war. „Du hast ja Recht. Wer weiß schon, was da oben noch alles von Mutti und Vati liegt?“<br />

Konrad nahm seine Frau in den Arm. „Vielleicht ist doch etwas Wertvolles da oben, eine<br />

alte Briefmarkensammlung etwa ...“<br />

„Du weißt doch, mein Vater war kein Markensammler“, erinnerte sich Heidelinde.<br />

„Na dann vielleicht irgend etwas an<strong>der</strong>es.“<br />

„Du musst doch immer das letzte Wort haben, Conny!“<br />

„Conny? Wann hast Du mich das letzte Mal ‚Conny’ genannt, Heidi?“ <strong>Die</strong> Frage von Elkes<br />

Vater war durchaus berechtigt.<br />

„Ja, ja, das ist schon eine Weile her“, seufzte Heidelinde. „Aber Du hast mich auch schon<br />

einige Zeit nicht mehr Heidi genannt.“<br />

„Jetzt hast aber Du das letzte Wort.“ Konrad sah Heidelinde liebevoll an. „Und jetzt machen<br />

wir noch eine gute Flasche Rotwein auf ...“<br />

10


Im Haus <strong>der</strong> Bergers in Hannover ging das Licht erst spät nach Mitternacht aus, zu einem<br />

Zeitpunkt, als Elke mit Heinz Nürnberg noch nicht ganz erreicht hatten.<br />

„Endlich daheim!“ Heinz stellte den Motor ab und stieg aus. Elke schreckte hoch, war sie<br />

doch noch eingeschlafen, was sie ein wenig ärgerte. Sie musste sich erst orientieren. Ja, sie<br />

waren wirklich zu Hause angekommen. Sie wand sich mehr aus dem Wagen als sie ausstieg.<br />

Eine bleierne Müdigkeit machte sich in ihren Beinen breit.<br />

„Ich kann’s noch kaum fassen. Endlich wie<strong>der</strong> in Nürnberg“, sagte Elke leise und half anschließend<br />

Heinz beim Ausladen ihrer Koffer.<br />

<strong>Die</strong> Uhr <strong>der</strong> nahen Kirche schlug schon halb zwei, als Elke und Heinz müde in ihr Bett<br />

fielen. Ein tiefer, traumloser Schlaf bemächtigte sich ihrer schnell.<br />

3<br />

Kurz nach zehn Uhr klingelte das Telefon in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le des kleinen Häuschens in Hannover.<br />

Konrad nahm den Hörer des grünen Telefons ab, das schon einige Jahre auf dem schmalen<br />

Regal stand.<br />

„Berger!“<br />

„Hallo, Vati!“<br />

„Hallo Elke! Wie ich höre, seid Ihr gut angekommen.“ Konrad Bergers Stimme klang ruhig<br />

und gelassen.<br />

„Na ja, einigermaßen! Es war schon kurz vor eins.“ Elkes Stimme dagegen hatte noch einen<br />

gewissen verschlafenen Klang. „Es war nicht allzu viel los auf <strong>der</strong> Autobahn. Aber ich<br />

habe fast die Hälfte <strong>der</strong> Strecke geschlafen.“<br />

„Bist Du nicht gefahren?“ fragte Elkes Vater zurück.<br />

„Nein, ich war noch viel zu aufgewühlt von gestern Abend.“<br />

„Kommt Ihr am Wochenende?“<br />

„Darauf kannst Du ...“<br />

„Nein, das will ich nicht nehmen“, unterbrach Konrad seine Tochter. „Deine Mutter hat<br />

sich auch wie<strong>der</strong> beruhigt. Sie hat sogar schon die Bodentreppe sauber gemacht. Aber oben<br />

war sie noch nicht.“<br />

„Ja, wir kommen am Samstag“, bestätigte Elke. „Mutter soll ja nicht schon anfangen, irgendetwas<br />

wegzuwerfen.“<br />

„Nein, nein“, beruhigte Elkes Vater. „Deine Mutter hat genügend an<strong>der</strong>e Dinge zu erledigen.<br />

Sie will heute noch zum Notar gehen.“<br />

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Elke Markert wollte sich umdrehen, da klingelte es an <strong>der</strong><br />

Wohnungstür.<br />

„Also bis Samstag“, sagte sie schnell. „Es hat geklingelt. Ich muss Schluss machen, Vati!“<br />

„Schon gut, Elke. Bis Samstag!“ hörte sie noch, dann legte sie den Hörer auf. Es klingelte<br />

noch mal<br />

„Ja, ja! Schon gut! Ich komme!“<br />

Vor <strong>der</strong> Wohnungstüre stand Heike, die durch ihre plötzliche Anwesenheit ihre Mutter<br />

völlig überraschte.<br />

„Woher weißt Du, dass ...“<br />

„Ein kleines Männchen hat’s mir geflüstert“, sagte Heike lachend und trat in die Wohnung<br />

ihrer Eltern. Schon vor mehr als zwei Jahren war sie von zu Hause ausgezogen, um als Studentin<br />

ihr eigenes Leben zu führen, hatte aber ihr Jugendzimmer, das jetzt ihr Vater als Arbeitszimmer<br />

benutzte, bei ihren Eltern zurück gelassen.<br />

11


„Hat Dich Dein Großvater angerufen?“ fragte Elke die junge, schlanke Dame, die jetzt in<br />

Richtung Essdiele ging.<br />

„Heute früh hat er mich angerufen und mir alles erzählt. Du brauchst mir alles nicht noch<br />

einmal erzählen, Mutti.“<br />

„Das erspart mir einige Zeit und Arbeit“, gab Heikes Mutter zurück und geleitete ihre<br />

Tochter in die Essdiele, die den zentralen Raum <strong>der</strong> Wohnung bildete, welche von <strong>der</strong> Familie<br />

Markert schon seit fast zwanzig Jahren bewohnt wurde.<br />

„Du wirst ja von Deinem Großvater immer gut informiert, Heike.“<br />

„Ich habe eben einen guten Draht zu meinem Großvater, aber auch zu Oma.“ Heike<br />

schwellte etwas stolz ihre Brust, die in den letzten Jahren immer ansehnlicher geworden war,<br />

wie jedenfalls ihr Vater meinte. Ihrer Mutter war dies so direkt nicht aufgefallen.<br />

„Dann weißt Du ja auch, dass wir ...“, begann Elke.<br />

„... am Samstag nach Hannover fahren“, fiel ihr Heike ins Wort. „Und ich fahre mit“, fügte<br />

sie entschlossen dazu.<br />

„Was interessiert Dich das Haus Deiner Großeltern?“ fragte Elke erstaunt.<br />

„Na ja, vielleicht findet sich irgendwas Wertvolles.“ Heike schmunzelte.<br />

„Ah! Nachtigall, ich hör’ dich trapsen!“<br />

„Man weiß ja nie. Vielleicht ...“ Heike sprach nicht weiter. Ihr Vater war in <strong>der</strong> Essdiele<br />

erschienen und zeigte sich mindestens genauso erstaunt über den plötzlichen Besuch seiner<br />

Tochter wie seine Frau vor ein paar Momenten.<br />

„Hallo Heike! Wie geht’s Dir?“<br />

„Gut, wie Du siehst, Papa!“ Heike umarmte ihren Vater. <strong>Die</strong> Zeiten <strong>der</strong> ewigen Diskussionen<br />

zwischen Vater und Tochter waren schon vor Jahren beendet worden. Seither war das<br />

Verhältnis zwischen Heinz und seiner Tochter Heike ein durch und durch herzliches.<br />

„Ich habe alles gehört. Du fährst am Samstag mit uns?“ Heinz wollte sicher gehen, ob er<br />

sich vielleicht doch verhört hatte. „Ich erwarte mir von Euerer Stöberaktion in Hannover<br />

überhaupt nichts“, fuhr er fort. „<strong>Die</strong> Großeltern Deiner Mutter waren arme Leute, die sich das<br />

Häuschen nach dem Krieg buchstäblich vom Munde abgespart haben. Was soll da schon Großes<br />

und Wertvolles auf dem Dachboden o<strong>der</strong> im Keller herumliegen?“<br />

Heike wollte ihrem Vater etwas erwi<strong>der</strong>n, zog es jedoch vor zu schweigen.<br />

„Hör’ doch mit diesem Thema auf!“ for<strong>der</strong>te Elke ihren Mann auf. „Ich möchte lieber<br />

wissen, wann wir in den wohlverdienten Urlaub fahren können. Unser Aufenthalt in Mutters<br />

Häuschen war doch wohl kaum Urlaub. O<strong>der</strong>?“<br />

„Wie man’s nimmt!“ Heinz hatte sich zu seinen Lieben gesetzt und wartete ab, was <strong>der</strong><br />

Rest des Vormittags wohl noch für Überraschungen bringen würde. Doch außer Heike brachte<br />

er für Elke und Heinz keine weiteren, plötzlichen Neuigkeiten. Und <strong>der</strong> Rest des Tages verlief<br />

ausgesprochen ruhig.<br />

Noch war nicht klar, ob und wann Elke und Heinz in ihr Ferienquartier fahren konnten,<br />

das sie schon seit über zehn Jahren jährlich ansteuerten. Alles war noch in <strong>der</strong> Schwebe und<br />

keiner von ihnen wusste, was noch auf sie zukam ...<br />

„Wann wollen Elke, Heike und Heinz kommen?“ Heidelinde war sich nicht mehr <strong>der</strong> Zeit<br />

sicher, wann ihre „Kin<strong>der</strong>“, wie sie Elkes Familie immer nannte, sie besuchen wollten.<br />

„So gegen elf“, tönte es vom hintersten Zimmer des kleinen Häuschens her, das früher<br />

einmal Elkes Zimmer war, denn sie war das einzige Kind von Heidelinde und Konrad Berger.<br />

Konrad war an seinem Schreibtisch beschäftigt, <strong>der</strong> vor dem Fenster stand, von dem man<br />

aus nach Süden blicken konnte. Von <strong>der</strong> angrenzenden Küche her drang ein immer intensiver<br />

werden<strong>der</strong> Bratenduft durch die offene Türe zu Konrad herein, dem es dabei immer schwerer<br />

viel, seine Büroarbeiten zu verrichten, die seit ihren Spanien- und darauffolgenden Portugalaufenthalt<br />

angefallen war. Als früherer, freier Handelsvertreter arbeitete er immer noch den<br />

einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Auftrag ab, aber er hatte sich so gut wie vollständig aus dem Geschäft zu-<br />

12


ückgezogen, überließ die meiste Arbeit jetzt aber den Jüngeren. Auch Heinz, <strong>der</strong> den südlichen<br />

Bereich Deutschlands als freier Handelsvertreter bereiste, schob er hin und wie<strong>der</strong> Aufträge<br />

zu, aber die meiste Zeit des Tages nahm ihn die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen in<br />

Anspruch. Er wollte erst seine Erfahrungen zu Papier bringen, bevor er sich die schwarzen<br />

Essensmarken holen musste, wie er immer zu sagen pflegte. Sämtliche handgeschriebenen<br />

Manuskriptseiten hatte er, bis auf diejenigen <strong>der</strong> letzten vier Wochen, kopiert und sie fein<br />

säuberlich geglie<strong>der</strong>t in einer Unzahl von dicken Büroordnern verstaut. Alles Geschriebene<br />

war bis auf dreißig, vierzig Seiten doppelt vorhanden. <strong>Die</strong> Kopien wollte er zur Sicherheit in<br />

Deutschland bei einem guten Freund belassen, <strong>der</strong> sie nach seinem Ableben dem Deutschen<br />

Tagebucharchiv vermachen sollte, damit sie gesichert blieben. <strong>Die</strong> Originale wollte er mit<br />

nach Portugal nehmen, um sie nach und nach elektronisch zu speichern. Alles war schon bis<br />

ins letzte Detail geplant und vereinbart. Konrad wollte nichts dem Zufall überlassen, denn er<br />

wusste, wie bitter es ist, von seinen Eltern und Großeltern nichts außer ihren nackten Lebensdaten<br />

zu besitzen.<br />

„Wann hast Du gesagt kommen sie?“ Konrad zuckte aus seinen Gedanken hoch.<br />

„Gegen elf!“ rief er noch mal in Richtung <strong>der</strong> Küche.<br />

„Da ist ja noch etwas Zeit“, tönte es aus <strong>der</strong> Küche zurück.<br />

„Wo Du recht hast, hast Du recht“, rief er und schob einen Ordner ins Regal, auf dessen<br />

Rücken „Lebenserinnerungen des Konrad Berger“ stand.<br />

Kurz vor elf hielt ein Wagen vor Konrads Garage. Das konnte nur Heinz mit seiner Familie<br />

sein, sonst wagte es keiner vor <strong>der</strong> Garage zu parken, nicht einmal die Post, wenn sie hin<br />

und wie<strong>der</strong> ein Päckchen o<strong>der</strong> ein kleines Paket bei Bergers ablieferte. Konrad, <strong>der</strong> den Wagen<br />

von seinem Schreibtisch aus durch das Fenster sehend beobachtet hatte, sprang auf und<br />

eilte zur Haustüre, um seine Gäste zu begrüßen.<br />

„Habt Ihr eine gute Fahrt gehabt?“ rief er Heinz zu, <strong>der</strong> gerade aus seinem Wagen ausgestiegen<br />

war, als sein Schwiegervater die Garagenzufahrt erreichte.<br />

„Halbwegs, halbwegs!“ gab Heinz zurück. Inzwischen waren auch Elke und Heike ausgestiegen<br />

und streckten sich. Eine über fünfstündige Fahrt erzwang die Dehnung <strong>der</strong> auf ihr gestauchten<br />

Glie<strong>der</strong>.<br />

„Schön, dass Ihr da seid! Grüß Euch alle miteinan<strong>der</strong>!“ Heidelinde war auch zur Haustüre<br />

geeilt und hatte in <strong>der</strong> Eile ganz vergessen, ihre Suppenkelle in <strong>der</strong> Küche zurückzulassen.<br />

„Leute, wir müssen heute beson<strong>der</strong>s artig sein, sonst bekommen wir eins mit <strong>der</strong> Küchenkelle“,<br />

neckte Heike, als sie ihre Großmutter in <strong>der</strong> Schürze und dem Küchengerät sah, das<br />

man nicht nur zum Schöpfen von Soßen und Suppen benutzen konnte.<br />

„Frechdachs!“ konterte Heidelinde, die erst jetzt bemerkte, dass sie ihre Lieben etwas unkonventionell<br />

begrüßt hatte. „Kommt rein! Das Essen ist bald fertig“, for<strong>der</strong>te sie die Neuankömmlinge<br />

auf und verkündete gleichzeitig den Speiseplan: „Es gibt Hühnerbrühe mit Nudeln<br />

und einen guten Schweinebraten mit Klößen. Das mögt Ihr doch!?“ Es rührte sich kein<br />

Protest von den Anwesenden.<br />

Keine Viertelstunde später saßen alle in <strong>der</strong> geräumigen Küche, die gleichzeitig Essdiele<br />

war und löffelten stumm gemeinsam ihre Suppe.<br />

„Mögt Ihr noch einen Teller?“ fragte Heidelinde durch die Runde. Ein einstimmiges Nein<br />

war die Antwort. Man wollte sich ja noch den würzig duftenden Schweinebraten schmecken<br />

lassen, schließlich hatte man sich noch eine gewisse körperliche Anstrengung vorgenommen.<br />

„Mögt Ihr noch eine Tasse Kaffee?“ fragte Heidelinde kurz vor halb ein Uhr in die Runde.<br />

Elke und Heike schüttelten heftig ihre Köpfe. Sie hatten an<strong>der</strong>es im Sinn. <strong>Die</strong> Zeit war gekommen,<br />

um auf Entdeckungen zu gehen.<br />

„Du Heinz?“<br />

„Ja, schenke mir ruhig eine Tasse ein. Ich habe jede Zeit <strong>der</strong> Welt.“ Heinz hatte jede Zeit<br />

<strong>der</strong> Welt, denn er wollte sich ja nicht an <strong>der</strong> Durchstöberung des Dachbodens beteiligen.<br />

„Willst Du auch eine Tasse Kaffee, Konrad?“ Ihr Mann nickte stumm.<br />

13


„Also gut, meine Herren! Dann werde ich euch einen guten, starken Kaffee brauen, während<br />

sich die Damen auf ihren Erkundungsgang vorbereiten.“<br />

„Ha, ha“, schäkerte Heike. “Gleich werde ich meinen Taucheranzug anlegen und in die<br />

Fluten springen.“<br />

„Sei nicht kindisch, Heike!“ Elke war jetzt nicht in <strong>der</strong> Stimmung zu scherzen. Es juckte<br />

ihr vielmehr in den Fingern, endlich auf den Dachboden zu gehen und zu suchen. Aber was<br />

suchte sie eigentlich?<br />

„Weißt Du, was da oben sein könnte?“ Heinz wandte sich seinem Schwiegervater zu, <strong>der</strong><br />

mit ausgebreiteten Armen dasaß.<br />

„Ich war bestimmt ...“ Konrad überlegte kurz. „ ... zehn bis fünfzehn Jahre nicht mehr auf<br />

dem Dachboden. Für mich hört das Haus vor <strong>der</strong> Bodenklapptüre auf.“<br />

„Interessiert Dich denn nicht, was das Haus alles beherbergt?“ Heinz war über die Auffassung<br />

seines Schwiegervaters ein wenig befremdet und erstaunt.<br />

„Ich habe in dieses Haus nur eingeheiratet, Heinz.“ Konrad Berger lachte kurz.<br />

Elke und ihre Tochter standen auf und stellten das Essensgeschirr beiseite.<br />

„Gut, dass wir unsere alten Jeans angezogen haben, Heike“, sagte sie zu ihrer Tochter gewandt.<br />

„Trotzdem binden wir uns noch ein paar alte Schürzen um. Komm’, Heike! Auf<br />

geht’s!“<br />

Nach diesen Worten kramte Elke aus einer mitgebrachten Plastiktüte zwei alte Schürzen<br />

hervor und gab Heike eine.<br />

„Gut, dann werde ich Euch die Bodentüre öffnen.“ Konrad sah, dass seine Tochter und<br />

seine Enkelin nicht mehr lange mit <strong>der</strong> Suche warten wollten. „Der Kaffee läuft uns ja nicht<br />

davon, Heinz!“<br />

„Wahrlich nicht“, gab Heinz zurück.<br />

Konrad ging hinaus zum hinteren Teil des Ganges, <strong>der</strong> das Häuschen in Ost-West-<br />

Richtung mittig durchzog. Am Ende des Ganges zur Garage hin konnte man in <strong>der</strong> Decke die<br />

aufklappbare Bodentreppe sehen. Er wollte den Riegel wegschieben, doch dieser bewegte sich<br />

keinen Millimeter.<br />

„Ah, Gevatter Rost hat wie<strong>der</strong> zugeschlagen!“, rief er wenig erstaunt aus. „Jetzt hilft nur<br />

noch ein Rostlöserspray.“<br />

„Verdammt!“, entfuhr es Elke spontan.<br />

„Ihr könnt jetzt noch in aller Ruhe eine Tasse Kaffee trinken“, sagte Heinz und grinste.<br />

Elke und Heike blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig. Sie mussten warten, bis das Rostlöserspray<br />

wirkte und dies dauerte erfahrungsgemäß ein gutes Viertelstündchen.<br />

„Ah, da kommt schon Oma mit dem Kaffee.“ Heinz blinzelte seiner Frau zu, die tief<br />

durchatmete. <strong>Die</strong> Ungeduld stand ihr im Gesicht geschrieben.<br />

Erst gegen halb zwei gelang es Konrad, den Riegel zu lösen. „Sesam, öffne dich!“, murmelte<br />

er und zog an <strong>der</strong> Klappleiter. Quietschend gaben die Scharniere sie frei. Eine feine<br />

Staubwolke löste sich von <strong>der</strong> Bodentreppe her, schwebte herab und legte sich auf den Fußboden<br />

des Flurs. Elke und ihre Tochter warteten noch einen Moment, bis die Staubwolke sich<br />

etwas verzogen hatte, dann stiegen sie hinauf ins dunkle Unbekannte.<br />

„Ich hoffe nur, dass die Batterie nicht so schnell schlapp macht“, sagte Elke, als sie den<br />

Dachboden erreichte. Heike folgte ihr in einigem Abstand. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>len knarrten. Eine unheimliche<br />

Stille lag in dem schwülen Dunklen, das von den beiden Lichtkegeln ihrer Taschenlampen<br />

nur sehr spärlich beleuchtet wurde.<br />

„Siehst Du etwas, Mutti?“ fragte Heike, als auch sie den Dachboden erreicht hatte.<br />

„Lass’ Deinen Augen Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen“; entgegnete Elke.<br />

Langsam tasteten sich Elke und Heike vor. In <strong>der</strong> Umgebung des Treppenendes waren nur<br />

Staub und Spinnweben zu sehen, weiter hinten tauchten im Licht <strong>der</strong> Taschenlampen ein paar<br />

alte Stühle ohne Sitzflächen auf.<br />

14


„Na, habt Ihr schon etwas gefunden“, tönte Heidelindes Stimme durch die Luke hinauf<br />

auf den Dachboden.<br />

„Nein!“ Elke hustete und zog eine dicke Spinnwebe beiseite, die im Licht vor ihr auftauchte.<br />

<strong>Die</strong> Sommersonne hatte den Dachboden aufgeheizt. Da keine Dachluke vorhanden war,<br />

staute sich die Wärme unter den roten Tonziegeln. Heike begann zu schwitzen. Sie war etwas<br />

weiter in den westlichen Teil des Dachbodens vorgestoßen. Keuchend leuchtete sie jeden<br />

Winkel aus. Plötzlich lief etwas Kleines quietschend davon.<br />

„Huch, bin ich erschrocken!“, stieß Heike hervor. Sie trat instinktiv einen Schritt zurück.<br />

Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals.<br />

„Es hätte mich schon gewun<strong>der</strong>t, wenn hier keine Mäuse gewesen wären.“ Elke trat einen<br />

Schritt rechts zur Seite, stieß auf etwas Niedriges, verlor den Halt und strauchelte. Elke konnte<br />

sich mit den Händen abfangen, aber fiel auf etwas, das nachgab.<br />

„Leuchte einmal bitte zu mir her, Heike!“, bat sie ihre Tochter mit gepresster Stimme.<br />

Heike leuchtete mit ihrer Taschenlampe in Richtung ihrer Mutter. „Was ist denn das?!“,<br />

rief sie überrascht aus.<br />

„Wenn mich nicht alles täuscht, sind das zwei alte Koffer, über die ich gestolpert bin.“ Elke<br />

hatte sich aufgerappelt, ihre Taschenlampe wie<strong>der</strong> ergriffen und leuchtete auf das Hin<strong>der</strong>nis.<br />

„Tatsächlich, zwei alte Koffer!“ rief Heike entzückt. „Ob da wohl etwas drinnen ist?“<br />

„Am besten wird sein, wir entfernen den groben Staub hier oben.“ Elke dachte an ihre<br />

Mutter ganz im Sine <strong>der</strong> praktisch denkenden Hausfrau. „Nachschauen können wir immer<br />

noch unten.“<br />

„Habt Ihr etwas von zwei Koffern gesagt?“ Heidelinde war neugierig zur Bodentüre geeilt.<br />

„Mein Gott, ich kann mich ganz dunkel erinnern ...“ Ihr Gedächtnis spulte um Jahrzehnte<br />

zurück. „Das muss nach Mutters Tod gewesen sein.“<br />

Elke und Heike achteten nicht auf Großmutters Worte, son<strong>der</strong>n entfernten den groben<br />

Schmutz von den beiden Koffern. Je<strong>der</strong> von ihnen packte einen und stieg mit ihm vorsichtig<br />

rückwärts die schmale und steile Bodenstiege herab.<br />

„Tatsächlich, <strong>Die</strong> zwei Koffer habe ich doch glatt die Jahre über vergessen“, rief Heidelind<br />

aus. „Ja, ja, die Zeit ...“<br />

Heinz und Konrad, die das Geschehen eher am Rande Kaffee trinkend in <strong>der</strong> Wohnküche<br />

mitverfolgt hatten, waren herbeigeeilt und bestaunten die beiden Fundstücke.<br />

„Tragt sie ins Arbeitszimmer!“ schlug Konrad hervor. „Dort könnt ihr sie auf mein Sofa<br />

stellen.“<br />

„Keine schlechte Idee!“ Heinz war mindestens genauso aufgeregt über den Fund wie alle<br />

an<strong>der</strong>en.<br />

„Wer suchet, <strong>der</strong> findet“, zitierte Elke triumphierend die Bibel und marschierte mit dem<br />

Koffer in ihrer rechten Hand geradewegs in das Zimmer, das vor langen Jahren einmal ihr<br />

Jugendzimmer gewesen war. Heike folgte ihr schweigend mit dem zweiten. Dem Gewicht<br />

nach zu urteilen konnte er nicht ganz leer sein.<br />

„Welchen Koffer machen wir zuerst auf Heike?“<br />

„Vielleicht erst Deinen, Mutti. Er scheint mir <strong>der</strong> leichtere zu sein.“ Heike wuchtete den<br />

dunkelbraunen Koffer auf die Couch, die in Konrads Arbeitszimmer stand.<br />

„Ist ja egal“, meinte Elke. „Es wird eh nicht viel Wertvolles drin sein.“<br />

„Ich hoffe doch!“ Heike hoffte auf alte Emailschil<strong>der</strong>, die man gut verkaufen konnte. Sie<br />

kannte die Mutter einer Kommilitonin, die solche alten Schil<strong>der</strong> sammelte. Und die zahlte<br />

immer einen guten Preis dafür.<br />

„In wenigen Minuten sind wir schlauer.“ Elke fingerte an den beiden Schlössern des hellgrauen<br />

Koffers, den sie vom Dachboden geholt hatte.<br />

15


Wi<strong>der</strong>standslos schnappten die Schlösser auf. Vorsichtig klappte Elke den Koffer auf.<br />

„Ach nein!“ rief sie aus. <strong>Die</strong> Enttäuschung stand Elke im Gesicht geschrieben. „Da sind nur<br />

alte Zeitungen.“<br />

„Schau’ doch einmal darunter“, for<strong>der</strong>te Heike ihre Mutter auf.<br />

Elke hob die alten Zeitungen beiseite und ihr Erstaunen war nicht gespielt. „Das ist ja ...“<br />

„ ... ein altes Kleid“, fiel Heike ihrer Mutter ins Wort.<br />

Elke hob das schwarze Etwas hoch. Erst jetzt wurde richtig sichtbar, was im alten Zeitungspapier<br />

eingeschlagen war. Ein schwarzes, ärmelloses Abendkleid aus einem Stoff, den<br />

Elke nicht kannte. Es musste einige Jahrzehnte alt sein, das erkannte Elke spontan, denn das<br />

Kleid war etwas eigenartig geschnitten.<br />

„<strong>Die</strong> ehemalige Trägerin dieses Kleides muss zierlich gewesen sein. Wenn es Großmutter<br />

gehört hat, dann muss es ein Jugendkleid sein“, sagte Elke nachdenklich, während sie das<br />

Kleid von allen Seiten betrachtete. „Und vor allem“, fuhr sie mit Kennerblick fort, „es ist<br />

noch sehr gut erhalten.“<br />

„Na, davon können wir uns nicht viel kaufen“, maulte Heike.<br />

„Denkst Du eigentlich immer ans Geld?“ Elke fuhr ihre Tochter an. „Wir wollen den<br />

Dachboden räumen, weil meine Eltern das Haus verkaufen wollen und Du denkst nur ans<br />

Geld!“<br />

Heike entschuldigte sich: „Du hast ja Recht, Mutti. Ich bin ein wenig enttäuscht ...“<br />

„ ..., weil Du Deine Erwartungen viel zu hochgeschraubt hast, Heike. Lass’ uns jetzt den<br />

Koffer weiter ausräumen!“ Elke war gespannt, was dieser alte, hellgraue Koffer aus Kunstle<strong>der</strong><br />

noch freigab.<br />

„Was ist denn das!?“ Heike war überrascht, als ihre Mutter nach dem Kleid einen dunklen,<br />

konisch zulaufenden Gegenstand zu Tage för<strong>der</strong>te.<br />

„Ein alter Fächer.“ Elke klappte elegant einen alten Stofffächer auf und fächelte sich Luft<br />

zu.<br />

„Toll!“ Heike schien ihre anfängliche Enttäuschung über die Fundsachen begraben zu haben.<br />

„Von wem stammt das alles?“<br />

„Vermutlich von Deiner Urgroßmutter, Heike.“ Heidelinde war ins Zimmer getreten. <strong>Die</strong><br />

Arbeitsschürze hatte sie abgelegt. „Ich kann mich ganz dunkel daran erinnern, dass meine<br />

Mutter nach dem Tod von Vater einiges auf den Dachboden stellte. Ich war nicht dabei. Sie<br />

hat es mir nur einmal erzählt.“<br />

„Was heißt hier ‚nur’?“ Elke war froh, dass sich ihre Mutter noch erinnerte, woher die<br />

Koffer stammten.<br />

„Wir wissen doch definitiv, dass die beiden Koffer von Oma Wagner stammen.“<br />

„Was war sie für eine Frau?“ In Heike tauchten jetzt tausend Fragen auf. Das Feuer <strong>der</strong><br />

Neugier war in ihr entfacht.<br />

„Darüber sollten wir in aller Ruhe reden“, sagte darauf Heidelinde und drehte sich zur Türe,<br />

um wie<strong>der</strong> in Richtung Küche zu gehen: „Seht’ doch erst einmal nach, was alles in den<br />

Koffern ist“; klang es vom Flur her.<br />

Elke war wie<strong>der</strong> auf Zeitungspapier gestoßen und entfernte es aus dem Koffer. „Ja, was ist<br />

denn das?!“ rief sie plötzlich aus und kramte etwas Rotes aus dem Koffer hervor, dass wie ein<br />

Mie<strong>der</strong> aussah.<br />

„Ich würde sagen, mit dem Ding hat Uroma den Uropa so weit bekommen, dass er sie auf<br />

die Matte legte. Schaut ja echt geil aus, dieses Faschingskostüm.“ In Heike kribbelte es. Sie<br />

schmunzelte still vor sich hin und musste sich ein Lachen verkneifen.<br />

„Hm, scheint eine Art Mie<strong>der</strong> zu sein“, sagte Elke nachdenklich. Auch bei ihr machte sich<br />

ein inneres Kribbeln breit. „Na ja, unsere Vorfahren haben schon auch zu leben gewusst“,<br />

sagte sie schließlich und kramte weiter im Koffer, doch außer alten Zeitungen entließ <strong>der</strong><br />

hellgraue Koffer nichts mehr ins Tageslicht.<br />

16


„Na, dann wollen wir einmal sehen, was dieser schwere Bursche in sich hat“, sagte Heike,<br />

nachdem ihre Mutter den ersten Koffer leergeräumt hatte. Auch sie hatte keine Schwierigkeiten,<br />

die Schnappschlösser zu öffnen.<br />

Nachdem sich eine kleine Staubwolke gelegt hatte, begann Heike zu kramen. Zuerst kamen<br />

ein paar alte Bil<strong>der</strong> zum Vorschein, danach ein Stapel unbeschriebenen, alten Papiers,<br />

das schon vergilbt war. Darunter fanden sich zwei Stapel Briefe, die mit Schnüren zusammengebunden<br />

waren.<br />

„Jede Menge altes Papier“, kommentierte Heike. „Alte Briefe, wie es scheint.“ Ihre Hände<br />

griffen tiefer. Sie fühlte etwas Wachsartiges, das über den gesamten Kofferboden verteilt<br />

schienen.<br />

„Was ist den Das?!“ entfuhr es Elke. „Das sind alte Notizbücher, alte Kladden mit<br />

schwarzem Wachstuchdeckeln. Mein Gott, das muss alt sein! Seit wann gibt’s diese Dinger<br />

nicht mehr?“<br />

Heike zählte: „Eins, zwei, drei, ..., fünf, sechs Wachstuchkladden. Und alle sind<br />

unbeschriftet.“<br />

„Lass’ mal sehen!“ Elkes Neugier war nicht zu überhören. Sie riss Heike ein Buch hastig<br />

ein Buch aus <strong>der</strong> Hand und begann darin zu blättern. „Schöne Schrift, aber nicht zu entziffern.<br />

Alte deutsche Schrift.“<br />

„Zeig’ mal her!“ Jetzt war auch Heikes Neugier geweckt, aber nicht so stark wie die ihrer<br />

Mutter. „Und was machen wir mit dem alten Plun<strong>der</strong>?“ <strong>Die</strong> Frage von Heike klang traurig<br />

und enttäuscht.<br />

„Gute Frage!“ stöhnte ihre Mutter. „Was macht man mit den schriftlichen Zeugnissen seiner<br />

Vorfahren, wenn man sie nicht lesen kann?“<br />

„Wegwerfen!“ Heikes Enttäuschung über die für sie wertlosen Funde war nicht zu überhören.<br />

„Nein!“ stieß ihre Mutter hervor. „Nein, weggeworfen werden die Papiere nicht, denn ...“<br />

„ ... es liegt Eure Vergangenheit vor Euch“, schaltete sich jetzt Konrad ein, <strong>der</strong> während<br />

<strong>der</strong> ganzen Zeit etwas abseits gestanden hatte. „Ich verwette meinen linken, kleinen Zeh,<br />

wenn das nicht irgendwelche Haushaltsbücher sind o<strong>der</strong> so was Ähnliches.“ Konrad trat hinter<br />

Heike, welche die erste Seite einer <strong>der</strong> Wachstuchkladden aufgeschlagen hatte.<br />

„Das ist alte deutsche Schrift“, stellte sie kichernd fest<br />

„Da könntest Du recht haben“, stimmte Konrad zu. „Es wird etwas schwierig werden, die<br />

Schrift zu lesen.“<br />

„Wann habe ich zuletzt Sütterlin geschrieben?“ Heidelinde dachte nach. „Das muss noch<br />

in <strong>der</strong> Volksschule gewesen sein, wie sie damals noch hieß.“<br />

„Ich kann das nicht lesen.“ Heidelinde hatte auch einen Blick auf die erste Seite des<br />

<strong>Wachstuchhefte</strong>s geworfen.<br />

„ Wenn Du es schon nicht lesen kannst, Mutter, wer von uns soll es denn lesen können?“<br />

Elkes Frage klang verzweifelt.<br />

Heidelinde konzentrierte sich wie<strong>der</strong> auf die Schrift in <strong>der</strong> schwarzen Kladde. „Ta-gebuch<br />

von ...“, begann sie zu entziffern. „Den Namen kann ich jetzt nicht lesen.“<br />

„Tagebuch? Von wem könnte es stammen?“ Elke wurde neugierig. Ihr Beruf als Lehrerin<br />

wallte in ihr auf. „Kannst Du den Namen wirklich nicht entziffern, Mutter?“<br />

„Ich probiere es noch mal.“ Heidelinde konzentrierte sich wie<strong>der</strong> auf die Schrift und begann<br />

von neuem: „Tagebuch von El-frie-de Mag-ner, nein Wagner.“<br />

„Elfriede Wagner, das ist doch deine Mutter.“ Elke hatte sich hinter ihre Mutter gestellt,<br />

um einen besseren Blick auf das Heft werfen zu können. „Dann gehören die an<strong>der</strong>en Sachen<br />

...“<br />

„... vermutlich auch meiner Mutter“, fiel Heidelinde Berger ihrer Tochter ins Wort.<br />

„Keinen Zweifel, die sechs Wachstuchkladden sind mit großer Wahrscheinlichkeit ...“ Elke<br />

zögerte.<br />

17


„Das ist ja ein phantastischer Fund!“ warf Heike aufgeregt ein.<br />

„... mit dem wir aber wenig anfangen können.“ Elke dämpfte die Freude ihrer Tochter etwas,<br />

„Wir alle können die Schrift so gut wie nicht entziffern.“<br />

„Wir nicht, aber ...“ Heikes Miene wurde nachdenklich<br />

„Was aber?“ Elke wollte, dass ihre Tochter ihren Gedanken weiterspann. Alle schauten<br />

gespannt auf Heike. Es entstand eine Ruhe, die fast gespenstisch wirkte.<br />

„Ich könnte doch Wolfgang fragen, ob sein Vater für uns die Aufzeichnungen entziffern<br />

kann.“ Heike lächelte. Ein eigenartiges Glücksgefühl durchdrang sie, als sie an Wolfgang<br />

dachte.<br />

„Wolfgang?“ Heidelinde wusste noch nichts von Heikes Freund.<br />

„Wolfgang ist Heikes neuer Freund “, erklärte Elke.<br />

„Und sein Vater ist Professor für neuere Geschichte an <strong>der</strong> Uni Erlangen. “, ergänzte Heike.<br />

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die alte deutsche Schrift lesen kann.“<br />

Heidelindes Gesicht verzog sich. Sie war skeptisch geworden. Sollte man die Aufzeichnungen<br />

einfach so weggeben o<strong>der</strong> sollte man dies nicht?<br />

„Du kannst die Aufzeichnungen ruhig einem Wissenschaftler geben.“ Heike hatte die Gedanken<br />

ihrer Großmutter erraten. „Er sieht sie mit den Augen des Wissenschaftlers wie ein<br />

Arzt Dich sieht, wenn er Dich abhört.“<br />

Heidelindes Miene hellte sich ein wenig auf. Doch dann kam ihre Neugier wie<strong>der</strong> durch.<br />

„Schauen wir weiter, was noch in dem Koffer ist. Ich will jetzt nicht über mögliche Details<br />

diskutieren, die sich aus irgendwelchen Aufzeichnungen ergeben könnten. Packen wir erst<br />

alles aus und dann reden wir weiter über Einzelheiten.“<br />

„Gut! Schauen wir, was da noch alles in diesem Koffer ist!“ Elke stimmte ihrer Mutter zu.<br />

Auch sie packte jetzt wie<strong>der</strong> jene Neugier, die den Forschergeist antreibt.<br />

Sechs Hände suchten weiter. Sie wurden schnell fündig. Neben dem halben Dutzend<br />

<strong>Wachstuchhefte</strong>n kamen schnell noch zwei mit Schnur gebündelte Päckchen Briefe, einige<br />

alte Bücher und eine Menge unbeschriebenen Papiers mit eigenartigem Format zum Vorschein.<br />

„Na, das wird etwas dauern, wenn ihr das alles lesen wollt“, sagte Konrad Berger, nachdem<br />

sämtliche Fundstücke auf seinem Schreibtisch ausgebreitet waren. „Ich glaube, wir sollten<br />

zunächst einmal eine Aufstellung machen, was alles in den Koffern war“, fuhr er fort, wobei<br />

sein ausgeprägter Ordnungssinn ihm die Worte in den Mund führte.<br />

„Alles zu seiner Zeit“, dämpfte Heidelinde ihren Mann. „Wir sollten jetzt erst einmal eine<br />

Kaffeepause einlegen, schließlich habe ich ja einen Kuchen gebacken. Den will ich nicht alleine<br />

essen. Also kommt!“ Heikes Großmutter konnte durchaus resolut sein. Sie schob ihre<br />

Tochter und Enkelin aus Konrads Arbeitszimmer. „Aber wascht euch zuvor die Hände!“ befahl<br />

sie fast ein wenig barsch.<br />

Elke blickte auf ihre Armbanduhr, als sie die geräumige Küche betrat. Es war später<br />

Nachmittag geworden.<br />

Heinz hatte die Suche von <strong>der</strong> Küche aus verfolgt. Er wollte sich vor <strong>der</strong> Rückfahrt ausruhen.<br />

„Na, ihr seid ja ganz schön fündig geworden“; sagte er nach einer Weile. „Was war denn<br />

außer den beiden Koffern noch alles auf dem staubigen Dachboden da oben?“ Auch er war<br />

natürlich neugierig geworden.<br />

„Außer den beiden Koffern waren noch ein paar alte kaputte Stühle da oben“, sagte Elke<br />

und schob sich den Kuchenteller und die Kaffeetasse zurecht, nachdem sie sich an den Tisch<br />

gesetzt hatte.<br />

„Und ein paar Mäuse“, ergänzte Heike.<br />

„Ich wusste überhaupt nicht, dass da oben Mäuse sind“, sagte Heidelinde. „<strong>Die</strong> hätte man<br />

doch hören müssen.“<br />

18


„Nicht unbedingt. <strong>Die</strong>se kleinen Kerle können ganz schön leise sein, Schwiegermutter.“<br />

Heinz lächelte und nahm sich ein Stückchen des köstlich duftenden Marmorkuchens von <strong>der</strong><br />

Platte und legte es auf seinen Kuchenteller.<br />

„Ich kann es noch gar nicht fassen.“ Elke schüttelte ihren Kopf ein wenig. „ Was man so<br />

alles finden kann!“<br />

„Ja, ja, wer hätte das gedacht, dass meine Mutter dicke Kladden vollgeschrieben hat. Was<br />

hat sie dazu bewogen, Tagebuch zu schreiben?“ Heidelinde goss nachdenklich ihren Gästen<br />

Kaffee ein. <strong>Die</strong> Frage blieb im Raum schweben. Niemand wollte o<strong>der</strong> konnte eine Antwort<br />

darauf geben. Auch Heike schwieg. Sie hatte jetzt keinen Sinn für Marmorkuchen, obwohl sie<br />

ihn gerne aß. In ihrem Kopfe flogen tausend Fragen herum. Ihre Wangen hatten eine leichte<br />

rötliche Farbe angenommen, denn ein leichtes Fieber hatte sie ergriffen. Was wusste sie schon<br />

von ihrer Urgroßmutter? Und da gab es plötzlich Tagebücher, die vor fast einem Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

geschrieben worden waren. Nein, sie musste erst ihren Durst löschen, zuerst den körperlichen<br />

und später ihren geistigen, ihren Wissensdurst, <strong>der</strong> sie seit <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Koffer und<br />

ihres Inhaltes langsam ergriff. Ihre Gedanken waren nicht am Kaffeetisch, son<strong>der</strong>n weit weg.<br />

„Träumst du, Heike?“ fragte Heidelinde ihre Enkelin, nachdem eine Weile vergangen war.<br />

<strong>Die</strong>se antwortete nicht gleich, son<strong>der</strong>n nahm gedankenverloren ihre Kaffeetasse in die Hand<br />

und nippte an dem goldbraunen Getränk. Dabei sah sie durch den Raum.<br />

„Hallo Mädel!“ Heinz rüttelte seine Tochter aus ihren Tagträumen. „Deine Großmutter<br />

hat dich etwas gefragt.“<br />

Heike fuhr mit ihrem Kopf ruckartig etwas hoch. Es dauerte noch eine Sekunde, dann war<br />

sie wie<strong>der</strong> in die Wirklichkeit des Kaffeetisches zurückgekehrt. „Ich habe mir gerade überlegt,<br />

wie wir es am besten mit den Tagebüchern machen“, sagte sie bedächtig.<br />

„Nehmt sie doch einfach mit“, schlug ihr Großvater vor. „Dann sind schon einmal ein<br />

paar Dinge aus dem Haus.“<br />

„Am besten, ihr nehmt gleich den ganzen Koffer mit, dann ist noch mehr aus dem Haus.“<br />

Heidelinde sah man es fast an, dass sie wenig Interesse an den Fundstücken zeigte.<br />

„Gut, dann nehmen wir alle Papiere und den hellgrauen Koffer mit.“ Elke Markert zeigte<br />

sich entschlossen.<br />

„Aber zuvor sollten wir noch eine Aufstellung machen, was alles in ihm ist“, wandte ihr<br />

Vater ein.<br />

„Du mit deinem Ordnungsfimmel!“ Heidelinde warf ihrem Mann einen verächtlichen<br />

Blick zu.<br />

„Also, ich finde das auch wichtig.“ Heike ergriff Partei für ihren Großvater. „Ich habe in<br />

meiner Tasche einen Notizblock dabei. Wir können nach dem Kaffeetrinken gleich mit <strong>der</strong><br />

Aufstellung beginnen.“<br />

„Schau’ mal auf die Uhr, Kind!“ Elkes Einwand war nicht unberechtigt. „Es geht schon<br />

gegen halb fünf und wir wollen doch noch heimfahren.“<br />

„Wollt ihr das wirklich?“ Konrad Berger war aufgestanden. „Ihr könnt’ doch morgen auch<br />

erst heimfahren.“<br />

„Und wo sollen wir schlafen? Wir können doch nicht auf dem Boden schlafen.“ Elke sah<br />

ihren Vater fragend an.<br />

„Ihr werdet nicht auf dem Boden schlafen“, entgegnete Konrad. „Und ihr werdet fürstlich<br />

schlafen. Ich rufe gleich im Luisenhof an und frage, ob noch Zimmer frei sind.“ Ohne eine<br />

Antwort abzuwarten, ging Konrad Berger schnell zur Küchentüre hinaus. „Und das geht auf<br />

meine Rechnung“, rief er kurz darauf aus <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le.<br />

Heinz, Elke und Heike sahen sich erstaunt an.<br />

„Was ist denn in Papa gefahren?“ Elke schüttelte den Kopf. „So spendabel habe ich ihn ja<br />

schon lange nicht mehr gesehen.“<br />

Heidelinde lächelte. Sie begriff langsam, wie ernst es Elke und Heike mit <strong>der</strong> Erkundung<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit war. Sie spürte in sich langsam auch eine gewisse Neugier nach <strong>der</strong> Ver-<br />

19


gangenheit aufkommen. Ihre erst vorhin aufgeworfene Frage, warum wohl ihre Mutter ihr<br />

Leben Tagebüchern anvertraut hatte, kam ihr wie<strong>der</strong> in den Sinn. Sie hatte spontan das ausgesprochen,<br />

was nicht nur sie im Innern bewegte.<br />

„Lass’ ihn, Elke!“ Heidelinde legte ihre linke Hand auf die rechte ihrer Tochter, die ihr<br />

gegenüber saß. „Bleibt lieber bis morgen. Ihr sollt nichts überstürzen. Und die Aufstellung<br />

könnt ihr morgen noch in aller Ruhe machen.“<br />

„Also ich finde Opas Idee fantastisch.“ Heike strahlte übers ganze Gesicht. In ihr brannte<br />

<strong>der</strong> Eifer <strong>der</strong> neugierigen Jugend.<br />

Von <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le her hörte man Konrad telefonieren. „... Gut! Danke schön! Wie<strong>der</strong>hören!“<br />

Konrad Berger legte den Hörer auf und lief geschwind in Richtung Küche.<br />

„Zimmer bestellt. Alles klar!“ verkündete er noch in <strong>der</strong> Küchentüre stehend.<br />

„Gut!“ Elke stand auf. „Dann lass’ uns mal wie<strong>der</strong> an die Arbeit gehen!“<br />

„Auf, auf, frisch ans Werk!“ Heike war voller Tatendrang.<br />

Der Notizblock war schnell geholt, die Aufstellung aller Sachen, die im Koffer gelegen<br />

hatten, ebenso schnell erledigt. Elke und Heike räumten die Kladden, Bücher und Briefbündel<br />

sorgsam in den Koffer, nachdem sie vorher sorgfältig entstaubt worden waren. <strong>Die</strong> alten Zeitungen<br />

wurden nicht weggeworfen, sie zeigten an, wann etwa <strong>der</strong> alte Koffer gepackt worden<br />

war. Eine davon trug das Datum 22. Juli 1969. <strong>Die</strong> Schlagzeile kündete von <strong>der</strong> erfolgreichen<br />

Landung des Menschen auf dem Mond. Aber dieses Ereignis war ja längst Geschichte geworden.<br />

<strong>Die</strong> Sonne war längst untergegangen, als Heike mit ihren Eltern und Großeltern gemütlich<br />

bei einer Flasche Wein im Wohnzimmer des kleinen Häuschens zusammensaßen.<br />

„Also dann prost!“ Konrad Berger hob sein Glas und bot es zum Anstoßen an.<br />

„Prost auf den Fund!“ Elke Markert war die erste, die mit ihren Mann anstieß. Ein gewisser<br />

Stolz schwang in ihrer Stimme mit.<br />

<strong>Die</strong> Weingläser klirrten leicht und stimmten einen Vielklang an, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> warmen Luft<br />

weiterschwang.<br />

„Ich möchte mich gleich dafür bedanken, dass du uns eingeladen hast, noch einen Tag in<br />

Hannover zu bleiben.“ Heinz prostete seinem Schwiegervater zu.<br />

„Nicht <strong>der</strong> Rede wert!“ erwi<strong>der</strong>te Konrad. „Es wird uns nicht arm machen.“ Er lachte und<br />

stieß mit Heinz an.<br />

Heike saß etwas abseits und studierte die Liste aller Dinge, die sie am Nachmittag gefunden<br />

hatten. Nicht nur die Sachen im braunen Koffer waren da aufgelistet, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Kleidungsstücke des hellgrauen Koffers. Und es war eine ansehnliche Liste, die sich immerhin<br />

über zwei Seiten in Postkartengröße erstreckte.<br />

„Setz’ dich doch zu uns, Heike!“ for<strong>der</strong>te Heidelinde ihre Enkelin auf. „<strong>Die</strong> Inventarliste<br />

kann doch nicht so spannend sein ...“<br />

Heike blickte von ihrem Notizblock auf und lächelte ihre Großmutter an. „Du hast recht,<br />

Oma!“ Sie legte den Spiralblock beiseite und ging zu dem Sofa hinüber, wo neben Heidelinde<br />

gerade noch ein Plätzchen frei war.<br />

„Prost, Oma!“ Heidelinde stieß mit Heike an. „Ja, ja, die Neugier und Ungeduld ist das<br />

Vorrecht <strong>der</strong> Jugend“, sagte sie, nachdem sie einen Schluck des milden Rotweins getrunken<br />

und ihr Glas wie<strong>der</strong> auf den Tisch gestellt hatte, auf dem noch ein Teil <strong>der</strong> alten Zeitungen<br />

aus den Koffern lag.<br />

„Ich werde das Gefühl nicht los“, begann Heike, „dass dich <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> beiden Koffer<br />

nicht allzu sehr interessiert, Oma.“<br />

20<br />

4


„Na ja, ich bin nicht so wild wie du, in den Aufzeichnungen meiner Mutter zu lesen.“<br />

Heidelinde machte ein etwas nachdenkliches Gesicht. „Ich finde, man sollte nicht im Leben<br />

Verstorbener herum schnüffeln.“<br />

„Aber Oma!“ Heike war etwas entsetzt über die Meinung ihrer Großmutter. „Wenn meine<br />

Großmutter gewollt hätte, dass ihre Tagebücher von niemandem gelesen werden, dann hätte<br />

sie diese doch vernichtet.“<br />

„Sie konnte eben nichts wegwerfen“, entgegnete Heidelinde. „Alte Leute sind oftmals so.<br />

Sie hängen an den Sachen, die ein Teil ihres Lebens waren.“<br />

„Ich meine, sie hat ihre alten Sachen ganz bewusst aufgehoben, Oma.“<br />

„Das glaube ich nicht ganz“, mischte sich jetzt Elke in das Gespräch ein. „<strong>Die</strong> Sachen<br />

sind meiner Meinung nach schlichtweg auf dem Dachboden vergessen worden.“<br />

„Sie hatte keine Zeit mehr, ihre alten Sachen zu sichten“, meinte Heidelinde. „Ihr wisst<br />

doch, sie starb nicht ganz ein Jahr nach meinem Vater.<br />

„Das könnte auch ein Grund sein.“ Heike blickte ihre Großmutter nachdenklich an. „Aber<br />

es könnte ...“<br />

„Was nützt das Nachdenken über mögliche Gründe?“ unterbrach Elke ihre Tochter. „Deine<br />

Großmutter hat uns die Sachen hinterlassen und wir müssen sie pflegen. Wer kann schon<br />

von sich behaupten, von seinen Vorfahren Tagebücher und Briefe zu besitzen. Vieles ist in<br />

den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs in Feuer und Rauch aufgegangen. Was wir haben,<br />

ist historisch wertvolles Material.“<br />

„Na ja, sagen wir einmal familienhistorisch.“ Heidelinde wiegelte Elkes Höhenflug etwas<br />

ab. „Außerdem wissen wir nicht, was in den Tagebüchern steht, solange wir es nicht gelesen<br />

haben.“<br />

„Wobei wir wie<strong>der</strong> bei unserem Hauptproblem sind.“ Elke zog ihre Stirn in Falten. „Wir<br />

können die alte deutsche Schrift nicht o<strong>der</strong> nicht mehr lesen.“<br />

„Aber Mama!“ Heike sah das Problem nicht als solches an. „Ich bin mir sicher, dass uns<br />

Wolfgangs Vater helfen wird. Er ist Historiker und kann die alte Schrift sogar schreiben, wie<br />

mir Wolfgang vorhin am Telefon geschil<strong>der</strong>t hat.“<br />

„Hast du ihn angerufen?“ Elke war erstaunt. „Das habe ich in dem ganzen Trubel vorhin<br />

überhaupt nicht mitbekommen.“<br />

„Wir werden eben langsam alt, Elke.“ Heinz lächelte seine Frau etwas augenzwinkernd<br />

süffisant an.<br />

„O ihr Mannsbil<strong>der</strong>!“ Mehr konnte Elke nicht entgegnen, denn sie wurde durch das Läuten<br />

des Telefons abgelenkt.<br />

Konrad ging zum Telefon, das in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le stand, und hob den Hörer ab.<br />

„Berger!“ meldete er sich. <strong>Die</strong> Stimme am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung kannte er nicht. Es<br />

war Wolfgang Brenner, <strong>der</strong> Heike sprechen wollte.<br />

„Heike!“ rief Konrad in Richtung Wohnzimmer. „Dein Typ wird verlangt!“<br />

„Wer ist’s?“ fragte Heike ihren Großvater, als sie in die <strong>Die</strong>le stürzte. Konrad lächelte nur.<br />

Da wusste Heike, wer am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung auf sie wartete.<br />

„Hallo Wolfgang! Schön, deine Stimme zu hören“, hauchte sie ins Telefon. Ihre Augen<br />

begannen zu glänzen. „Ich vermisse dich.“<br />

„Ich dich auch.“ Wolfgang wollte zum Grund seines Anrufes kommen. „Ich habe mit<br />

meinem Vater gesprochen und ...“<br />

„Und?“ Heike war jetzt ganz aufgeregt.<br />

„Er hat sich bereit erklärt, die Texte zu transkribieren.“<br />

„Wun<strong>der</strong>bar!“ Heike rief es so laut, dass alle in <strong>der</strong> Küche hellhörig wurden.<br />

„Er ist natürlich im Zuge seiner Studien daran interessiert, die Texte wissenschaftlich auszuwerten“,<br />

ergänzte Wolfgang.<br />

„Das werde ich schon regeln“, gab Heike zurück.<br />

21


„Wir müssten uns aber zuvor noch einmal treffen. Mein Vater möchte gerne mit deinen<br />

Eltern darüber reden.“<br />

„Warum?“<br />

„Das will er selber sagen.“ Wolfgang schien plötzlich ein wenig kurz angebunden. „Ich<br />

habe jetzt wenig Zeit, Heike, denn ich will mir im Kino noch einen Film ansehen und müsste<br />

eigentlich schon unterwegs in die Stadt sein.“<br />

„Na dann tschüß, Wolfgang. Mach’s gut! Und viel Spaß im Kino.“ <strong>Die</strong> Verabschiedung<br />

<strong>der</strong> beiden Frischverliebten musste auf einem Außenstehenden etwas kühl wirken. Aber<br />

Wolfgang und Heike wussten, wie es um sie beide stand.<br />

Elkes Mutter war in die <strong>Die</strong>le geeilt und sah ihre Enkelin fragend an. „Mit wem hast du<br />

telefoniert? Und warum hast du so freudig gerufen?“<br />

„Es war Wolfgang. Sein Vater hat sich bereit erklärt, aus wissenschaftlichen Interesse die<br />

Tagebücher durchzusehen und sie zu transkribieren, wie Wolfgang gesagt hat.“ Es sprudelte<br />

aus Heike heraus. Ihre freudige Erregung über die erhoffte Hilfe von Wolfgangs Vater war<br />

nicht zu übersehen und blieb auch ihrer Mutter, die auch in die <strong>Die</strong>le geeilt war, nicht verborgen.<br />

„Ich weiß nicht so recht.“ Heikes Mutter verheimlichte ihre Skepsis nicht. „Du kennst<br />

doch Wolfgang kaum und seinen Vater ...“<br />

„... kenne ich nicht“, fiel Heike ihrer Mutter ins Wort. „Aber er will unbedingt vorher mit<br />

Dir und Vati reden.“<br />

„Na dann ...“ <strong>Die</strong> fragenden Blicke wichen aus Elkes Gesicht.<br />

„Wolfgangs Vater sieht die Tagebücher aus dem Blickwinkel des Historikers, des Wissenschaftlers.“<br />

Heike wollte die letzten Zweifel ihrer Mutter ausräumen, die Tagebücher außer<br />

Hand zu geben. „Und wer weiß: Vielleicht zitiert er in seiner Studie über die Entwicklung <strong>der</strong><br />

Familie sogar kurze Abschnitte aus dem Tagebüchern.“<br />

„Na ja, erst müssen wir einmal wissen, was überhaupt in diesen Kladden steht.“ Heidelindes<br />

Stimme klang neugierig und abwartend zugleich. „Seid doch froh, wenn uns jemand die<br />

Arbeit abnimmt, die alte Schrift zu entziffern. Ich bräuchte vermutlich Jahre dazu, so gut wie<br />

ich die deutsche Schrift noch beherrsche.“<br />

„Hast du denn die alte Schrift nicht gelernt, Oma?“ Heikes Frage war mehr als berechtigt,<br />

war doch Heidelinde noch zu einer Zeit in die Schule gegangen, in <strong>der</strong> man überwiegend<br />

deutsch schrieb. O<strong>der</strong> etwa nicht?<br />

„Das schon“, erwi<strong>der</strong>te Heikes Oma, „aber nur ein paar Jahre. Und nach dem Krieg ...“<br />

Heidelinde unterbrach sich selbst und blickte Heike nachdenklich an. Viel zu viele schlimme<br />

Erinnerungen kamen plötzlich wie<strong>der</strong> in ihr hoch. Sie wollte nicht mehr daran denken. Doch<br />

wer kann sich schon seinen Erinnerungen entziehen?<br />

„Nehmt ruhig alles mit“, sagte Heidelinde nach einer Weile, in <strong>der</strong> alle geschwiegen hatten.<br />

„Wer hat schon das Glück ein Tagebuch seiner Mutter, Großmutter o<strong>der</strong> gar seiner Urgroßmutter<br />

zu finden?“<br />

Heike fiel ihrer Großmutter nach diesen Worten um den Hals. „Du bist ein Schatz, Oma!<br />

Ich bin ja so gespannt, was deine Mutter alles geschrieben hat.“<br />

„Du mit deinem jugendlichen Überschwang!“ Heinz war hinzu gekommen und gab seiner<br />

Tochter einen leichten Klaps auf die Sitzfläche.<br />

„Heinz!“ Elke schaute ihren Mann empört an.<br />

„Darf ich mich mit meiner Tochter nicht freuen?“<br />

„Na, nun streitet nicht!“ Auch Konrad war in die <strong>Die</strong>le gekommen. „Nehmt nur alles mit<br />

nach Nürnberg, damit das Haus leer werde. Unser Entschluss steht fest. Wir werden dem kühlen<br />

Norden den Rücken kehren. O<strong>der</strong> etwa nicht, Heidi?“<br />

Heidelinde schaute ihren Mann an und hatte dasselbe Leuchten in den Augen wie ihre Enkelin,<br />

als diese mit Wolfgang über das Telefon sprach.<br />

22


„Lasst uns noch mal anstoßen!“ Konrad wandte sich wie<strong>der</strong> in Richtung Wohnzimmer<br />

und alle folgten ihm. <strong>Die</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Tagebücher und aller an<strong>der</strong>en Sachen wurde gebührend<br />

gefeiert. Man konnte ja nicht wissen, was noch alles auf einen zukam. Aber wer weiß<br />

das schon?<br />

<strong>Die</strong> Turmuhr <strong>der</strong> Kirche in <strong>der</strong> Nähe schlug schon zwölf, als Heinz sich in seinen bequemen<br />

Sessel fallen ließ, <strong>der</strong> in dem komfortablen Zimmer im Hotel „Luisenhof“ gegenüber<br />

dem kleinen Bord stand, auf dem ein Fernseher sein geleastes Dasein fristete.<br />

„Was für ein Tag!“ Heinz breitete seine Arme auf <strong>der</strong> Lehne des Sessels aus. „Wer hätte<br />

das gedacht? Auf dem Dachboden tauchen alte Briefe und Tagebücher auf und keiner kann<br />

sie lesen.“<br />

„Du alter Spötter!“ Elke war schon zu Bett gegangen, aber sie fühlte in ihrem Inneren etwas<br />

arbeiten, das sie sich nicht erklären konnte. Sie wollte es sich nicht zugestehen, aber innerlich<br />

war sie aufgewühlt. Unerwartet für Heinz setzte sie sich im Bett auf, warf die Bettdecke<br />

vorn über und schlang ihre Arme um ihre Beine, die sie angewinkelt hatte.<br />

„Du sitzt da wie ein verliebter Teenager.“ Heinz konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.<br />

„Ach Heinz“, begann Elke. „Irgendwie fühle ich mich glücklich. Mutter hat schon recht,<br />

wenn sie sagt: ‚Wer hat schon das Glück, alte Tagebücher zu finden.’ Ich frage mich, warum<br />

ich eigentlich nicht auch Tagebuch geschrieben habe. <strong>Die</strong> Jahre fliegen dahin, die Tochter<br />

wird erwachsen. Und welche Gedanken habe ich vor ein, zwei, fünf o<strong>der</strong> zehn Jahren gehabt?<br />

Alles ist fort. <strong>Die</strong> Zeit rast an einem vorbei, die Jahre galoppieren dahin auf <strong>der</strong> Rennbahn des<br />

Lebens und zurück bleibt <strong>der</strong> schale Geschmack <strong>der</strong> Fragen nach den schönen Stunden des<br />

Lebens. Hätte ich Tagebuch geschrieben, so könnte ich in meinen früheren Gedanken lesen<br />

...“<br />

Heinz hatte seiner Frau nachdenklich zugehört. <strong>Die</strong>se und ähnliche Gedanken waren auch<br />

ihm schon durch den Kopf gegangen. „<strong>Die</strong> grundlegende Frage ist doch: Warum schreiben<br />

die Menschen ihre Gedanken und Erlebnisse in dicke Kladden? Keiner zwingt sie doch dazu.<br />

Aber trotzdem tun sie es.“<br />

„Sie tun es, weil Schreiben irgendwie befreiend sein muss.“ Elke begann weiter nachzudenken.<br />

„An<strong>der</strong>s kann ich es mir nicht vorstellen. Kein Mensch schreibt doch nicht zig Seiten,<br />

wenn er kein inneres Bedürfnis hat, sich mitzuteilen, das heißt sich seinem Tagebuch mitzuteilen.“<br />

„Schreiben kann auch Therapie sein, habe ich irgendwann und irgendwo gelesen.“ Heinz<br />

stand vom Sessel auf und ging ans Bett, setzte sich auf die Bettkante zu seiner Frau. Elke<br />

nahm den Arm ihres Mannes, <strong>der</strong> sich ihr entgegenstreckte und streichelte ihn sanft. Beide<br />

saßen schweigend beisammen.<br />

„Vielleicht war es für meine Großmutter eine Art von Seelenreinigung, als sie schrieb.“<br />

Elke lächelte Heinz an und er verstand. „Wir werden ja irgendwann einmal erfahren, was in<br />

den Briefen und Tagebüchern steht.“<br />

„Ja, aber zwischendurch sollten wir uns den Luxus <strong>der</strong> körperlichen Ruhe gönnen.“ Heinz<br />

war wie<strong>der</strong> aufgestanden und war dabei, seinen Pyjama anzuziehen.<br />

„Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte Elke leise, legte sich hin und zog die Bettdecke zu<br />

sich hoch.<br />

Nach einem fürstlichen Frühstück im Hotel Luisenhof machte sich Familie Markert auf<br />

und ließ sich zu jenem kleinen Haus chauffieren, dem man vielleicht ein kleine Geheimnis<br />

abgetrotzt hatte. Der Genuss des guten Rotweines im geräumigen Wohnzimmer von Konrad<br />

und Heidelinde Berger hatte es Elke und Heinz verboten, im eigenen Auto zum Hotel zu fahren.<br />

Man hatte den Wagen vor <strong>der</strong> Garage von Heikes Großeltern stehen gelassen und war zu<br />

später Stunde mit dem Taxi zum Luisenhof gefahren.<br />

23


Es ging schon gegen zehn Uhr, als Heinz, Elke und die gemeinsame Tochter aus dem beigen<br />

Wagen <strong>der</strong> Marke mit dem Stern ausstiegen und ihr leichtes Gepäck locker-lässig tragend<br />

zu ihrem Wagen gingen, um es dort zu verstauen.<br />

„Wir müssen noch ein wenig Platz für den dunkelbraunen und den hellgrauen Koffer lassen.“<br />

Heinz blinzelte in die Sonne, die bereits in südöstlicher Richtung hoch am Himmel<br />

stand.<br />

„Unser kostbarstes Gut!“ warf Heike ein.<br />

„Na, ja, wer weiß?“ Elke Markert schien ihre zurückhaltende Einstellung den gefundenen<br />

Tagebüchern und Briefen gegenüber noch nicht aufgegeben zu haben.<br />

„Wer weiß? Vielleicht enthüllen wir ein schreckliches Geheimnis, das Großmutter<br />

umgibt.“ Heike hatte in <strong>der</strong> letzten Nacht von den Funden geträumt.<br />

„Jetzt redet nicht so viel!“ Heinz wollte möglichst schnell zur Heimfahrt starten.<br />

„Wir müssen uns noch von meinen Eltern verabschieden“, warf Elke ein. „Ah, da kommen<br />

sie schon.“<br />

Heidelinde und Konrad Berger kamen aus ihrem Haus.<br />

„Na, habt ihr gut geschlafen?“, rief Heidelinde Heike und ihren Eltern fragend zu.<br />

„Ausgezeichnet, Mutter“, entgegnete Elke. „Nochmals vielen Dank für die Übernachtung<br />

im Luisenhof.“<br />

„Ist doch nicht <strong>der</strong> Rede wert.“ Konrad Berger wiegelte zum zweiten Mal ab, obwohl die<br />

Zimmerpreise in einem <strong>der</strong> ersten Häuser von H. nicht gerade als preiswert bezeichnet werden<br />

konnten.<br />

„Kommt gut nach Hause!“ Heidelinde Berger umarmte ihre Tochter und danach Heike<br />

und Heinz. „Gute Fahrt und passt nur auf den Koffer auf!“<br />

„Nur keine Sorge, Oma!“ Heike schüttelte ihrem Großvater die Hand.<br />

„Mach’s gut, Heike“, sagte Konrad und gab seiner Enkelin einen Kuss auf die Stirne.<br />

Wenige Minuten später bog Heinz von <strong>der</strong> kleinen Nebenstraße, in <strong>der</strong> seine Schwiegereltern<br />

in Hannover wohnten, in eine breite ein, die zur Autobahn in Richtung Süden führte.<br />

<strong>Die</strong> Rückfahrt nach Nürnberg dauerte länger als geplant. Zwei Staus mussten umfahren<br />

werden, was viel Zeit kostete. Endlich, nach mehr als sechs Stunden, kam die Autobahnausfahrt<br />

in Sicht, die <strong>der</strong> Wohnung von Familie Markert am nächsten lag. Elke lenkte den Wagen<br />

auf die Verzögerungsspur und bremste ab.<br />

„Na endlich!“ seufzte Heike, die im Font des Wagens saß. „Meine Beine sind schon ganz<br />

steif.“<br />

„Es wird nicht mehr lange dauern“, sagte Heinz und drehte sich zu seiner Tochter um. „In<br />

<strong>der</strong> Bayreuther Straße ist um diese Zeit eher stadtauswärts Stau als stadteinwärts.“<br />

Heinz sollte recht behalten. Stadtauswärts quälte sich <strong>der</strong> spätnachmittägliche Berufsverkehr<br />

nur zäh in Richtung Nordosten. In entgegengesetzter Richtung dagegen war er nur mäßig.<br />

Elke Markert war froh, als <strong>der</strong> Wagen stand. Ächzend quälte sie sich aus dem Sitz. <strong>Die</strong><br />

Turmuhr <strong>der</strong> nahen Kirche schlug zweimal.<br />

„Geschafft!“ Heinz stieg ebenfalls aus, streckte sich und ging zum Kofferraum. „Jetzt<br />

können endlich wir in den Urlaub fahren.“<br />

„Aber zuvor laden wir erst die Sachen aus und schlafen noch ein paar Nächte.“ Elke ging<br />

ihrem Mann zur Hand und holte das Gepäck aus dem Kofferraum. Der dunkelbraune Koffer<br />

war das letzte Stück, das aus dem Wagen genommen wurde. Danach gingen Heike und ihre<br />

Eltern in die Wohnung.<br />

24<br />

5


„Wo stellen wir denn den hin?“ Heinz sah zunächst seine Frau, dann den dunkelbraunen<br />

Koffer fragend an.<br />

„Ich glaube im hinteren Kellerregal dürfte noch Platz sein.“ Elke wusste genau, wo sich<br />

was in <strong>der</strong> Wohnung befand, und auch, wo noch Platz war.<br />

„Ich möchte gerne noch einmal in die Kladden sehen“, meldete sich Heike zu Wort, als<br />

nach wenigen Minuten das Gepäck und <strong>der</strong> alte Koffer in <strong>der</strong> Wohnung ihrer Eltern standen.<br />

„Jetzt muss erst die Wäsche ausgepackt werden. Morgen wasche ich und am Montag<br />

geht’s los.“ Heikes Mutter wirkte plötzlich dominant. Was den Haushalt betraft, war sie resolut<br />

und mit einer ausgefeilten Logistik gesegnet, die soweit ging, dass sie selbst die Wege<br />

beim Einkaufen optimal minimierte.<br />

„Ich wusste gar nicht, dass wir am nächsten Montag schon wegfahren.“ Heinz war erstaunt.<br />

„Ich habe schon alles gebucht, schon vor Tagen.“<br />

„Na prima, dann habe ich ja bald sturmfreie Bude.“ Heike lachte. Sie dachte wie<strong>der</strong> an<br />

Wolfgang, den sie mehr und mehr in ihr Herz schloss.<br />

Heinz schaute zuerst augenzwinkernd Heike, dann erstaunt seine Frau an. „Jetzt bin ich<br />

aber erstaunt, Elke.“<br />

„Lass’ deine Frau nur machen, dann wird’s schon klappen!“<br />

„Du bist wirklich ein Organisationstalent.“ Heinz fand ganz spontan diese lobenden Worte.<br />

Und er wusste auch diese ausgeprägte Eigenschaft seiner Frau zu schätzen. „Wo hast du<br />

gebucht?“ fragte er.<br />

„Von Hannover aus natürlich“, entgegnete Elke. „Meine Eltern werden es vielleicht an <strong>der</strong><br />

Telefonrechnung merken.“<br />

„Vielleicht auch nicht!“ Heinz lachte.<br />

„Also lasst uns an die Arbeit gehen!“ Elke packte die beiden kleinen Koffer aus und trug<br />

sie ins Schlafzimmer, wo sie die Plastiktüten mit <strong>der</strong> schmutzigen Wäsche sofort aus den Gepäckstücken<br />

nahm, sie ins Bad beför<strong>der</strong>te und vor <strong>der</strong> Waschmaschine ausleerte. Unterdessen<br />

säuberte Heike den dunkelbraunen Koffer ihrer Großmutter und machte ihn auf. Da lagen sie,<br />

die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> neben den gebündelten Briefen. Sie betrachtete die Funde eine<br />

Weile und ein Schauer <strong>der</strong> Neugier durchfuhr sie dabei.<br />

‚Zu dumm, dass ich diese alte Schrift nicht lesen kann’, dachte sie bei sich und legte das<br />

Tagebuch, das zuoberst gelegen hatte wie<strong>der</strong> zurück in den Koffer, aus dem sie es wenige<br />

Minuten vorher entnommen hatte. ‚Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie ein Geheimnis<br />

bergen’, sagte ihre innere Stimme zu ihr. ‚Lerne die alte Schrift und du kannst alle<br />

alten Quellen selbst studieren!’<br />

„Ja, das werde ich!“ entfuhr es Heike.<br />

„Was wirst du, Heike?“ Ihr Vater war neben sie getreten und legte seine Hand auf ihre<br />

schmale Schulter. Heike zuckte zusammen.<br />

„Willst du mich erschrecken, Vati?“<br />

„Nein.“<br />

„Du hast mich aber. Ich war so in Gedanken, ...“<br />

„... dass du mit dir Selbstgespräche führst“, ergänzte Heinz.<br />

„Es ist furchtbar schade, dass ich die alte Deutsche Schrift nicht lesen kann.“ Heike seufzte<br />

leicht.<br />

„Dann lern’ sie doch!“ for<strong>der</strong>te Heinz seine Tochter auf.<br />

„Das werde ich auch tun.“ Entschlossen klappte Heike den alten Koffer zu, verschloss den<br />

gesamten Inhalt und trug den Koffer aus ihrem Zimmer, wohin sie ihn erst vor wenigen Minuten<br />

gebracht hatte.<br />

„Ich bringe den dunkelbraunen Koffer in den Keller“, rief sie ihrer Mutter zu, die noch im<br />

Bad werkelte.<br />

25


„Ist gut, Heike!“ rief Elke zurück. „Stell’ ihn ins hintere Regal. Da müsste noch Platz<br />

sein.“<br />

„Okay!“ Heike machte die Wohnungstüre auf und ging die Treppe hinab in den Keller.<br />

Obwohl sie eine schon erwachsene Frau war, kam bei ihr immer noch ein beklemmendes Gefühl<br />

auf, wenn sie in den Keller ging. <strong>Die</strong> schlechte Beleuchtung warf lange Schatten, welche<br />

die Bretterverschläge größer wirken ließ. Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen einmal<br />

ihrer Mutter gefolgt war, immer dicht hinter ihr bleibend und sich ängstlich umblickend.<br />

Sie hatte laut aufgeschrieen, als sie ein quietschendes Geräusch vernahm. Ihre Mutter hatte<br />

den Bretterverschlag geöffnet. Mehr war nicht geschehen.<br />

Wie<strong>der</strong> quietschte die Kellertüre und wie<strong>der</strong> erschrak Heike. Aber dieses Mal war <strong>der</strong><br />

Schreck nicht so nachhaltig, auch schrie Heike nicht auf, son<strong>der</strong>n zuckte nur leicht zusammen,<br />

als sie die Bretterverschlagtüre jetzt öffnete. Das fahle Licht war gerade so hell, dass sie<br />

das hinterste Regal erkennen konnte.<br />

‚Meine Mutter hat recht.’ Der Gedanke beruhigte sie. Heike stemmte den Koffer auf den<br />

obersten Regalboden vor sich. Er passte haargenau hinein, hing zwar einige Zentimeter über,<br />

aber lag stabil auf.<br />

„Tschüß! Bis bald!“, sagte Heike zu sich und ging wie<strong>der</strong> aus dem Bretterverschlag, in<br />

dem so manches alte lagerte, von dem man in <strong>der</strong> Familie meinte, man müsse es hier aufheben.<br />

Kurz danach schloss Heike die Türe oberhalb <strong>der</strong> Treppe ab, die in den Keller führte. Ihr<br />

war leicht, aber ein wenig bange zugleich. Sie verstand ihre leichte Angst nicht, suchte aber<br />

auch nach keiner Erklärung dafür. Was sollte auch schon geschehen? Das Mietshaus, in dem<br />

sie mit ihren Eltern gewohnt hatte, stand nicht im Überschwemmungsgebiet <strong>der</strong> Pegnitz, die<br />

schon lange nicht mehr über ihre Ufer getreten war, nachdem man schon in den 20er Jahren<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts begonnen hatte, Hochwasserstollen zu bauen, die kurzzeitig das Mehr an<br />

Wasser aufnehmen konnten.<br />

Heike stieg wie<strong>der</strong> die Treppe zur elterlichen Wohnung hinauf, nachdenklich vor sich<br />

hingrübelnd. Beinahe wäre sie über den letzten Treppenabsatz gestolpert. Sie war müde vom<br />

langen Tag und nahm sich vor, so schnell es ging, sich in ihr Bett zu legen.<br />

„Na, hast du den Koffer gut im Keller verstaut, Heike?“ Heinz Markert kam seiner Tochter<br />

im Wohnungsflur entgegen, als sie aus dem Keller in die elterliche Wohnung zurückkehrte.<br />

„Ja, Papa.“ Heike gähnte. „Ich bin müde und werde gleich zu Bett gehen.“<br />

„Ja, die Fahrt hat uns alle angestrengt.“ Auch Heinz war müde, schließlich war er auch<br />

über 250 Kilometer <strong>der</strong> Strecke von Hannover nach Nürnberg gefahren.<br />

Elke werkelte noch eine Weile im Bad und im Schlafzimmer herum. Es dauerte noch einige<br />

Minuten, bis sie die restlichen Dinge aus ihrem Gepäck in <strong>der</strong> Wohnung verstaut hatte.<br />

Schließlich ging sie ins Wohnzimmer, wo schon Heinz saß, <strong>der</strong> zwei Gläschen Wein eingeschenkt<br />

hatte.<br />

„Setz’ Dich, Elke! Irgendwann muss Schluss sein mit <strong>der</strong> Hausarbeit.“ Er winkte seine<br />

Frau neben sich aufs Sofa.<br />

„Du hast Recht, Heinz, wie fast immer.“ Elke Markert setzte sich neben ihren Mann.<br />

„Gott sei Dank, dass morgen erst Samstag ist. Da können wir wenigstens ein bisschen<br />

länger schlafen.“ Heinz streckte sich. „Und Heike wird auch nicht so früh aufstehen. Sie<br />

schlafe in ihrem alten Bett in ihrem ehemaligen Zimmer sehr gut, hat sie mir erst gestern gesagt.<br />

Sie hat heute ganz kleine Augen gehabt, als ich sie gerade ins Bad gehen sah.“<br />

„Ist sie schon ins Bett gegangen?“ Bevor Heinz auf diese Frage antworten konnte, ging<br />

die Wohnzimmertüre auf und Heike stand nur mit Slip und Sleepshirt bekleidet in <strong>der</strong> Tür.<br />

Ihre kleinen, aber wohlgeformten weiblichen Rundungen zeichneten sich leicht unter dem<br />

nicht allzu locker sitzenden mo<strong>der</strong>nen Nachthemd ab.<br />

„Gute Nacht, Mama, Papa!“ Heike gähnte.<br />

26


„Gute Nacht, Heike! Schlaf schön!“ sagten Heinz und Elke fast gleichzeitig. Heike machte<br />

kehrt und nach wenigen Augenblicken hörte man wie eine Türe geschlossen wurde. Dann<br />

trat eine Stille in <strong>der</strong> Wohnung ein, bei <strong>der</strong> man fast eine Stecknadel hätte fallen hören.<br />

„Prost Elke!“<br />

„Prost Heinz! Elke und Heinz stießen mit ihren langstieligen, französischen Weingläsern<br />

an. Das leichte, helle Klirren des Glases durchbrach wie<strong>der</strong> die Stille, denn beide saßen<br />

schweigend da und tranken einen Schluck. Der kühle, herbe Weißwein schmeckte leicht säuerlich.<br />

Er kam aus <strong>der</strong> Gegend, die sie vor mehr als einer Stunde noch auf kurvenreichen<br />

Landstraßen durchfahren mussten, denn auf <strong>der</strong> Autobahn lief diesen Freitag nichts mehr. Zu<br />

viele Baustellen hemmten im Moment den überaus regen Verkehr, <strong>der</strong> sich dort von allen<br />

Himmelsrichtungen kommend kreuzte. Aber das alles lag jetzt hinter ihnen. Elke und Heinz<br />

waren glücklich, unversehrt wie<strong>der</strong> zu Hause angelangt zu sein.<br />

„Es ist schon fast ein Wahnsinn, was wir gestern und heute gemacht haben.“ Elke dachte<br />

laut nach. „Erst fahren wir 500 km, dann räumen wir einen Dachboden auf und fahren dieselbe<br />

lange Strecke nur einen Tag später wie<strong>der</strong> zurück.“<br />

„Ich kann Dir nur beipflichten.“ Heinz machte eine kleine Pause, bevor auch er weiter laut<br />

nachdachte. „Es wird viel zu viel gefahren, vor allem im Schwerlastverkehr. Was da alles<br />

durch die Gegend gekarrt wird. <strong>Die</strong> Fernstraßen sind zu permanenten rollenden Lägern verkommen.“<br />

„Mir tun ja diese Kapitäne <strong>der</strong> Straße leid“, entgegnete Elke. „Erst fahren sie stundenlang<br />

und dann müssen sie noch ab- und wie<strong>der</strong> aufladen. Es ist schrecklich, wie heutzutage die<br />

Menschen ausgenutzt werden!“<br />

„Ausgebeutet werden, sollte man besser sagen.“ Heinz war genau so offen mit dem, was<br />

er dachte wie seine Frau. Vielleicht war dies das wirkliche Geheimnis <strong>der</strong> großen Harmonie,<br />

die ihrer Ehe mehr als ein Vierteljahrhun<strong>der</strong>t innewohnte.<br />

„So krass würde ich das nicht sagen.“ Elke sagte auch, was sie dachte. Sie versuchte aber<br />

nicht schwarz-weiß, son<strong>der</strong>n etwas differenzierter zu denken.<br />

„Aber de facto ist es doch so, Elke. <strong>Die</strong> Fernfahrer schuften im Prinzip für einen Hungerlohn<br />

und das dicke Geld streichen die An<strong>der</strong>n, die dicken Bosse ein.“<br />

„Ja, ja, Heinz, jetzt rege Dich nicht auf.“<br />

„Ich rege mich nicht auf. Ich sage nur etwas überspitzt, was ich denke.“<br />

Elke schlang ihre Hände um den Hals von Heinz, zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss.<br />

„Du alter Revoluzzer!“ Sie lachte und gab ihren Angetrauten noch einen.<br />

„Du bist aber heute noch ganz schön drauf, Elke.“<br />

„Ich bin immer gut drauf. Das solltest Du doch langsam herausgefunden haben, Heinz.“<br />

Elkes Augen funkelten.<br />

„Du bist ein Glückspilz. Findest einfach alte Schriftstücke von Deiner Großmutter!“<br />

Heinz wollte das Gespräch wie<strong>der</strong> auf ihren Überraschungsfund richten.<br />

„Was sind schon ein paar alte Tagebücher meiner Großmutter?“ Elke wiegelte wie<strong>der</strong> ab.<br />

„Was ist dies alles im Vergleich zu einem glücklichen Leben an <strong>der</strong> Seite eines so einfühlsamen<br />

Mannes ...“<br />

„Du alte Schmeichlerin!“ Heinz wusste, worauf Elke hinaus wollte. „Ich weiß, was Du<br />

willst.“<br />

„Was will ich?“ Elkes Frage sollte Heinz nur noch ein wenig anstacheln. „Sag’ es mir!<br />

Was will ich wohl jetzt?“<br />

„Normalerweise sagen die Frauen immer: O, ihr Herren <strong>der</strong> Schöpfung, ihr wollt doch nur<br />

das Eine.“<br />

Langsam begann die Unterhaltung neckisch zu werden. Man merkte, Elke und Heinz waren<br />

trotz <strong>der</strong> langen Autofahrt entspannt. Vielleicht war es nur ein verstecktes Gefühl <strong>der</strong><br />

Freude über den Fund, das sie so glücklich sein ließ, vielleicht war es aber nur die Vorfreude<br />

auf den bevorstehenden Urlaub, auf die Ferien, die sie ganz alleine zu zweit verbringen woll-<br />

27


ten, um sich endlich richtig vom Alltag und auch von den bisher erlebten Überraschungen <strong>der</strong><br />

letzten Tage und Wochen entspannen zu können.<br />

„Heute ist es eben einmal umgekehrt“, fuhr Elke fort. „Heute sage ich, die Frau, einmal:<br />

Ich will Dich und zwar mit Haut und Haaren ...“<br />

„... auffressen“, unterbrach Heinz.<br />

„Nein, ich will mit Dir mein Leben genießen.“ Elkes Augen leuchteten wie<strong>der</strong> auf.<br />

„Na ja, wenn’s weiter nichts ist.“ <strong>Die</strong> Stimme von Heinz klang sichtlich erleichtert.<br />

„O, ihr Männer, ihr wollt doch nur das Eine.“<br />

Heinz musste laut lachen. „Jetzt beißt sich die Katze in den Schwanz. Gerade eben ...“<br />

„... habe ich es gesagt. Und jetzt fühlst Du Dich wie<strong>der</strong> bestätigt.“ Auch Elke musste lachen.<br />

Sie stießen wie<strong>der</strong> an.<br />

„Prost auf Oma und Opa!“<br />

„Prost!“ Heinz trank einen kräftigen Schluck von dem herben Weißwein. „Meinst Du jetzt<br />

Deine o<strong>der</strong> Heikes Oma?“<br />

„Beide natürlich, du Langsamdenker!“ Elke lachte und stellte das Weinglas wie<strong>der</strong> auf<br />

den Wohnzimmertisch. „Ich bin wie Heike gespannt, was in den alten Tagebüchern steht, aber<br />

erst einmal muss ich Abstand von ihnen finden.“<br />

„Abstand von alten Tagebüchern und Briefen? Wie meinst Du das, Elke?“<br />

„Ich brauche räumlichen und zeitlichen Abstand. Vor so vielen Jahren sind die Worte und<br />

Sätze von meiner Großmutter geschrieben worden, was macht es da aus, wenn sie erst zwei,<br />

drei o<strong>der</strong> vier Wochen nach ihrer Wie<strong>der</strong>entdeckung gelesen werden? Wir werden schon noch<br />

herausfinden, was da geschrieben worden ist. Der Koffer ist im Keller gut aufgehoben,<br />

schließlich sind wir hier nicht im Überschwemmungsgebiet irgend eines Flusses, <strong>der</strong> regelmäßig<br />

im Frühjahr o<strong>der</strong> Herbst über die Ufer tritt. Und selbst wenn ein Unwetter kommen<br />

sollte, dann läuft <strong>der</strong> Keller keine zwei Meter hoch voll.“ Der Wein löste Elkes Zunge heute<br />

schon beim ersten Glas.<br />

„Ich hoffe, dass <strong>der</strong> Koffer noch da steht, wenn wir aus dem Urlaub wie<strong>der</strong> zurückkommen.“<br />

In <strong>der</strong> Stimme von Heinz war eine gewisse Skepsis deutlich heraus zu hören.<br />

„Du sprichst immer nur in <strong>der</strong> Einzahl von dem Koffer.“ Elke zog ihre Stirne fragend in<br />

Falten. „Hast Du den zweiten Koffer aus dem Wagen ausgeladen, Heinz?“<br />

„Nein, Elke. Ich dachte du ...“<br />

„Nein , ich habe ihn nicht in die Wohnung getragen.“ Elke war sich ihrer Sache sicher.<br />

„Und ich weiß auch, dass Heike nur den dunkelbraunen...“<br />

„... Koffer in die Wohnung getragen hat“, unterbrach Heinz seine Frau.<br />

„Dann muss <strong>der</strong> hellgraue noch im Wagen sein“, folgerte Elke.<br />

„Ein Wagen und ein Haus verlieren nichts.“ Heinz lächelte seine Frau an. „Den holen wir<br />

morgen hoch. Ist doch jetzt nicht so wichtig ...“<br />

„Recht hast Du“, seufzte Elke und rückte ein Stückchen hin zu ihrem Anvermählten<br />

„Lass’ uns nicht an die Koffer denken, lass’ uns den Rest des Abends ganz einfach nur genießen.<br />

Prost, Heinz!“<br />

„Prost Elke! Auf Dein Wohl!“<br />

„Auf Deines! Prost Heinz!“<br />

Wie<strong>der</strong> klirrten leicht die beiden Gläser. Beide tranken sie aus.<br />

„Trinken wir noch ein Glas Weißwein?“ fragte Heinz seine Frau, nachdem sie getrunken<br />

hatten.<br />

„Ja, trinken wir noch eins, dann werden wir sicher gut schlafen.“ Elke kuschelte sich an<br />

Heinz. <strong>Die</strong>ser verstand das Signal und nahm seine Frau in den Arm. Ihre Lippen fanden zueinan<strong>der</strong><br />

und <strong>der</strong> Kuss schmeckte ihnen genau so wie jener erste vor vielen, vielen Jahren.<br />

Heinz stand auf und holte den Bocksbeutel aus dem Kühlschrank in <strong>der</strong> Küche. Als er<br />

wie<strong>der</strong> ins Wohnzimmer kam, um noch ein Gläschen einzuschenken, war Elke verschwunden.<br />

28


Er dachte sich zunächst nichts dabei, verteilte den Rest <strong>der</strong> Flasche auf die beiden Gläser und<br />

ging in die Küche zurück, um sie zu denen zu stellen, die im Altglascontainer landen sollten.<br />

Heinz ging zurück ins Wohnzimmer. Elke war noch immer nicht da. Er setzte sich auf<br />

seinen Platz und wartete. ‚Sie wird wohl einmal dorthin gegangen sein, wo früher <strong>der</strong> Kaiser<br />

auch zu Fuß hingehen musste’, dachte er bei sich, als er hörte, wie jemand die Wohnungstüre<br />

aufsperrte.<br />

„Da war er“, sagte Elke und stellte den hellgrauen Koffer vor die große Regalwand im<br />

Wohnzimmer.<br />

„Du warst unten und hast ihn geholt“, sagte Heinz erstaunt.<br />

„Man kann ja nicht wissen“, gab Elke zurück.<br />

„Da hast Du allerdings auch wie<strong>der</strong> recht“, stimmte Heinz seiner Frau zu, aber er sah<br />

nicht, dass Elkes Augen wie<strong>der</strong> leuchteten.<br />

„Weißt Du, was mich an dem Koffer beson<strong>der</strong>s interessiert?“ Elke sah Heinz an. Ihre Augen<br />

leuchteten.<br />

„Ich weiß nicht ...“, entgegnete Heinz nachdenklich.<br />

„Kannst Du Dir’s nicht denken?“ Elkes Stimme wurde immer geschmeidiger, immer sanfter.<br />

„Ich kann mir’s wirklich nicht denken.“ Heinz war ratlos.<br />

„Na, dann werde ich einmal etwas ausprobieren.“ Elke stand entschlossen auf, nahm den<br />

hellgrauen Koffer und verschwand mit ihm in Richtung Schlafzimmer. Heinz saß etwas belämmert<br />

da. Er hatte schon vergessen, was sich in dem Koffer befand, den Elke und Heike als<br />

ersten auf dem Dachboden in Hannover gefunden hatten.<br />

Elke schloss schnell die Türe zum Schlafzimmer und legte den hellgrauen Koffer auf die<br />

kleine Kommode, die neben dem Klei<strong>der</strong>schrank stand. Vorsichtig öffnete sie die beiden altertümlich<br />

erscheinenden Schnappschlösser des Koffers und klappte den Deckel auf. Etwas<br />

fahrig suchten ihre Hände unter den alten Zeitungspapier nach dem roten Stoff, <strong>der</strong> sich so<br />

wun<strong>der</strong>bar seidig-weich angefühlt hatte, als sie ihn im Haus ihrer Mutter zum ersten Mal ertastete.<br />

Sie mochte weiche Stoffe. Doch zu oberst lag das dunkle Ballkleid, das sie vorsichtig<br />

heraushob und sorgsam auf ihr Bett legte. Unter <strong>der</strong> nächsten Schicht alten Zeitungspapiers<br />

fühlte sie dann den Stoff, <strong>der</strong> bei ihr einen wohligen Schauer auslöste. Ebenso vorsichtig wie<br />

das Kleid zog sie das Mie<strong>der</strong> unter dem Zeitungspapier hervor und hob es in die Höhe. Elke<br />

drehte es wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> um, betrachtete es von allen Seiten. Kein Riss, keine aufgeplatzte<br />

Naht verunstaltete das alte Kleidungsstück. Es war völlig intakt erhalten. Wie<strong>der</strong> fühlte sie<br />

dabei dieses angenehme Kribbeln in ihrem Körper, das sie schon bei ihrer Mutter durchzogen<br />

hatte. Sie hielt das Mie<strong>der</strong> an ihren Körper und stellte überrascht fest, dass es ihre Größe haben<br />

konnte.<br />

‚Ich will doch mal versuchen, ob es mir passt’, sagte Elke zu sich und begann sich zu entkleiden.<br />

Behutsam schlüpfte sie in das Mie<strong>der</strong>. Sie hielt die Luft an, als sie ihre für ihr Alter noch<br />

wohlgeformten Brüste in diesem für sie erregenden Kleidungsstück zurecht platzierte.<br />

‚Das Schwierigste kommt noch.’ Elke musste mit sich selbst reden. Sie war erregt und zitterte<br />

ein wenig. ‚Aber schließlich habe ich Erfahrung, wie man diese kleinen Häkchen am<br />

Rücken schließt.<br />

<strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong> Häkchen und <strong>der</strong> dazu gehörenden Ösen wollte kein Ende nehmen, doch<br />

endlich war es geschafft. Sie hatte sich in das Mie<strong>der</strong> selbst eingeschlossen. Elke wurde plötzlich<br />

ihre Situation klar. Ganz unbewusst hatte sie sich dieses erotisierende Gefängnis für ihren<br />

Körper insgeheim schon lange ersehnt. Und jetzt war sie umschlossen von edlen Seidenstoff,<br />

<strong>der</strong> ihre Figur betonte. Elke lief ein kalter Schauer durch den Körper. War sie schon immer<br />

eine heimliche Wäschefetischistin gewesen? Ja, es konnte, es musste so sein. Wie sonst konnte<br />

sie sich erklären, dass es jetzt feucht zwischen ihren Schenkeln wurde. Sie wollte gerade<br />

den Sitz des Mie<strong>der</strong>s in ihrer Schamgegend korrigieren und dabei ihr Geschlecht vollständig<br />

29


unter dem Wäschestück verbergen, als sie jetzt erst merkte, dass das seidene Verführungsstück<br />

im Schritt ouvert war. Ihr Puls begann zu rasen. Sie rückte die beiden Schrittbän<strong>der</strong> so<br />

zurecht, dass <strong>der</strong> entstehende Spalt den Eingang ihrer Lustgrotte nach unten und damit nach<br />

außen hin offen legte. Ganz unwillkürlich rieb sie an ihren äußeren Schamlippen. Sie konnte<br />

nicht an<strong>der</strong>s und steckte ihren rechten Mittelfinger in die dunkle, immer feuchter werdende<br />

Grotte. Da durchfuhr sie ein Zittern. Ihr Körper bebte vor Wolllust. Sie warf sich auf ihr Bett.<br />

Sie erwachte aus ihrem Tagtraum, stöhnte noch einmal kurz und richtete sich im Bett auf. Bis<br />

vor wenigen Augenblicken hatte sie ihre Umgebung vergessen.<br />

Elke stand auf, ließ das Mie<strong>der</strong> an ihrem Körper, ging zu ihrem Wäscheschrank und riss<br />

die beiden Türen auf.<br />

„Ich muss es Heinz zeigen. Aber er soll es nicht sofort entdecken“, sagte sie leise bei sich.<br />

Elke sah ihren goldfarbenen Lackmantel, holte ihn geschwind aus dem Schrank und zog ihn<br />

an.<br />

„Ja, wo bleibst Du denn?“ Heinz war erstaunt, als seine Frau nach einer schier endlos erscheinenden<br />

Weile wie<strong>der</strong> das Wohnzimmer betrat. „Und warum hast Du diesen Mantel an?“<br />

Elke sagte nichts, setzte sich zu Heinz auf das Sofa, schlug die Beine übereinan<strong>der</strong> und<br />

ergriff das Weinglas. Prost, Heinz!“<br />

„Prost, Elke!“ Heinz stieß mit seiner Frau an. Er konnte sich nicht erklären, warum Elke<br />

den Lackmantel angezogen hatte. Etwas erstaunten Blickes musterte er Elke. „Willst Du heute<br />

noch ausgehen, Elke?“ fragte er schließlich, nachdem sie eine Weile stumm nebeneinan<strong>der</strong><br />

gesessen hatten.<br />

Elke antwortete nicht, son<strong>der</strong>n ließ den Mantel absichtlich ein wenig über ihre eine Schulter<br />

rutschen., indem sie diese durch eine ruckartige Bewegung nach unten zog. Dabei kam<br />

<strong>der</strong> rechte schwarze Träger ihres Mie<strong>der</strong>s unter dem Mantel zum Vorschein. Aber Heinz sah<br />

ihn nicht.<br />

„Willst Du einmal sehen, wie meine Großmutter ihr Leben genossen hat?“ Elke blickte<br />

Heinz von <strong>der</strong> Seite her an.<br />

„Ich verstehe die Frage nicht.“ Heinz war wirklich völlig ahnungslos, was seine Frau vor<br />

hatte.<br />

„Dann werde ich es Dir eben zeigen müssen.“ Elke, die immer noch eine überaus sehenswerte<br />

Figur hatte, stand auf und trat neben den Tisch. Mit wenigen geschickten Handgriffen<br />

knöpfte sie schnell den verführerisch goldbraun glitzernden Mantel auf und ließ ihn mit einer<br />

eleganten Bewegung hinter sich zu Boden gleiten.<br />

„Nein!“ rief Heinz, als er jetzt seine Frau in dem roten Mie<strong>der</strong> sah, das mit schwarzen<br />

Spitzen umrahmt war. <strong>Die</strong> schmalen schwarzen Träger bildeten im Licht des Zimmers einen<br />

verführerischen Kontrast auf Elkes leicht gebräunter Schulter. „Ist das ...?“<br />

„Es ist das Mie<strong>der</strong> von meiner Großmutter.“ Elke hob ganz bewusst ihre Brust. Ihre beiden<br />

Busen kamen dabei voll zur Geltung, versteckt zwar, aber deutlich aus dem Mie<strong>der</strong> hervorquellend.<br />

Heinz war jetzt völlig überwältigt. Er starrte seine Frau an und merkte wie sein Herz<br />

schneller zu schlagen begann, schließlich war er auch kein Kind von Traurigkeit, denn er<br />

konnte sich glücklich schätzen, eine für ihr Alter überaus attraktive Frau als Angetraute zu<br />

haben. Er fühlte, wie in ihm die Lust langsam hoch kroch und nahm schnell einen Schluck<br />

Wein, bevor er aufstand, zu Elke hintrat und sie schweigend umarmte. Er spürte, dass Elke<br />

schneller atmete als sonst ...<br />

30<br />

6


Heike erwachte und blinzelte mit den Augen. Draußen graute <strong>der</strong> Morgen. Sie drehte sich<br />

auf die rechte Seite ihres Bettes, das noch in ihrem Jugendzimmer bei ihren Eltern stand, atmete<br />

tief durch und lächelte. Sie hatte geträumt, von Wolfgang geträumt. Leicht erschreckt<br />

stellte sie fest, dass sie im Schritt feucht war. Hatte sie nicht im Traum auch die Stimmen eines<br />

glücklichen Paares gehört, dass sich seiner Lust hingab? Obwohl es im Zimmer zu dieser<br />

Jahreszeit nicht eben kühl war, zog sie trotzdem ihre Bettdecke bis an ihr Kinn und kuschelte<br />

sich so in ihr Bett, schließlich musste sie heute nicht früh aufstehen.<br />

Im Schlafzimmer nebenan schliefen Elke und Heinz noch tief. <strong>Die</strong> Fahrt und die Nacht<br />

hatten sie erst weit nach Mitternacht müde in ihre Betten fallen lassen. Heike lauschte. Sie<br />

vernahm keinen Laut, drehte sich auf die an<strong>der</strong>e Seite und schlief bald danach wie<strong>der</strong> ein.<br />

<strong>Die</strong>smal war es ein traumloser Schlaf.<br />

<strong>Die</strong> Uhr zeigte schon kurz vor zehn, als sie zum zweiten Mal erwachte. Und wie<strong>der</strong> musste<br />

Heike sich zuerst einmal orientieren, wo sie war. Wie lange hatte sie nicht mehr in ihrem<br />

alten Jugendbett geschlafen? Es musste schon einige Monate her sein, damals als an einem<br />

Abend ihr Wagen seinen <strong>Die</strong>nst versagte. Doch diese Gedanken waren jetzt Nebensache.<br />

Heikes Magen machte ihr unmissverständlich klar, dass er nach Arbeit verlangte. Sie dehnte<br />

und streckte sich und stand dann auf.<br />

Sie huschte so wie sie angezogen war ins Bad und machte sich frisch für den Tag. Dann<br />

eilte sie zurück in ihr Jugendzimmer und zog sich rasch an.<br />

„Das Frühstück ist fertig!“ Elkes Stimme klang scharf an Heikes Ohr.<br />

‚Mutti ist schon voll aktiv und hat schon das Frühstück eingekauft. Und was machst Du? –<br />

Du lässt Dich bedienen.’ Kaum hatte Heike diesen Gedanken zu Ende gedacht, da öffnete sich<br />

die Tür des Zimmers.<br />

„Heike!“ Elkes Gesichtszüge entspannten sich, als sie sah, dass ihre Tochter schon angezogen<br />

war. „Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass Du schon aufgestanden bist, Heike.“<br />

„Der Hunger hat mich geradewegs aus dem Bett getrieben“, entgegnete Heike und lächelte<br />

ihre Mutter an.<br />

„Na, dann komm’ in die Essdiele. Der Frühstückstisch ist schon gedeckt.“ Elke wollte<br />

sich gerade umdrehen und aus dem Zimmer gehen, da fiel ihr noch eine Frage ein, die ihr ihre<br />

Neugier plötzlich in den Mund legte. „Was hast Du heute vor, Heike?“<br />

„Ich will mich mit Wolfgang in <strong>der</strong> Innenstadt treffen.“<br />

„Ach ja! Er erst nach dem Frühstück, Heike!“<br />

„“Na, Du bist gut, Mutti! Meinst Du, ich gehe mit knurrenden Magen außer Haus?“ Heike<br />

ging auf ihre Mutter zu und küsste sie auf die linke Wange. „Dein gutes Frühstück werde ich<br />

mir doch nicht entgehen lassen, Mutti.“<br />

„Alte Schmeichlerin!“ Elke drehte sich um und ging durch die noch geöffnete Tür zur<br />

Essdiele hinaus. Ihre Tochter folgte ihr mit <strong>der</strong> freudigen Erwartung auf ein ausgiebiges Frühstück.<br />

Und diese sollte nicht enttäuscht werden, denn man ließ sich damit Zeit, viel Zeit.<br />

Erst kurz vor elf Uhr verabschiedete Heike sich von ihren Eltern und strebte zur U-Bahn,<br />

die sie in wenigen Minuten ins alte Herz ihrer Geburtsstadt brachte.<br />

„Hallo Heike!“ Wolfgang winkte seiner Freundin zu.<br />

Heike war mit ihren Gedanken immer noch bei den sechs Wachstuchkladden, die jetzt in<br />

dem dunkelbraunen Koffer im Keller ihrer Eltern lagerten. Sie blickte auf und sah den jungen<br />

Mann, <strong>der</strong> auf sie zu kam, mit einem geistig abwesenden Blick an.<br />

„Träumst Du, Heike?“ Erst als sich Wolfgang anschickte, Heike zu sich hinüber zu ziehen,<br />

wachte diese auf.<br />

„Nicht so stürmisch, junger Mann!“ Heike lachte und machte eine abwehrende Bewegung<br />

Wolfgang gegenüber. Er verstand sofort und wahrte Distanz zu dem in seinen Augen entzückendsten<br />

weiblichen Wesen, zu dem er sich mehr und mehr hingezogen fühlte.<br />

„Du bist aber heute sehr nachdenklich“, sagte er schließlich. „Was bedrückt Dich denn?“<br />

31


„Mich bedrückt eigentlich nichts.“ Heikes Blick schweifte umher. „Aber ich habe ein<br />

Problem.“<br />

„Was für ein Problem?“ Wolfgang wurde neugierig. „Hat es etwas mit mir zu tun?“<br />

„Aber nein, Wolfgang. Mit Dir hat das bestimmt nichts zu tun“, beruhigte Heike ihren<br />

Freund. „Geh’n wir doch irgendwo hin, wo wir uns ungestört unterhalten können. Dann will<br />

ich Dir erzählen, welches Problem ich habe.“<br />

„Du machst mich ganz schön neugierig, Heike.“<br />

„Ich will Dich nicht auf die Folter spannen, Wolfgang, aber ich muss ein wenig ausholen<br />

und Dir die Geschichte von ganz vorne erzählen ...“<br />

<strong>Die</strong> beiden schlen<strong>der</strong>ten zuerst am Hauptmarkt mit <strong>der</strong> Frauenkirche und dann am Chor<br />

<strong>der</strong> Sebalduskirche vorbei aufwärts Richtung Burg, die wie ein aus Stein gehauenes Buch majestätisch<br />

über <strong>der</strong> Stadt thronte. Ihr Ziel war <strong>der</strong> Burggarten, in dem man vortrefflich flanieren<br />

und sich im Schatten <strong>der</strong> Mauern, Bäume und Büsche auch in Nischen zurückziehen<br />

konnte, die von den zahlreichen Touristen, die diesen Komplex von eigentlich drei Burgen<br />

besuchten, kaum betreten wurden. Nur die Einheimischen wussten, wann die beste Zeit war,<br />

sich hierher zurückzuziehen.<br />

„Ich habe da ein kleines Problem“, begann Heike. „Wir haben Tagebücher meiner Urgroßmutter<br />

gefunden. Sie müssen so aus <strong>der</strong> Zeit um den Ersten Weltkrieg stammen, aber<br />

keiner von uns, auch meine Großmutter, kann die alte Deutsche Schrift lesen.“<br />

„Das ist ja äußerst interessant.“ Wolfgangs Neugier war nicht gespielt. „Ich wollte, ich<br />

könnte solche Quellen mein eigen nennen. Aber Deine Großmutter müsste doch ...“<br />

„Nein, sie sagt, sie könne die alte Schrift nicht lesen“, unterbrach Heike ihren Freund.<br />

„Das ist aber merkwürdig. Sie dürfte doch in <strong>der</strong> Schule noch vorrangig die Sütterlinschrift<br />

gelernt haben.“<br />

„Das meine ich auch“, stimmte Heike ihrem Freund zu.<br />

„Wann ist denn Deine Großmutter geboren?“ forschte Wolfgang nach.<br />

„Da bringst Du mich jetzt in Verlegenheit.“<br />

„Ich meine nur. Sie müsste im Dritten Reich ...“<br />

„Aber das bringt mich auch nicht weiter.“ Heikes Stimme klang etwas traurig.<br />

Wolfgang blieb stehen und wandte sich Heike zu. „Ich glaube, ich habe die Lösung“, sagte<br />

er zu ihr gewandt und zog sie an sich. Heike folgte etwas wi<strong>der</strong>strebend. Als ihre Lippen<br />

nahe waren, durchströmte sie ein wun<strong>der</strong>bares Gefühl <strong>der</strong> freudigen Erregung.<br />

Wolfgang gab ihr einen Kuss und sah sie strahlend an. „Mein Vater ist Historiker, Heike.<br />

Er kann die alte Deutsche Schrift lesen.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Das weiß ich. Und er kann ...“<br />

„Nein, das kann ich doch nicht ...“, unterbrach Heike.<br />

„Du musst ihn nicht fragen. Aber ich kann es.“<br />

„Das würdest Du für mich tun?“ Heikes freudige Erregung verstärkte sich.<br />

„Ich werde meinen Vater fragen, ob er euch helfen kann. Er schreibt gerade an einer Abhandlung<br />

über die Entwicklung <strong>der</strong> Familie im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t. Vielleicht kann er die Texte<br />

sogar auswerten.“<br />

„Oh, Wolfgang ! Das ist aber mehr als lieb von dir.“ Jetzt zog Heike Wolfgang zu sich.<br />

Ihre Lippen vereinigten sich zu einem leidenschaftlichen Kuss, <strong>der</strong> mehr war als nur ein Dankeschön.<br />

Wolfgang fühlte wie seine Leidenschaft zu Heike immer größer wurde.<br />

„Lass uns doch den Sonnenuntergang ansehen. Ich glaube, es dürfte bald soweit sein.“<br />

<strong>Die</strong>se Auffor<strong>der</strong>ung war für Heike keine. Arm in Arm gingen sie auf die Burgfreiung. <strong>Die</strong><br />

Sonne stand schon als glutroter Ball tief über dem Häusermeer <strong>der</strong> Stadt, dass sich nach Westen<br />

erstreckte. Sie hörten nicht das Brausen <strong>der</strong> Fahrzeugschlangen, die auf <strong>der</strong> Straße unterhalb<br />

<strong>der</strong> Burg ins Zentrum, aber auch aus diesem heraus an dem majestätisch thronenden alten<br />

Gebäudekomplex vorbei hasteten. Sie waren beide verliebt. <strong>Die</strong> Zeit schien still zu stehen,<br />

32


aber <strong>der</strong> sinkende rote Ball, <strong>der</strong> die Luft am Tage jetzt zu sehr aufheizte, zeigte an, dass die<br />

Zeit durchaus verging. Ganz langsam verschwand er im Nordwesten. Heike und Wolfgang<br />

sahen stumm zu. Sie merkten nicht auf die Menschen, die um sie herum diesen Ort hoch über<br />

<strong>der</strong> großen Stadt an diesem lauen Sommerabend belebten. Sie waren in ihrer neuen, eigenen<br />

Welt, <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> frisch Verliebten versunken.<br />

Sie sagten lange nichts zueinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n sahen sich und die untergehende Sonne immer<br />

wie<strong>der</strong> an.<br />

„Jetzt habe ich so richtig Lust, etwas zu trinken“, sagte Wolfgang nach einer Weile, als<br />

nur noch ein schmaler roter Streifen am Horizont zu sehen war. Heike sagte nichts. Sie sah<br />

Wolfgang nur an und lächelte.<br />

„Ich bin mir sicher, dass mein Vater euch dabei helfen wird, die Schriftstücke zu entziffern“,<br />

begann schließlich Wolfgang.<br />

„Dass wäre nur zu schön. Ich will unbedingt wissen, was meine Großmutter geschrieben<br />

hat. Ich bin so neugierig.“ Heike sah Wolfgang aufgeregt von <strong>der</strong> Seite an. „Lass’ uns ins<br />

Mausloch gehen. Ich möchte zu gern wie<strong>der</strong> einmal ein Glas Beerenwein trinken, Wolfgang.“<br />

„Beerenwein?“ Wolfgang war überrascht. Bisher waren sie abends noch nicht in dieses<br />

Kellerlokal gegangen, dass früher einen nicht gerade untadeligen Ruf hatte. „Du trinkst Beerenwein?“<br />

„Warum nicht? Ich bin doch kein Kind mehr.“ Heike brauchte sich nicht zu rechtfertigen.<br />

„Also dann! Auf ins Mausloch!“<br />

„Auf ins Mausloch!“ Heike machte kehrt und strebte dem Ausgang aus dem Burggarten<br />

zu, hinter dem eine Gasse sich steil hinunter in die Stadt wand.<br />

„Zunächst müssen wir ein Treffen mit meinen Eltern arrangieren“, meinte Heike, während<br />

sie die steile Gasse hinunterschritten. Im Gewirr <strong>der</strong> vielen Gassen kannten sich Heike und<br />

Wolfgang aus, schließlich waren sie in dieser alten Stadt geboren und aufgewachsen.<br />

Es wurde noch ein langer Abend. Der Beerenwein schmeckte vorzüglich, je<strong>der</strong> Schoppen<br />

besser, doch als sie wie<strong>der</strong> aus dem Kellerlokal auf die schmale Gasse kam, begann sich die<br />

Welt um Heike zu drehen. Der Boden schwankte. Der Alkohol entfaltete in <strong>der</strong> milden Luft<br />

dieser sternenklaren Sommernacht erst richtig seine Wirkung.<br />

Am nächsten Morgen wusste Heike nicht mehr, wie sie aus dem „Mausloch“ in ihr Appartement<br />

in Erlangen gekommen war. Wolfgang musste ihr dabei wohl sehr behilflich gewesen<br />

sein.<br />

Es regnete leicht, als Heinz die beiden Koffer zum Wagen trug.<br />

„Gott sei Dank! Endlich Urlaub !“ Elke atmete tief durch.<br />

„Ja, ja, wenn das Kofferschleppen nicht wäre“, keuchte Heinz und verstaute die Gepäckstücke<br />

im Kofferraum.<br />

„Tu’ nicht so wie ein Möbelpacker, Heinz!“<br />

„Ich bin nun einmal nicht zum Schwerathleten geboren“, konterte Heinz, nachdem er den<br />

Kofferraumdeckel zugeklappt hatte. „Geschafft!“ Auch er atmete tief durch und wandte sich<br />

seiner Frau zu, die sich anschickte, in den Wagen zu steigen.<br />

„Ist alles verstaut?“ Elke blickte Heinz fragend an.<br />

„Ich denke doch!“ Heinz ging zur Fahrertüre.<br />

„Fahren wir! Der Weg ist weit und die Zeit läuft.“<br />

„Fahren wir“, sagte Heinz, stieg in den Wagen und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.<br />

<strong>Die</strong> warme Luft aus <strong>der</strong> Klimaanlage auf die Windschutzscheibe verhin<strong>der</strong>te, dass sich<br />

diese beschlug, als Heinz den Wagen über die regennassen Straßen von Nürnberg lenkte. Es<br />

33<br />

7


war noch früh am Morgen. Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt. So gelangten sie<br />

schnell auf die Autobahn, die nach Osten führte, ihrem Urlaubsziel entgegen, das sie schon<br />

mehr als zehn Jahre ansteuerten.<br />

Wolfgang war zu seinem Vater gegangen, <strong>der</strong> trotz <strong>der</strong> Semesterferien in seinem Büro im<br />

Institut für Neuere Geschichte arbeitete. Der trübe, regnerische Tag legte einen tiefen Grauschleier<br />

auf die Gänge des Hauses, auf dessen zweiten Obergeschoss Wolfgangs Vater arbeitete.<br />

Heikes neuer Freund stieg die Treppe des Instituts hoch, bog links in den düsteren Flur<br />

ein, <strong>der</strong> ihm heute noch düsterer erschien als sonst.<br />

<strong>Die</strong> Türe zum Büro 2.14 stand offen. Das Licht <strong>der</strong> Beleuchtung drang nach außen, erhellte<br />

einen kleinen Abschnitt des Flurs. ‚Licht ist Hoffnung’, dachte Wolfgang bei sich. ‚Hoffentlich<br />

kann ich meinen Vater zur Transkription <strong>der</strong> Tagebucheinträge von Heikes Urgroßmutter<br />

gewinnen. An Arbeit mangelt es ihm bestimmt nicht, aber an Zeit.’<br />

Wolfgang hörte plötzlich Stimmen aus dem Büro seines Vaters an sein Ohr dringen. Sein<br />

Vater sprach mit einer Frau, <strong>der</strong>en helle, aber nicht schrille Stimme er kannte. Sie gehörte zu<br />

Gabi Beck, <strong>der</strong> jungen Schreibkraft, die allen Mitarbeitern des Instituts helfend zur Hand ging<br />

und viele lästige und zeitraubende Arbeiten erledigte. Sie erwuchs langsam zur Seele des Instituts.<br />

Je<strong>der</strong> mochte sie, Professor Pre<strong>der</strong>sen, <strong>der</strong> Institutsleiter, ebenso wie Dr. Brenner,<br />

Wolfgangs Vater, <strong>der</strong> am Institut für Neuere Geschichte <strong>der</strong> Universität Erlangen-Nürnberg<br />

den <strong>Die</strong>nstposten eines akademischen Oberrats bekleidete und gerade an einer Studie über die<br />

Geschichte <strong>der</strong> Familie im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t arbeitete.<br />

Wolfgang näherte sich langsam dem Raum, aus dem er die Stimmen vernahm.<br />

„Und diese beiden Seiten können Sie gleich eingeben, Frau Beck. <strong>Die</strong> Fußnoten dazu stehen<br />

hier.“<br />

„Ist gut, Herr Dr. Brenner. Heute Nachmittag habe ich ein wenig Luft. Aber zuvor muss<br />

ich noch für den Chef etwas schreiben.“<br />

„Geht schon in Ordnung. Es eilt auch nicht.“ Dr. Brenner lächelte Gabi Beck an. Sie verstand<br />

und eilte aus dem Zimmer. Wolfgang sah sie vor sich den Gang entlang gehen, dann<br />

spitzte er um die Ecke <strong>der</strong> noch immer offenen Tür in das Büro seines Vaters. <strong>Die</strong>ser saß mit<br />

dem Rücken zur Türe und bemerkte zunächst seinen Sohn nicht. Wolfgang klopfte gegen den<br />

hölzernen Türrahmen.<br />

„Hallo Papa!“<br />

Dr. Brenner fuhr herum und starrte für einen kurzen Augenblick seinen Sohn etwas entgeistert<br />

an. „Was machst Du denn hier“, rief er erstaunt.<br />

„Mich hast Du wohl nicht erwartet.“ Wolfgang Brenner trat in das Zimmer, in dem sich in<br />

den Regalen viele, viele Bücher und noch mehr lose Blätter in einen für ihn undurchdringlichen<br />

Chaos stapelten. Aber je<strong>der</strong> Platz in dem engen Büro hatte seine beson<strong>der</strong>e Bedeutung,<br />

die nur Dr. Brenner kannte.<br />

„Was hast Du denn auf dem Herzen, mein Sohn?“ fragte Dr. Brenner etwas theatralisch.<br />

„Hast Du ein wenig Zeit?“ fragte Wolfgang zurück.<br />

„Du weißt doch: Ich habe für Dich immer Zeit.“ <strong>Die</strong>se Aussage war durchaus ernst gemeint.<br />

Für seinen Sohn hatte Dr. Brenner immer Zeit, seitdem er wusste, das dessen Mutter<br />

keinerlei Zeit mehr für ihren Sohn haben konnte.<br />

„Ich muss ein wenig ausholen“, begann Wolfgang<br />

„Nur zu, nur zu!“ for<strong>der</strong>te Dr. Brenner seinen Sohn auf.<br />

„Habe ich Dir schon von Heike erzählt?“<br />

„Heike? Heike ...!“ Dr. Brenner überlegte kurz<br />

„Na von Heike!“ drängte Wolfgang.<br />

„A ja, du meinst Deine neue Freundin Heike ... Wie heißt sie noch?“<br />

„Heike Markert“<br />

„Und was ist mit ihr?“ Dr. Brenner wurde langsam neugierig.<br />

34


„Mit ihr ist eigentlich nichts.“ Wolfgang Brenner versuchte, seine Gedanken zu bündeln.<br />

„Aber sie hat zusammen mit ihrer Mutter bei ihrer Großmutter eine großartige Entdeckung<br />

gemacht, denn ...“<br />

„Mach’s nicht so spannend!“ unterbrach Dr. Brenner seinen Sohn.<br />

„Wenn Du mich nicht unterbrechen würdest ...“, konterte Wolfgang Brenner.<br />

„Gut, gut, erzähl’!“<br />

„Also Heike hat zusammen mit ihrer Mutter auf dem Dachboden im Haus ihrer Großeltern<br />

sechs dicke Hefte mit Tagebüchern ihrer Urgroßmutter gefunden, die ...“<br />

„Potztausend!“ Dr. Brenner sprang so heftig von seinem Schreibtischstuhl auf, dass dieser<br />

fast einen halben Meter zurückrollte.<br />

„..., die sie nicht lesen kann“, ergänzte Wolfgang<br />

„Warum nicht?“<br />

„Weil sie die alte Deutsche Schrift nicht lesen kann.“<br />

Wolfgangs Erklärung setzte seinen Vater in Erstaunen. „Hat sie das nicht in <strong>der</strong> Schule<br />

gelernt?“ fragte er nach einer Weile.<br />

„Vielleicht, aber sie kann es vermutlich nicht mehr.“<br />

„Und ihre Mutter? <strong>Die</strong> ist doch Geschichtslehrerin.“ Wolfgang hatte seinem Vater schon<br />

von Elke Markert erzählt. „<strong>Die</strong> müsste doch ...“ Dr. Brenner unterbrach sich selbst.<br />

„Eigentlich müsste Heikes Mutter die Sütterlinschrift beherrschen“, stellte Wolfgang<br />

Brenner fest. „Aber vielleicht hat sie keine Zeit. Heikes Eltern sind gestern in den Urlaub gefahren.<br />

Den haben sie sich auch verdient.“<br />

„<strong>Die</strong> Sache scheint ja äußerst interessant zu sein“, sagte Dr. Brenner nachdenklich. „Vielleicht<br />

könnte ich ...“<br />

„Könntest Du die Tagebücher auswerten?“ Wolfgang fragte seinen Vater ganz unverblümt<br />

und sah ihn genau an, wollte er doch schon aus den Gesichtszügen eine Antwort auf seine<br />

Frage vorweg erahnen.<br />

Dr. Brenner sah seinen Sohn an. Sein Blick durchdrang Wolfgang, denn er war mehr<br />

durch und durch in die Ferne gerichtet. Seine Gesichtszüge verrieten nichts. Er verzog keine<br />

Miene.<br />

Nach einer Weile, die Wolfgang unendlich schien, sagte Dr. Brenner nachdenklich: „Tagebücher<br />

interessieren mich immer. Vielleicht könnte ich sie für meine Studie auswerten.<br />

Aber zuvor müssten sie abgeschrieben werden. Wo sind die Bücher jetzt?“<br />

„Soweit ich weiß haben Heikes Eltern sie nach Nürnberg gebracht und in dem alten Koffer,<br />

in dem sie die Hefte auch gefunden haben, im Keller verstaut.“ Heike hatte Wolfgang<br />

Brenner über den Verbleib <strong>der</strong> sechs Wachstuchkladden telefonisch informiert.<br />

„Im Keller!?“ Dr. Brenner hatte sich wie<strong>der</strong> hingesetzt. Ihm schien <strong>der</strong> Aufenthaltsort<br />

nicht zu gefallen. „Nicht gerade <strong>der</strong> beste Platz! Ich hätte sie in einen Banksafe gelegt.“<br />

„In einen Banksafe!? Warum?“ Wolfgang Brenner sah seinen Vater fragend an.<br />

„Unikate gehören in den Safe! Dort sind sie am besten aufgehoben.“<br />

<strong>Die</strong> Antwort seines Vaters schien Wolfgang nicht zufrieden zu stellen. „Warum sind sie in<br />

einem Banksafe zwischen Wertgegenständen am besten aufgehoben, Vati?“<br />

„Weil es unersetzliche Wertgegenstände sind“, antwortete Dr. Brenner mit fester, bestimmter<br />

Stimme.<br />

„Aha, so, so!“ stammelte Wolfgang und nickte leicht mit dem Kopf. Er konnte und wollte<br />

seinem Vater nicht wi<strong>der</strong>sprechen.<br />

„Ich werde es tun.“ Entschlossen stand Dr. Brenner auf und ging in seinem Büro umher.<br />

„Ich werde die Tagebücher lesen und sie Frau Beck diktieren. So bekommen wir die Texte am<br />

schnellsten in den verflixten Computer.“<br />

„Das würdest Du tun?“ Wolfgang war noch immer ein wenig ungläubig.<br />

35


„Ja, ich werde es tun“, bestätigte Dr. Brenner. „Aber zuvor muss ich etwas an<strong>der</strong>es tun.“<br />

Er ging aus seinem Büro und ließ seinen Sohn dort zurück, <strong>der</strong> sich sehr darüber freute, dass<br />

nun Heike und ihre Eltern die Tagebücher auch irgendwann einmal lesen könnten.<br />

Ich bin Dir zu großem Dank verpflichtet“, sagte Wolfgang zu seinem Vater, als dieser<br />

nach ein paar Minuten wie<strong>der</strong> das Büro betrat.<br />

„Danke nicht mir, son<strong>der</strong>n lieber meiner Neugier als Wissenschaftler“, entgegnete Dr.<br />

Brenner abwiegelnd, setzte sich wie<strong>der</strong> auf seinen Schreibtischstuhl und schmunzelte dabei.<br />

Ein leichtes Leuchten in seinen Augen verriet, dass er mit dem, was er sagte, nicht ganz unrecht<br />

hatte.<br />

„Wir müssen uns jetzt nur noch mit Heikes Eltern treffen“, meinte Wolfgang, nachdem sie<br />

sich eine Weile stumm gegenübersaßen.<br />

„Vielleicht wäre so eine kleine Party nicht das Schlechteste, sich zunächst einmal kennen<br />

zu lernen, denn ich kenne im Moment we<strong>der</strong> Deine neue Freundin Heike noch ihre Eltern.“<br />

Dr. Brenner war kein Kind von Traurigkeit. Obwohl sein Sohn schon studierte, zählte er sich<br />

mit seinen 45 Jahren noch lange nicht zu jener Generation, die sich von Gesellschaften kleinerer<br />

o<strong>der</strong> größerer Art zurückzog. Er war ein über die Grenzen des Landes hinaus anerkannter<br />

Wissenschaftler, <strong>der</strong> schon auf vielen internationalen Kongressen im öffentlichen Leben aufgetreten<br />

war.<br />

„Keine schlechte Idee, Vati“, entgegnete Wolfgang Brenner seinem Vater. „Wir müssen<br />

jetzt aber noch ein wenig warten, denn Heikes Eltern sind noch gut zwei Wochen im Urlaub.<br />

Aber ich werde noch heute Heike anrufen und alles in die Wege leiten.“<br />

„Mach’ das!“ Dr. Brenner konnte sich auf seinen Sohn verlassen. „Ich könnte im Moment<br />

auch nicht, denn ich muss nach Forchheim, um mit Dr. Nicol noch einiges zu besprechen.<br />

Außerdem habe ich nächste Woche noch einen Vortrag an <strong>der</strong> Uni Hamburg ...“<br />

„Wir werden schon einen Tag finden, an dem wir alle zusammen kommen können, um in<br />

Ruhe alles zu besprechen.“ Wolfgang Brenner hatte sich schon im Kopf einen Plan zurecht<br />

gelegt, wie er das Treffen mit den Eltern seiner Freundin arrangieren konnte.<br />

„Das meine ich auch“, stimmte Dr. Brenner seinem Sohn zu.<br />

„Also dann möchte ich Deine kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Vati“<br />

Wolfgang Brenner stand auf und ging einen Schritt auf seinen Vater zu, <strong>der</strong> ebenfalls aufgestanden<br />

war.<br />

„Nein, Wolfgang“, sagte Dr. Brenner ruhig, „Du stiehlst mir keine Zeit. Für Dich bin ich<br />

immer da. Und wenn Du mir dann möglicherweise noch etwas wissenschaftlich Auswertbares<br />

bringst erst recht. Tschüß Wolfgang!“<br />

„Tschüß Vati!“<br />

Vater und Sohn schüttelten sich herzlich die Hände. So verabschiedeten sie sich immer.<br />

Zwischen ihnen herrschte schon seit einigen Jahren ein herzliches Vater-Sohn-Verhältnis. Es<br />

war eigentlich erst so richtig entstanden, nachdem Dr. Brenners Frau bei einem tragischen<br />

Unfall gestorben war.<br />

Heike wachte auf und fühlte sich unwohl. <strong>Die</strong> große Hitze war einer mo<strong>der</strong>aten Wärme<br />

gewichen, aber die Luft war durchsättigt von einer Feuchte, die von Südwesten her auf Erlangen<br />

zuzog. Sie drehte sich im Bett um. Gerade als sie wie<strong>der</strong> einzuschlafen schien, begann <strong>der</strong><br />

Radiowecker sein Werk. Zunächst war nur Musik zu hören, doch um halb sieben kamen die<br />

Regionalnachrichten: „... Nürnberg: Heute Nacht gegen drei Uhr brach in einem Wohnhaus in<br />

<strong>der</strong> Uhlandstraße ein Feuer aus. Einem Nachtschwärmer, <strong>der</strong> sich gerade auf dem Nachhau-<br />

36<br />

8


seweg befand, ist es zu verdanken, dass nicht nur schnell die Feuerwehr alarmiert, son<strong>der</strong>n<br />

auch alle Bewohner schnell in Sicherheit gebracht werden konnten ...“<br />

Heike warf sich auf die linke Seite und schreckte hoch. Hatte sie da nicht Uhlandstraße<br />

gehört? Sie konzentrierte sich auf den Radiowecker, blinzelnd, verschlafen, aber die Regionalnachrichten<br />

waren vorüber. Wie<strong>der</strong> ertönte flotte Musik.<br />

Heike lag noch immer schlaftrunken auf dem Bett und blinzelte die Decke ihres Zimmers<br />

an. Sie war sehr müde, aber sie konnte nicht schlafen. Ein durchdringendes Gefühl <strong>der</strong> Hilflosigkeit<br />

befiel sie. Hatte sie nicht eben den Namen <strong>der</strong> Straße im Radio gehört, in <strong>der</strong> ihre Eltern<br />

wohnten?<br />

‚Mein Gott, die Tagebücher!’ schoss es ihr in den Sinn. ‚O nein! Hoffentlich sind sie nicht<br />

...?’ Heike stockte <strong>der</strong> Atem. Ihr Herz raste. Sie lag steif in ihrem Bett, unfähig sich zu bewegen.<br />

In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wollte aus dem Bett springen, ab sie war nicht imstande,<br />

sich zu bewegen, war wie gelähmt. Seufzend atmete sie tief durch.<br />

‚Nur ruhig Blut, dann wird alles gut’, durchfuhr es ihr. Es war ein Satz, den sie seit ihrer<br />

Schulzeit kannte. Damals im Entspannungstraining in <strong>der</strong> ersten und zweiten Klasse hatte sie<br />

diesen Satz von ihrem damaligen Rektor, Herrn Schmidt, so oft gehört, dass sich die Botschaft,<br />

die er in sich trug, bei ihr verinnerlicht hatte. Nein, es gab im Moment keinen Grund,<br />

sich über irgendetwas aufzuregen. Erst einmal galt es wach zu werden. Aber dafür hatte sie<br />

noch genügend Zeit, denn es waren Semesterferien und sie musste nicht zur Universität. Kein<br />

Seminar for<strong>der</strong>te sie auf, zeitig aus ihrem Appartement zu gehen. Aber dennoch war etwas in<br />

ihr, das sie nicht mehr einschlafen ließ. Sie konnte sich ihre Aufgeregtheit nicht gänzlich erklären<br />

und sagte sich immer wie<strong>der</strong>: ‚In <strong>der</strong> Ruhe liegt die Kraft.’<br />

<strong>Die</strong>s war fast ihr Lebensmotto, doch im Kern war sie noch ein jugendlicher Heißsporn.<br />

Sie wollte das Leben genießen, viele Leute kennen lernen und vor allem: Sie wollte wissen,<br />

was in den Tagebüchern stand. Ihre jugendliche Neugier hatte sie fest im Griff, aus dem sie<br />

sich nicht befreien konnte und auch nicht wollte. Gab es vielleicht ein Geheimnis? Wenn ja,<br />

welches? Tausend Fragen schossen jetzt durch ihren Kopf. Es wurde ihr fast schwindlig dabei.<br />

Doch die Tatsache, dass es in <strong>der</strong> Straße, in <strong>der</strong> ihre Eltern in Nürnberg wohnten, gebrannt<br />

hatte, beschäftigte ihr Unterbewusstsein mehr als alles an<strong>der</strong>e.<br />

Heike ging ins Bad und schaute nach ihrer Morgentoilette in den Spiegel. <strong>Die</strong>ses Mal erschrak<br />

sie nicht, ganz im Gegensatz zum Morgen nach <strong>der</strong> Nacht, in <strong>der</strong> sie mit Wolfgang im<br />

Mausloch Beerenwein getrunken hatte. Heute war sie zwar noch ein wenig müde, im Großen<br />

und Ganzen aber geistig auf <strong>der</strong> Höhe.<br />

‚Ich muss unbedingt nach Nürnberg fahren und nachsehen, wo es in <strong>der</strong> Uhlandstraße gebrannt<br />

hat’, dachte sie bei sich, als sie sich kämmte. ‚Ich kann nur hoffen, dass es nicht das<br />

Haus meiner Eltern ist. Er wäre eine Ironie des Schicksals. Erst findet man alte Tagebücher<br />

seiner Urgroßmutter und dann, kaum dass man sie aus ihrem jahrzehntelangen Schlummer<br />

erweckt hat, verbrennen sie, nur, weil irgendein Betrunkener vergessen hat, seine Kippe im<br />

Aschenbecher auszudrücken.’<br />

Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Koffer im Keller <strong>der</strong> Wohnung ...<br />

Im Haus, in dem Heikes Eltern wohnten, war es still, doch die Nacht draußen war mit<br />

Lärm erfüllt. <strong>Die</strong> Kommandos <strong>der</strong> Feuerwehr hallten an den Häuserwänden wie<strong>der</strong> . <strong>Die</strong> Signallichter<br />

<strong>der</strong> Einsatzfahrzeuge durchzuckten das Dunkel. Aus dem Dachstuhl des Hauses<br />

neben demjenigen, in dem Heinz und Elke ihre Wohnung hatten, drang dichter Rauch nach<br />

außen.<br />

„Sind alle Leute evakuiert?“ schrie ein Feuerwehrmann.<br />

„Ja!“, ertönte es mehrstimmig.<br />

„Dann Wasser Marsch!“<br />

Zischend verband sich das Wasser mit dem heißen Element, durchbrach den Dachboden,<br />

floss die Treppe hinunter bis zum Erdgeschoss und drang ins Nebenhaus ein. Erst tropfend,<br />

37


dann fließend füllte sich <strong>der</strong> Keller mit Löschwasser. Zentimeter für Zentimeter stieg <strong>der</strong><br />

Wasserspiegel, Zentimeter um Zentimeter kam das Wasser dem dunkelbraunen Koffer näher,<br />

<strong>der</strong> hinten oben im Regal stand. Zur gleichen Zeit schlief Heike selig.<br />

Heike zog sich rasch an. Sie war in Eile, denn sie musste Klarheit gewinnen, ob das Haus,<br />

in dem ihre Eltern wohnten, gebrannt hatte o<strong>der</strong> nicht. Sie musste den Koffer wie<strong>der</strong>sehen, in<br />

dem die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> lagen. Ohne zu frühstücken stieg sie in ihren Kleinwagen und<br />

fuhr nach Nürnberg.<br />

<strong>Die</strong> Uhlandstraße war gesperrt. Heike fand ein paar Straßen weiter einen Parkplatz und<br />

eilte zur Wohnung ihrer Eltern. Als sie in die Uhlandstraße einbog, sah sie schon einen Polizeiwagen<br />

vor dem Haus ihrer Eltern stehen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Auf <strong>der</strong> Straße<br />

standen noch ein paar Leute, die sie nicht weiter beachtete. Fieberhaft kramte sie in ihrer kleinen<br />

Handtasche nach dem Schlüssel zur Wohnung ihrer Eltern. Sie fand ihn schließlich und<br />

wollte gerade ins Haus gehen, als ein Grünuniformierter auf sie zutrat.<br />

„Wohnen Sie hier?“<br />

„Nein, aber ich will in die Wohnung meiner Eltern nach dem Rechten sehen. Sie sind verreist.“<br />

„Sie dürfen in das Haus noch nicht hinein!“<br />

„Warum nicht?“<br />

„<strong>Die</strong> Kollegen von <strong>der</strong> Spurensicherung sind noch am Werk. Ich darf noch keinen ins<br />

Haus lassen.“<br />

„Aber ich will doch dort hinein“, entgegnete Heike dem Beamten und deutete auf die<br />

Haustüre, die ihr noch sehr vertraut war. Wie oft war sie durch diese Türe gegangen? <strong>Die</strong> Erinnerungen<br />

an ihre Kindheit kamen schlagartig zurück.<br />

„Ach, Sie meinen Uhlandstr. 7“, sagte <strong>der</strong> Polizist etwas erstaunt. „Aber seien sie vorsichtig.<br />

<strong>Die</strong> Feuerwehr ist noch dabei, den Keller leer zu pumpen.“<br />

„Mein Gott!“, schrie Heike. <strong>Die</strong> leichte, frische Röte war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihr<br />

wurden die Knie weich.<br />

„Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?“ Der Polizist streckte helfend seine Hand aus.<br />

„Nein, danke! Es geht schon wie<strong>der</strong>.“ Heike hatte sich wie<strong>der</strong> gefasst und schritt zielstrebig<br />

<strong>der</strong> Haustüre zu. Erst jetzt sah sie den Schlauch, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Haustüre über den Gehsteig<br />

zur Straße hinaus führte und aus dessen Ende in rhythmischen, kleinen Schwallen gepumptes<br />

dunkelbraun gefärbtes Wasser in die Gehsteigrinne floss und im nächsten Gully glucksend<br />

verschwand. Ihr schwante Fürchterliches. War durch das Löschwasser <strong>der</strong> gesamte Keller<br />

überschwemmt worden? Eine gewisse Wut stieg in ihr hoch. Hätte man den Koffer nicht irgendwo<br />

an<strong>der</strong>s aufbewahren können?<br />

Aber jetzt war es zu spät. Eilig ging sie in das Haus. Sie wollte sofort im Keller nachsehen,<br />

doch auf <strong>der</strong> Kellertreppe kam ihr ein Feuerwehrmann entgegen.<br />

„Wollen Sie in den Keller?“, fragte er. „Wir sind noch am Auspumpen. Da können Sie nur<br />

in Gummistiefeln hinein.“<br />

Heike wurde wie<strong>der</strong> das ganze Ausmaß <strong>der</strong> Lage bewusst. „Wie tief stand <strong>der</strong> Keller denn<br />

unter Wasser?“<br />

„Etwa einen halben Meter“, antwortete <strong>der</strong> Feuerwehrmann. „Aber legen Sie mich nicht<br />

auf eine genaue Zahl fest.“<br />

„Da bin ich aber froh“, entfuhr es Heike. Sie atmete auf.<br />

„Es ist schlimm genug, dass das Löschwasser überhaupt hier eingedrungen ist. Wir wissen<br />

nicht warum.“ <strong>Die</strong> Feuerwehr hatte nicht schlecht gestaunt, als sie erfuhr, das <strong>der</strong> Keller des<br />

Nachbarhauses mit Löschwasser fast vollgelaufen war.<br />

Heike machte kehrt und eilte schnell in die Wohnung ihrer Eltern, die sich in <strong>der</strong> dritten<br />

Etage befand. Sie schaute in jedes Zimmer. Alles war in Ordnung. Sie sah aber den kleinen<br />

38


Wasserfleck in <strong>der</strong> Tapete des Schlafzimmers nicht, dessen eine Wand an das Nachbarhaus<br />

grenzte.<br />

‚Wenn ich schon einmal da bin, kann ich gleich nach den Pflanzen sehen’, dachte sie bei<br />

sich und ging in die kleine Küche, in <strong>der</strong> schon früher die kleine Gießkanne stand.<br />

Nachdem sie alle Pflanzen gut mit Wasser versorgt hatte, schaute sie auf ihre Armbanduhr.<br />

‚Man sollte es nicht für möglich halten’, dachte sie bei sich. ‚Kaum bin ich hier, schon ist<br />

eine halbe Stunde vorbei. Wie die Zeit nur vergeht, wenn man arbeitet.’<br />

Heikes Innerstes hatte sich wie<strong>der</strong> beruhigt. Wenn die Feuerwehr recht hatte, konnte dem<br />

dunkelbraunen Koffer und den darin befindlichen Papieren durch das Wasser kein Schaden<br />

entstanden sein. Er befand sich ja in knapp zwei Metern Höhe im hintersten Regal.<br />

Der Wasserspiegel im Keller <strong>der</strong> Markerts sank von Minute zu Minute. <strong>Die</strong> Saugpumpe<br />

<strong>der</strong> Feuerwehr leistete ganze Arbeit, während Heike vier Stockwerke höher die Pflanzen ihrer<br />

Eltern versorgte.<br />

Heike stellte die kleine, grüne Plastikgießkanne wie<strong>der</strong> auf ihren Platz in <strong>der</strong> Küche und<br />

machte sich daran, die elterliche Wohnung zu verlassen. Hastig griff sie in ihre Tasche und<br />

suchte nach dem Schlüssel. Sie musste jetzt unbedingt im Keller nachsehen, sie musste sehen,<br />

ob <strong>der</strong> Koffer unbeschädigt war.<br />

Heike schloss die Wohnungstüre ab und stieg die Treppe hinunter. Kein Mensch war zu<br />

sehen. Auch die Feuerwehr war nicht mehr im Haus.<br />

Vorsichtig stieg sie die feuchte Kellertreppe hinab. Der Boden war noch nass, aber mit<br />

normalen Schuhen begehbar. Heike atmete auf, nachdem sie die Kellertüre aufgeschlossen<br />

hatte. Sie ging in den hinteren Teil. Im fahlen Schein <strong>der</strong> Lampe sah sie ihn endlich. Er lag<br />

noch genau so da, wie sie ihm vor einigen Tagen in das Regal gelegt hatte.<br />

‚Gott sei Dank!’ seufzte Heike im Gedanken. ‚Das ist ja noch mal gut gegangen.’ Ihr fiel<br />

ein Stein vom Herzen. Noch einmal atmete sie tief durch. <strong>Die</strong> Luft roch feucht und modrig.<br />

Es würde einige Zeit dauern, bis <strong>der</strong> Boden, bis <strong>der</strong> Keller wie<strong>der</strong> abgetrocknet war, aber größerer<br />

Schaden war durch das eingedrungene Wasser nicht entstanden, so viel konnte Heike<br />

feststellen. Aber für sie war das Wichtigste, dass <strong>der</strong> Koffer trocken geblieben war.<br />

‚Es gibt bestimmt sicherere Orte zur Aufbewahrung von Papieren’, dachte Heike bei sich.<br />

‚Vielleicht sollte man die Tagebücher kopieren und die Originale in einem Banksafe deponieren.<br />

Aber deswegen extra einen zu mieten ...’<br />

Sie musste sich losreißen von diesem dunklen, feuchten Ort, <strong>der</strong> vielleicht ein Geheimnis<br />

barg. Heike ertappte sich dabei, dass sie schon den Koffer ergreifen und forttragen wollte, im<br />

letzten Moment aber ihre Hand wie<strong>der</strong> zurückzog. Nein, sie wollte, sie musste warten, bis ihre<br />

Eltern aus dem Urlaub zurückkamen. Schließlich gehörten die Papiere nicht ihr und sie wollte<br />

auch nicht eigenmächtig handeln.<br />

Es schien Heike eine Ewigkeit, wie sie so im halbtrüben Licht im Keller stand. Endlich<br />

drehte sie sich um und ging langsam zur Kellertüre, die aus schmalen Holzlatten bestand,<br />

durch die man ein wenig in den Keller hineinschauen konnte. Im vor<strong>der</strong>en Bereich standen<br />

Bier- und Wasserkisten und ein Weinregal, in dem einige edle Tropfen lagerten. Der hintere<br />

Teil zu einem kleinen Fenster hin, das sich auf Gehsteigebene befand, wurde von einem Regal<br />

aus grau lackiertem Blech dominiert und ganz oben lagen die beiden Koffer aus dem Haus<br />

von Elkes Mutter.<br />

Heike warf noch einen Blick zu ihnen hinauf, dann wandte sie sich um und ging langsam<br />

zur Türe, hängte das Vorhängeschloss in die starke, breite Öse und schnappte es zu. ‚Es wird<br />

langsam Zeit, dass du aus dem muffigen Dunst verschwindest’, dachte sie bei sich, beschleunigte<br />

ihre Schritte und stieg eilig die Treppe zum Eingangsflur hinauf. Kein Mensch war im<br />

Treppenhaus zu sehen. Alle Aufregung hatte sich gelegt. <strong>Die</strong> Menschen im Haus waren entwe<strong>der</strong><br />

in ihre Wohnungen gegangen und suchten nach eventuellen Schäden durch den Dachstuhlbrand<br />

im Nebenhaus o<strong>der</strong> sie gingen ihrem Broterwerb nach, vielleicht ihren Kollegen<br />

39


von dem Brand erzählend o<strong>der</strong> aber auch schweigend, ihr Erlebnis und den Brand im Nebenhaus<br />

still in sich verarbeitend.<br />

Heike eilte durch die Haustüre hinaus auf den Gehsteig. Sie blickte sich um. Keine Feuerwehr,<br />

keine Polizeistreifen waren mehr zu sehen, nur ein unauffällig gekleideter, nicht mehr<br />

ganz so junger Mann beobachtete von <strong>der</strong> gegenüberliegenden Straßenseite aus das Nebenhaus.<br />

Heike sah ihn nicht. Sie hatte ihren Kopf nachdenklich etwas zum Erdboden hin gesenkt<br />

und blieb nach einigen Schritten stehen.<br />

‚Was mache ich mit diesem angebrochenen Vormittag?’, fragte sie sich in Gedanken. ‚Eigentlich<br />

könnte ich den Wagen stehen lassen und mit <strong>der</strong> U-Bahn in die Altstadt fahren und ...<br />

Ja, das mache ich!’ Heike ging in Richtung U-Bahn.<br />

Kurz vor <strong>der</strong> Treppe zum Zwischengeschoss des U-Bahnhofs erblickte sie ein Schreibwarengeschäft.<br />

Es war ein altes, eingesessenes Geschäft, das die Konkurrenz von Kaufhäusern<br />

und Supermarktketten überlebt hatte, weil es noch genügend Menschen gab, die auch bei<br />

Schreibwaren auf Qualität achteten und von Menschen bedient werden wollten, die nicht nur<br />

hinter dem Ladentisch standen, son<strong>der</strong>n mit denen man auch noch ein kleines Schwätzchen<br />

abhalten konnte.<br />

Heike blieb stehen und ging nach einem kurzen Augenblick <strong>der</strong> Überlegung in Richtung<br />

des Schaufensters des Schreibwarenladens. Dort blieb sie stehen und betrachtete die Auslage.<br />

Sie war geschmackvoll dekoriert, aber nicht überladen. Neben einigen Accessoires, die man<br />

auch im Kaufhaus kaufen konnte, waren einige Schreibgeräte trappiert, ein etwas teuerer Kugelschreiber<br />

in strahlendem, eloxiertem Aluminium, ein Füllfe<strong>der</strong>halter mit einem Vogel als<br />

Firmenzeichen, ein paar Hefte mit Bleistiften, die zufällig hingeworfen schienen.<br />

Einige Zeit blieb Heike vor <strong>der</strong> Auslage des Geschäftes stehen. Völlig überraschend<br />

durchfuhr sie ein Gedanke, den sie zunächst kaum wahrnahm, <strong>der</strong> sie aber antrieb, schnell ins<br />

Schreibwarengeschäft zu gehen.<br />

„Sie wünschen?“, fragte die grauhaarige Frau hinter dem Ladentisch.<br />

„Ach, ich habe nur eine Frage.“ Heike wusste erst jetzt, was sie eigentlich in dem Geschäft<br />

suchte.<br />

„Und die wäre?“<br />

„Gibt es eigentlich noch <strong>Wachstuchhefte</strong>?“<br />

„<strong>Wachstuchhefte</strong>!?“ <strong>Die</strong> freundliche, ältere Frau überlegte. „An sich gibt es sie nicht<br />

mehr. Aber warten sie! Vielleicht könnte da noch etwas im Lager sein.“ <strong>Die</strong> Verkäuferin<br />

schaute Heike fragend an. <strong>Die</strong>se nickte nur. „Ich seh’ mal nach.“ <strong>Die</strong> ältere Frau drehte sich<br />

um und eilte in einen Nebenraum.<br />

Heike sah sich im Geschäft um. Sie war nicht allein. Ein älterer Herr war ebenfalls in das<br />

Geschäft getreten und ging zu einem Regal, in dem Hefte und Papier lagen.<br />

Im Nebenraum hörte Heike die ältere, grauhaarige Frau kramen. „Ah ja, da haben wir ja<br />

doch noch welche!“ stieß die Verkäuferin im Nebenraum plötzlich hervor. Eilends kam sie<br />

wenige Augenblicke später in den Verkaufsraum zurück. In ihren Händen hielt sie zwei<br />

schwarz glänzende Gegenstände in Schulheftgröße und hielt sie Heike hin.<br />

„Das sind <strong>Wachstuchhefte</strong>?“ Heike war ein wenig erstaunt. Sie konnte sich die Hefte ihrer<br />

Urgroßmutter erst jetzt wie<strong>der</strong> so richtig vorstellen.<br />

„Ja, so etwas Ähnliches“, wandte die grauhaarige Frau einschränkend ein. „<strong>Die</strong> ganz alten<br />

hatten noch einen stärkeren Heftdeckel. Aber diese hier dürften etwa aus <strong>der</strong> Zeit nach dem<br />

Krieg stammen“, ergänzte die freundliche Frau.<br />

Heike nahm eines <strong>der</strong> dicken Hefte mit dem schwarz glänzenden Deckel und schlug es<br />

auf. Fast ehrfürchtig blätterte sie die karierten, weißen leeren Seiten durch. <strong>Die</strong> Verkäuferin<br />

beobachtete sie dabei und lächelte.<br />

„Ich nehme sie beide“, sagte Heike kurz entschlossen<br />

40


„Darf ich noch einmal sehen?“ <strong>Die</strong> ältere Frau suchte nach <strong>der</strong> Preisauszeichnung. „<strong>Die</strong><br />

haben noch keine neue Preisauszeichnung. Aber da hinten ... Sehen Sie!“ Sie hielt Heike den<br />

rückwärtigen Einbanddeckel hin. Auf ihm stand mit etwas krakeliger Schrift: 2,90 M.<br />

„Ich gebe Sie Ihnen beide für 1,50 €. Okay?“<br />

„In Ordnung.“ Heike spürte plötzlich ein freudiges, warmes Gefühl, eine Empfindung, als<br />

hätte sie gerade das Geschäft ihres Lebens gemacht.<br />

„Soll ich Ihnen die zwei Hefte einpacken?“ <strong>Die</strong> freundliche alte Frau lächelte Heike an.<br />

„Nein, danke! Ich stecke sie so in meine Tasche“, gab Heike zurück und kramte ihre<br />

Geldbörse aus ihrer Handtasche hervor. Dabei fielen ihr die Schlüssel zur Wohnung ihrer Eltern<br />

aus <strong>der</strong> Tasche auf den Boden. Heike hob sie schnell auf und steckte sie wie<strong>der</strong> ein. Sie<br />

gab <strong>der</strong> Ladeninhaberin eine Zweieuromünze und bekam 50 Cent zurück. Als sie die Rückseite<br />

anschaute, merkte sie, dass es ein portugiesisches 50-Cent-Stück war. <strong>Die</strong> Münzen mischten<br />

sich langsam in Europa.<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ sagte Heike lachend, steckte die beiden <strong>Wachstuchhefte</strong> ein und<br />

wandte sich zur Ladentür.<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ rief ihr die freundliche alte Frau mit den grauen Haaren nach. ‚Endlich<br />

habe ich diese Ladenhüter los’, dachte sie bei sich und lächelte, dann wandte sie sich dem<br />

älteren Herren zu.<br />

Heikes Entschluss stand fest. Sie stieg schnell die Stufen zum Verteilergeschoss des U-<br />

Bahnhofes hinab. Sie war wild entschlossen, ihre Gedanken und Gefühle in die schwarzen<br />

Hefte zu schreiben.<br />

Sie nahm die nächste U-Bahn in Richtung Stadtmitte. Am Opernhaus stieg sie aus und<br />

ging zielstrebig zum Café Pinguin, indem sie sich mit Wolfgang schon ein paar Mal getroffen<br />

hatte.<br />

„Was darf’s sein?“ fragte die kleine Bedienung mit dem dunklen Teint.<br />

„Einen Cappuccino .. Ach nein! Heute bitte ein Kännchen Kaffee, bitte!“ Heike hatte sich<br />

für Kaffee entschieden, denn sie wollte schreiben. Doch zunächst beobachtete sie erst einmal<br />

die Menschen, die auf dem Platz vorübergingen.<br />

‚Komisch’, dachte sie bei sich, ‚hier in <strong>der</strong> Großstadt beobachtet man äußerst selten die<br />

gleichen Leute. Immer wie<strong>der</strong> tauchen neue Gesichter auf. Immer trifft man auf neue, unbekannte<br />

Menschen. <strong>Die</strong> Großstadt hat ein riesiges Reservoir an (bisher) unbekannten Gesichtern.<br />

Aber irgendwann müsste man doch wie<strong>der</strong> dieselben Gesichter sehen ...’<br />

„Ihr Kaffee, bitte sehr!“ <strong>Die</strong> Bedienung schreckte Heike aus ihren Tagträumen auf. Träumen<br />

wollte sie ja, aber auf dem Papier. Sie zog eines <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> aus ihrer Tasche<br />

und begann zu schreiben ...<br />

<strong>Die</strong> Tagebücher sind gerettet. Das Löschwasser, verursacht durch einen Brand im Haus<br />

neben <strong>der</strong> Wohnung meiner Eltern, das in den Keller gelaufen war, hatte den Koffer zum<br />

Glück nicht erreicht, in denen sie jetzt noch im Keller liegen. Trotzdem hatte ich ein unwohles<br />

Gefühl, als ich wie<strong>der</strong> aus dem Keller ging, um mich hierher zu begeben. Doch ich könnte<br />

nicht schreiben, wenn ich mir nicht dieses alte Heft gekauft hätte. Der Zufall führte mich in<br />

jenes Schreibwarengeschäft am U-Bahnhof Maxfeld, in dem ich es zufällig erwarb, einen Ladenhüter<br />

für ehemals 2,90 Mark. Kann es zwei o<strong>der</strong> mehr Zufälle innerhalb weniger Minuten<br />

an einem Tag geben? Ich meine, es gibt mehr als eine Vorsehung. Alles kann nicht Zufall sein<br />

...<br />

Heike schrieb und schrieb. Ihre Gedanken sprudelten nur so aus ihrem Kopf hervor. Dabei<br />

merkte sie überhaupt nicht, wie sich draußen <strong>der</strong> Himmel zuzog und es leicht zu regnen begann.<br />

<strong>Die</strong> eh schon feuchte Luft an diesem Vormittag wurde noch dampfiger, denn es war ja<br />

nicht kalt. Der August zeigte sich ganz von seiner warmen, aber auch feuchten Seite.<br />

41


Nach geraumer Zeit schenkte sich Heike die zweite Tasse ihres Kännchens Kaffees ein,<br />

<strong>der</strong> merklich abgekühlt war.<br />

‚Es ist doch schön, ins Café zu gehen und zu schreiben’, dachte sie bei sich. Sie hielt in<br />

ihrem Schreiben inne und betrachtete die Zeilen, die sie bereits geschrieben hatte. Aber Heike<br />

las nicht, was sie da während <strong>der</strong> letzten halben Stunde an Gedanken auf immerhin schon<br />

zwei Heftseiten angesammelt hatte. Fast trunken blickte sie auf und tauchte wie<strong>der</strong> ein in die<br />

reale Welt, aus <strong>der</strong> sie in ihre innere Welt <strong>der</strong> Vorstellung und Gedanken versunken war.<br />

Heike blickte um sich. <strong>Die</strong> wenigen Stühle im Inneren des Café Pinguin waren nur spärlich<br />

besetzt, während sich draußen viele Gäste unter dem Sonnenschirm nie<strong>der</strong>gelassen hatten,<br />

<strong>der</strong> jetzt bei dem leichten Regen mehr ein Regenschirm war.<br />

Sie trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte ihr, obwohl er langsam begann lauwarm zu<br />

werden. Danach fiel ihr Blick aber sofort wie<strong>der</strong> auf das aufgeschlagene Heft mit dem<br />

schwarzen, sich wachsartig anfühlenden Deckel, das ihre Gedanken magisch anzog. Sie musste<br />

weiter schreiben, musste weiter ihre <strong>der</strong>zeitigen Gedanken in Form von Sätzen dem Papier<br />

anvertrauen.<br />

‚Ich schreibe ja wie in ein Tagebuch’, durchfuhr es Heike plötzlich und sie hielt wie<strong>der</strong> im<br />

Schreiben inne. ‚Warum habe ich eigentlich nicht schon früher Tagebuch geschrieben? Was<br />

veranlasst mich jetzt wie in ein Tagebuch zu schreiben? Warum hat meine Urgroßmutter<br />

sechs dicke Hefte vollgeschrieben? ...’<br />

<strong>Die</strong> Fragen, die Heike jetzt durch den Kopf gingen, wollten kein Ende nehmen. Sie versuchte,<br />

sie alle aufzuschreiben, aber ihre Gedanken waren schneller als die Hand, die ihren<br />

Stift führen musste.<br />

‚Man könnte verzweifeln. So viele Fragen und ich kann sie nicht einmal alle aufschreiben.’<br />

<strong>Die</strong> Gedanken in Heikes Kopf überschlugen sich, durchdrangen sich gegenseitig, tauchten<br />

urplötzlich auf und verschwanden so schnell wie sie ihr in den Sinn gekommen waren. Es<br />

war zum verrückt werden. Sie konnte schlagartig nicht mehr schreiben, weil zu viele Gedanken<br />

gleichzeitig in Kopf herumschwirrten.<br />

‚Ich muss jetzt aufhören’, dachte Heike bei sich. Entschlossen klappte sie das Heft zu und<br />

steckte das Heft und den Stift in ihre Handtasche. Sie betrachtete jetzt lieber die Leute, die<br />

draußen vorbeigingen. <strong>Die</strong> meisten von ihnen hatten ihre Regenschirme wie<strong>der</strong> zugemacht,<br />

denn es hatte zu regnen aufgehört. <strong>Die</strong> hochstehende Sonne war immer deutlicher durch die<br />

dünner werdenden Wolken zu sehen.<br />

Der Platz vor dem Café Pinguin dampfte. Der leichte Regen hatte die Luft nur wenig abgekühlt.<br />

Es war noch schwüler geworden als vor dem Regen. Heike griff in ihre Handtasche<br />

und holte sich ein Stofftaschentuch hervor, mit dem sie sich die kleinen Schweißperlen abtupfte,<br />

die sich auf ihrer Stirne zu bilden begannen. Dabei sah sie wie<strong>der</strong> die beiden Hefte mit<br />

den schwarzen Deckeln. Fast unbewusst zog sie das Wachstuchheft wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Tasche, in<br />

das sie bis vor wenigen Minuten geschrieben hatte.<br />

Heike legte das dicke Heft wie<strong>der</strong> rechts neben das kleine silbrig glänzende Tablett, auf<br />

dem das leere Kaffeekännchen und eine fast leere Kaffeetasse standen.<br />

<strong>Die</strong> kleine Bedienung mit dem dunklen Teint schaute vorbei. „Darf ich Ihnen noch etwas<br />

bringen?“<br />

Heike überlegte kurz. „Bringen Sie mir bitte noch einen Cappuccino.“<br />

„Einen Cappuccino, sofort!“ <strong>Die</strong> Bedienung ging an die Theke, um Heikes Bestellung<br />

aufzugeben.<br />

Heike schlug das Heft auf und las, was sie geschrieben hatte. ;Ja, es ist ein Tagebucheintrag’,<br />

dachte Heike und schrieb das Datum auf die erste Zeile <strong>der</strong> ersten Seite, die sie frei gelassen<br />

hatte. ‚Ich muss regelmäßig Tagebuch schreiben, sonst sind all die Gedanken und Gefühle,<br />

die ich denke und fühle weg., für alle Zeiten verschwunden’, reflektierte sie weiter und<br />

ihr fiel auch ein Sprichwort ein, das verknappend aussagt, dass nur <strong>der</strong>jenige bleibe, <strong>der</strong> auch<br />

schreibe.<br />

42


‚Wie wahr, wie wahr!’ dachte Heike weiter. ‚Wenn meine Urgroßmutter nicht geschrieben<br />

hätte, dann ... Aber was nützen alte Tagebücher, wenn sie unentdeckt irgendwo herumliegen<br />

und am Ende ihres Daseins im Altpapier landen. Es müsste eine Stelle geben, wo man sie deponieren<br />

könnte. Aber wo?’<br />

„Ihr Cappuccino, bitte sehr!“ <strong>Die</strong> Bedienung stellte die Tasse auf den Tisch und nahm das<br />

Tablett mit dem leeren Kaffeekännchen und <strong>der</strong> Tasse mit. Heike bemerkte sie kaum. Sie war<br />

vertieft in ihre Gedanken, von denen sie einige wenige in ihrem neuen Tagebuch nie<strong>der</strong>gelegt<br />

hatte.<br />

Erst nach einiger Zeit wurde Heike bewusst, was die Bedienung ihr auf das kleine Bistrotischchen<br />

gestellt hatte. Es blieb mit dem aufgeschlagenen Tagebuch wenig Platz auf dem<br />

kleinen Tisch. Heike ließ zwei Stückchen Würfelzucker in ihren Cappuccino gleiten und verrührte<br />

den Schaum aus dampfgeschlagener Milch mit <strong>der</strong> Flüssigkeit darunter. Nachdenklich<br />

in ihren frischen Aufzeichnungen lesend, legte sie den kleinen Löffel auf die Untertasse.<br />

Wollte sie jetzt weiterschreiben, weiter ihre Gedanken zu Papier bringen?<br />

‚Warum habe ich nicht schon längst in ein Tagebuch geschrieben?’ fragte sie sich und ließ<br />

dabei die letzten Jahre vor ihrem geistigen Auge, in ihrer Vorstellung Revue passieren. Sie<br />

trank einen Schluck. Der Cappuccino war noch heiß. Ihre Zungenspitze schmerzte, aber sie<br />

hatte wie<strong>der</strong> einen Gedanken, den sie unbedingt nie<strong>der</strong>schreiben wollte. Eilig kramte sie in<br />

ihrer Handtasche nach dem roten Kugelschreiber, mit dem sie meistens schrieb. Heike geriet<br />

fast in Panik, denn <strong>der</strong> eben erst entstandene Gedanke war im Begriff, sich aus ihrem Kopfe<br />

zu verabschieden. Endlich fand sie den Stift. Hastig schrieb Heike weiter in das Wachstuchheft<br />

...<br />

Ich habe gerade die letzten Jahre aus dem Gedächtnis vor mir ablaufen lassen und komme<br />

zu <strong>der</strong> Auffassung, dass ich fast leichtsinnig gehandelt habe, indem ich meine Gedanken und<br />

Gefühle nicht diesem Heft anvertraut habe. <strong>Die</strong>sen Fehler möchte ich künftig nicht wie<strong>der</strong><br />

begehen. Ich will alles das hier ohne Filter nie<strong>der</strong>schreiben, was mich bedrückt, aber auch<br />

was mich in meinem Inneren erfreut o<strong>der</strong> überrascht (hat).<br />

Wie<strong>der</strong> war Heike geistig in sich versunken und nahm ihre Umgebung kaum mehr wahr.<br />

Sie musste jetzt schreiben, Zeit dazu hatte sie ja genug, denn sie hatte ja in den Semesterferien<br />

keine Lernverpflichtungen an <strong>der</strong> Universität. Glückliche Studentin!<br />

Heike blickte auf, nachdem sie ihr neues Tagebuch mit dem schwarzen, glänzenden Heftdeckel<br />

zugeklappt hatte. Noch immer nachdenklich steckte sie das Heft und den roten Kugelschreiber<br />

in ihre Tasche, trank den Rest des Cappuccinos aus und winkte die kleine, dunkelhaarige<br />

Bedienung zu sich an den Tisch.<br />

„Bezahlen, bitte!“! Heike öffnete ihre Geldbörse.<br />

<strong>Die</strong> Bedienung rechnete im Kopf. „Drei zehn und eins fünfzig macht vier sechzig“, sagte<br />

sie. Heike gab ihr einen Fünf-Euro-Schein.<br />

„Und vierzig Cents zurück.“ <strong>Die</strong> Bedienung gab Heike zwei Zwanzig Cent Münzen zurück.<br />

Heike stand auf, nahm ihre Tasche und ging in die erste Etage des Cafés, wo sich die Toiletten<br />

befanden. Fünf Minuten später verließ sie das „Pinguin“ und strebte dem U-Bahnhof<br />

Weißer Turm zu. Sie hatte sich entschlossen, möglichst schnell nach Erlangen zurück zu fahren,<br />

aber zuvor musste sie zu ihrem Wagen, den sie in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Wohnung ihrer Eltern<br />

geparkt hatte.<br />

Als Heike in ihren Kleinwagen einstieg, machte sich ein gewisses Hungergefühl bei ihr<br />

bemerkbar. ‚Ich fahr’ erst nach Erlangen und esse daheim’, dachte sie bei sich. Ihr Studentenbudget<br />

war nicht so reichlich, dass sie es sich leisten konnte, jeden Tag im Restaurant zu speisen.<br />

‚Ich werde mir den Rest des Rissottos von gestern warm machen. Es hat mir gut geschmeckt.’<br />

43


So schnell es <strong>der</strong> Verkehr zuließ, fuhr Heike zu ihrem Studentenappartement. An <strong>der</strong><br />

Wohnungstüre hörte sie schon das Telefon läuten. Eilig schloss sie auf und stürzte sich auf<br />

den Apparat.<br />

„Markert!“<br />

„Hallo Heike! Wie gehr es Dir?“ <strong>Die</strong> Stimme ihrer Mutter am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung<br />

klang etwas besorgt.<br />

„Gut, Mutti!“ Heike überlegte kurz, ob sie von dem Brand im Haus neben <strong>der</strong> Wohnung<br />

ihrer Eltern erzählen sollte.<br />

„Ist was?“ Heikes Mutter hatte gemerkt, dass ihre Tochter einen kurzen Moment nachgedacht<br />

hatte. „Wolltest Du etwas sagen, Heike?“<br />

„Ja, ich war bei Euch in <strong>der</strong> Wohnung.“<br />

„Und? Ist alles in Ordnung?“<br />

„Bei Euch ja, aber im Nebenhaus hat es heute Nacht gebrannt.“<br />

„Was!? Wie ist das passiert?“ Heikes Mutter war verständlicherweise plötzlich furchtbar<br />

aufgeregt.<br />

„Ich weiß nicht“, antwortete Heike und stellte sich die Falten auf <strong>der</strong> Stirne ihrer Mutter<br />

vor. „Ich habe es heute früh eher zufällig im Radio gehört, dass es in <strong>der</strong> ...str. gebrannt haben<br />

soll. Ich bin daraufhin gleich nach dem Frühstück nach Nürnberg in Eure Wohnung gefahren<br />

und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist.“<br />

„Und?“<br />

„In <strong>der</strong> Wohnung habe ich keine Schäden bemerkt. Aber <strong>der</strong> Keller musste ausgepumpt<br />

werden, weil er mit Löschwasser einen halben Meter hoch vollgelaufen ist. So hat mir die<br />

Feuerwehr zumindest gesagt.“<br />

Heikes Mutter atmete tief. „Da kann nicht viel kaputt gegangen sein, außer ...“<br />

„Nein, Mutti, auch im Keller ist alles in Ordnung.“ Heike versuchte, ihre Mutter am an<strong>der</strong>en<br />

Ende <strong>der</strong> Leitung zu beruhigen. „<strong>Die</strong> beiden Koffer sind auch nicht beschädigt. Sie liegen<br />

ja ganz oben im Regal.“<br />

„Da bin ich aber froh“, sagte Elke erleichtert und blickte zu Heinz hinüber, <strong>der</strong> es sich auf<br />

dem Sofa ihres Hotelzimmers bequem gemacht hatte. Er blickte erschreckt zu seiner Frau.<br />

„Ist etwas in Nürnberg passiert?“<br />

„Ich erzähl’ Dir’s gleich“, gab Elke zurück.<br />

„Also brauchen wir unseren Urlaub nicht abbrechen?“ Elkes Frage war an ihre Tochter<br />

gerichtet.<br />

„Nein, nein Mutti!“ entgegnete Heike am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung. Erholt Euch nur Gut!<br />

– Ach, damit ich es nicht vergesse: Ich habe mit Wolfgangs Vater ausgemacht, das wir uns<br />

am 25. August treffen und über die Funde sprechen. Ist das in Ordnung so?“<br />

Elke überlegte kurz. Ihr Urlaub endete am 17. August, also waren noch acht Tage Zeit,<br />

zunächst die schmutzigen Urlaubssachen zu waschen und sich eventuell noch auf das Treffen<br />

vorzubereiten.<br />

Elkes Antwort war kurz und bündig. „Geht in Ordnung, Heike!“<br />

„Also dann bis zum 25. August!“<br />

„Sehen wir uns nicht schon vorher, Heike?“ Elke wollte noch mit Heike über <strong>der</strong>en<br />

Freund sprechen, bevor sie die Tagebücher in fremde Hände übergab.<br />

„Gut, dann komme ich am 18. zu Euch“, entgegnete Heike.<br />

„Geht in Ordnung. Tschüß Heike!“<br />

„Tschüß Mutti!“<br />

44<br />

9


Elke legte den Hörer auf und atmete tief durch. „Stell’ Dir vor, was in Nürnberg passiert<br />

ist!“ rief sie Heinz zu.<br />

„Was denn?“<br />

„Im Nachbarhaus hat es gebrannt“, begann Elke. Danach erzählte sie ihm alles, was sie<br />

von Heike am Telefon erfahren hatte.<br />

„Da bin ich aber froh, dass es die beiden Koffer im Keller nicht erwischt hat“, kommentierte<br />

Heinz die Ereignisse wenig später mit leicht ironischen Unterton. Elke kannte diesen<br />

Tonfall ihres Mannes.<br />

„Auch Spötter müssen sterben“, entgegnete sie. „Für Dich mögen die Koffer nichts bedeuten,<br />

aber für Heike und mich bedeuten sie sehr viel, einmal aus Neugier <strong>der</strong> Jugend heraus bei<br />

Heike und bei mir aus beruflichem Interesse...“<br />

„Wirklich nur aus beruflichem Interesse?“ Heinz unterbrach seine Frau mit dieser etwas<br />

ironisch gestellten Frage, weil er seine bessere Hälfte genau so gut kannte, wie Elke ihn.<br />

„Na, ja! Ein bisschen Neugier ist natürlich auch dabei“, gab Elke zu.<br />

„Das hätte mich auch gewun<strong>der</strong>t!“ Heinz fühlte sich in seiner Meinung bestätigt. „Aber<br />

eine Frage hätte ich noch.“<br />

„Und die wäre?“ Jetzt wurde Elke neugierig.<br />

„Warum kannst Du die alte Deutsche Schrift nicht lesen? Als Geschichtslehrerin ...“<br />

„... sollte ich sie lesen können“, unterbrach Elke ihren Mann.. „Ich habe sogar ein Semester<br />

lang ein Seminar über die Sütterlinschrift belegt. Aber das ist schon so lange her.“<br />

Heinz überzeugte die Antwort seiner Frau. Er wollte das Thema wechseln und fragte deswegen:<br />

„Was unternehmen wir heute Nachmittag?“<br />

Elke überlegte kurz und sagte dann: „Lass’ uns einen schönen langen Spaziergang machen,<br />

Heinz! Ich muss heute bei diesem schönen Wetter unbedingt hinaus in die Natur und sie<br />

in vollen Zügen genießen, bevor wir wie<strong>der</strong> in die Hektik <strong>der</strong> Großstadt eintauchen müssen.“<br />

„Akzeptiert, genehmigt, beschlossen und verkündet!“ Heinz lachte herzerfrischt und Elke<br />

musste dabei zwangsläufig mitlachen.<br />

„Alter Kindskopf!“ rief Elke ihrem Mann zu, <strong>der</strong> immer noch am Tisch des Hotelzimmers<br />

saß, eine Zeitung vor sich ausgebreitet.<br />

„Du hast recht, Elke“, sagte Heinz, faltete die Tageszeitung und stand auf. „Lass’ uns einen<br />

Spaziergang nach dem Mittagessen machen. Aber jetzt gehen wir erst einmal essen. Es ist<br />

schon halb eins vorbei.“<br />

Heinz ging zu seiner Frau, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange.<br />

Elke lächelte, ergriff ihre Tasche und wandte sich <strong>der</strong> Zimmertüre zu, Heinz folgte ihr. Fünf<br />

Minuten später fanden die beiden im Hotelrestaurant noch einen Platz an einem jener Tische,<br />

von denen man den See vor dem Badeplatz des Hotels sehen konnte. Still lag er da, ein Labsal<br />

für alle Stadtmenschen, die Abstand von ihrem sonst hektischen Treiben nehmen wollten.<br />

Zur selben Zeit als Elke und Heinz im Hotelrestaurant speisten, machte sich Heike in <strong>der</strong><br />

kleinen Kochnische ihres Einzimmerappartements in Erlangen den Rest ihres Rissottos warm,<br />

das sie sich am Vortag gekocht hatte. Wolfgang war zwar eingeladen gewesen, musste aber<br />

absagen, da er Zahnschmerzen bekommen hatte und unbedingt noch den Zahnarzt aufsuchen<br />

musste.<br />

Heike räumte nach dem Essen das gebrauchte Geschirr in die Spüle und war gerade dabei,<br />

den Abwasch zu beginnen, als es an <strong>der</strong> Wohnungstüre klingelte.<br />

‚Wer kann das denn sein’, dachte sie bei sich, wusch schnell ihre Hände und öffnete die<br />

Türe, nachdem sie durch den Türspion in den Korridor gespäht hatte.<br />

Draußen stand ganz überraschend Wolfgang.<br />

„Hallo Heike!“ Wolfgang ging einen Schritt auf Heike zu und gab ihr einen Kuss, den sie<br />

erwi<strong>der</strong>te.<br />

45


„Hallo Wolfgang! Komm’ rein!“ Heike machte eine einladende Handbewegung, die in<br />

Richtung <strong>der</strong> Kochnische gerichtet war. „Du kommst zum Essen lei<strong>der</strong> zu spät. Ich habe das<br />

Rissotto, das ich gestern auch wegen Dir gekocht habe, ganz vertilgt, denn ich hatte heute<br />

großen Hunger.“<br />

„Es tut mir leid wegen gestern“, entschuldigte sich Wolfgang, „aber ich habe gerade noch<br />

einen Schmerztermin um halb eins bekommen ...<br />

„Ist doch kein Problem“, unterbrach ihn Heike. „Komm’ doch rein und setz’ Dich! Ich<br />

habe große Lust ein Glas Rotwein zu trinken.“<br />

„Rotwein mitten am Tag?“<br />

„An einem für mich nicht ganz leichten Tag.“ <strong>Die</strong>se Aussage von Heike machte Wolfgang<br />

neugierig.<br />

„Setz’ Dich! Ich bringe gleich die Gläser und den Wein. Dann erzähle ich Dir alles.“<br />

Wolfgang fühlte sich ein wenig überfahren, aber seine Neugier war größer als sein Vorbehalt<br />

gegenüber Wein zur Mittagszeit. Er wollte rasch erfahren, was Heike ihm erzählen wollte.<br />

Also setzte er sich an den kleinen Tisch in Heikes Studier-, Wohn- und Schlafzimmer und<br />

harrte <strong>der</strong> Dinge, die da kommen sollten.<br />

Heike stellte zwei Gläser auf den Tisch und goss den Rotwein ein, den sie von ihrem Vater<br />

zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.<br />

„Stell Dir vor“, begann sie, „beinahe wäre Urgroßmutters handschriftlicher Nachlass heute<br />

abgesoffen.“<br />

„Abgesoffen? Wieso?“ Wolfgang sah Heike entsetzt an. „Da habe ich mit viel Überredungskunst<br />

...“<br />

„Beinahe abgesoffen, sagte ich“, unterbrach Heike. „Es hat neben dem Haus, in dem meine<br />

Eltern wohnen, gebrannt und das Löschwasser ist in den Keller geflossen. Aber Gott sei<br />

Dank: <strong>Die</strong> beiden Koffer liegen ja oben im Regal. Sie sind unversehrt. Ich war heute Vormittag<br />

in Nürnberg.“<br />

„Na, dann: Prost!“ Wolfgang hob sein Glas.<br />

„Prost, Wolfgang! Auf die schriftlichen Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit!“ Auch<br />

Heike hob ihr Glas. Sie stießen beide an. „Ist ja noch mal gut gegangen“, fügte sie hinzu.<br />

„Aber es hätte auch schief gehen können“, erwi<strong>der</strong>te Wolfgang.<br />

„Hätte ist Konjunktiv, Wolfgang.“ Heike lächelte. Ihr war die Erleichterung über den<br />

glücklichen Ausgang <strong>der</strong> zurückliegenden Ereignisse anzusehen.<br />

„Mein Vater meint, man sollte die Tagebücher und Briefe an einem sicheren Ort aufbewahren.“<br />

Wolfgang blickte Heike sorgenvoll an.<br />

„Was und wo ist schon ein sicherer Ort?“, entgegnete Heike fragend. „Erst wenn <strong>der</strong> Text<br />

in den Rechner eingegeben ist und Sicherungskopien vorhanden sind, kann man einigermaßen<br />

sicher sein ...“<br />

„Nichts ist sicher“, unterbrach Wolfgang seine Freundin.<br />

„Doch! Das Amen in <strong>der</strong> Kirche.“ Heike lachte und trank einen großen Schluck Rotwein.<br />

Wolfgang schmunzelte und schüttelte unmerklich den Kopf. „Wobei wie<strong>der</strong> bewiesen wäre:<br />

<strong>Die</strong> Frauen haben immer das letzte Wort“, setzte er hinzu.<br />

„Alter Kindskopf!“, feixte Heike. „Jetzt trinken wir erst ein Gläschen Wein auf den<br />

Schrecken von heute früh. Dann machen wir uns einen gemütlichen Nachmittag.“<br />

Wolfgang wi<strong>der</strong>sprach Heike nicht, nickte nur stumm und stellte sein Weinglas wie<strong>der</strong><br />

hin, nachdem er ebenfalls einen Schluck Rotwein gekostet hatte.<br />

„Was machen wir mit diesem angebrochenen Nachmittag?“ fragte Wolfgang, nachdem ihre<br />

beiden Rotweingläser leer waren.<br />

„Du meinst: Was könnten wir an einem gemütlichen Nachmittag machen?“ verbesserte<br />

Heike.<br />

„Kommt ganz darauf an, was Du unter einem „gemütlichen Nachmittag“ verstehst, Heike.“<br />

Wolfgang lächelte ein wenig süffisant. Heike bemerkte dies und schmunzelte.<br />

46


„Wenn Du meinst, ich setze mich bei diesem schönen Wetter auf meine Bude, dann hast<br />

Du Dich in mir getäuscht.“<br />

„Warum so harte Worte, Heike? Lass’ uns doch im Schlossgarten spazieren gehen und<br />

miteinan<strong>der</strong> reden.“ Wolfgangs Vorschlag erzeugte wenig Wi<strong>der</strong>stand bei Heike.<br />

„Einverstanden! Gehen Wir!“ Heike stand entschlossen auf und wollte schon in Richtung<br />

Türe gehen, da ergriff Wolfgang, <strong>der</strong> ebenfalls aufgestanden war, ihre Hand und zog Heike zu<br />

sich heran.<br />

„Aber vorher bekomme ich noch einen Kuss von Dir, Heike.“<br />

„Schnurrekater!“ Heike entzog sich Wolfgang nicht und gab ihm einen Kuss auf die Stirne,<br />

was Wolfgang ein wenig enttäuschte.<br />

„Ich meinte eigentlich ...“<br />

„Später, Wolfgang! Der Tag ist noch lang“, unterbrach ihn Heike. „Und wer weiß, was<br />

heute noch alles passiert?“<br />

„Ja, ja, wer weiß, wer weiß“, seufzte Wolfgang tief durchatmend.<br />

„Also komm! Gehen wir!“<br />

„Gehen wir!“<br />

Beschwingt verließen Wolfgang und Heike das Appartement und schlen<strong>der</strong>ten Hand in<br />

Hand in Richtung des Schlossplatzes, <strong>der</strong> in dieser warmen Jahreszeit ein beliebtes Ziel bei<br />

Studenten war, nicht nur von verliebten Pärchen.<br />

Von Heikes Appartement bis zur Innenstadt, an <strong>der</strong>en Rand das Schloss und <strong>der</strong> zugehörige<br />

Park lag, waren es knapp zwei Kilometer. Ein stramm marschieren<strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>er hätte die<br />

Strecke in etwa zwanzig Minuten locker bewältigt. Heike und Wolfgang hingegen ließen sich<br />

Zeit, viel Zeit, in <strong>der</strong> sie viel miteinan<strong>der</strong> redeten. Außerdem waren Semesterferien. Warum<br />

sollten sie sich hetzen?<br />

Elke und Heinz kamen am Spätnachmittag von ihrem Spaziergang zurück, ein wenig müde<br />

zwar, aber nicht weniger unternehmungslustig. Ihr Weg zum Hotel am See führte sie an<br />

ein Schreibwarengeschäft vorbei. Elke blieb vor <strong>der</strong> Auslage plötzlich stehen und begutachtete<br />

die Sachen hinter <strong>der</strong> Scheibe.<br />

„Was hast Du denn, Elke?“ Heinz war etwas erstaunt, dass seine Frau so plötzlich vor<br />

dem Schaufenster des Geschäftes stehen blieb, waren sie doch schon viele Male daran vorbeigegangen,<br />

ohne dass Elke den Sachen in <strong>der</strong> Auslage nur eines winzigen Blickes würdigte.<br />

„Ich weiß nicht, wie mir ist, Heinz“, begann Elke. „Ich verspüre plötzlich eine Lust zu<br />

schreiben.“<br />

„Zu schreiben?“<br />

„Ja, zu schreiben!“ Elke schritt auf die vier Treppenstufen zu, die zum Eingang des Geschäftes<br />

hinauf führten. „Warte einen Moment! Ich komme gleich wie<strong>der</strong>, Heinz.“<br />

Heinz glaubte, seine Frau zu kennen, schließlich waren sie nunmehr fast 25 Jahre miteinan<strong>der</strong><br />

verheiratet. Aber Elke hatte in den Jahren bisher nie irgendwelche Andeutungen gemacht,<br />

dass sie schreiben wolle. O<strong>der</strong> schrieb sie heimlich Tagebuch? Heinz wurde sich seiner<br />

unsicher und überlegte.<br />

Es dauerte nicht lange, da kam Elke wie<strong>der</strong> aus dem Geschäft. In <strong>der</strong> Hand hatte sie etwas<br />

Schwarzes.<br />

„Stell’ Dir vor, Heinz!“ rief sie aus. „<strong>Die</strong> haben im Laden noch so ein ähnliches schwarzes<br />

Heft mit Wachstuchdeckel gehabt, ein Ladenhüter, <strong>der</strong> wohl schon einige Jahrzehnte in<br />

einer dunklen, verstaubten Ecke gelegen hat.“<br />

47<br />

10


„Und den hast Du gekauft!“ Heinz war etwas vor den Kopf geschlagen. „Seit wann kaufst<br />

Du unnütze Dinge?“<br />

Elke war entrüstet. „Ich will schreiben und da kann man nie genug Papier haben. Außerdem:<br />

Was sind schon 75 Cents für so eine Kladde?“<br />

„Na ja, jedem das seine“, entgegnete Heinz resignierend. Wenn sich seine Frau etwas in<br />

den Kopf gesetzt hatte, dann führte sie dies auch meistens durch.<br />

„Lass’ mich doch! Ich finde dieses alte, dicke Heft irgendwie anziehend.“ Elke steckte die<br />

schwarze Kladde in ihre Handtasche und steuerte auf das Hotel zu, ohne ihren Mann weiter<br />

eines Blickes zu würdigen. Heinz tappte hinterher. Er wollte jetzt keinen Streit mit seiner Frau<br />

anfangen.<br />

„Was ist denn, Elke? Bist Du mir jetzt böse?“ rief er seiner Frau hinterher. <strong>Die</strong>se blieb<br />

stehen und wartete bis Heinz herangekommen war.<br />

„Nein, Heinz. Ich will nur schreiben“, sagte sie leise zu ihrem Mann.<br />

„Ich wäre <strong>der</strong> Letzte, <strong>der</strong> Dir das verbieten würde.“ Heinz schaute seine Frau an und verstand,<br />

was sie vor hatte.<br />

Elke sagte nichts, son<strong>der</strong>n wandte sich wie<strong>der</strong> dem Weg zum Hotel zu. Sie wollte jetzt<br />

schreiben. Doch was hatte bei ihr diese plötzliche Schreiblust geweckt?<br />

„Ich gehe jetzt ins Restaurant und trinke einen Kaffee“, sagte Elke, als sie durch den Hoteleingang<br />

an <strong>der</strong> Rezeption vorbeiging.<br />

„In Ordnung. Ich gehe aufs Zimmer und lese noch ein wenig“, entgegnete Heinz. „Ich will<br />

Dich bei Deinem künstlerischen Ausflug in die Welt <strong>der</strong> Literatur nicht stören.“<br />

„Alter Spötter!“ Elke lachte und strebte dem Hotelrestaurant zu, während Heinz sich den<br />

Zimmerschlüssel von <strong>der</strong> Rezeption holte und sich ins obere Stockwerk begab, wo die meisten<br />

Gästezimmer des Hotel lagen.<br />

Elke ging geradewegs ins Hotelrestaurant. Sie fand einen freien Tisch auf <strong>der</strong> überdachten<br />

Terrasse, von <strong>der</strong> man aus direkt auf den See hinaus blicken konnte. Sie liebte den See. Er gab<br />

ihr Ruhe und Stille in ihrem Innersten allein durch das bloße Hinsehen auf die Wasseroberfläche,<br />

die sich an einigen Stellen ein wenig kräuselte. Das gleißende Licht <strong>der</strong> noch immer<br />

hochstehenden Sonne zauberte noch keine Schatten <strong>der</strong> Baumwipfel, die das still daliegende<br />

Gewässer umrandeten.<br />

Elke schaute gedankenverloren auf die Wasserfläche hinaus, auf <strong>der</strong> sich einige Urlauber<br />

in Booten o<strong>der</strong> schwimmend tummelten.<br />

„Was darf ich Ihnän bringän, bidda scheen?“ <strong>Die</strong> Stimme von Maria mit dem unverkennbaren<br />

tschechischem Einschlag riss Elke aus ihren Gedanken hoch.<br />

„Bringen Sie mir bitte ein Kännchen Kaffee.“<br />

„Ein Kännchän Kaffää, bidda scheen!“ Maria, die kleine zierliche Bedienung, wie<strong>der</strong>holte<br />

immer die Bestellungen ihrer Gäste.<br />

Elke sank wie<strong>der</strong> in ihre Gedanken zurück. Sie wollte etwas schreiben, wusste jetzt aber<br />

nicht mehr was. ‚Warum müsst ihr Gedanken immer so schnell sein’, dachte sie bei sich und<br />

sah wie<strong>der</strong> auf die Wasserfläche hinaus. Einige Momente war es still in Elke, doch plötzlich<br />

for<strong>der</strong>te sie eine innere Stimme auf: ‚Was Dir gerade einfällt, das musst Du jetzt schreiben!<br />

Alles zusammen ergibt den Roman Deines Lebens. Aber die verbindenden Worte musst Du<br />

selber suchen.!“<br />

Wie in Trance holte Elke das dicke schwarze Heft hervor, das sie nach dem Kauf in ihre<br />

Handtasche gesteckt hatte, schlug die erste Seite auf und schrieb:<br />

Ich sehe hinaus auf den See und träume vor mich hin. Was um mich geschieht bemerke ich<br />

nur wie im Traum. Eine innere Stimme sagte mir, ich solle schreiben, alles aufschreiben, was<br />

mir so einfiele. Also schreibe ich, lasse meine Gedanken aufs Papier fließen. Aber die meisten<br />

von ihnen sind für meine Hand, die den Stift führt, viel zu schnell. Ich kann sie nicht fassen,<br />

48


muss sie an mir vorbeirauschen lassen. Sind sie für immer verloren? – Ich hoffe, dass sie in<br />

mir wie<strong>der</strong>kommen, damit ich sie später hier aufzeichnen kann.<br />

„Ein Kännchän Kaffää, bidda scheen!“ Marias Stimme schreckte Elke aus ihren Gedanken<br />

hoch<br />

„Danke schön, Maria.“ Elke kannte die Bedienung schon vom Urlaub im letzten Jahr. Sie<br />

legte den Stift weg und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, nachdem Maria diese elegant vor<br />

ihr auf den Tisch gestellt hatte.<br />

‚Lass’ Dich nicht ablenken’, meldete sich die innere Stimme wie<strong>der</strong> zu Wort. Elke lächelte.<br />

‚Nein, ablenken lasse ich mich nicht’, dachte sie bei sich und ergriff wie<strong>der</strong> ihren kleinen,<br />

grünen Kugelschreiber mit dem roten Punkt am Kopfende, den sie zusammenschieben und<br />

damit verkleinern konnte. Dabei wurde die Schreibmine versenkt und <strong>der</strong> Stift passte damit<br />

fast in die kleinste Damenhandtasche, denn er maß kaum mehr als zehn Zentimeter. Elke begann<br />

wie<strong>der</strong> zu schreiben:<br />

Es ist angenehm hier zu sitzen, nicht zu heiß, auf <strong>der</strong> überdachten, schattenspendenden<br />

Terrasse mit Blick auf die Stille des Sees. Ruhig daliegendes Wasser beruhigt mich genau so<br />

wie das Rauschen eines Bachs. Wasser ist Ruhe und Kraft zugleich. Jedes Mal, wenn ich auf<br />

den See hinaus blicke, komme ich ins Träumen. Vielleicht ist es diese Stille am Wasser, die<br />

ich brauche, um in den Ferien zu mir selbst zu finden nach <strong>der</strong> fortgesetzten Hektik des Alltags,<br />

die immerzu herrscht, sich in mir fortsetzt und mich zur Marionette <strong>der</strong> Zeit macht, die<br />

mich langsam verschlingt.<br />

Elke setzte ihren Stift ab. Der Duft des Kaffees war zu verführerisch, als dass sie wi<strong>der</strong>stehen<br />

konnte. Sie trank einen kräftigen Schluck Kaffee, <strong>der</strong> sich bereits ein wenig abgekühlt<br />

hatte. Es war ihr recht so, denn sie liebte es keineswegs, sich die Lippen und ihre Zunge am<br />

allzu heißen Getränk zu verbrennen.<br />

Wie<strong>der</strong> blickte sie auf die Wasserfläche hinaus und wie<strong>der</strong> fiel sie in einen Tagtraum ...<br />

Eine ganze Weile schrieb Elke nichts, saß nur da und blickte zum Horizont, wo sich <strong>der</strong><br />

Wald abzeichnete, <strong>der</strong> den größten Teil des Sees umgab. Das Wachstuchheft lag offen vor ihr<br />

auf dem Tisch, <strong>der</strong> kleine Kugelschreiber daneben. In ihr war eine Ruhe, wie sie jetzt meinte,<br />

zum ersten Mal überhaupt bei sich zu spüren. War es die Umgebung, <strong>der</strong> sie sich träumend<br />

hingab o<strong>der</strong> war es das Schreiben, das sie so glücklich machte? Sie konnte dieses Gefühl nicht<br />

beschreiben, obwohl sie es wollte. Sie fand nicht die Worte, sie wollte, aber sie konnte nicht<br />

schreiben. <strong>Die</strong> Stimmen <strong>der</strong> Hotelgäste um sie herum wurden langsam lauter. Ganz allmählich<br />

wachte sie auf und fand zurück zu ihrem Ich, das noch immer gedankenversunken auf<br />

dem weißen Kunststoffstuhl auf <strong>der</strong> überdachten Terrasse des Hotels saß.<br />

Ein kurzer, nicht allzu heftiger Ruck durchfuhr Elke. Der letzte Schritt aus <strong>der</strong> Gedankenwelt<br />

zurück in die Wirklichkeit war getan. Aber sie erinnerte sich plötzlich wie<strong>der</strong> an das,<br />

was ihr die innere Stimme aufgegeben hatte. Schnell ergriff sie ihren Stift und begann wie<strong>der</strong><br />

zu schreiben. Plötzlich sprudelten ihre Gedanken wie<strong>der</strong> und sie hatte alle Mühe, all das nie<strong>der</strong>zuschreiben,<br />

was ihr das Innerste in ihr Bewusstsein entließ. Wort für Wort, Satz für Satz<br />

füllten die Zeilen in dem dicken Heft. Bald war die erste Seite voll geschrieben. Es folgte<br />

noch eine. Elke war glücklich, weil sie schrieb. O<strong>der</strong> schrieb sie, weil sie glücklich war? Sie<br />

konnte diese Frage, die sie sich selber stellte, nicht beantworten.<br />

Elke trank die erste Tasse des Kännchens aus und schenkte sich den Rest in die Tasse. <strong>Die</strong><br />

zwei Würfelzuckerstückchen, die sie noch hatte, plumpsten in den schwarzen Grund. Elke<br />

rührte die Tasse um und goss die Kaffeesahne aus dem zweiten Portionstütchen hinein. <strong>Die</strong><br />

Schwärze in <strong>der</strong> Tasse wich einem dunklen Braunton, <strong>der</strong> anzeigte, dass <strong>der</strong> Kaffee kräftig<br />

gebrüht war.<br />

49


Sie sah auf ihre zierlich kleine Armbanduhr und erschrak. ‚Was!’ dachte sie erschrocken.<br />

‚Ich sitze ja schon über eine Stunde hier!’ Dann entfuhr ihr <strong>der</strong>selbe Satz: „Ich sitze ja schon<br />

über eine Stunde hier!“<br />

„Das stimmt!“ Eine ihr bekannte Stimme drang von hinten her an ihr Ohr. Elke fuhr mit<br />

dem Kopf herum und blickte erschrocken hinter sich.<br />

„Heinz!“ rief sie aus. „Hast Du mich beobachtet?“<br />

„Nur ein paar Minuten“, erwi<strong>der</strong>te ihr Ehemann und setzte sich auf den Stuhl neben ihr.<br />

Er schaute sie mit einem leicht erstaunten Ausdruck im Gesicht an. „Es war sehr aufschlussreich,<br />

Dich zu beobachten“, sagte er nach einer Weile nachdenklich.<br />

„Wie meinst Du das?“<br />

„Ich habe Dich noch nie so gesehen, schreibend in Dich versunken.“<br />

„Und? Ist daran etwas Beson<strong>der</strong>es?“<br />

„Nein! Eigentlich nicht.“<br />

„Aber?“<br />

„Nichts aber! Ich bewun<strong>der</strong>e Dich, Elke.“<br />

Elkes Miene erheiterte sich. Sie fühlte sich ein wenig geschmeichelt.<br />

„Du bewun<strong>der</strong>st mich?!“ Elke konnte es fast nicht glauben, was ihr Mann gerade gesagt<br />

hatte.<br />

„Ja, ja, Elke. Es stimmt schon, was ich sage“, fuhr er fort. „Auch ich habe schon versucht<br />

zu schreiben, aber spätestens nach einer halben Seite hatte ich dann den Faden verloren.“<br />

„Es ist nicht leicht, seine Gedanken zu Papier zu bringen“, stimmte Elke ihren Gatten zu.<br />

„Ich habe es gerade deutlich gemerkt, als ich schrieb. Aber dabei vergeht die Zeit wie im<br />

Flug.“<br />

„Womit Du recht hast.“ Jetzt pflichtete Heinz seiner Frau bei. „Ich hatte mich ein wenig<br />

im Zimmer hingelegt und schon war eine Stunde vorbei. Alles vergeht so schnell!“<br />

„Darf ich Ihnän etwas bringän?“ Heinz konnte <strong>der</strong> hübschen Bedienung nicht böse sein,<br />

die jetzt ihre Unterhaltung unterbrach. Sie war schließlich am Umsatz beteiligt.<br />

„Eine Tasse Kaffee, bitte!“ Heinz gab seine Bestellung ebenso freundlich ab, wie er vorher<br />

von Maria gefragt wurde.<br />

„Eine Tasse Kaffää, bidda scheen!“ Maria verschwand wie<strong>der</strong> und eilte zur Theke im Innern<br />

des Restaurants.<br />

„Eine hübsche junge Frau ist die Maria ja“, bemerkte Heinz.<br />

„Zu hübsch für Dich, Du alter Dackel!“ Elke wusste, wie sie ihren Mann zu nehmen hatte.<br />

Ironie gab sie mit Ironie zurück.<br />

Elke und Heinz merkten, dass sie beide wie<strong>der</strong> mit allen Füßen tief in <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

steckten. Beide waren erwacht aus ihren Träumen und beide waren wie<strong>der</strong> sie selbst, sich gegenseitig<br />

immer etwas auf die Schippe nehmend.<br />

Es dauerte nicht lange, dann kam Maria, die Bedienung, wie<strong>der</strong> zurück und servierte<br />

Heinz eine Tasse Kaffee.<br />

„Eine Tasse Kaffä, bidda scheen!“<br />

„Danke!“ Heinz musterte die Bedienung, als sie sich wie<strong>der</strong> von dem Tisch entfernte.<br />

„Wie mühsam muss es für einen Schriftsteller sein zu schreiben“, begann Elke laut nachzudenken.<br />

„Ich habe jetzt über eine Stunde an zwei Seiten geschrieben und dies noch ohne<br />

Plan und Ziel. Wie viel schwieriger muss es sein, gezielt an einer Geschichte, an einer Handlung<br />

zu schreiben?“<br />

„Da kann ich lei<strong>der</strong> nichts dazu sagen“, entgegnete Heinz und trank einen Schluck Kaffee.<br />

„Wie gesagt, ich habe versucht, auf einen Punkt hin zu schreiben, aber spätestens nach einer<br />

halben A5-Seite waren meine Gedanken schon wie<strong>der</strong> sehr weit weggezogen.“<br />

„Das ist ja das Hauptproblem. Meine Gedanken sind schneller als mein Stift.“ Elke begann<br />

zu philosophieren. „Ich muss ständig nachlesen, was ich geschrieben habe, und ...“<br />

50


„... den gedanklichen Faden wie<strong>der</strong> aufzunehmen, <strong>der</strong> Dir entglitten ist“, unterbrach Heinz<br />

seine Frau.<br />

„Genau!“, stimmte Elke zu. „Aber was kann man machen, damit nicht alle Gedanken zu<br />

schnell wie<strong>der</strong> aus dem Kopf verschwinden?“<br />

Heinz zuckte mit seinen Achseln. Er wusste auch keine Antwort auf das Problem <strong>der</strong> viel<br />

zu schnellen Gedanken. „Irgend jemand hat mir vor einiger Zeit erzählt, er habe nur deswegen<br />

mit dem Schreiben wie<strong>der</strong> aufgehört, weil er ständig deswegen frustriert war, dass seine Gedanken<br />

stets schneller waren als seine schreibende Hand.“<br />

„Aber deswegen muss man doch nicht gleich das Handtuch werfen“, entgegnete Elke.<br />

„Man kann sich doch Notizen machen. Und sicherlich gibt es Techniken, mit denen man diesem<br />

Problem begegnen kann.“<br />

„<strong>Die</strong> wird es sicher geben“, meinet Heinz. „Aber kennen wir diese auch?“<br />

„Warum, Heinz, sollten wir diese nicht kennen lernen?“ Elke packte jetzt ein gewisser<br />

Ehrgeiz. „Es gibt so viele Ratgeberbücher. Da gibt’s bestimmt auch Dutzende über das<br />

Schreiben.“<br />

„... und das Denken“, ergänzte Heinz. „Aber die Antwort auf die Frage, wie man optimal<br />

schreiben kann, werden wir jetzt und heute nicht beantworten können, zumal nicht mit hungrigen<br />

Magen, kurz vor dem Abendessen.“<br />

„Vor dem Abendessen?“ Elke zeigte sich ein wenig überrascht. „Ist es denn schon wie<strong>der</strong><br />

Zeit zum Abendessen?“<br />

„Schau doch auf Deine Uhr, Elke!“ Heinz musste seine Frau nicht weiter auffor<strong>der</strong>n. Elke<br />

sah auf ihre Armbanduhr und erschrak, denn die Zeit war weiter fortgeschritten als sie glaubte.<br />

Es war wirklich Zeit zum Abendessen. <strong>Die</strong> Uhr zeigte fast halb sieben an.<br />

Heinz winkte Maria, die zierliche Bedienung, an den Tisch.<br />

„Bringen Sie uns bitte die Abendkarte.“ Maria eilte geschwinden Fußes, um das Gewünschte<br />

zu holen. „Na, auf was hast Du Lust, Elke?“ Heinz sah seine Frau fragend an.<br />

„Das kommt ganz darauf an, was es gibt“, entgegnete Elke schlagfertig. „<strong>Die</strong> Abendkarte<br />

ist doch fast immer gleich.“<br />

„Lassen wir uns überraschen, Elke!“<br />

Es dauerte keine zwei Minuten, dann brachte Maria zwei Abendkarten und legte sie elegant<br />

vor ihren Gästen auf den Tisch.<br />

„Heute habe ich Hunger auf etwas Deftiges“, sagte Elke, nachdem sie die Karte durchgesehen<br />

hatte. „Du auch?“ Heinz schien überrascht.<br />

„Was willst Du Dir bestellen?“ Elke war neugierig auf die Antwort von Heinz.<br />

„Ich nehme die Schweinswürstel mit Kraut“, sagte Heinz entschlossen.<br />

„Genau die wollte ich mir auch bestellen.“ Elke lachte und ihr Mann musste es auch.<br />

Wie<strong>der</strong> winkte Heinz die Bedienung herbei. „Wir möchten gerne zwei Portionen<br />

Schweinswürstel mit Kraut.“<br />

„Zweimal Schweinswürschdäl, bidda scheen!“ wie<strong>der</strong>holte Maria die Bestellung.<br />

Elke und Heinz schmeckte es vortrefflich. Das Seehotel war im Umkreis sehr gut bekannt<br />

für seine ausgezeichnete Küche.<br />

Nach dem Essen beschlossen die beiden, sich bei einem kleinen Abendspaziergang die<br />

Beine zu vertreten und das Essen durch körperliche Bewegung einer guten Verdauung zuzuführen.<br />

„Hoffentlich ist nichts in <strong>der</strong> Wohnung beschädigt“, meinte Elke, während sie die Uferpromenade<br />

am Rande des Ortes am See entlang gingen. „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl,<br />

obwohl Heike ja in <strong>der</strong> Wohnung nachgesehen hat.“<br />

„Ach Elke! Du siehst wie<strong>der</strong> Gespenster.“ Heinz versuchte seine Frau zu beruhigen. „Und<br />

wenn schon! Schlimmstenfalls muss die Versicherung für die Schäden aufkommen.“<br />

„Trotzdem bleibt bei mir ein ungutes Gefühl.“ Elke blieb pessimistisch.<br />

51


„Reden wir über schönere Dinge“, entgegnete Heinz. „Schließlich haben wir Urlaub, <strong>der</strong><br />

Abend ist mild und noch lange nicht ...“<br />

„O, ihr Männer! Ihr denkt doch wirklich nur an das Eine.“ Elke schaute ihren Mann spitzbübisch<br />

an. Heinz sah es nicht.<br />

„An das habe ich jetzt wirklich nicht gedacht“, sagte er nachdenklich. Jetzt wurde Elke<br />

neugierig.<br />

„An was denn dann?“ fragte sie.<br />

Heinz dachte laut nach: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Deine Mutter die alte Deutsche<br />

Schreibschrift nicht lesen kann. Ich glaube, sie will sie nicht lesen. Aber warum? Wusste<br />

sie vielleicht von dem Tagebuch ihrer Mutter?“<br />

„Jetzt hör’ aber auf!“ Elke war entrüstet.<br />

„Irgendetwas passt da nicht zusammen“, philosophierte Heinz weiter, unterbrach sich aber<br />

selbst, denn er wollte jetzt an etwas An<strong>der</strong>es denken.<br />

Beide schwiegen und schlen<strong>der</strong>ten langsam weiter bis zum Ende <strong>der</strong> Seepromenade, die<br />

bis zum Beginn des Waldes reichte. Der Weg weiter am See entlang durch den Wald war<br />

nicht beleuchtet und verlor sich in <strong>der</strong> einsetzenden Dämmerung.<br />

„Lass’ uns wie<strong>der</strong> zurück gehen!“ Elke wollte nicht mehr weitergehen, wollte nicht die<br />

Kühle des Waldes spüren, die sich langsam zwischen den Bäumen ausbreitete.<br />

„Ja, Elke, gehen wir zurück!“ Heinz hatte seine Frau verstanden. Er wollte jetzt auch nicht<br />

in den Wald gehen.<br />

Sie schlen<strong>der</strong>ten auf <strong>der</strong> Seepromenade zurück. Es war kein langer Weg, aber Elke und<br />

Heinz ließen sich Zeit, viel Zeit. Im Urlaub nahmen sie sich immer jede Zeit <strong>der</strong> Welt.<br />

„Legen wir uns ein wenig in die Wiese?“ Wolfgang Brenner hielt Heikes Hand und sah<br />

sie fragend an.<br />

„Warum nicht!“ Heike nickte.<br />

<strong>Die</strong> Luft war feucht und schwül, aber <strong>der</strong> gepflegte Rasen des Schlossgartens war dennoch<br />

trocken. Heike und Wolfgang setzten sich ins Gras.<br />

„Puh, ganz schön schwül heute!“ Heike sprach Wolfgang aus dem Herzen. „Ich werde mir<br />

etwas Erleichterung verschaffen“, fuhr Heike fort und zog ihr T-Shirt aus.<br />

Wolfgang bekam Stielaugen, als er Heikes flachgewölbte, feste Brüste sah.<br />

„Hast Du noch nie eine nackte Frauenbrust gesehen, Wolfgang?“ Heikes Keckheit überraschte<br />

ihn. Es dauerte eine Weile, bis er seine Sprache wie<strong>der</strong> fand.<br />

„Du gehst ja ganz schön ran“, murmelte er und spürte ein gewisse Kribbeln in <strong>der</strong> Lendengegend.<br />

„Wieso?“ fragte Heike unschuldig zurück. „Es ist doch schon lange nichts Verwerfliches<br />

mehr, wenn Frauen sich oben ohne sonnen.“ Sie streckte ihre Brust etwas nach vorne, so dass<br />

ihre beiden Busen noch etwas besser zur Geltung kamen.<br />

„Welchen Vamp habe ich mir da angelacht.“ Wolfgang hatte wie<strong>der</strong> seine Sprache gefunden.<br />

Er lächelte. „Nun denn, dann werde ich mir auch ein wenig Anzugserleichterung verschaffen“,<br />

sagte er und zog sein Hemd aus. Auch er hatte darunter nichts mehr an.<br />

Heike lachte. „Ich bin doch kein Vamp! Ich fresse Dich nicht auf, denn ich will Dich noch<br />

lange haben.“<br />

„Wirklich?“ Wolfgang nahm ihre beiden Hände und zog Heike zu sich heran.<br />

„Ja, Wolfgang. Ich liebe Dich“, hauchte sie ihm ins Ohr. Ihre Lippen waren zu allem bereit.<br />

52<br />

11


Wolfgang drückte Heike an sich. Ihre Lippen berührten sich und die Leidenschaft entlud<br />

sich in einem langen, leidenschaftlichen Kuss. Er spürte ihren Busen auf seiner Brust.<br />

„Deine Brusthaare kitzeln mich.“<br />

„Das sollen sie ruhig“, murmelte Wolfgang. Er spürte, wie Heikes Brustwarzen immer<br />

steifer wurden. Das Feuer war übergesprungen. Jetzt wussten beide, dass sie sich gegenseitig<br />

brauchten. Sie verfielen dem Rausch <strong>der</strong> Leidenschaft und überschütteten sich mit Liebkosungen.<br />

<strong>Die</strong> Welt um sie herum nahmen sie nicht mehr wahr. Heike und Wolfgang waren in<br />

ihrer ganz eigenen Welt versunken.<br />

Sie merkten beide nicht, wie von Nordwesten her dunkle Wolken heranzogen. <strong>Die</strong> Sonne<br />

verschwand plötzlich hinter den drohenden Wasserdampfbergen. Blitze durchzuckten die<br />

Luft. Der Donner folgte ihnen auf dem Fuß. <strong>Die</strong> ersten Regentropfen erreichten den trockenen<br />

Boden.<br />

„Ich glaube, <strong>der</strong> große Meister da oben hat etwas dagegen, dass wir länger hier bleiben.“<br />

Wolfgang entließ Heike aus seinen Armen.<br />

„Ziehen wir uns rasch an und sehen zu, dass wir ins Trockene kommen“, sagte Heike und<br />

griff nach ihrem T-Shirt.<br />

Hastig standen beide auf und liefen zu einem <strong>der</strong> Eingänge des Schlossgartens, <strong>der</strong> sich<br />

am nördlichen Ende von diesem befand. Schon leicht durchnässt erreichten Heike und Wolfgang<br />

ein alteingesessenes Café, das sich halbrechts vom Eingang befand. Endlich waren sie<br />

im Trockenen.<br />

Der angenehme Kaffeeduft, <strong>der</strong> im Raum stand, regte ihre Geschmacksnerven sofort an.<br />

Ein kleines Cafétischchen war noch frei. Schnell setzten sie sich an ihm hin, denn es kamen<br />

noch einige Leute ins Café gelaufen, die ebenfalls vor dem Gewitter überrascht worden waren,<br />

welches sich jetzt mit unzähligen Blitzen und heftigen Regen entlud.<br />

„Was darf ich Ihnen bringen?“ fragte die nicht mehr ganz so junge, aber durchaus noch attraktive<br />

Bedienung.<br />

„Einen Cappuccino mit Milch, bitte!“ Heike wusste, was sie wollte, Wolfgang zögerte<br />

noch einen Moment.<br />

„Für mich bitte ein Kännchen Kaffee.“<br />

„Einen Cappuccino mit Milch und eine Portion Kaffee“, wie<strong>der</strong>holte die dunkelhaarige<br />

Bedienung und eilte an die etwas altertümlich anmutende Theke.<br />

„Das hätten wir ja geschafft.“ Wolfgang nahm ein Papiertaschentuch und wischte sich die<br />

Wassertropfen aus dem Gesicht. „Ich werde mich schnell in <strong>der</strong> Toilette kämmen“, fügte er<br />

hinzu.<br />

„Tu das, Wolfgang“, entgegnete Heike. Wolfgang stand auf und verschwand hinter <strong>der</strong><br />

Türe mit <strong>der</strong> Aufschrift Herren. Heike blieb sitzen und sah hinaus auf den Schlossplatz. Der<br />

Regen prasselte auf das Kopfsteinpflaster, wusch es frei vom Staub. Es blitzte und donnerte<br />

noch immer sehr heftig.<br />

Nach einigen Minuten kam Wolfgang zurück, frisch gekämmt und äußerst guter Laune.<br />

„Der Cappuccino und das Kännchen Kaffee, bitte schön!“ <strong>Die</strong> dunkelhaarige, kleine, etwas<br />

untersetzte Bedienung servierte gekonnt. Man merkte ihr an, dass sie keine Aushilfskraft<br />

war.<br />

„Ah! Tut das gut“, sagte Wolfgang, nachdem er einen kräftigen Schluck Kaffee zu sich<br />

genommen hatte.<br />

„Der Cappuccino wärmt auch“, bestätigte Heike. „Er ist noch viel zu heiß zum Trinken.“<br />

„Ja, ja, die Luft im Milchschaum ist ein guter Isolator“, dozierte Wolfgang.<br />

„Man könnte meinen, Du studierst Physik, Wolfgang“, konterte Heike ironisch.<br />

„Gott bewahre!“ Wolfgang hob entsetzt beide Arme in einer abwehrenden Bewegung.<br />

„<strong>Die</strong> Zeiten, in denen ich Physik o<strong>der</strong> Chemie studieren wollte, sind lange vorbei.“<br />

53


„Für mich werden die beiden Fächer immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.“ Heike<br />

lachte, wusste sie doch zu gut, mit welchen Noten sie Chemie und Physik im Abitur abgeschlossen<br />

hatte.<br />

<strong>Die</strong> beiden genossen es, im Trockenen in einem Café alter Colœr zu sitzen, während<br />

draußen das Unwetter tobte und es wie aus Fässern schüttete.<br />

„Fast schon ein altehrwürdiges Café“, begann Wolfgang, nachdem sie eine Weile schweigend<br />

zusammen gesessen waren. „Ich fühle mich in meine Kindheit zurück versetzt. Mit meinen<br />

Eltern war ich damals öfters an den Wochenenden in einem Café, in dem es ähnlich aussah<br />

wie hier. Aber ich kann mich nicht erinnern, wo dies war.“<br />

„Ja, damals!“ Heike seufzte und blickte auf ihre Tasse. Der Milchschaum war schon<br />

merklich zusammen gefallen. Sie nahm den Löffel und verrührte ihn. Trotzdem blieb ein<br />

kleines Schaumhäubchen übrig. „Ja, damals!“ fuhr sie fort. „In <strong>der</strong> Schule hat man sich noch<br />

auf die Ferien gefreut. Aber heute bedeuten mir die Semesterferien nicht allzu viel.“<br />

„Warum, Heike?“<br />

„Na ja, entwe<strong>der</strong> man jobbt, um sich das Studium zu finanzieren, o<strong>der</strong> arbeitet sein Material<br />

aus ...“<br />

„... o<strong>der</strong> man entdeckt zusammen mit seiner Mutter auf staubigen Dachböden hinter<br />

Spinnweben alte Koffer.“ Wolfgang wusste, worauf er anspielte.<br />

„Alter Spötter!“ Heike lachte und gab Wolfgang einen Stups. „Du bist mir wohl neidische?“<br />

„Neidisch?! Soll ich Dir wegen zweier alter Koffer neidisch sein?“ Er konnte die Frage<br />

nicht ernst meinen.<br />

„<strong>Die</strong> Koffer sind nicht so wichtig. Wichtig ist das, was in ihnen ist“, konterte Heike.<br />

„Spaß beiseite, Heike! Ein bisschen neidisch bin ich Dir schon. Aber nicht wegen <strong>der</strong> beiden<br />

alten Koffer, son<strong>der</strong>n wegen <strong>der</strong> schriftlichen Zeugnisse, die Deine Urgroßmutter Dir hinterlassen<br />

hat. Ich wollte, ich hätte solche.“<br />

„Hast Du denn keine schriftlichen Zeugnisse von Deinen Vorfahren?“ Heike wurde neugierig.<br />

„Außer einem Testament meines Großvaters mütterlicherseits besitzt mein Vater nichts,<br />

was man als schriftlichen Nachlass bezeichnen könnte.“ Wolfgang runzelte seine Stirn.<br />

„Mach’ nicht so ein Gesicht!“, for<strong>der</strong>te Heike Wolfgang auf. „Man kann nicht alles haben.<br />

Freue Dich lieber, dass <strong>der</strong> Regen und das Gewitter schon ein wenig nachgelassen hat.<br />

Wolfgang schaute zum Fenster hinaus. Tatsächlich, <strong>der</strong> Regen prasselte nicht mehr so<br />

stark auf das Pflaster des Schlossplatzes und das Donnern klang jetzt ein wenig ferner als<br />

noch vor einigen Minuten.<br />

„Aber unseren Kaffee trinken wir noch in aller Ruhe aus“, sagte Wolfgang und wandte<br />

sich wie<strong>der</strong> Heike zu.<br />

„Aber natürlich!“ Heikes Stimme klang beruhigend. „Heute haben wir doch alle Zeit <strong>der</strong><br />

Welt. O<strong>der</strong> etwa nicht?“<br />

„Verliebte haben immer alle Zeit <strong>der</strong> Welt. Sich zu einan<strong>der</strong> bekennen, braucht alle Zeit<br />

<strong>der</strong> Welt.“<br />

„Alter Philosoph!“ Heike lächelte und gab Wolfgang einen Kuss<br />

Heike und Wolfgang unterhielten sich noch fast eine halbe Stunde. Das Gewitter war weiter<br />

gezogen. Draußen regnete es nur noch leicht. Sie tranken ihre Getränke aus.<br />

„Du bist eingeladen“, sagte Wolfgang, nachdem er die Bedienung zum Zahlen herbei gewunken<br />

hatte.<br />

„Danke, Wolfgang!“ Heike wollte ursprünglich ihren Cappuccino selbst zahlen, aber ihren<br />

Freund, <strong>der</strong> schon fast ihr Geliebter geworden war, nicht vor den Kopf stoßen.<br />

„Ist doch gerne geschehen, Heike.“ Wolfgang gab sich großzügig. „Was machen wir jetzt?<br />

Hast Du heute Nachmittag noch irgendetwas Beson<strong>der</strong>es vor, Heike?“<br />

54


„Eigentlich nicht“, entgegnete Heike, als sie aufstand und sich zum Gehen anschickte.<br />

„Aber ...“ Sie zögerte.<br />

„Aber was?“<br />

„Sei mir bitte nicht böse, Wolfgang“, fuhr Heike fort, „aber ich möchte den Rest des heutigen<br />

Nachmittages gerne noch ein wenig schreiben.“<br />

“Du schreibst?“ Wolfgang war erstaunt. „Was schreibst Du denn?“<br />

„Nichts Beson<strong>der</strong>es, nur so für mich.“<br />

Wolfgang hatte verstanden. „Du willst in Deiner Bude alleine sein.“<br />

„Ja“<br />

„Ich kann das verstehen.“ Wolfgangs Verständnis war nicht gespielt. „Mir geht es<br />

manchmal auch so.“<br />

„Du bist so verständnisvoll, Wolfgang.“ Heike schmiegte sich an seine Schulter, als sie<br />

zum Ausgang des Cafés strebten. „Ich liebe Dich.“<br />

„Ich liebe Dich auch“, flüsterte Wolfgang in Heikes linke Ohr. Sie war glücklich.<br />

Sie gingen schweigend Arm in Arm über den Schlossplatz, vorbei an den Marktständen,<br />

von <strong>der</strong>en Planen das Wasser tropfte. Der Gewitterregen hatte die Luft gereinigt. <strong>Die</strong> Schwüle<br />

war vertrieben. Es hatte zwar etwas abgekühlt, war aber immer noch angenehm warm.<br />

„Treffen wir uns heute Abend?“, fragte Wolfgang plötzlich. Heike blieb stehen und schien<br />

zu überlegen.<br />

„Heute Abend“, sagte sie nach einer Weile nachdenklich, „könnten wir doch Pizzaessen<br />

gehen.“<br />

„Abgemacht!“ Wolfgang war einige Schritte weiter gegangen, kam aber zu Heike zurück.<br />

„Hol’ mich um halb sieben ab!“<br />

„In Ordnung!“ Wolfgang stellte sich schon eine üppig belegte Pizza vor. „Ich möchte<br />

noch kurz in <strong>der</strong> Buchhandlung dort vorne vorbei sehen.“<br />

„Gut. Ich muss jetzt da lang“, sagte Heike und zeigte in die Straße, die sich halblinks vor<br />

ihnen öffnete. Sie umarmte Wolfgang und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. „Also bis<br />

halb sieben. Pass’ auf Dich auf!“<br />

„Du auch!“ Jetzt gab Wolfgang Heike einen Kuss und zwar auf ihre Stupsnase. Nur zögernd<br />

ließen sie voneinan<strong>der</strong> ab. Wer konnte es ihnen verdenken. <strong>Die</strong> Sonne kam wie<strong>der</strong> hinter<br />

den nach Südosten abziehenden Wolken hervor und tauchte die Stadt in ein dunstiges<br />

Licht.<br />

Heike und Wolfgang trennten sich. Sie eilte zurück in ihr Studentenappartement, Wolfgang<br />

ging in die Buchhandlung.<br />

„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“<br />

Wolfgang fuhr herum und starrte in das freundlich lächelnde Gesicht <strong>der</strong> zierlichen Verkäuferin,<br />

die sich ihm unbemerkt genähert hatte.<br />

„Danke, nein! Ich sehe mich nur ein wenig um.“ Wolfgang war etwas verlegen, weil er so<br />

unverhofft angesprochen wurde. So viel Aufmerksamkeit gegenüber einen sich etwas umsehenden<br />

Kunden hatte er bisher nur selten erlebt. „Wenn ich eine Frage habe, komme ich gerne<br />

auf Sie zurück.“ Wolfgang lächelte.<br />

<strong>Die</strong> hilfsbereite, freundliche Buchverkäuferin lächelte zurück und musterte ihn bewun<strong>der</strong>nd.<br />

Aber dies bemerke Wolfgang nicht, denn ein Buch hatte seine Aufmerksamkeit angeregt,<br />

bevor er angesprochen wurde. Er wandte sich wie<strong>der</strong> dem Bücherregel zu und musste<br />

das Buch erst wie<strong>der</strong> unter den vielen dort suchen.<br />

Es dauerte eine ganze Weile, bis er das dünne, fast etwas unscheinbare Buch wie<strong>der</strong> fand.<br />

Aber warum zog es ihn so an? Er zögerte und überlegte, ob er es aus dem Regal nehmen sollte.<br />

Einige Augenblicke vergingen, doch dann nahm er es aus dem Regal und las den Titel: Ich<br />

schreibe täglich an mich selbst. Nachdenklich begann er, in dem Buch zu blättern ...<br />

55


‚Wie komme ich eigentlich darauf, dass ich mich für ein Buch interessiere, das sich mit<br />

dem Schreiben von Tagebüchern beschäftigt?’ <strong>Die</strong> Frage stellte er sich, als er den Untertitel<br />

überflog: Im Tagebuch die eigenen Stärken entdecken.<br />

„Hm!“ murmelte er, ging mit dem Buch in eine Leseecke und blätterte ... und las ... Er war<br />

eine Art Ratgeber und doch keiner. Das Schreiben von Tagebüchern wurde in dem Buch aus<br />

verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.<br />

‚Warum interessierst du dich plötzlich für Tagebücher?’ <strong>Die</strong>se Frage ging Wolfgang immer<br />

wie<strong>der</strong> im Kopf herum. Ihm wurde nicht gewahr, dass er doch selbst zu einem Mittler bei<br />

<strong>der</strong> Erforschung von erst kürzlich entdeckten Tagebüchern geworden war.<br />

Langsam wurden die Tage kürzer. Der August nahm seinen Lauf. Je<strong>der</strong> Urlaub geht einmal<br />

zu Ende, auch <strong>der</strong> von Elke und Heinz, die sich in B. am See sichtlich gut erholten. <strong>Die</strong><br />

Stille <strong>der</strong> Landschaft, das ruhige Leben im Seehotel, das allen Komfort bot, brachten die beiden<br />

wie<strong>der</strong> in das seelische Gleichgewicht, das ihnen Kraft gab, den künftigen Alltag zu bestehen.<br />

Aber zusätzlich zu diesen schlummerten noch Ereignisse vor ihnen, von denen niemand<br />

an jenem Tag, <strong>der</strong> für sie <strong>der</strong> vorletzte Urlaubstag war, erahnen konnte, was sie bringen<br />

würden. <strong>Die</strong> Beiden hatten sich nicht viel an diesem ruhigen Spätsommertag vorgenommen.<br />

Elke wollte am Abend die Koffer packen, eine Aufgabe, die sie sich als die ihre ausbedungen<br />

hatte. Heinz wusste das und ging dabei seiner Frau aus dem Weg, um sie nicht in ihren Packaktivitäten<br />

zu stören. Er hatte sich am späten Nachmittag auf die überdachte Hotelterrasse<br />

zurückgezogen, während Elke im Zimmer eine Etage höher begann, verschiedene Beutel mit<br />

getragener Wäsche in die beiden Koffer zu verstauen.<br />

„Grüß Gott, Herr Markert Wo haben Sie denn Ihre Frau denn gelassen?“ Frau Hagen, die<br />

Chefin des Seehotels, war an den Tisch herangetreten, an dem Heinz saß.<br />

„Meine Frau packt schon und dabei will ich sie nicht stören“, antwortete Heinz und blickte<br />

Frau Hagen bewun<strong>der</strong>nd an. „Ich genieße lieber noch einmal den Ausblick auf den See. Er<br />

gibt mir so viel Kraft ...“<br />

„Das sagen viele meiner Gäste“, entgegnete die aparte, wenn auch nicht mehr ganz taufrische<br />

Chefin des Hotels. „Mir selbst ist ja alles tagtäglich vertraut. Da empfindet man die Umgebung<br />

als etwas ganz Selbstverständliches.“<br />

„Da haben Sie recht, Frau Hagen.“ Heinz dachte kurz nach. „Für Sie mag das alles hier<br />

Alltag sein. Für mich sind es die einzigen zwei Wochen im Jahr, in denen ich mich jedes Mal<br />

so richtig entspannen kann.“<br />

„Das freut mich, dass es Ihnen und ihrer Gattin bei uns so gut gefällt.“ Frau Hagen lächelte.<br />

„Wie oft waren Sie schon hier?“<br />

Heinz überlegte. „Es muss schon mindestens mehr als zehn Jahre her sein, als wir mit<br />

Heike zum ersten Mal hier waren.“<br />

„Zehn Jahre?!“ Frau Hagen stutzte. So viele Jahre hätte sie jetzt nicht geschätzt. „<strong>Die</strong> Zeit<br />

vergeht, vergeht viel zu schnell. Wenn ich nur meinen Sohn ansehe ...“<br />

„Sie sagen es, Frau Hagen. An den Kin<strong>der</strong>n merkt man erst, wie man alt wird und die liebe<br />

Zeit wie im Fluge vergeht.“ Heinz empfand etwas Wehmut, dachte er doch an jene Zeit<br />

zurück, als Frau Hagens Mann noch lebte. Viel zu früh und vor allem viel zu plötzlich war er<br />

aus dieser Welt geschieden.<br />

Während Heinz im Hotelrestaurant auf <strong>der</strong> Terrasse saß, packte Elke die Koffer, soweit es<br />

ging. Das schwarze Wachstuchheft lag <strong>der</strong>weil auf dem Glastisch. Elke beachtete es zunächst<br />

nicht. Erst als sie mit dem Packen fertig war und sich an den Tisch setzte, um sich ein wenig<br />

auszuruhen, fiel ihr Blick auf die schwarze Kladde. Da fuhr ihr ein Gedanke durch den Kopf:<br />

56<br />

12


‚Mein Gott! Vor lauter Packen habe ich ganz vergessen, dass ich doch noch schreiben wollte.<br />

Warum hin<strong>der</strong>n mich meine Pflichten immer daran, durch Schreiben zu mir selbst zu finden?’<br />

Fast unbewusst ergriff sie das Heft, holte ihren Lieblingsstift aus ihrer Handtasche hervor<br />

und begann zu schreiben ...<br />

Elke vergaß alles um sich, konzentrierte sich nur auf das Wachstuchheft. Ihre rechte Hand<br />

führte den Stift über das leicht vergilbte Papier. War es gerade diese Art Patina des Papiers,<br />

die Elke so anzog? Sie machte sich weniger darum Gedanken, als viel mehr um das, was sie<br />

jetzt innerlich bewegte. Fast eine halbe Stunde schrieb Elke äußerst konzentriert, dann legte<br />

sie den Stift beiseite und las noch mal, was sie geschrieben hatte ...<br />

Freitag, 16. August 2002<br />

Heute ist unser vorletzter Tag hier in B. am See. Morgen wollen wir wie<strong>der</strong> nach Nürnberg<br />

zurück fahren, was mir auf <strong>der</strong> einen Seite etwas leid tut, mich auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

aber auch wie<strong>der</strong> mit Freunde erfüllt, denn meine Neugier auf die Tagebücher meiner Großmutter<br />

ist eher gewachsen, als durch den räumlichen Abstand zu ihren jetzigen Aufenthaltsort<br />

(Nürnberg) gefallen. Mich ärgert nur, dass ich die alte Deutsche Schrift nicht lesen kann,<br />

dann bräuchte ich die Hefte nicht außer Hand geben.<br />

Ich bin froh, dass ich jetzt alles soweit schon gepackt habe, damit ich morgen früh nur<br />

noch das in beide Koffer quetschen muss, was wir zur Nacht noch benötigen.<br />

Ich sitze im Hotelzimmer und sehe hinaus auf den See, <strong>der</strong> still und waldumsäumt daliegt.<br />

Welche Stille er ausstrahlt! Ich kann mich an diesem Anblick überhaupt nicht satt sehen. Wie<br />

kommt es nur, dass eine Wasserfläche so viel Ruhe geben kann? – Ich kann mir diese Frage<br />

nicht beantworten. Ob ich sie jemals beantworten kann? – Viel wichtiger scheint mir, dass ich<br />

mich mit Heinz zusammen wirklich gut erholt habe. Der Alltag wird mich noch früh genug<br />

einholen.<br />

Was wird wohl Heike jetzt machen? Ich denke jeden Tag mehrmals an sie, aber ohne Sorge.<br />

Sie ist ein patentes Mädel und wird ihren Weg machen. Darüber sorge ich mich in keiner<br />

Weise. Mich bedrückt vielmehr, wie das mit den Tagebüchern ausgehen wird. Irgendwie sind<br />

sie mir nicht geheuer, aber für Großmutter müssen sie sehr wertvoll gewesen sein, sonst hätte<br />

sie die alten Hefte nicht aufgehoben. Vielleicht wollte sie auch, dass sie nach ihrem Tod gelesen<br />

werden. Immerhin bleibt etwas von ihr, ihre Gedanken und Ängste und was man so noch<br />

alles in Worte fassen kann ...<br />

Warum muss ich immer an sie denken? Ich kann mich nicht losreißen von unserem Fund.<br />

Scheinbar ist es die pure Neugier, die mich ständig an Omas Tagebücher denken lässt, wenn<br />

ich gerade nichts An<strong>der</strong>es zu tun habe, als meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Und dies<br />

geht beim Schreiben (scheinbar) mühelos. <strong>Die</strong>se Erfahrung konnte ich aber erst machen, seit<br />

ich schreibe. Aber was hat mich zum Schreiben getrieben? – Für mich scheint es zum jetzigen<br />

Zeitpunkt eine mir unbekannte <strong>Macht</strong> zu sein, die mich unbewusst zu Papier und Stift greifen<br />

lässt. Es hat mich gepackt. Ich muss schreiben. Es befreit mich von meinen Ängsten und ich<br />

lebe irgendwie bewusster.<br />

‚Vielleicht sollte ich noch ein, zwei Sätze hinzufügen’, dachte Elke, nachdem sie zu Ende<br />

gelesen hatte. Sie überlegte eine Weile, ergriff dann wie<strong>der</strong> ihren Stift und fügte hinzu ...<br />

Trotz aller Fragen, die ich mir gerade selbst gestellt habe, bleibt für unseren Urlaub eine<br />

freudige Feststellung: Heinz und ich haben uns gut erholt. Eine gute Erholung ist und bleibt<br />

das Beste, was man aus seinen Ferien wie<strong>der</strong> mit nach Hause bringen kann. Und die Erinnerungen<br />

an einen schönen Urlaub könne noch lange nachhallen im Trubel <strong>der</strong> kommenden<br />

Zeit. Ich bin glücklich, dass Heinz so ein verständnisvoller Mann ist, <strong>der</strong> mir meine kleinen<br />

Freiheiten nicht nur gönnt, son<strong>der</strong>n mich manchmal dazu fast animiert.<br />

57


Elke blickte auf. Sie las die letzten Sätze und mit einem zufriedenen Lächeln klappte sie<br />

das Heft zu. Sie steckte ihren Stift wie<strong>der</strong> in die Handtasche, blickte auf ihre Armbanduhr und<br />

erschrak. <strong>Die</strong> Zeit war weit fortgeschritten.<br />

‚Jetzt muss ich doch einmal sehen, wie es Heinz unten geht. Hoffentlich langweilt er sich<br />

nicht.’ Geschwind stand Elke auf, nahm ihren Zimmerschlüssel und ging zur Türe. Sie sperrte<br />

das Zimmer ab und eilte die Treppe hinunter zum Hotelrestaurant.<br />

„Ah, da bist Du ja“, rief Heinz etwas erstaunt aus, als er Elke sah. Er hatte wohl seine<br />

Frau nicht so schnell erwartet.<br />

Elke setzte sich zu Heinz an den Tisch. „Hast Du Dich gelangweilt, Liebling?“<br />

„In keiner Weise! Überhaupt nicht“, entgegnete Heinz. „Ich habe die herrliche Aussicht<br />

auf den See genossen, Elke.“<br />

Sie schwieg zunächst und blickte hinaus auf den See. Aus dieser Perspektive sah er ein<br />

klein wenig an<strong>der</strong>s aus als ein Stockwerk höher vom Zimmerfenster aus. „Nicht nur Du hast<br />

diese nachdenklich stimmende Aussicht auf sich wirken lassen“, sagte Elke nach einer Weile<br />

zögernd. „Auch ich habe sie genossen und habe sogar noch geschrieben.<br />

„Geschrieben?“ Heinz war überrascht.<br />

„Ja, geschrieben, Heinz.“ Elke schien zu ahnen, was ihr Gatte dachte. „Das Kofferpacken<br />

hat nicht so lange gedauert, wie Du vielleicht angenommen hast.“<br />

„Ich habe doch keine Ahnung, wie lange es dauert, bis ...“<br />

„... weil Du nie Koffer packst“, unterbrach Elke ihren Mann. „Bisher habe immer ich<br />

mich dafür geopfert.“<br />

„Jetzt übertreibe doch nicht, Elke!“ Heinz spürte, dass er seine Frau etwas von den Kopf<br />

gestoßen hatte. „Das nächste Mal packe ich eben die Koffer.“<br />

„Ist schon gut, Heinz“, entgegnete Elke. „Mir macht es ja Spaß, Koffer zu packen, wenn<br />

nicht immer diese Wascherei nach <strong>der</strong> Rückkunft aus dem Urlaub wäre.“<br />

Heinz atmete tief durch. Er wollte alles An<strong>der</strong>e als jetzt einen Streit mit Elke vom Zaun<br />

brechen. „Es ist viel zu schön hier“, begann er nach einer Weile, „um sich über irgend etwas<br />

in die Haare zu kriegen. Lassen wir lieber heute noch mal diese herrliche Aussicht auf uns<br />

wirken. Viele Häuser und Autos sehen wir morgen bald genug noch.“<br />

„Da hast Du lei<strong>der</strong> zu recht“, bestätigte Elke. „Ich habe mir schon überlegt, irgend wohin<br />

ins Grüne zu ziehen.“<br />

Heinz horchte auf. Alles, was mit Geldausgeben zu tun hatte, fand sofort seine Aufmerksamkeit.<br />

Er war schließlich <strong>der</strong> Finanzexperte in <strong>der</strong> Familie.<br />

„Was darf ich Ihnen bringen?“ Josef, <strong>der</strong> schlanke, große Kellner wandte sich Elke zu.<br />

„Bringen Sie mir ein Helles und die Abendkarte“, antwortete Elke auf die höfliche Frage<br />

des Kellners. „Langsam bekomme ich Hunger.“ Als sie sich noch mal zu Josef umdrehen<br />

wollte, war dieser schon in Richtung <strong>der</strong> Theke im Innern des Restaurants verschwunden.<br />

„Abendkarte?“ Heinz blickte kurz auf seine Armbanduhr. „Potzdonner! <strong>Die</strong> Zeit ist aber<br />

äußerst schnell vergangen.“<br />

„<strong>Die</strong> Zeit vergeht immer viel zu schnell.“ Heike wurde nachdenklich. „Seit Heike ausgezogen<br />

ist, scheint sie noch schneller zu vergehen. Ich sehe sie noch an ihrem ersten Schultag<br />

mit <strong>der</strong> Schultüte ...“<br />

„Ja, ja, es ist schon ein merkwürdiges Phänomen, diese Zeit.“ Auch Heinz wurde jetzt<br />

nachdenklich. Ein paar Minuten saßen sie da, blickten beide auf den See hinaus und schwiegen.<br />

Erst <strong>der</strong> Kellner riss sie wie<strong>der</strong> aus ihrem Nachdenken.<br />

„Ein Helles und die Karte, bitte schön!“ Josef stellte das Bierglas vor Elke auf den Tisch<br />

und legte die Abendkarte dazu. Da merkte er, dass Heinz seinen Kaffee ausgetrunken hatte.<br />

„Darf ich Ihnen auch noch etwas zum Trinken bringen?“ fragte er an Heinz gewandt. <strong>Die</strong>ser<br />

überlegte nicht lange. Was seine Frau trank, das verzehrte er auch.<br />

„Für mich bitte auch ein Helles.“<br />

58


„Ein Helles, bitte schön.“ Josef wie<strong>der</strong>holte die Bestellung seiner Gäste im Gegensatz zu<br />

seiner Kollegin Maria eher selten, doch dieses Mal tat er es und eilte sogleich zur Theke, neben<br />

<strong>der</strong> in einer Nische Frau Hagen, die Besitzerin des Hotels auf einer Bank Platz genommen<br />

hatte und das Treiben im Restaurant genau beobachtete. Vor ihr stand ein halbvolles Glas<br />

Bier.<br />

„Na, was essen wir heute Abend gewissermaßen als Henkersmahlzeit?“ Heinz nahm die<br />

Abendkarte und schlug sie auf.<br />

„Ich weiß nicht“, Begann Elke. „Alles schmeckt hier gut. Man kann essen, was man will.<br />

Das macht die Auswahl schwierig.“<br />

„Du sagst es“, pflichtete Heinz seiner Frau bei. „Aber wir haben ja Zeit zum Auswählen.<br />

Ich glaube die Küche schließt erst um halb zehn. Und jetzt geht es ...“, Heinz sah auf die Uhr,<br />

„... gegen sieben.“<br />

Elke und Heinz ließen sich an diesem Abend mehr Zeit bei <strong>der</strong> Auswahl ihres Abendessens<br />

als an den vorhergehenden, denn hetzen wollten sie sich selbst an ihrem letzten Abend<br />

hier nicht. Alles ging seinen gemächlichen Gang. <strong>Die</strong> Küche hielt, was sie versprach, schließlich<br />

war sie schon einige Male ausgezeichnet worden. Zum Abendessen gönnten sich die Beiden<br />

eine Flasche wohlmundenden Rotweines, <strong>der</strong> auch danach noch ausreichend Zeit für eine<br />

Unterhaltung mit ihm ließ.<br />

Als Elke und Heinz ausgetrunken hatten, legte die Dämmerung graue Schatten über den<br />

See. <strong>Die</strong> Bäume um ihn verschmolzen mit dem Wasser am Rande des Sees zu einem silbergrauen,<br />

nicht mehr unterscheidbarem Etwas. Nur die Oberfläche in <strong>der</strong> Mitte des Gewässers<br />

spiegelte das Licht <strong>der</strong> Sterne wie<strong>der</strong>, die in immer größer werdenden Zahl am Himmel erschienen.<br />

Gegen halb zehn verließen Elke und Heinz das Restaurant, gingen aber noch nicht<br />

auf ihr Zimmer, son<strong>der</strong>n vertraten sich die Beine auf einem kurzen Spaziergang auf <strong>der</strong> Seepromenade.<br />

Nachdem Heike in ihr Studentenappartement zurückgekehrt war, befiel sie eine merkwürdige<br />

Müdigkeit. Plötzlich wurden ihr die Beine schwer.<br />

‚Ich werde mich doch nicht erkältet haben’, dachte sie bei sich. ‚Am besten wird sein, ich<br />

ziehe meine feuchten Sachen aus und gehe unter die Dusche. Eine warme Dusche hat noch<br />

niemals geschadet.’<br />

Nachdenklich zog sie sich aus und ging ins Bad unter die Brause. Danach fühlte sich Heike<br />

wohler, nur eine gewisse Müdigkeit steckte noch in ihr. Sie musste sich hinlegen, schließlich<br />

wollte sie am Abend mit Wolfgang zum Pizzaessen gehen.<br />

So gut und so schnell es ging föhnte sie ihre halblangen Haare und kämmte sich. Ermattet<br />

ließ sie sich in ihr Bett fallen und sah auf den Radiowecker. <strong>Die</strong> Uhr zeigte 15:35.<br />

‚Nun gut!’ dachte sie sich. ‚Ich stelle den Wecker auf fünf Uhr, dann habe ich noch viel<br />

Zeit bis Wolfgang kommt. Groß schlafen werde ich bei <strong>der</strong> Hitze ja so nicht.’ Sie stellte im<br />

Liegen den Radiowecker auf 17:00. Kaum hatte sie sich auf die an<strong>der</strong>e Seite gelegt, verlor sie<br />

jedes Zeitgefühl. Ihr war, als schwebte sie durch die Zeit. In Wirklichkeit war sie schon mitten<br />

in einem Traum versunken. Über ihr tanzten auf einer kleinen Bühne die sechs schwarzen<br />

Wachstuchkladden, die sich wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> in sechs aufreizende Vamps verwandelten,<br />

sechs fast gleich aussehende Tänzerinnen in schwarzen Negligé. Heike verspürte Lust, sprang<br />

auf und wollte auf die Bühne stürzen, aber eine unsichtbare <strong>Macht</strong> versuchte sie am Aufstehen<br />

zu hin<strong>der</strong>n. Mit letzter Kraft konnte sie eine <strong>der</strong> verführerischen Schönen erreichen. Sie<br />

fasste nach ihr, aber sie fasste durch sie hindurch. Im selben Augenblick verwandelten sich<br />

die Tänzerinnen wie<strong>der</strong> in die sechs pechschwarzen <strong>Wachstuchhefte</strong>, die tanzend in den Hin-<br />

59<br />

13


tergrund verschwanden. Plötzlich ertönte eine weibliche Stimme aus diesem: „Alles, was<br />

mein Leben wertvoll, aber auch schwer gemacht hat, steht geschrieben in den sechs Büchern<br />

des Wissens.“ Ein schauriges Lachen hallte durch den Raum. Heike erschrak und erstarrte.<br />

Sie konnte sich nicht bewegen, war wie gelähmt. „Lese sie, lese alle meine Bücher des Wissens!“,<br />

befahl die Stimme aus dem Hintergrund. „Wenn Du sie gelesen hast, wirst Du Dich<br />

ein wenig besser erkennen. Hahaha!“ Heike wollte schreien vor Angst, brachte aber keinen<br />

Ton heraus. Schlagartig war es dunkel. Sie war in tiefen Schlag gefallen. Nichts regte sich im<br />

Zimmer. Nur Heikes regelmäßige Atemzüge waren zu hören.<br />

Heike wachte auf, aber erst eine Stunde später, als sie geplant hatte. Ihren Traum hatte sie<br />

vergessen. Er war scheinbar nicht in ihr Bewusstsein gedrungen. Sie verfiel danach nicht in<br />

Panik, denn es war immer noch genügend Zeit bis Wolfgang kommen wollte. In aller Ruhe<br />

zog sie sich ein frisches T-Shirt und eine an<strong>der</strong>e Hose an.<br />

Draußen schien die Sonne von einem stahlblauen Himmel, als hätte es am Nachmittag nie<br />

ein Gewitter gegeben. Nur kleine, feuchte Flecken zeugten noch von jenem Regenguss, <strong>der</strong><br />

sich über Erlangen entladen hatte.<br />

Wolfgang kam an diesem Abend pünktlich. Heike brauchte nicht auf ihn zu warten. Über<br />

das Lokal, in das man gehen wollte, war man sich schnell einig. Und so zogen die Beiden<br />

schon kurz nach halb sieben los.<br />

„Ich bin voll jetzt“, stöhnte Heike und legte die gebrauchte Papierservierte auf den großen<br />

Teller. Sie lehnte sich zurück und atmete nochmals tief durch.<br />

„Kein Wun<strong>der</strong>“, entgegnete Wolfgang, „wenn Du die große Form isst.“<br />

„Ich habe aber auch Hunger gehabt“, rechtfertigte sich Heike. „Wenn ich heute Mittag nur<br />

wenig gegessen hätte, wäre mir das ja noch erklärbar, aber ...“ Heike hielt inne. Plötzlich<br />

tauchten in ihr einige Bil<strong>der</strong> aus ihrem Traum vom Nachmittag wie<strong>der</strong> auf. Sie erschrak ein<br />

wenig. Wolfgang, <strong>der</strong> sie aufmerksam beobachtete, blieb dies nicht verborgen.<br />

„Was hast Du denn plötzlich, Heike? Du siehst so erschrocken aus.“<br />

„Ach, nichts weiter, Wolfgang“, entgegnete Heike ein wenig verlegen. Sie wollte jetzt<br />

nicht mit Wolfgang über ihre Träume sprechen. Was sie am meisten bewegte, war etwas ganz<br />

an<strong>der</strong>es.<br />

„Weißt Du, was mich im Moment am meisten bewegt, Wolfgang?“ Heike blickte Wolfgang,<br />

<strong>der</strong> ihr gegenüber saß, fragend an.<br />

„Ich kann’s mir denken.“<br />

„Was?“<br />

„Na, die Tagebücher Deiner Großmutter.“<br />

„Volltreffer!“ Heike war über Wolfgangs Antwort nicht beson<strong>der</strong>s überrascht. „Beson<strong>der</strong>s<br />

beschäftigt mich diese alte Schrift. Für mich ist sie ein Buch mit sieben Siegeln.“<br />

„Was sie aber nicht bleiben soll“, warf Wolfgang ein.<br />

„Genau das, Wolfgang! Ich werde sie lernen und ich möchte noch viel mehr über meine<br />

Vorfahren wissen, als nur das wenige, was ich jetzt weiß.“<br />

“Da hast Du Dir ja viel vorgenommen.“ Wolfgang bewun<strong>der</strong>te Heikes Art, die Dinge anzupacken.<br />

„Wenn ich da an meinen Vater denke, wird mir ganz schwindlig. Wer Personengeschichte<br />

betreiben will, muss an Vieles denken. Wann haben unsere Vorfahren gelebt? Wo<br />

und wie haben sie ...“<br />

„Das und genau das will ich heraus bekommen“, unterbrach ihn Heike. „Das wann und<br />

wo herauszubringen, mag vielleicht noch einfach sein, aber wie unsere Vorfahren gelebt haben<br />

wird schon sehr viel schwieriger sein, in Erfahrung zu bringen.“<br />

Wolfgang antwortete nicht sofort, son<strong>der</strong>n trank zunächst einen Schluck aus dem Rotweinglas,<br />

das halbrechts vor ihm stand. Nachdenklich begann er: „Der Schlüssel, o<strong>der</strong> besser<br />

gesagt: Ein Schlüssel zur Erkundung <strong>der</strong> Vergangenheit wird sicherlich die alte Deutsche<br />

60


Schrift sein. Sie muss man lesen können, sonst bleiben einem die Dokumente, die Archivalien<br />

verschlossen.“<br />

„Ich bin genau Deiner Meinung, Wolfgang“, entgegnete Heike und trank ebenfalls einen<br />

Schluck Rotwein, denn sie merkte, wie ihr Hals etwas trocken wurde. „Deswegen habe ich<br />

mir vorgenommen, die alte Deutsche Schreibschrift schreiben zu lernen“, fuhr sie fort. „Ich<br />

möchte die Urkunden über die Existenz meiner Vorfahren im Original lesen können.“<br />

„Du entwickelst Dich ja zu einer Historikerin“, sagte darauf Wolfgang ironisch.<br />

„Ja, ich will in meiner Freizeit das Leben meiner Vorfahren erforschen.“ Heikes Entschluss<br />

stand fest. „Als Studentin habe ich noch relativ viel Zeit dazu. Wenn ich später im<br />

Berufsleben stehe, kann ich mir nicht mehr so viel Zeitz abzwacken wie jetzt.“<br />

„Und wenn Du Hilfe brauchst, dann wird mein Vater sicher <strong>der</strong> Letzte sein, <strong>der</strong> sie Dir<br />

verweigert“, ergänzte Wolfgang und sah in Heikes Augen, die in hellem Glanze strahlten,<br />

„Du bist ein Schatz, Wolfgang!“ rief sie entzückt. „Darauf trinken wir. Prost, Wolfgang!“<br />

Sie stießen mit ihren Gläsern an und tranken ihren Valpolicella aus.<br />

„Trinken wir noch einen?“ Wolfgangs Augen glänzten jetzt auch.<br />

„Aber sicher doch!“ Heike winkte den Kellner heran. „Bitte noch zwei Valpolicella!“<br />

Kurze Zeit später standen zwei volle Rotweingläser vor ihnen auf dem Tisch. Heike und<br />

Wolfgang stießen wie<strong>der</strong> an.<br />

„Ich werde mich gleich morgen erkundigen, wo ich an <strong>der</strong> Uni ...“<br />

„Ruf’ doch meinen Vater an“, unterbrach Wolfgang. „Der kann es Dir sofort sagen.“<br />

Heike atmete tief ein. „Was würden wir ohne Deinen Vater machen?“ Sie lachte bei dieser<br />

Frage.<br />

„Na, das kann ja noch ein vergnüglicher Abend werden!“ fügte Wolfgang lachend hinzu.<br />

Und es wurde noch ein vergnügter Abend für die Beiden. Nicht nur leicht beschwipst traten<br />

sie zu später Stunde den Weg in Richtung Heikes Appartement an.<br />

Heike wachte auf und war müde. <strong>Die</strong> letzte Nacht war doch ein wenig zu feuchtfröhlich<br />

geworden. Ihr Kopf brummte leicht, tat ihr aber nicht son<strong>der</strong>lich weh. In ihre Nase stieg ganz<br />

langsam ein Duft nach frischen Kaffee. Wie konnte es nach diesem aromatischen Gebräu riechen,<br />

wenn sie noch gar nicht aufgestanden war? Sie drehte sich langsam auf den Rücken,<br />

griff neben sich auf das Bett und entdeckte ein zweites Kopfkissen, das auf <strong>der</strong>selben Höhe<br />

lag wie das ihre. Siedheiß fiel es ihr wie<strong>der</strong> ein: Wolfgang war über Nacht bei ihr geblieben.<br />

Es war seine erste gemeinsame Nacht mit ihr zusammen.<br />

Langsam dämmerte es Heike. Wolfgang war schon aufgestanden und hatte Kaffee gekocht.<br />

„Bist du in <strong>der</strong> Küchenecke?“ Heike gähnte noch mal und setzte sich im Bett auf. Langsam,<br />

ganz langsam erwachten in ihr die Lebensgeister. Draußen schien die Sonne. Es war ein<br />

heiterer Spätaugusttag.<br />

Heikes Rufen blieb zunächst unbeantwortet. Sie stand auf und ging in Richtung Bad.<br />

„Na, gut geschlafen?“ Wolfgang fragte Heike im Vorbeigehen.<br />

„Ja“, gähnte sie. „Es ist lieb von Dir, dass Du Kaffee kochst.“ Im nächsten Moment war<br />

Heike in dem kleinen, engen Bad verschwunden.<br />

„Ich koche nicht nur Kaffee“, rief ihr Wolfgang nach. „Es gibt auch Brötchen zum Frühstück.“<br />

Wolfgang richtete den Tisch in <strong>der</strong> kleinen Essecke, in <strong>der</strong> gerade zwei Personen Platz<br />

fanden. „Frühstück ist gerichtet“, rief er, als Kaffee, Brötchen, Butter und Marmelade auf dem<br />

Tisch standen. Heike hörte ihn nur ganz im Hintergrund. Sie war noch damit beschäftigt, sich<br />

einigermaßen wie<strong>der</strong> herzustellen. Zehn Minuten später trat sie in die Essecke, wo schon<br />

Wolfgang saß und auf sie wartete.<br />

„Warum hast Du nicht schon angefangen zu frühstücken?“ Heike versuchte zu lächeln.<br />

61


„Aber Heike!“ Wolfgang tat ein wenig entrüstet. „Ich werde doch nicht ohne Dich anfangen,<br />

mir den Bauch voll zu schlagen, während Du im Bad versuchst, wie<strong>der</strong> wie ein hübsches<br />

Mädel auszusehen.“<br />

„Alter Spötter“, entrüstete sich Heike und gab Wolfgang einen Puff in den Arm. Er lächelte<br />

nur, ergriff die Kaffeekanne und schenkte das aromatisch duftende, tiefschwarze Gebräu in<br />

die beiden Tassen.<br />

„Jetzt wird erst einmal kräftig gefrühstückt.“ Wolfgang nahm sich ein Brötchen und teilte<br />

es mit einem Messer in zwei Hälften. Bei Ihm ging dies heute so schnell wie immer. Bei Heike<br />

dauerte es ein wenig länger. Ihre Bewegungen schienen etwas schwerfällig. <strong>Die</strong> Müdigkeit<br />

trotz Schlaf war noch nicht überwunden.<br />

„Wie kannst Du nur so fit sein?“ begann nach einer Weile Heike. „Ich fühle mich immer<br />

noch wie gerä<strong>der</strong>t nach dieser Nacht.“<br />

„Reine Übungssache!“ Wolfgang lachte und kassierte sofort noch einen Puff von Heike.<br />

<strong>Die</strong> Beiden ließen sich Zeit, viel Zeit zum Frühstücken. <strong>Die</strong> Augustsonne gewann auf ihrer<br />

hohen Bahn schnell an Kraft. Es wurde wie<strong>der</strong> ein warmer, aber kein so schwüler Tag wie<br />

sein Vorgänger.<br />

„Endlich wie<strong>der</strong> daheim!“ Elke seufzte, als sie Nürnberg näher kamen.<br />

„Ich versteh’ Dich nicht“, entgegnete Heinz. „Hat Dir unser Urlaub denn nicht gefallen?“<br />

„Doch, doch, Heinz! Du kennst doch den allseits bekannten Spruch: Man fährt gerne weg,<br />

aber auch gerne wie<strong>der</strong> heim.“<br />

„Ach so meinst Du das:“ Heinz war erleichtert. Er fühlte sich erholt und war zu neuen Taten<br />

bereit, wie er sich auszudrücken pflegte, nicht ganz ohne Augenzwinkern.<br />

„Ich bin gespannt, wie es in <strong>der</strong> Wohnung aussieht“, sagte eine Weile später Elke etwas<br />

besorgt.<br />

„Aber Heike hat doch am Telefon gesagt, dass bei uns in <strong>der</strong> Wohnung alles in Ordnung<br />

sei“, entgegnete Heinz, <strong>der</strong> seine Frau beruhigen wollte. Doch Elke blieb skeptisch.<br />

„Man weiß ja nie ...“, wandte sie ein.<br />

„Sei doch nicht so pessimistisch, Elke.“ Heinz kannte seine Frau genau. Wenn sie gegenüber<br />

irgendwas skeptisch war, gelang es ihm nicht so leicht, sie allein durch Reden vom Gegenteil<br />

zu überzeugen.<br />

Ihr Ziel rückte immer näher und man merkte es Elke an, dass sie immer nervöser wurde.<br />

Aber warum wurde sie innerlich so unruhig?<br />

Am späten Vormittag erreichten sie Nürnberg. Von ihrem Urlaubsort. waren sie nach einem<br />

guten Frühstück aufgebrochen, um die etwa einstündige Fahrt in Richtung Westen anzutreten.<br />

Sie brauchten dabei nicht einmal einen Fahrerwechsel vornehmen. Elke überließ Heinz<br />

gerne den Platz hinter dem Lenkrad. Ihr machte das Autofahren viel weniger Spaß als ihrem<br />

Angetrauten, zumal bei dem dichten Werktagsverkehr auf <strong>der</strong> Autobahn.<br />

„Das wäre geschafft“, seufzte Elke, als sie aus dem Auto ausstieg. „Wenn dieses Kofferschleppen<br />

nur nicht wäre.“<br />

„Keine Angst, Elke! Ich trage die Koffer.“ Heinz holte die beiden Gepäckstücke aus dem<br />

Wagen. „Nimm’ Du nur das Kleinzeug!“<br />

„Pah! Nur das Kleinzeug!“ Elke war auch damit genug belastet. „Das hat auch sein Gewicht.“<br />

Keuchend standen die Beiden einige Minuten später mit Sack und Pack vor <strong>der</strong> Wohnungstüre.<br />

Elke kramte in ihrer Tasche.<br />

62<br />

14


„Verdammt noch mal!“, entfuhr es ihr. „Wo sind denn nur die Wohnungsschlüssel?“<br />

„Nur mit <strong>der</strong> Ruhe!“ Heinz versuchte seine Frau zu beruhigen. „In <strong>der</strong> Ruhe liegt die<br />

Kraft.“<br />

„Du mit Deinen Sprüchen!“ Elke wurde nervös. „Ah, da sind sie ja!“, rief sie nach wenigen<br />

Augenblicken. „Auch eine Tasche verliert nichts.“ Elke kramte den Schlüssel hervor und<br />

sperrte die Wohnungstüre auf.<br />

„Hinein in die gute Stube“, rief Heinz aus, packte die beiden Koffer und trug sie in die<br />

<strong>Die</strong>le. Elke folgte ihm mit zwei kleineren Taschen und stellte diese ebenfalls in die <strong>Die</strong>le neben<br />

die Koffer. Danach atmete sie tief durch, verzog aber nach einem Atemzug die Miene.<br />

„Was ist denn das, Elke?“ Heinz sah seine Frau fragend an.<br />

„Irgendwie riecht es hier muffig.“ Elke rümpfte die Nase.<br />

„Das wun<strong>der</strong>t mich nicht“, entgegnete Heinz. „<strong>Die</strong> Wohnung ist seit über zwei Wochen<br />

nicht mehr gelüftet worden. Und dann noch die Schwüle, die in den Tagen geherrscht hat, in<br />

denen wir weg waren.“<br />

„Nein, Heinz!“ Elke ging schnuppernd auf und ab. „Es riecht nicht nur nach abgestandener<br />

Luft; es riecht auch noch irgendwie modrig.“<br />

„Jetzt machen wir erst mal die Fenster auf, denn wird die Luft hier schon besser werden“,<br />

beruhigte Heinz seine Frau. „Ich mache in <strong>der</strong> Küche und im Wohnzimmer die Fenster auf.<br />

Geh’ Du ins Schlafzimmer!“<br />

„Gut, dann trage ich gleich die Koffer dorthin“, stimmte Elke ihrem Gatten zu.<br />

Heinz ging in die Küche und öffnete das Fenster. Warme, aber unverbrauchte Luft strömte<br />

herein, schließlich war es ein schöner Spätsommertag. <strong>Die</strong> Sonne schien auf die Stadt und ihr<br />

geschäftiges Treiben.<br />

Heinz wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, als er plötzlich einen spitzen Schrei vernahm.<br />

„Heinz! Heinz, komm’ schnell ins Schlafzimmer!“<br />

„Was ist denn los?“ Heinz bekam keine Antwort. „Ich komme!“<br />

Er eilte ins Schlafzimmer und fand Elke kreidebleich vor den Betten stehen. Sie starrte an<br />

die Wand.<br />

„Was ist denn los, Elke?“ Heinz konnte zunächst nichts Beson<strong>der</strong>s im Schlafzimmer entdecken.<br />

„Jetzt weiß ich, warum es gerade so modrig roch“, sprudelte Elke heraus. Sieh’ an die<br />

Wand, Heinz! <strong>Die</strong> feuchte Stelle war vor unserem Urlaub noch nicht. Da muss beim Löschen<br />

des Brandes im Nebenhaus Wasser bis auf dieses Stockwerk gedrungen sein und sogar noch<br />

durch die Mauer bis zu uns herüber.“<br />

Heinz sah die feuchte Stelle an <strong>der</strong> Wand, die den Schränken genau gegenüber lag.<br />

„Es hat sich sogar schon die Tapete aufgezogen, Heinz.“ Elke blickte ihren Mann entsetzt<br />

an. „Wir müssen das Schlafzimmer neu tapezieren. Was das wie<strong>der</strong> kostet! Das ist ein Schadensfall,<br />

das muss die Versicherung zahlen. Ich zahle das nicht!“<br />

Elke war entrüstet, vielleicht ein wenig hysterisch. „Nein, das zahlen wir nicht!“<br />

„Jetzt beruhige Dich doch, Elke.“ <strong>Die</strong> Stimmer von Heinz klang im Vergleich zu seiner<br />

Frau ruhig, aber bestimmt.<br />

„Lass’ die Stelle doch erst einmal abtrocknen! Vielleicht gibt sich die Tapetenblase wie<strong>der</strong>.“<br />

“Du hast Nerven!“ Elke stemmte entrüstet beide Arme in die Seite.<br />

„Ja, die habe ich.“ Heinz blieb ganz ruhig. „Nur ruhig Blut, dann wird alles wie<strong>der</strong> gut.“<br />

“Du hast wohl für jede noch so dumme Situation einen Spruch parat.“ Elke wollte sich nicht<br />

beruhigen.<br />

„Jetzt fall’ doch nicht gleich in Panik, Elke“, versuchte Heinz seine Frau zu beruhigen.<br />

„Wir werden gut lüften, dann trocknet das schon wie<strong>der</strong>.“<br />

63


<strong>Die</strong> beruhigenden Worte von Heinz taten ganz langsam ihre Wirkung. Elke wandte sich<br />

endlich von <strong>der</strong> feuchten Wand ab. Heinz ging auf seine Frau zu und nahm sie in die Arme.<br />

„Alles wird gut“, flüsterte er Elke ins Ohr. „Jetzt gehen wir erst gut essen und am Nachmittag<br />

können wir in aller Ruhe dann die Koffer auspacken.“<br />

„Du hast ja recht, Heinz“, sagte Elke erleichtert. „Warum rege ich mich nur immer so<br />

auf?“ Heinz ließ ihre Frage unbeantwortet. Er gab seiner noch immer etwas aufgeregten Frau<br />

einen Kuss auf die Wange. <strong>Die</strong>ser bewirkte bei Elke mehr als je<strong>der</strong> Tropfen Baldriantinktur.<br />

Heike saß an ihrem Schreibtisch und brütete, aber nicht über einen Klausurstoff, son<strong>der</strong>n<br />

über einem Buch, welches sich mit <strong>der</strong> alten Deutschen Schrift befasste. Sie wollte diese unbedingt<br />

lernen, schnell lernen, denn die Neugier trieb sie an. Doch ohne Schreibübungen geht<br />

das Erlernen einer Schrift nicht in <strong>der</strong> Schnelligkeit, in <strong>der</strong> Heike hoffte, letztendlich die Tagebücher<br />

ihrer Großmutter ohne fremde Hilfe zu lesen. Aber das Üben war langweilig und<br />

zeitraubend. Missmutig warf sie das Buch und einen Übungsblock in die Ecke. Kurz darauf<br />

klingelte das Telefon.<br />

„Markert?!“<br />

„Gut, dass ich Dich antreffe:“ <strong>Die</strong> Stimme am an<strong>der</strong>en Ende klang nervös. „Ich wollte Dir<br />

nur sagen, dass wir wie<strong>der</strong> wohlbehalten aus dem Urlaub zurück sind.“ Elke hatte in <strong>der</strong> Eile<br />

ganz gegen ihre Art vergessen, sich mit ihrem Namen zu melden.<br />

„Das freut mich, Mutti“, entgegnete Heike, die natürlich die Stimme ihrer Mutter sofort<br />

erkannt hatte. „Aber was ist los, Mutti? Du klingst so nervös.“<br />

„Stell’ Dir vor, wir haben einen Wasserschaden im Schlafzimmer.“ Elke bemühte sich,<br />

ruhig zu sprechen. „An <strong>der</strong> Wand über den Betten hat sich die Tapete aufgezogen. Hast Du<br />

denn das nicht bemerkt, als Du in <strong>der</strong> Wohnung warst, Heike?“<br />

„Ich war nach dem Brand nur kurz in <strong>der</strong> Wohnung, danach nicht mehr.“ Heike versuchte,<br />

sich zu rechtfertigen. „Ich habe wirklich nichts im Schlafzimmer gesehen.“<br />

„Na ja, jetzt ist es schon geschehen“, fuhr Heike fort. „Dein Vater hat schon die Versicherung<br />

angerufen. Morgen will unser Versicherungsmensch sich den Schaden ansehen.“<br />

„Ich habe wirklich nichts gesehen, Mutti:“ Heike wollte sich noch immer verteidigen. „Ich<br />

...“<br />

„Kein Mensch macht Dir einen Vorwurf“, unterbrach Elke ihre Tochter. „Wichtig ist jetzt<br />

erst einmal, dass die Stelle wie<strong>der</strong> trocknet.“<br />

Heike atmete tief durch. Wie kam sie nur darauf, dass ihre Mutter ihr einen Vorwurf machen<br />

wollte? Dafür kannte sie doch Elke zu gut. „Sieht es schlimm aus, Mutti?“<br />

„Es ist nicht zu übersehen.“<br />

„Vielleicht hat sich die feuchte Stelle erst einige Zeit nach dem Löschen gebildet?“<br />

„Mag sein, Heike, aber ich wollte Dich noch etwas fragen.“ Elke klang plötzlich ein wenig<br />

hektisch. „Wann treffen wir uns mit Wolfgangs Vater?“<br />

Heike überlegte einen kurzen Moment und sagte dann: „Am 25. August haben wir ausgemacht.“<br />

„Das trifft sich gut. Dann habe ich noch etwas Zeit.“ Heike verstand nicht ganz, was ihre<br />

Mutter damit sagen wollte, fragte aber auch nicht weiter nach. <strong>Die</strong> Beiden telefonierten noch<br />

ein paar Minuten miteinan<strong>der</strong>, dann verabschiedeten sie sich.<br />

Nachdenklich legte Heike den Hörer auf. Hatte sie doch etwas übersehen, als sie vor zwei<br />

Wochen am Tag nach dem Brand im Nebenhaus in <strong>der</strong> Wohnung ihrer Eltern war? – Sie versuchte,<br />

sich an die Situation in <strong>der</strong> elterlichen Wohnung genau zu erinnern. Aber alles Grübeln<br />

half nichts. Sie hatte den feuchten Fleck an <strong>der</strong> Wand nicht bemerkt.<br />

‚Das tut mir wirklich leid’, dachte sie bei sich. ‚Ich hätte meiner Mutter doch etwas gesagt.’<br />

„Gräme Dich nicht!“, sprach plötzlich eine Stimme zu Heike. „Du musst jetzt nach vorne<br />

blicken! Es kommt viel Arbeit auf Dich zu.“<br />

64


Heike erschrak, fasste sich aber im nächsten Moment, den die Stimme fuhr fort: „Hab’<br />

keine Angst! Ich bin es nur, Deine innere Stimme, die zu Dir spricht.<br />

Heike atmete erleichtert auf. So deutlich hatte sie ihre innere Stimme zuvor noch nie vernommen.<br />

Früher sprach sie viel leiser zu ihr. Aber warum empfand sie ihre innere Stimme<br />

jetzt so intensiv und laut?<br />

Heike ließ sich aufs Bett fallen, verschränkte ihr beiden Arme hinter ihrem Kopf und<br />

blickte zur Decke. Sie dachte nach, über sich und die Welt, die ihr immer komplexer erschien.<br />

Eine Weile lag sie so da, doch plötzlich stand Heike wie<strong>der</strong> auf. Sie verspürte einen ungeheueren<br />

Drang zu schreiben. Heike lief zu ihrem Schreibtisch und begann zu kramen. Wo war nur<br />

dieses alte Wachstuchheft, in das sie in den letzten Tagen fast regelmäßig geschrieben hatte?<br />

Nach einer ihr lange erschienenen Suche fand sie endlich die beiden <strong>Wachstuchhefte</strong>, die<br />

sie bei <strong>der</strong> freundlichen, grauhaarigen Frau in <strong>der</strong> Nähe des U-Bahnhofes gekauft hatte. An<br />

den etwas nachgedunkelten Seiten am Beginn des Heftes erkannte sie dasjenige, welches<br />

schon beschrieben worden war. Sie schlug es auf und las die letzte beschriebene Seite. Danach<br />

holte Heike schnell ihren Füllfe<strong>der</strong>halter und schrieb:<br />

Ich kann es nicht leugnen, ich habe ein schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber,<br />

weil ich einen Schaden in ihrer Wohnung nicht bemerkt habe. Aber meine innere Stimme<br />

sprach gerade laut zu mir, ich solle doch mehr nach vorne in die Zukunft sehen, doch ich sehe<br />

vor mir nichts. <strong>Die</strong> Zukunft scheint mir ebenso dunkel wie die Vergangenheit, nicht meine<br />

Vergangenheit, son<strong>der</strong>n die meiner Vorfahren, beson<strong>der</strong>s einer meiner Urgroßmütter, die<br />

Mutter meiner Großmutter mütterlicherseits, von <strong>der</strong> jede Menge schriftliche Zeugnisse vorliegen,<br />

die ich aber nur deswegen nicht lesen kann, weil heute eine an<strong>der</strong>e Schrift geschrieben<br />

wird als vor siebzig o<strong>der</strong> achtzig Jahren. Ich bin fast ein wenig verzweifelt über diese Situation,<br />

aber nicht bedrückt, denn ich kann lernen und ich will sie lernen, die alte deutsche Schrift<br />

mit ihren Haken und Häkchen, den zweierlei S und was es sonst noch gibt.<br />

Heike blickte auf, schaute zum Fenster hinaus, sah den Himmel, <strong>der</strong> fast wolkenlos war<br />

und von dem eine wärmende Augustsonne schien und die Stadt in ein mildes Sommerlicht<br />

tauchte. Sie blickte durch den Tag hindurch, war gefangen in ihren Gedanken. Das Wachstuchheft<br />

ließ sie nicht los und auch nicht ihren Füllfe<strong>der</strong>halter, mit dem sie schon in <strong>der</strong> Schule<br />

geschrieben hatte. Heike nahm wie<strong>der</strong> das Heft, schlug es auf und schrieb weiter ...<br />

Eine ungeheuere Neugier hat sich meiner seit dem Zeitpunkt bemächtigt, als meine Mutter<br />

und ich den Schatz im Haus meiner Großeltern hoben, <strong>der</strong> meine Gedanken ständig beschäftigt.<br />

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die schwarzen <strong>Wachstuchhefte</strong> denke, die Gott<br />

sei Dank noch unversehrt im Keller <strong>der</strong> Wohnung meiner Eltern lagern. Ich muss sie wie<strong>der</strong>sehen,<br />

muss sie fühlen, in ihnen blättern und dabei im Leben jener Elfriede Wagner lesen, die<br />

eine meiner vier Urgroßmütter gewesen ist. Warum hat sie so viel geschrieben? Warum hat<br />

sie überhaupt geschrieben? – Fragen über Fragen, zu denen sich noch ständig immer mehr<br />

hinzugesellen. Hatte sie ähnlicher Schreibdrang dazu bewogen, ihre Gedanken dem Papier<br />

anzuvertrauen, wie er mich gerade dazu antreibt zu schreiben?<br />

Heike war verzweifelt. Immer mehr Fragen drängten sich in ihr auf. Ihre Gedanken waren<br />

zu schnell, um alle aufgeschrieben zu werden. ‚Der Stift ist viel zu langsam, um auch nur ein<br />

Zehntel <strong>der</strong> Gedanken, die mir in den Sinn kommen, auf dem Papier zu erfassen’, dachte sie<br />

bei sich und legte ihren alten Schulfüller beiseite. Das Wachstuchheft ließ sie aufgeschlagen<br />

vor sich liegen. Es machte ihr große Freude, ihre Gedanken so offen vor sich zu sehen, offen<br />

auf dem Papier, aber nur für sie lesbar. Aber woher kam diese Freude, die Heike fast als eine<br />

Lust empfand? Obwohl ihr die Worte leicht aus <strong>der</strong> Hand flossen, fühlte sie, dass das Schreiben<br />

doch sehr viel mit Selbstdisziplin zu tun hatte. Sie musste zunächst ihre Gedanken sam-<br />

65


meln, bevor sie den Füller ergreifen und zu schreiben beginnen konnte. Alles strömte scheinbar<br />

gleichzeitig auf sie ein. Heike konnte plötzlich nicht mehr schreiben. Zu viele Gedanken<br />

schwirrten in ihrem Kopf herum. Sie musste etwas an<strong>der</strong>es tun, musste loskommen von ihrem<br />

Schreibdrang.<br />

Heike legte das alte Wachstuchheft beiseite, schraubte die Kappe ihres Füllfe<strong>der</strong>halters<br />

über <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> zu und sah nachdenklich zum Fenster hinaus.<br />

Nach einer Weile entschloss sich Heike, nach Nürnberg zu ihren Eltern zu fahren, um die<br />

Tagebücher in Augenschein zu nehmen. Sie musste sie sehen und wollte auch versuchen, in<br />

ihnen zu lesen. Rasch zog sie sich zum Ausgehen an und versäumte es auch nicht, ihr Wachstuchheft<br />

und den alten Schulfüller in die Tasche zu stecken. Halt! Beinahe hätte sie ihre<br />

Schlüssel vergessen mit zu nehmen. An dem Bund waren auch die Schlüssel zu <strong>der</strong> Wohnung<br />

ihrer Eltern, die sie für eventuelle Notfälle immer bei sich hatte.<br />

Heike schloss die Türe ihres Appartements hinter sich ab, ging den überdachten Außengang<br />

zur Türe, die ins Treppenhaus führte. Sie nahm nicht den Aufzug, son<strong>der</strong>n ging zu Fuß<br />

hinab und strebte dann dem hauseigenen Parkplatz zu, auf dem ihr kleiner Wagen stand. Sie<br />

stieg in ihr Auto und fuhr in Richtung Nürnberg davon.<br />

Als es plötzlich an <strong>der</strong> Tür sperrte, fuhr Elke erschrocken hoch. ‚Das kann ja nur Heike<br />

sein’, dachte sie bei sich und ging von <strong>der</strong> Küche hinaus in die Essdiele. Schon öffnete sich<br />

die Türe.<br />

„Hallo Mutti!“ Heike eilte zu ihrer Mutter und umarmte sie.<br />

„Grüß’ Dich Heike“, erwi<strong>der</strong>te Elke. „Du kommst aber überraschend. Was führt Dich zu<br />

uns?“<br />

„<strong>Die</strong> Neugierde, die reine Neugierde ...“<br />

„... auf die Tagebücher“, unterbrach Elke ihre Tochter. „Warum sollte es Dir an<strong>der</strong>s gehen<br />

wie Heinz.“<br />

„Wieso? Ist Papa auch so neugierig auf die Aufzeichnungen von Großmutter?“ Heike war<br />

überaus erstaunt über die Tatsache, dass sich ihr Vater plötzlich so sehr für ihren Fund interessierte.<br />

„Hat er wohl die <strong>Wachstuchhefte</strong> aus dem Keller geholt?“<br />

„Genau das, Heike“, bestätigte ihre Mutter. „Heute morgen gleich nach dem Frühstück ist<br />

er in den Keller gegangen und hat sie geholt. Danach ist er in Dein früheres Zimmer gegangen<br />

und ward seitdem nicht mehr gesehen.“<br />

„Das ist ja ulkig.“ Heike lachte. „Na, dann werde ich mal nach Papa sehen und ihn in seinem<br />

Studium etwas stören.“<br />

„Tu das, Heike!“ Elke lächelte und zwinkerte Heike zu, doch diese hatte sich schon umgedreht.<br />

<strong>Die</strong> Türe zu Heikes früherem Zimmer war verschlossen. Obwohl sie in <strong>der</strong> Wohnung ihrer<br />

Eltern war, klopfte sie an die Türe. Ein dumpfes ‚Herein’ drang nach außen. Heike öffnete die<br />

Türe und trat in ihr früheres Zimmer.<br />

„Hallo, Heike!“ Ihr Vater erhob sich aus dem Stuhl, <strong>der</strong> vor dem Schreibtisch stand.<br />

„Hallo, Papa!“ Heike ging zu ihrem Vater. <strong>Die</strong> beiden umarmten sich. Dabei sah sie auf<br />

den Schreibtisch und konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken.<br />

„Warum lachst Du, Heike?“<br />

„Das ist ja lustig. Du willst wohl auch die alte deutsche Schrift lernen?“<br />

„Was heißt hier: auch?“ Heinz Markert konnte sich die aufgeweckte Fröhlichkeit seiner<br />

Tochter nicht erklären. „Weil ich auch dabei bin, die alter Sütterlinschrift zu lernen.“<br />

66<br />

15


Heike lachte wie<strong>der</strong>. <strong>Die</strong>smal musste ihr Vater auch lachen, denn jetzt verstand seine<br />

Tochter.<br />

„Wir Markerts sind schon ein komisches Völkchen“, sagte er nach einer Weile. „Da entdecken<br />

wir was und schon stürmen wir los und wollen etwas ganz Neues lernen.“<br />

„Da hast Du mehr als recht“, stimmte Heike ihrem Vater zu, <strong>der</strong> jetzt wie<strong>der</strong> zum Schreibtisch<br />

ging und ein Übungsbuch zur alten deutschen Schrift sowie einen Spiralblock beiseite<br />

legte. Erst zu diesem Augenblick sah Heike die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> rechts hinten auf dem<br />

Schreibtisch liegen. Ihre Augen begannen zu glänzen.<br />

„Hast Du schon in den Tagebüchern gelesen, Vati?“ Heike platzte fast vor Neugier. Wusste<br />

ihr Vater jetzt schon mehr als alle an<strong>der</strong>en<br />

„Ich habe es versucht“, erklärte Heinz. „Aber ich bin zu <strong>der</strong> Überzeugung gelangt, dass<br />

ich die deutsche Schrift erst durch das Schreiben richtig lesen kann.“<br />

Heike wurde nachdenklich, aber ihre Neugier siegte über ihre Zurückhaltung, nicht nach<br />

den <strong>Wachstuchhefte</strong>n greifen zu wollen. Sie nahm sich das oberste aus dem Stapel und wog<br />

es in <strong>der</strong> Hand, schlug es aber nicht auf. Heike betrachtete es forschend und dies blieb ihrem<br />

Vater nicht verborgen.<br />

„Warum schlägst Du es nicht auf, Heike?“<br />

„Ich bin so furchtbar neugierig“, begann sie, „und will wissen, was da geschrieben steht,<br />

aber irgend etwas hält mich jetzt davon ab, das Heft aufzuschlagen. Ich frage mich, ob es die<br />

sichere Gewissheit ist, so gut wie nichts lesen zu können, die mich davon abhält.“<br />

„Das mag schon sein“, entgegnete Heinz. „Weißt Du, was mich nachdenklich macht?“<br />

Es dauerte einen Moment, bis Heike die Frage wahrgenommen hatte, denn sie war kurz so<br />

in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie ihr Umgebung nicht wahrnahm.<br />

„Was macht Dich denn nachdenklich, Vati?“<br />

„Es ist doch eigenartig, dass Du und Elke sich fast gleichzeitig ein ähnlich altes Wachstuchheft<br />

an zwei verschiedenen Orten kaufen und damit beginnen, ihre Gedanken darinnen<br />

aufzuschreiben.“ Heinz sah seine Tochter fragend an.<br />

„Woher weißt Du eigentlich, dass ich mir auch zwei <strong>Wachstuchhefte</strong> gekauft habe?“<br />

„Hast Du es mir nicht erzählt, Heike?“<br />

„Ich kann mich jetzt nicht daran erinnern, Vati.“<br />

„Das ist aber seltsam!“ Heinz runzelte seine Stirn.<br />

„Ja, alles ist schon ein wenig seltsam. Warum schreiben Mutti und ich jetzt plötzlich Tagebuch?<br />

Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Während Heike dies sagte, legte sie<br />

das Wachstuchheft wie<strong>der</strong> auf den Stapel, ohne darin geblättert zu haben. Es war eine eigenartige<br />

Stimmung, die sich langsam in dem Zimmer breit machte, das so viele Jahre Heikes<br />

Zuhause war. Etwas wehmütig blickte sie über den Schreibtisch hinweg hinaus zum Fenster.<br />

Der strahlend blaue Himmel konnte sie jetzt nicht aus ihrer Selbstversunkenheit reißen.<br />

Heinz sagte nichts, son<strong>der</strong>n blickte seine Tochter nur an. Viele Gedanken schwebten<br />

durch den Raum, bei ihm und noch viel mehr bei Heike.<br />

Sie standen eine Weile schweigend beieinan<strong>der</strong>. Keiner sagte etwas. Plötzlich ging die<br />

Türe auf. Elke Markert erschien im Zimmer.<br />

„Habt ihr das Telefon nicht klingeln hören?“<br />

„Nein!“ Elkes Mann blickte erstaunt seine Frau an. „Wir haben uns unterhalten und auch<br />

ein wenig nachgedacht, Elke.“<br />

„Na ja, macht nichts!“ Elke winkte ab. „Dr. Brenner hat gerade angerufen und gefragt, ob<br />

das morgen Abend mit dem Treffen klar gehe. Ich habe zugesagt. Du hast doch nichts vor<br />

Heike?“<br />

„Ich? – Nein. Treffen wir uns morgen schon?“<br />

„Ja, die Zeit vergeht.“ Heikes Mutter lachte.<br />

67


„Ich bin gespannt, was daraus wird“, sagte Heinz. Seinem Gesichtsausdruck konnte man<br />

eine gewisse Skepsis nicht absprechen. „Mir wäre es lieber, wenn wir versuchten, die Tagebücher<br />

selbst zu entziffern und ...“<br />

„... dafür vielleicht Jahre brauchen“, unterbrach Heike ihren Vater. „Nein, es ist schon<br />

besser, wenn wir das einem Profi überlassen. Wolfgangs Vater kann das besser wie wir alle<br />

zusammen.“<br />

Elke nickte zustimmend. „Du kannst sagen, was Du willst, Heinz. Aber wo Deine Tochter<br />

recht hat, hat sie recht.“<br />

„Aber dann sollten wir zumindest die Aufzeichnungen kopieren“, wandte Heinz ein.<br />

„Man weiß ja nie ...“<br />

„Aber Vati!“, entrüstete sich Heike. „Wolfgangs Vater ist ein angesehener Wissenschaftler.<br />

Vertraust Du ihm nicht? Meinst Du, er gibt uns die Tagebücher nicht zurück?“<br />

„Nein, Nein!“ Heinz hob beschwichtigend seine Hände. „Ich vertraue Dr. Brenner. Aber<br />

die <strong>Wachstuchhefte</strong> sind Unikate. Wenn sie alle verloren gehen ...“<br />

„Wieso sollen sie verloren gehen?“ Elke verstand den Einwand ihres Mannes nicht. „Wer<br />

sollte sich außer Dr. Brenner und uns noch für die Aufzeichnungen interessieren? Außerdem:<br />

Wer weiß außer den Genannten noch von den Tagebüchern?“<br />

„Wenn man von Oma und Opa einmal absieht“, antwortete Heike spontan, „ gibt es nur<br />

noch Wolfgang. Aber <strong>der</strong> steht doch zu mir.“<br />

„Also ihr könnt sagen, was ihr wollt“, mischte sich Heinz in die Diskussion ein. „Ich werde<br />

jetzt zur nächsten Kopierbude gehen und die Tagebücher kopieren.“ Er packte kurzentschlossen<br />

die obersten drei <strong>der</strong> sechs aufeinan<strong>der</strong>gestapelten Wachstuchkladden, steckte sie in<br />

eine Stofftasche und verließ eilig den Raum.<br />

„Dann nimm’ aber genügend Geld mit“, rief ihm Elke nach. „Du wirst es brauchen!“<br />

„Ja, mache ich“, hallte es aus <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le. Kurze Zeit später hörten Elke und Heike, die immer<br />

noch wie angewurzelt im Zimmer standen, die Wohnungstüre ins Schloss fallen.<br />

„Was ist denn in Vati gefahren?“ Heike schaute ihre Mutter entgeistert an. „Hat er das in<br />

letzter Zeit öfters?“<br />

„Nein. Heike, aber er ist und bleibt eben ein vorsichtiger Mensch.“<br />

Elke und Heike gingen aus dem Zimmer hinaus in die <strong>Die</strong>le, die sich zur Küche hin zu einer<br />

Essdiele erweiterte.<br />

„Vati hat ja recht“, begann Heike und setzte sich an den Tisch, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Essdiele stand.<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> sind nun einmal Unikate und wenn sie verloren gingen, sind sie für alle<br />

Zeiten vernichtet.“<br />

„Tagebücher sind zunächst immer Unikate, Heike.“ Elke hatte sich zu ihrer Tochter gesetzt.<br />

„Und sie sind auch immer ein Stück Zeitgeschichte in Gestalt <strong>der</strong> sich darin wi<strong>der</strong>spiegelnden<br />

Lebensgeschichte des Schreibers beziehungsweise <strong>der</strong> Schreiberin.“ Elke kam ins<br />

Dozieren.<br />

„Man merkt, dass Du Geschichtslehrerin bis, Mutti.“ Heike lächelte ihre Mutter an und sie<br />

merkte, wie sich ein menschliches Bedürfnis in ihr regte. „Hast Du etwas zum Trinken für<br />

mich, Mutti?“<br />

„Aber selbstverständlich, Heike.“ Elke sorgte immer für ihre Tochter, auch wenn diese<br />

nicht mehr bei ihren Eltern wohnte. „Ich habe mir vorhin Kaffee gekocht. Willst Du eine Tasse?“<br />

„Ja, Mutti“, hauchte Heike. Sie wusste, dass ihre Mutter schon von jeher guten Kaffee<br />

kochte.<br />

Elke schenkte ihrer Tochter und sich eine Tasse Kaffee ein. Das dunkle, dampfende Getränk<br />

verströmte einen verführerischen Duft an ihre Geruchs- und Geschmacksnerven.<br />

„Ah, Dein Kaffee ist <strong>der</strong> beste, Mutti“, sagte Heike, als sie einen Schluck aus <strong>der</strong> Kaffeetasse<br />

mit dem zeitlosen Design getrunken hatte. Elke vernahm dies mit großem Wohlwollen<br />

und lächelte ihre Tochter an.<br />

68


„Du wirst dich sicher fragen“, begann Elke, „warum dein Vater so plötzlich für die Hinterlassenschaft<br />

meiner Großmutter so großes Interesse zeigt. Er hat einen alten Ariernachweis<br />

seines Vaters entdeckt und will eine Ahnentafel von dir erstellen. Dabei erhofft er sich auch<br />

von den Tagebüchern Hinweise auf weitere Vorfahren.“<br />

„Das ist ja ungeheuer interessant.“ Heike wurde nachdenklich. „Aber um alles in <strong>der</strong><br />

Welt: Was ist ein Ariernachweis?“<br />

„Mit einem sogenannten „Nachweis <strong>der</strong> Abstammung von deutschem o<strong>der</strong> artverwandtem<br />

Blut“, kurz Arienachweis genannt, mussten Leute, die in bestimmten Institutionen z.B. bei <strong>der</strong><br />

Polizei arbeiten wollten, während <strong>der</strong> NS-Zeit nachweisen, dass sie keine Vorfahren aus sogenannten<br />

„min<strong>der</strong>wertigen Rassen“, also z.B. Juden, Sinti o<strong>der</strong> Roma, hatten.“ Elke fiel die<br />

Erklärung leicht. „Das hängt mit den Nürnberger Rassegesetzen zusammen.“ Sie unterbrach<br />

sich selbst. „Aber das werdet ihr doch auch in <strong>der</strong> Schule durchgenommen haben?“<br />

„Mit Sicherheit, Mutti“, entgegnete Heike. „Aber erinnerst du dich nicht? Ich war doch<br />

einmal lange Zeit wegen meines Blinddarms ...“<br />

„Nur keine Ausflüchte!“, unterbrach Elke ihre Tochter. „Was ein Ariernachweis ist, gehört<br />

zur Allgemeinbildung eines jeden deutschen Abiturienten.“<br />

Heike errötete. Hatte sie das in <strong>der</strong> relativ kurzen Zeit seit ihrem Abitur schon wie<strong>der</strong> vergessen?<br />

– Hastig nippte sie an ihrer Kaffeetasse.<br />

„Ich wusste gar nicht, dass Vati einen Hang zur Genealogie hat.“ Heike war sichtlich<br />

überrascht, ihre Mutter nicht.<br />

„Na ja, dein Vater ist nicht gerade das, was man einen Familienforscher nennen könnte“,<br />

sagte Elke bedächtig. „Aber einen leichten Hang dazu hat er schon immer gehabt. Das hast du<br />

nur nicht bemerkt.“<br />

Heike atmete tief durch und trank noch einen Schluck Kaffee. „Man kann eben nicht alles<br />

wissen.“<br />

„Ist ja nicht so schlimm“, wiegelte ihre Mutter ab. „Auch das mit dem Ariernachweis ist<br />

nicht so tragisch, wenn dies eine junge Studentin nicht in allen Einzelheiten weiß.“<br />

Heike hatte ihre Mutter verstanden und lächelte etwas spitzbübisch. „Man muss nicht alles<br />

wissen ...“<br />

„..., aber man muss wissen, wo es steht“, ergänzte Elke ihre Tochter. Beide sahen sich an und<br />

mussten spontan lachen.<br />

Heike schüttelte den Kopf. „Da rennt doch Papi wie von <strong>der</strong> Tarantel gestochen mit einem<br />

Teil <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> weg und will sie kopieren. Ich kann’s nicht fassen!“<br />

„Ja, das hat mich auch überrascht“, pflichtete Elke ihrer Tochter bei. „Ich möchte nur wissen,<br />

warum er plötzlich so besorgt um die Tagebücher ist. Er kann sie doch genauso gut o<strong>der</strong><br />

schlecht lesen wie ich.“<br />

„Vielleicht sollten wir Dr. Brenner morgen nur die Kopien geben und die Originale in ein<br />

Bankschließfach legen.“ Ein gewisser ironischer Unterton war in Heikes Stimme deutlich<br />

vernehmbar.<br />

„Aber Heike! Was sagst du denn da?“ Elke war ein wenig entrüstet. „Erstens haben wir<br />

kein Bankschließfach ...“<br />

„Und zweitens?“ Heike wurde neugierig, was denn <strong>der</strong> zweite Grund sein konnte, warum<br />

man Dr. Brenner die Originaltagebücher geben wollte.<br />

„Zweitens“, fuhr Elke fort, „ist es immer besser, wenn man in Zweifelsfällen bei <strong>der</strong> Lesbarkeit<br />

die Originale vor sich hat.“<br />

„Hm, an das habe ich nicht gedacht.“ Heike wurde nachdenklich. „Aber es leuchtet mir<br />

ein. Mit Tinte geschriebene Texte sehen in <strong>der</strong> Kopie meist etwas blass aus.“<br />

„Genau das ist es, Heike.“<br />

„Aber zur Sicherheit sind Kopien nicht schlecht.“<br />

„Ja, aber gewissermaßen nur als eine Art Sicherungskopie. Arbeiten muss <strong>der</strong> Historiker<br />

möglichst immer am Original.“<br />

69


„Ich habe schon verstanden“, sagte Heike und trank den Rest des Kaffees aus. Ihre Mutter<br />

sah dies und wollte Heike gerade fragen , ob sie noch eine Tasse Kaffee wollte, doch Heike<br />

kam ihr zuvor.<br />

„Nein danke, Mutti. Ich wollte noch mit <strong>der</strong> U-Bahn in die Altstadt fahren und ...“<br />

„... dich mit Wolfgang treffen“, unterbrach Elke ihre Tochter.<br />

„Woher weißt du?“<br />

„Ich seh’s dir doch an <strong>der</strong> Nasenspitze an, dass du in Wolfgang verknallt bist.“ Elke lächelte.<br />

„Und frisch Verliebte zieht es magisch zu einan<strong>der</strong> hin. O<strong>der</strong> etwa nicht?“<br />

Heike errötete leicht, was ihre Mutter sofort sah und darauf hin zu lachen begann. „Du<br />

brauchst nicht verlegen werden“, sagte Elke und strich Heike mit <strong>der</strong> Hand durchs Haar. „Ich<br />

war auch einmal jung und verliebt. Ich weiß, wie das ist, denn ich habe es nicht vergessen.“<br />

Heike stand auf und ergriff ihre Tasche, die sie auf den Stuhl neben sich gestellt hatte.<br />

„Also dann werde ich jetzt gehen“, sagte sie entschlossen. „Ich komme später aber noch mal<br />

vorbei, denn ich bin ja mit dem Wagen da. Er steht um die Ecke.“<br />

„Ist gut, Heike!“ Elke gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. „Amüsiert euch<br />

schön! Tschüß!“<br />

„Tschüß, Mutti!“<br />

Kurze Zeit später fiel die Wohnungstüre ins Schloss. Heikes Schritte verhallten im Treppenhaus.<br />

‚Da geht sie hin, meine Tochter’, dachte Elke bei sich. ‚Ist es denn schon so lange her, als<br />

sie noch mit ihren Barbiepuppen gespielt hat? Na ja, aus Kin<strong>der</strong>n werden schnell Leute.“<br />

Elke setzte sich wie<strong>der</strong> an den Esstisch und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein.<br />

Nachdenklich verrührte sie Milch und Zucker. Das zunächst schwarze Getränk nahm schnell<br />

eine goldbraune Farbe an. So ähnlich, nur etwas dunkler sah die Tinte in den Tagebüchern<br />

aus.<br />

Sie träumte eine Weile mit offenen Augen vor sich hin, dann schaltete sie das Radio ein.<br />

Ein getragenes Adagio erfüllte die Essdiele. Elke schloss die Augen und ließ die Musik auf<br />

sich wirken ...<br />

Es war ihr, als würden die <strong>Wachstuchhefte</strong> auf sie einreden, aber sie konnte sie nicht verstehen,<br />

denn sie waren so leise. Und kaum hörbar mischte sich eine an<strong>der</strong>e Stimme darunter,<br />

die mit den <strong>Wachstuchhefte</strong>n zu reden schien. Welche Stimme war dies nur? Elke wurde neugierig,<br />

wollte die Stimme anrufen, aber sie brachte keinen Ton aus ihrem Mund. Ihre Stimme<br />

war wie abgeschnürt. Sie konnte nicht reden, obwohl sie es nur zu gerne wollte.<br />

Plötzlich verstummte das leise Stimmengewirr. Elke sah sich in einem alten Haus. Es war<br />

kalt im Raum, <strong>der</strong> mit dunklen, altertümlich aussehenden Holzmöbeln vollgestellt war. Elke<br />

sah sich im Zimmer um und erschrak kurz. An einem Sekretär saß eine Frau mit hochgesteckten,<br />

dunkelblonden Haaren, die auf Elke jung wirkte. <strong>Die</strong> Frau schien zu schreiben, aber Elke<br />

konnte nicht sehen, worauf die Frau schrieb. Behutsam bewegte sie sich in diejenige Ecke des<br />

Raumes, von <strong>der</strong> aus sie sich erhoffte, das Gesicht <strong>der</strong> Frau besser sehen zu können. Plötzlich<br />

schien diese sich zu bewegen und blickte einen kurzen Augenblick von <strong>der</strong> Schreibfläche des<br />

Sekretärs auf. Elke durchfuhr es. <strong>Die</strong>ses Gesicht hatte sie schon auf einen Foto gesehen. Elke<br />

wollte überrascht aufschreien, brachte aber keinen Ton heraus. Kein Zweifel, die Frau, die da<br />

am Sekretär saß und schrieb, musste ihre Großmutter sein, aber nicht wie sie Elke im Gedächtnis<br />

geblieben war, son<strong>der</strong>n als junge Frau. Sie musste es sein. Elke war jetzt felsenfest<br />

davon überzeugt. Sie wollte sie ansprechen, aber sie konnte noch immer nicht reden.<br />

Sie war eigentlich nicht in den Raum, in dem die junge Frau saß und schrieb. Da ertönte<br />

plötzlich eine ihr wohl bekannte Stimme aus dem Hintergrund: „Schläfst du o<strong>der</strong> träumst<br />

du?“ Das Zimmer verschwand und das Licht des Traumes, das Bild vor ihren Augen war verschwunden.<br />

Elke schreckte hoch. Benommen sah sie Heinz im Türbogen <strong>der</strong> Essdiele stehen. „Ich<br />

muss wohl geträumt haben.“<br />

70


„Das glaube ich auch.“ Heinz stellte seine prall gefüllte Stofftasche auf den Stuhl, <strong>der</strong> Elke<br />

gegenüber stand. „Man sollte es nicht für möglich halten, wie viele Seiten so eine Wachstuchkladde<br />

hat. Mein Geld hat gerade noch ausgereicht, alle drei Hefte zu kopieren. Ich habe<br />

mir noch einen Büroordner gekauft, damit ich die Kopien auch alle verstauen kann.“<br />

„Welche Kopien?“ Elke hatte immer noch nicht ganz auf den Boden <strong>der</strong> Wirklichkeit zurückgefunden.<br />

„Ich glaube, du träumst immer noch.“ Heinz setzte sich an den Tisch in <strong>der</strong> Essdiele.<br />

Elke schüttelte sich. „Puh! Ich muss wohl eingedöst sein.“ Sie sah auf den Tisch. Ja, sie<br />

war aus ihrem Traum wie<strong>der</strong> in die Wirklichkeit zurückgekehrt.<br />

„Hast du alle drei Hefte kopiert?“, fragte Elke nach einer Weile, immer noch ein wenig in<br />

sich versunken.<br />

„Ja, die Kopien haben gerade so in die Stofftasche gepasst.“ Heinz zeigte seiner Frau die<br />

Tasche. „Ich werde mich jetzt daran machen, diesen Ordner zu füllen. Und morgen werde ich<br />

die restlichen drei Wachstuchkladden kopieren, denn heute ...“ Er schaute auf seine Armbanduhr<br />

und hob zweifelnd seine Augenbrauen. „... werde ich es wohl nicht mehr schaffen.“<br />

„Ja, ist es denn schon so spät geworden?“ Elke sah ebenfalls auf ihre Uhr. „Ich hoffe, du<br />

hast die Originale wie<strong>der</strong> mitgebracht!“<br />

„Aber sicher doch.“ Heinz tat ein wenig entrüstet. „<strong>Die</strong> Originale hüte ich wie meine beiden<br />

Augäpfel.“<br />

„Das möchte ich dir auch geraten haben“, sagte Elke und erschrak über die Wahl ihrer<br />

Worte, die wie eine Drohung im Raum standen. „<strong>Die</strong> Originale müssen wir wie einen Schatz<br />

hüten.“<br />

„Ich hoffe Dr. Brenner tut das auch.“ Heinz zog wie<strong>der</strong> zweifelnd seine Augenbrauen<br />

hoch.<br />

„Ich glaube, da kannst du ganz sicher sein, Heinz“, versuchte Elke ihren Mann zu beruhigen.<br />

„Dr. Brenner scheint ein durch und durch seriöser Wissenschaftler zu sein. Ich glaube<br />

Heike, wenn sie dies sagt. So viel Menschenkenntnis traue ich ihr schon zu. Du etwa nicht?“<br />

Heinz nickte. „Doch, doch, wenn Heike das sagt.“<br />

Er packte seine Stofftasche und trug sie in sein Arbeitszimmer. Hinter dem großen Stapel<br />

Kopien kamen die drei <strong>Wachstuchhefte</strong> zum Vorschein, <strong>der</strong>en schriftlicher Inhalt jetzt zumindest<br />

schon doppelt vorhanden war. Heinz legte sie auf die linke Seite des Schreibtisches, die<br />

noch viel Platz bot, dann stemmte er den Stapel Kopien in die Mitte des Tisches.<br />

‚Bei so einem Stapel Papier merkt man erst, wie schwer dieses ist’, dachte er bei sich. ‚Ich<br />

werde die Kopien jetzt sortieren, lochen und in den Büroordner einheften.<br />

Tatkräftig ging er ans Werk. Eine knappe halbe Stunde später stand <strong>der</strong> neue Ordner im<br />

Regal mit <strong>der</strong> Aufschrift „Kopien <strong>der</strong> Tagebücher“ Stolz blickte Heinz auf den Ordner und<br />

streichelte diesen zärtlich. <strong>Die</strong> noch nicht kopierten <strong>Wachstuchhefte</strong> verstaute er in die leer<br />

gewordene Stofftasche.<br />

‚Ihr kommt morgen dran. Und was in euch steht, das bekomme ich auch noch heraus.’<br />

Heinz erschrak über seine Gedanken, die ihm fremd und heftig erschienen. Nachdenklich<br />

schaute er durchs Fenster, sah auf die Nachbarhäuser, die viel zu nah waren und sich dicht an<br />

die Wohnung drängten. Nach einer Weile blickte er wie<strong>der</strong> auf den Schreibtisch und auf den<br />

Stapel mit den drei bereits kopierten <strong>Wachstuchhefte</strong>n. Es gingen ihm viele Gedanken durch<br />

den Kopf, das spürte er, konnte aber nicht sagen, an was er dachte. Er konnte scheinbar keinen<br />

Gedanken greifen.<br />

‚Ich bewun<strong>der</strong>e diejenigen Menschen, die ihre Gedanken nie<strong>der</strong>schreiben können, wo<br />

auch immer’, dachte er. ‚Was mag in Elkes Großmutter vorgegangen sein, als sie in ihr Tagebuch<br />

schrieb?’<br />

Heinz setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und sann weiter nach.<br />

„Heinz, komm’ bitte zum Abendessen!“ <strong>Die</strong> Stimme seiner Frau, die vom Flur her durch<br />

die Türe gedämpft an sein Ohr drang, schreckte Heinz aus seinen Gedanken auf.<br />

71


„Ja, ich komme gleich“, murmelte er, stand auf und ging geistesabwesend in die Essdiele.<br />

Heike wachte an diesem Augustmorgen mit einem gewissen Gefühl <strong>der</strong> inneren Zufriedenheit<br />

auf. Ungewöhnlich viele Gedanken schossen ihr plötzlich durch den Kopf.<br />

‚Heute Abend werden wir Wolfgangs Vater die sechs Wachstuchkladden geben und dann<br />

werden wir ja bald erfahren, was Elfriede Wagner, meine Großmutter, geschrieben hat’, dachte<br />

Heike und sah auf die Decke ihres Appartements. Sie musste noch ein paar Augenblicke<br />

liegen bleiben und dieses angenehme Gefühl auskostend auf sich wirken lassen. ‚Vielleicht<br />

steht auch nichts Beson<strong>der</strong>es in den Tagebüchern und Großmutter hat aus reiner Gewohnheit<br />

ihr wichtig erscheinende Ereignisse nur deswegen festgehalten, um sich später besser daran<br />

erinnern zu können’, dachte Heike weiter, während sie auf dem Rücken im Bett lag. ‚Warum<br />

schreibt man überhaupt Tagebuch?’, fragte sie sich. ‚Aber sei’s wie’s sei! Ich muss jetzt aufstehen,<br />

sonst komme ich zu spät zu Wolfgang.’<br />

Heike stand auf und ging ins Bad. Eine Viertelstunde später schaltete sie die Kaffeemaschine<br />

ein, die in <strong>der</strong> Essnische stand, nahe dem kleinen Tisch, an dem gerade zwei o<strong>der</strong> drei<br />

Leute Platz finden konnten. Während das schwarzbraune Gebräu in die kleine Glaskanne<br />

tröpfelte, zog sich Heike an. Zum Glück war um die Ecke des Appartementblocks eine Filiale<br />

des „Beckens“, so dass zwei frische Brötchen schnell geholt waren.<br />

Nach weiteren zehn Minuten saß Heike am Frühstückstisch und schnitt das erste Brötchen<br />

auf, bestrich es dünn mit Halbfettmargarine und träufelte Honig darauf. Nein, ohne ein ordentliches<br />

Frühstück ging sie nie außer Haus, auch während des Semesters nicht, wo es schon<br />

vorkommen konnte, dass sie morgens wenig Zeit zum Frühstücken hatte, denn einige Vorlesungen<br />

und Seminare begannen für Studenten viel zu früh um acht Uhr c.t. (cum tempore).<br />

<strong>Die</strong> alten Gepflogenheiten an <strong>der</strong> Universität hatten sich ins 21. Jahrhun<strong>der</strong>t hinübergerettet.<br />

Nach dem Frühstück stellte Heike ihre Kaffeetasse, den Teller und das Besteck in die kleine<br />

Spüle. ‚<strong>Die</strong> kann ich auch noch später abspülen’, dachte sie bei sich und wusch ihre Hände,<br />

die vom Honig noch ein wenig klebrig waren. Danach zog sie sich ihre helle, leichte Jacke<br />

über und schaute in ihrer Handtasche nach, ob sie auch alles eingesteckt hatte.<br />

Heike ging zur Haltestelle des Busses, <strong>der</strong> nach Nürnberg fuhr und wartete. <strong>Die</strong> Sonne<br />

schien kräftig von einem Himmel, an dem nur wenige kleine, weiße Wölkchen langsam von<br />

Südwesten nach Nordosten zogen. Nach wenigen Minuten kam <strong>der</strong> Bus. Heike war die Einzige,<br />

die an dieser Haltestelle in diese Linie stieg.<br />

Heike fuhr in die Innenstadt von Nürnberg. Dort wollte sie Wolfgang Brenner treffen. Sie<br />

hatten sich verabredet, aber sich nichts Konkretes vorgenommen. Als sie die Treppe vom U-<br />

Bahnverteilergeschoss emporstieg dachte sie wie<strong>der</strong> an die Tagebücher. Sie gingen ihr immer<br />

wie<strong>der</strong> im Kopfe herum. Ihre Gedanken konnten sich nicht von ihnen losreißen.<br />

Wolfgang und Heike hatten sich dieses Mal am Tugendbrunnen vor <strong>der</strong> Lorenzkirche<br />

verabredet und zwar um zehn Uhr. Heike schlen<strong>der</strong>te um den Brunnen herum. Sie war etwas<br />

zu früh und sah den Touristen zu, die <strong>der</strong> gotischen Kirche zustrebten. Endlich sah sie in einiger<br />

Entfernung eine Gestalt, die eine Ähnlichkeit mit Wolfgang haben konnte. Tatsächlich, er<br />

war es! Und er war heute auch pünktlich, was nicht so ganz seine Art war.<br />

„Hallo Wolfgang!“ Heike lief zu ihrem Freund und umarmte ihn. „Was stellen wir heute<br />

an?“<br />

„Also, wo gehen wir hin? Was machen wir jetzt?“ Heike wurde ungeduldig.<br />

„Lass’ uns doch einmal überlegen“, erwi<strong>der</strong>te Wolfgang nachdenklich. „Wann wollen wir<br />

uns heute Abend mit Deinen Eltern treffen?“<br />

72<br />

16


„Meine Mutter hat etwas von sieben Uhr gesagt.“ Heike blickte auf die Uhr. Es war kurz<br />

vor zehn Uhr vormittags. „Wir haben jede Zeit <strong>der</strong> Welt.“<br />

„Und wo treffen wir uns mit Deinen Eltern?“ Wolfgang wurde ein wenig nervös.<br />

„Im „Gulden Stern“, <strong>der</strong> ältesten Bratwurstküche <strong>der</strong> Welt.“ Heikes Augen begannen zu<br />

glänzen. Sie dachte dieses Mal weniger an die Tagebücher ihrer Großmutter, vielmehr lief ihr<br />

bei dem Gedanken an die Bratwürste das Wasser im Munde zusammen, denn sie aß für ihr<br />

Leben gerne die Nürnberger Bratwürste, die dort über dem Buchenholzfeuer gebraten wurden.<br />

Und in dieser Bratwurstküche schmeckten sie am besten.. Es musste die Atmosphäre sein, die<br />

dieses alte Gasthaus ausstrahlte, das vor einigen Jahren in einem alten Haus zu neuem Leben<br />

erblüht war.<br />

„Gehen wir doch einfach <strong>der</strong> Nase nach. Uns wird schon etwas einfallen.“ Wolfgang blinzelte<br />

Heike zu. Und so zogen sie los durch die Altstadt, in <strong>der</strong> je<strong>der</strong> Quadratmeter Geschichte<br />

war.<br />

Heike liebte es, mit Wolfgang in <strong>der</strong> Altstadt bummeln zu gehen. Nicht nur die Auslagen<br />

<strong>der</strong> vielen Geschäfte und Butiken fanden ihre Aufmerksamkeit, son<strong>der</strong>n viel mehr auch die<br />

ungezwungenen Gespräche erheiterten ihr Gemüt. Sie wollte ihre Semesterferien mit Wolfgang<br />

genießen, wollte ihn ganz für sich haben. Sie spürte, dass etwas in <strong>der</strong> Luft lag, konnte<br />

es aber nicht genau beschreiben. Kann man die Zukunft, seine Wünsche, Hoffnungen und<br />

Sehnsüchte überhaupt beschreiben?<br />

<strong>Die</strong> milde Augustsonne erstrahlte an diesem Tag von einem fast wolkenlosen Himmel.<br />

Als Wolfgang und Heike an einem Optikgeschäft vorbei kamen, zeigte die große, digitale<br />

Thermometeranzeige über dem Eingang 24°C an. Und das wärmespendende Tagesgestirn<br />

hatte noch nicht seinen für diese Jahreszeit relativ großen maximalen Winkel über dem Horizont<br />

erreicht.<br />

„Ist es nicht schön, an einem solchen Tag durch die Stadt zu bummeln?“ fragte Heike und<br />

schmiegte sich eng an Wolfgang.<br />

„O ja!“, antwortete dieser. „Heute möchte ich die Zeit anhalten.“<br />

„Aber das hätte fatale Folgen“, entgegnete Heike<br />

Wolfgang schaute sie verblüfft an „Wie meinst Du das?“<br />

„Na, stell Dir mal vor, Wolfgang“, begann Heike, „die Zeit würde völlig still stehen. Das<br />

bedeutet doch, das jegliche Bewegung zum Stillstand kommt. Nichts, aber auch gar nichts<br />

könnte sich bewegen. Wir wären tot, wenn die Zeit stehen bliebe.“<br />

„Wieso denn das?“ Wolfgang konnte Heike immer noch nicht gedanklich folgen.<br />

„Ganz einfach, weil unser Herz aufhören würde zu schlagen. Und dann ...“<br />

„Ach jetzt verstehe ich erst“, unterbrach Wolfgang und fügte nachdenklich hinzu: „Du<br />

hast recht. Ohne Zeit gäbe es keine Bewegung. Aber ist die Zeit auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite vielleicht<br />

nur ein geistiges Konstrukt unseres Denken und Fühlens?“<br />

„Jetzt sprichst Du fast wie ein Philosoph.“ Heike musste lachen. Zu tiefsinnig wollte sie<br />

jetzt geistig nicht schürfen, son<strong>der</strong>n ganz einfach nur diesen schönen Tag genießen.<br />

„Ach hör’ doch auf“, wiegelte Wolfgang ab, <strong>der</strong> nicht so ganz verstanden hatte, wie es<br />

Heike gemeint hatte. „Denk doch einmal nach! Wenn die Zeit ...“<br />

„Ist ja gut! Ist ja gut.“ Heike drängte zum Weitergehen. „Jetzt lass’ uns noch ein wenig<br />

bummeln und dann setzen wir uns bei diesem schönen Wetter in ein Café und ...“<br />

„... trinken einen Cappuccino“, unterbrach Wolfgang.<br />

„Woher kennst du meine Gedanken.“ Heike tat überrascht.<br />

„Ganz einfach, Heike. Du hast es ja selbst gesagt: Ich bin ein Philosoph.“<br />

„Kindskopf!“ Heike hakte sich bei Wolfgang ein und zog ihn mit sich fort.<br />

Sie bummelten weiter durch die Altstadt. Sahen sich noch viele Geschäfte an und vermieden<br />

es, großen und kleineren Buchhandlungen zu nahe zu kommen, denn beide hatten eine<br />

weitere gemeinsame Leidenschaft schon entdeckt, nämlich die Liebe zum Kramen und Lesen<br />

73


in Buchhandlungen. Und nicht selten kauften sie auch Bücher, von denen sie meinten, sie unbedingt<br />

mit nach Hause nehmen zu müssen.<br />

Als sie schließlich, fast wie von magischer Hand geführt, beim Café Pinguin vorbei kamen,<br />

konnten die beiden nicht an<strong>der</strong>s und hielten Ausschau nach einem feien Bistrotischchen.<br />

Heike und Wolfgang setzten sich an ein freies Tischchen und sahen sich zunächst schweigend<br />

an. Plötzlich mussten sie beide lachen. <strong>Die</strong> Leute an den Nachbartischen musterten die<br />

Beiden mit kurzen Blicken und wandten sich bald wie<strong>der</strong> ihren Begleitern zu<br />

„Weißt du, an was ich gerade gedacht habe?“ Heike lächelte Wolfgang an.<br />

„Woher soll ich das wissen“, entgegnete dieser. „Ich bin doch kein Hellseher.“<br />

„Aber ein Philosoph!“ Heike musste wie<strong>der</strong> lachen. „Ich habe mir gerade vorgestellt, wie<br />

es wäre, wenn wir einmal zehn o<strong>der</strong> zwanzig Jahre zusammen waren.“<br />

„Dann wären wir zehn o<strong>der</strong> zwanzig Jahre älter.“ Wolfgang lächelte spitzbübisch, als die<br />

kleine, zierliche Bedienung heranschwebte.<br />

„Was darf ich ihnen bringen?“<br />

„Zwei Cappuccino, Bitte!“ Heike und Wolfgang bestellten wie aus einem Munde. Wie<strong>der</strong><br />

mussten sie spontan lachen. <strong>Die</strong> Bedienung schmunzelte, nickte stumm und eilte zur Theke,<br />

um die neue Bestellung aufzugeben.<br />

Siehst du“, begann Heike, „wir sind jetzt schon ein Herz und eine Seele.“<br />

„Und das, obwohl wir uns gerade einen Monat kennen“, ergänzte Wolfgang und beugte<br />

sich zu Heike hinüber. Ihre Lippen trafen sich auf halben Wege und vereinigten sich zu einem<br />

langen und leidenschaftlichen Kuss. Beide spürten, dass sie zusammen gehörten.<br />

„Zwei Cappuccino, bitte sehr!“ <strong>Die</strong> Bedienung stellte die italienische Köstlichkeit in den<br />

beiden, breit ausladenden Tassen vor Heike und Wolfgang auf das Bistrotischchen.<br />

Heike trank einen Schluck von ihrem Cappuccino und lehnte sich zurück. „Es ist herrlich,<br />

nach einem Stadtbummel sich in ein Café zu setzen und das Leben ganz einfach zu genießen“,<br />

schwärmte sie und verschränkte beide Hände hinter ihrem Kopf, sodass ihre Arme angewinkelt<br />

von ihr weg standen.<br />

„Es sind doch die kleinen Dinge, die uns glücklich machen“; entgegnete Wolfgang, lehnte<br />

sich ebenfalls auf seinen Stuhl zurück und streckte seinen langen Beine aus. „<strong>Die</strong> meisten<br />

Menschen hetzen nach den großen Dingen und übersehen dabei die vielen kleinen Dinge des<br />

Glücks. Meinst du nicht auch, Heike?“<br />

„Ich bin <strong>der</strong>selben Meinung wie du.“ Heike atmete tief durch und faltete jetzt ihre beiden<br />

Hände vor ihrer Brust. „Was hat man denn davon, wenn man nur für seine Schulden arbeitet,<br />

sich keinen Feierabend und Urlaub gönnt, dafür aber ein Häuschen im Grünen hat, von dem<br />

man eine halbe Stunde o<strong>der</strong> gar eine Stunde zur Arbeit fahren muss?“<br />

Wolfgang schwieg; er dachte nach. „Und wenn dann das Häuschen endlich abbezahlt ist,<br />

sind zwanzig o<strong>der</strong> fünfundzwanzig Jahre vorbei und das Dach beginnt undicht zu werden.<br />

Und dann ist kein Geld für die Reparatur da.“<br />

„Ja, ja, die Häuslebauer!“, seufzte Heike. „Ich beneide sie nicht. Wenn ich an meine Eltern<br />

denke und sehe, wie sie über zwanzig Jahre glücklich in einer Dreizimmerwohnung leben,<br />

dann kann ich nur die bedauern, die sich keinen Urlaub gönnen können, nur weil ein<br />

Großteil des sauer verdienten Geldes an die Bank für Zinsen und Tilgung draufgeht. Nein,<br />

danke!“<br />

Dann tranken die Beiden von ihrem Cappuccino und schauten sich schweigend an. Sie<br />

hatten sich verstanden.<br />

Wolfgang blickte auf seine Armbanduhr und stutzte. Es war schon kurz vor Mittag. Ein<br />

leichtes Hungergefühl kam in ihm auf. „Also ich bekomme langsam Hunger. Wohin gehen<br />

wir essen?“<br />

„Wenn’s nach mir geht“, entgegnete Heike, „könnte ich noch ein wenig mit dem Essen<br />

warten. Aber ich will nicht daran schuld sein, wenn du plötzlich vor Schwäche umfällst.“<br />

74


„Na, ganz so schlimm ist es noch nicht“, lachte Wolfgang. „Aber wir könnten uns trotzdem<br />

überlegen ...“<br />

„... wohin wir zum Essen gehen“, fiel Heike ins Wort. „Mein Vorschlag wäre ...“ Sie<br />

überlegte kurz. Wolfgang sagte nichts, son<strong>der</strong>n sah sie nur herausfor<strong>der</strong>nd fragend an. „Wie<br />

wäre es, wenn wir dort hingingen, wo meine Eltern heute Abend deinen Vater treffen wollen“,<br />

schlug Heike schließlich vor.<br />

„In den „Gulden Stern“?“<br />

„Warum nicht, Wolfgang?“<br />

„Bist du heute Abend nicht dabei? Ich dachte wir gehen heute Abend auch dahin.“<br />

„Aber sicher doch! Ich möchte dich doch meinen Eltern vorstellen.“<br />

„Ach ja!“ Wolfgang zog seine Stirn in Falten. „Aber du hast recht, Heike. Daran habe ich<br />

überhaupt nicht mehr gedacht.“<br />

„Aber deswegen können wir jetzt trotzdem in den „Gulden Stern“ essen gehen, denn dort<br />

gibt es nicht nur Bratwürste.“ Heike brauchte Wolfgang nicht weiter zu überzeugen, spürte sie<br />

doch nicht nur an ihrem schneller werdenden Puls, dass Wolfgang sie schon einige Zeit verliebt<br />

ansah.<br />

„Zahlen, bitte!“ Wolfgang hob die Hand, als die kleine, zierliche Bedienung am Tisch<br />

vorübereilte.<br />

„Ich komme gleich!“ <strong>Die</strong> Bedienung hatte ihn verstanden.<br />

Wolfgang zahlte. <strong>Die</strong> Beiden tranken den Rest ihres Cappuccino aus und gingen aus dem<br />

Schatten des großen Sonnenschirms, <strong>der</strong> fast alle Tische und Stühle des Cafés außen von den<br />

Sonnenstrahlen abschirmte.<br />

Heike und Wolfgang strebten dem kleinen, unscheinbar aussehenden Fachwerkhaus entgegen,<br />

welches etwa fünf o<strong>der</strong> sechs Gehminuten entfernt stand und die älteste ununterbrochen<br />

genutzte Bratwurstküche in Deutschland beherbergte.<br />

<strong>Die</strong> Sonne stand noch nicht an ihrem höchsten Punkt, als Heike und Wolfgang das Gasthaus<br />

„Gulden Stern“ erreichten.<br />

[eventuell Beschreibung des Hauses und seine Geschichte]<br />

„Eigentlich ist es viel zu schade, sich bei diesem Wetter in eine Bratwurstküche zu setzen“,<br />

meinte Wolfgang skeptisch.<br />

„Du wirst dich wun<strong>der</strong>n“, entgegnete Heike. „Es gibt sogar eine kleine Terrasse in diesem<br />

alten Wirtshaus.“<br />

„Ich lasse mich gerne überzeugen.“ Wolfgang folgte Heike, die zielstrebig in die offenstehende<br />

Türe des historischen Gasthauses trat und zu einer Treppe schritt, die ins Obergeschoss<br />

führte.<br />

„Aufstehen, Heinz!“ Elke weckte ihren Mann nicht immer gerade zärtlich mit einem<br />

Kuss, aber das war er schon gewohnt. „Es ist jetzt kurz vor neun Uhr.“<br />

„Guten Morgen!“ Heinz drehte sich verschlafen in seinem Bett herum. Schlaftrunken rieb<br />

er sich die Augen und schaute auf den Radiowecker, <strong>der</strong> links von ihm auf dem Nachttisch<br />

stand. Das rot leuchtende Display zeigte 8:58.<br />

‚Ich wollte doch heute irgend etwas Bestimmtes machen’, dachte er bei sich und schlug<br />

die Zudecke zur Seite. ‚Und wollten wir heute Abend uns nicht mit jemanden treffen? - Mir<br />

wird es schon noch einfallen.’<br />

75<br />

17


Heinz stand auf und ging noch immer etwas schläfrig ins Bad. Dabei hörte er aus <strong>der</strong> Küche<br />

Geräusche. Elke war dabei, das Frühstück zu richten. Nach seiner Morgentoilette schlürfte<br />

Heinz ins Schlafzimmer zurück und zog sich ganz gemütlich an.<br />

‚Ach ja’, fiel es ihm wie<strong>der</strong> ein, als er gerade sein kurzes Hemd zuknöpfte. ‚Ich wollte ja<br />

die restlichen drei Tagebücher kopieren. Aber was soll abends sein?’ Heinz überlegte einen<br />

kurzen Augenblick, aber die abendliche Verabredung mit Dr. Brenner fiel ihm im Moment<br />

nicht ein. ‚Ja, ja, langsam werde ich alt’, dachte er weiter und schlüpfte in seine Hose. Fünf<br />

Minuten später erschien er am Frühstückstisch, den Elke immer liebevoll gerichtet hatte.<br />

„Nochmals: Guten Morgen, Elke!“ Heinz ging auf seine Frau zu.<br />

„Ist was?“ Elke sah Heinz fragend an. „Du schaust heute so fragend drein.“<br />

„Ich habe mir gerade beim Anziehen überlegt, mit wem wir heute Abend verabredet sind.“<br />

„Was, das hast du vergessen!“ Elke war ein klein wenig entsetzt.<br />

„Ach ja, mit Dr. Brenner.“ Plötzlich war Heinz die Verabredung wie<strong>der</strong> eingefallen. „Er<br />

will uns doch die Tagebücher abschreiben.“<br />

Elke sah wie<strong>der</strong> beruhigt zu Heinz. Er war doch noch nicht zu alt, um gewisse Dinge zu<br />

vergessen.<br />

„Du hast mich aber gerade erschreckt!“ Elke atmete auf. „Ich dachte schon ...“<br />

Was dachtest du schon?“ Heinz lächelte und setzte sich an den Frühstückstisch. Er war<br />

ruhig und gelassen.<br />

„... du leidest unter beginnenden Gedächtnisverlust“, ergänzte Elke sich selbst.<br />

„Es dauert bei mir immer ein wenig, bis ich in die Gänge komme“, erklärte Heinz gelassen<br />

und schenkte sich Kaffee ein. „Und ohne einen guten Kaffee zum Frühstück bleibe ich<br />

nur ein halber Mensch.“<br />

„Da hast du nur allzu recht“, pflichtete ihm Elke bei, nahm sich ein Brötchen und schnitt<br />

es mit dem Messer auf.<br />

„Ah, du hast auch wie<strong>der</strong> Hörnchen gekauft.“ Heinz ergriff begeistert das leichte, knusprige<br />

Gebäck. „Ich habe die Bamberger Hörnchen im Urlaub schmerzlich vermisst.“<br />

„Darüber hast du dich aber in B. überhaupt nicht geäußert.“ Elke war erstaunt und glücklich<br />

zugleich, weil sie ihrem Mann genau das auf den Frühstückstisch stellte, was dieser so<br />

sehr liebte.<br />

„Aber du kennst doch meine Vorlieben, Elke. O<strong>der</strong> etwa nicht?“ Heinz blickte seine Frau<br />

schmunzelnd an..<br />

„Es wäre schlimm, wenn ich deine Vorlieben und Marotten nach fast fünfundzwanzig<br />

Ehejahren nicht wüsste.“ Heike lächelte Heinz mit einem liebevollen Blick an, <strong>der</strong> alles darüber<br />

ausdrückte, was sie für Heinz jetzt und nicht nur jetzt empfand. <strong>Die</strong>ser sah sie an und<br />

spürte dies.<br />

„Jetzt lass’ uns erst einmal ordentlich frühstücken, dann wird sich alles geben.“<br />

„Also schlag zu!“ Elke brauchte ihren Mann kein zweites Mal auffor<strong>der</strong>n.<br />

„Was glaubst du wohl, was ich jetzt vorhabe“, entgegnete Heinz und legte sich noch ein<br />

zweites Hörnchen auf seinen Frühstücksteller. Elke begann, ihr Brötchen mit Margarine und<br />

Honig zu bestreichen<br />

Gleich nach dem Frühstück nahm Heinz die letzten drei Wachstuchkladden, die rechts auf<br />

seinem Schreibtisch lagen, und packte sie in seine Stofftasche. ‚So, jetzt kommt ihr dran’,<br />

dachte er bei sich, nachdem er die Unikate in <strong>der</strong> Tasche verstaut hatte. ‚Es ist mir egal, was<br />

die Kopien kosten, aber ihr werdet nicht mehr lange Unikate bleiben.’<br />

Heinz nahm die Tasche und verließ sein Arbeitszimmer. „Ich gehe kopieren“, rief er in<br />

Richtung Küche, wo er Elke vermutete.<br />

„Ist gut Heinz“, tönte es, aber nicht aus <strong>der</strong> Küche, son<strong>der</strong>n aus dem Wohnzimmer, wo<br />

Elke mit dem Aufräumen zugange war. „Tschüß, Heinz!“<br />

„Tschüß, Elke!“<br />

76


Der Weg zum Kopierladen war nicht allzu weit. Etwa sechs Minuten nachdem Heinz das<br />

Haus verlassen hatte, betrat er den weitläufigen Laden, in dem zu dieser Zeit schon eine<br />

dumpfe Schwüle herrschte. <strong>Die</strong> Abwärme <strong>der</strong> Maschinen war deutlich zu spüren.<br />

„Guten Tag“, sagte <strong>der</strong> junge Herr hinter <strong>der</strong> Ladentheke, die sich gleich beim Eingang<br />

befand. Sein freundlicher Ton war Heinz schon vertraut. „Sie wollen wie<strong>der</strong> kopieren?“ Der<br />

junge Mann schien zu ahnen, was sein neuer Kunde wollte.<br />

„Ja, heute werden es vielleicht ein paar mehr Kopien werden als gestern“, entgegnete<br />

Heinz und zog die drei Wachstuchkladden aus seiner Stofftasche. „<strong>Die</strong> drei Kladden komplett,<br />

bitte!“<br />

„Ah, ja! Ich weiß schon.“ Der junge Herr erinnerte sich an gestern Abend, als er auch<br />

Heinz bediente. „Da nehmen wir wie<strong>der</strong> Kopierer Nr. 4. <strong>Die</strong> Maschine macht die besten Kopien<br />

und diese kosten auch keinen Cent mehr wie die von den an<strong>der</strong>en. Ich stelle Ihnen kurz<br />

den Kopierer ein, dann können sie selbst weitermachen. Ist es wie<strong>der</strong> Tintenschrift?“<br />

„Ja“, bestätigte Heinz kurz und folgte dem jungen Mann an die Maschine. <strong>Die</strong>ser stellte<br />

mit affenartiger Geschwindigkeit den Kopierer ein und deutete danach an, das Heinz jetzt tätig<br />

werden konnte. Und Heinz kopierte und kopierte ...<br />

‚Was haben die Leute früher ohne nur ohne Kopierer gemacht?’ fragte sich Heinz, als er<br />

mit dem ersten <strong>der</strong> drei <strong>Wachstuchhefte</strong> fertig war und es gleich wie<strong>der</strong> in seine Stofftasche<br />

zurücklegte. ‚Alles musste in mühseliger Arbeit abgeschrieben werden wie einst im Mittelalter<br />

in den Klöstern. Aber aus diesem Zeitalter sind wir, Gott sei’s gedankt, heraus. Auf zum<br />

nächsten Buch ...’<br />

Mehr als eineinhalb Stunden dauerte es, bis Heinz alle drei Tagebücher kopiert hatte. Er<br />

kam dabei ins Schwitzen, denn im Kopierladen wurde es immer wärmer. So schien es zumindest<br />

Heinz.<br />

Er sortierte den Stapel Kopien und ging zur Ladentheke, um zu bezahlen. Der junge Herr<br />

eilte an Kopierer Nr. 4, las das Zählwerk für die Kopien ab und berechnete die Anzahl aus <strong>der</strong><br />

Differenz <strong>der</strong> Zählerstände, die er sorgfältig in das Betriebsbuch schrieb. „Das sind 456 Kopien.<br />

Ab 400 gibt es Rabatt, d.h. jede Kopie kostet nur zwei Cent. Das macht ...“ Er tippte auf<br />

seinen Taschenrechner. „...9,12 €. Na ja, sagen wir 9 €“<br />

„Vielen Dank!“ Heinz war erstaunt über den zusätzlich Nachlass und zog seine Geldbörse<br />

aus seiner rechten Gesäßtasche.<br />

Heinz fingerte einen Zehn-Euro-Schein aus seinem Portemonnaie und gab ihn dem jungen<br />

Mann, <strong>der</strong> vermutlich ein Student war, <strong>der</strong> sich im Kopierladen sein Studium mitfinanzierte.<br />

„Und zwei Euro zurück.“ Heinz’ Gegenüber gab ihm das Restgeld in kleinen Münzen.<br />

Heinz zählte nicht nach, son<strong>der</strong>n steckte es ein. Dann nahm er die Tasche mit den <strong>Wachstuchhefte</strong>n<br />

und den Kopien.<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ Heinz merkte wie die Tasche im Vergleich zum Hinweg deutlich<br />

schwerer geworden war.<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ Der junge Mann verabschiedete sich freundlich<br />

„Da bist du ja endlich“, rief Elke aus, als Heinz wie<strong>der</strong> im Wohnungsflur erschien. „Das<br />

hat ja ewig gedauert. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr rechtzeitig zum Mittagessen.<br />

„Ist es schon wie<strong>der</strong> Zeit zum Mittagessen?“ Heinz war überrascht und sah auf seine<br />

Armbanduhr, nachdem er die schwer gewordene Stofftasche vorsichtig auf einen Stuhl abgesetzt<br />

hatte.<br />

„<strong>Die</strong> Zeit ist wie im Fluge vergangen“, begann Heinz. „Wenn du über 400 Kopien<br />

machst, wird dir nicht langweilig.“<br />

„Du hast wie<strong>der</strong> ein kleines Vermögen ausgegeben“, erwi<strong>der</strong>te Elke. „Und das alles ...“<br />

„... für die Sicherheit von ein paar alten Tagebüchern“, unterbrach Heinz seine Frau.<br />

„Aber bedenke dabei, Elke: Jetzt sind die Tagebücher deiner Großmutter keine Unikate mehr.<br />

77


Zumindest haben wir ein zweites Faksimile auf Papier. Und so teuer, wie du tust, waren die<br />

Kopien auch nicht. Ich habe sie für zwei Cents bekommen.“<br />

„Aber die Vielzahl macht den Preis.“ Elke verteidigte ihre Meinung fast ein wenig trotzig.<br />

„Wie viel hast du bezahlt?“<br />

„Lumpige neun Euro!“<br />

„Das ist teuer genug!“ Elke war eine sparsame Hausfrau, obwohl sie nicht jeden Euro<br />

zweimal umdrehen musste wie viele an<strong>der</strong>e Menschen im Land. Aber es wurmte sie, dass<br />

Heinz für scheinbar Überflüssiges einiges Geld ausgab.<br />

„Aber, wer weiß, für was es gut ist“, seufzte schließlich Elke und atmete tief durch.<br />

Dann wandte sie sich wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zubereitung des Mittagessens zu und ging in die Küche.<br />

Heinz nahm die Tasche und ging in sein Arbeitszimmer. Dort packte er die dicken Hefte<br />

und die Kopien aus und begann diese in einen zweiten Ordner einzusortieren, den er sich vorsorglich<br />

am letzten Tag gekauft hatte. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er Elkes Ruf,<br />

zum Mittagessen in die Essdiele zu kommen, überhaupt nicht wahrnahm.<br />

Plötzlich wurde die Türe des Arbeitszimmers aufgerissen. Heinz erschrak.<br />

„Wie oft soll ich denn noch rufen, Heinz!“ Elke war ärgerlich. „Jetzt komm’, das Mittagessen<br />

steht schon auf dem Tisch.“<br />

Ja, ich komme gleich“, rief Heinz seiner Frau zu, die sich schon wie<strong>der</strong> auf den kurzen<br />

Weg in die Essdiele gemacht hatte. Heinz unterbrach seine Arbeit und ließ den Rest <strong>der</strong> noch<br />

nicht einsortierten Kopien auf dem Schreibtisch liegen. „Ich komme.“<br />

„Was gibt es denn Feines heute?“ Heinz schaute fragend auf den Tisch, als er in die<br />

Essdiele kam und sich setzen wollte.<br />

„Schnitzel mit Erbsen und Karotten“, sagte Elke trocken.<br />

„Ah, es ist wie<strong>der</strong> Trennkost angesagt.“<br />

„Hast du etwas dagegen?“ Elkes war ein wenig kurz angebunden.<br />

„Mitnichten, mitnichten“, versuchte Heinz seine Frau zu beschwichtigen. „Ich habe<br />

überhaupt nichts gegen Trennkost. Ich esse gerne Gemüse.“<br />

„Also dann, guten Appetit!“ Elke verteilte die Schnitzel und das Gemüse auf die beiden<br />

Teller.<br />

„Einen guten Appetit, Elke!“<br />

„Wie hat es dir geschmeckt?“ Wolfgang legte Messer und Gabel vorsichtig auf den runden<br />

Zinnteller, <strong>der</strong> schon ein paar kleine Beulen an Gebrauchsspuren aufwies.<br />

„Ausgezeichnet, Wolfgang!“ Heike war gerade auch mit dem Essen fertig geworden.<br />

„<strong>Die</strong> Bratwürste schmecken hier besser als nirgendwo in Nürnberg. Deswegen gehen meine<br />

Eltern und auch ich so gerne hierher.<br />

„Und heute Abend schon wie<strong>der</strong>!“<br />

„Genau!“ Heike lächelte Wolfgang an. „Ich esse für mein Leben gerne die Nürnberger<br />

Bratwürste. Mir macht es nichts aus, sie zweimal am Tag zu essen.“<br />

„Na ja?!“ Wolfgang schien von dieser Idee nicht gerade entzückt.<br />

„Du kannst doch heute Abend etwas an<strong>der</strong>es essen“, entgegnete Heike.<br />

„Na, so groß ist die Auswahl hier ja gerade nicht.“ Wolfgang blickte seine Freundin<br />

immer noch skeptisch an.<br />

„Dann probier’ doch heute Abend saure Bratwürste!“, schlug Heike vor.<br />

„Wir werden sehen. Kommt Zeit, kommt Rat.“ Wolfgang wurde ein wenig ungeduldig,<br />

denn er wollte das Thema wechseln. <strong>Die</strong>s merkte Heike auch, aber ...<br />

78<br />

18


„Hat es ihnen geschmeckt?“ <strong>Die</strong> Bedienung im rot-weißen Dirndl trat an ihren Tisch<br />

und räumte das Geschirr und Besteck ab.<br />

„Danke, sehr gut!“ entfuhr es Heike und Wolfgang wie aus einem Munde. Beide mussten<br />

lachen. <strong>Die</strong> Bedienung lächelte auch. Sie spürte aus ihrer Erfahrung heraus, dass die beiden<br />

ein Herz und eine Seele waren.<br />

„Wolltest du etwas sagen?“ Heike wandte sich wie<strong>der</strong> Wolfgang zu, nachdem sie <strong>der</strong><br />

Bedienung nachgesehen hatte, die gekonnt ihren rechten Unterarm als Ablage nutzend alle<br />

Teller in Richtung Theke wegtrug.<br />

„Ich wollte dich gerade fragen, was wir jetzt noch alles anstellen könnten.“ Wolfgangs<br />

Gesicht erheiterte sich wie<strong>der</strong>.<br />

„Lass’ uns doch noch in ein Antiquariat gehen“, schlug Elke vor.<br />

„Hast du an ein bestimmtes gedacht?“<br />

Heike zögerte einen Moment und zuckte mit <strong>der</strong> Schulter. „Eigentlich habe ich an kein<br />

bestimmtes gedacht. Ich möchte einfach nur wie<strong>der</strong> einmal in alten Regalen stöbern.“<br />

„Nun denn, dann lass’ uns zahlen und gehen, denn Zahlen macht Frieden.“<br />

„Alter Kindskopf!“ Elke, die Wolfgang gegenüber saß, wollte unterm Tisch Wolfgangs<br />

Bein mit ihrem Schuh anstupsen, konnte es aber nicht, den er hatte seine Unterschenkel unter<br />

den Stuhl gezogen, sodass Heike ihn mit ihren Beinen nicht mehr erreichte.<br />

„Zahlen bitte!“ rief Wolfgang <strong>der</strong> Bedienung zu, die gerade von <strong>der</strong> Theke zurückkam.<br />

„Ich komme gleich!“, rief diese zurück und ging an den Nebentisch, um die Bestellung<br />

<strong>der</strong> Gäste aufzunehmen, die vor wenigen Minuten dort Platz genommen hatten.<br />

Heike und Wolfgang verließen kurz nach halb zwei Uhr Nachmittag die älteste Bratwurstküche<br />

Deutschlands und schlen<strong>der</strong>ten gemütlich weiter durch die Altstadt. Als sie an<br />

einem Antiquariat vorbeikamen, hielt sie nichts mehr davon ab, den Laden zu betreten und die<br />

alten, abgegriffenen Bücher zu besehen. Es konnte ja vielleicht ein interessantes darunter sein,<br />

welches man schon länger suchte und noch nicht gefunden hatte. Ihre Liebe zu Büchern war<br />

bereits zu einer starken Klammer für die Freundschaft zwischen Heike und Wolfgang geworden.<br />

„Wie hat es dir geschmeckt?“ fragte Elke ihren Mann, als dieser das Besteck auf den<br />

leeren Teller gelegt hatte.<br />

„Das siehst du doch, Elke!“ Heinz deutete auf den leeren Teller. „Was für eine rhetorische<br />

Frage! Du kennst mich doch. Wenn mir etwas nicht in den Kram passt und sei es ein<br />

schlechtes Essen, dann rühre ich mich immer.“<br />

„Auch du solltest mich kennen, Heinz“, entgegnete Elke und räumte das Geschirr ab.<br />

„Ich frage immer, ob es dir geschmeckt hat, egal wie leer o<strong>der</strong> voll <strong>der</strong> Teller nach dem Essen<br />

ist“<br />

„Rhetorische Fragen werden zur Tradition“, philosophierte Heinz. „Gewisse Handlungen<br />

erstarren zu Ritualen. Das war schon immer so und ist dem Menschen eigen wie ...“<br />

„... <strong>der</strong> Starrsinn“, unterbrach Elke ihren Mann.<br />

„Wie kommst du jetzt darauf?“ Heinz sah seine Frau, die gerade von <strong>der</strong> Küche zurück<br />

in die Essdiele gekommen war, fragend an.<br />

„Ganz einfach so.“ Elke zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch nicht, warum ich jetzt<br />

gerade auf den Starrsinn des Menschen gekommen bin, aber in <strong>der</strong> Geschichte gibt es genug<br />

Beispiele dafür.“<br />

Heinz schwieg. Seine Gedanken waren schon wie<strong>der</strong> bei den Kopien, die er noch in den<br />

Ordner einsortieren wollte. Er starrte kurze Zeit gerade aus, durch alles hindurch, was in<br />

Blickrichtung lag, aber er sah seine Umgebung nicht, denn er war in seiner Vorstellung ganz<br />

woan<strong>der</strong>s. „Ich gehe wie<strong>der</strong> in mein Arbeitszimmer“, sagte er leise nach einer geraumen Weile.“<br />

„Ist gut!“ rief Elke aus <strong>der</strong> Küche.<br />

79


Heinz ging langsam in sein Arbeitszimmer. Er sah den Stapel Kopien, die noch ungeordnet<br />

neben dem Ordner lagen, <strong>der</strong> sie aufnehmen sollte. Er nahm die Kopien, lochte sie und<br />

sortierte sie in den Ordner ein. Zwischen die einzelnen Hefte legte er Trennblätter ein, die er<br />

allerdings unbeschriftet ließ. <strong>Die</strong>se Arbeit nahm nicht nur seine ganze Konzentration in Anspruch,<br />

son<strong>der</strong>n auch eine geraume Weile. Als er wie<strong>der</strong> auf seine Armbanduhr sah, waren<br />

fast zwei Stunden vorbei. <strong>Die</strong> Uhr zeigte schon halb vier Uhr.<br />

Heinz war noch immer konzentriert bei seiner Arbeit, als seine Frau ins Zimmer trat.<br />

„Willst du heute Nachmittag keinen Kaffee trinken, Heinz?“<br />

Heinz fuhr hoch, aber er war nicht erschrocken. „Ich bin gleich fertig, Elke. Du brauchst<br />

heute Nachmittag keinen Kaffee machen. Ich lade dich ins Café Noris ein.<br />

„Das ist ja mehr als großzügig.“ Elke war überrascht, war doch das Café Noris, das etwa<br />

einen Kilometer in Richtung Innenstadt lag, eine nicht gerade billige Adresse. „<strong>Die</strong>ses Angebot<br />

nehme ich dankend an.“<br />

„Ist schon gut“, sagte Heinz nachdenklich und ordnete die letzten Kopien in den grauen<br />

Büroordner ein.<br />

Elke war ins Schlafzimmer gegangen und zog sich um. Nein, mit <strong>der</strong> gewöhnlichen Hauskleidung<br />

wollte sie nicht ins Café Noris gehen, obwohl man in dieses Café auch ohne Anzug<br />

und Krawatte gehen konnte.<br />

Heinz folgte seiner Frau einige Minuten später ins Schlafzimmer und zog sich ebenfalls<br />

zum Ausgehen um, obwohl er auch so, wie er in den Kopierladen gegangen war, auch ins Café<br />

Noris hätte gehen können.<br />

Etwa zehn vor vier gingen Elke und Heinz aus dem Haus. Sie schlugen den Weg in Richtung<br />

Altstadt ein. Zielstrebig gingen sie die belebte Straße entlang, auf <strong>der</strong>en linken Seite ihr<br />

Ziel lag. Arm in Arm lachten und scherzten sie miteinan<strong>der</strong>. Ein Unbedarfter, <strong>der</strong> die beiden<br />

zum ersten Mal sah, hätte Elke und Heinz zwangsläufig als ein verliebtes Pärchen einschätzen<br />

müssen, das sich erst vor Tagen kennen gelernt hatte. Gegenüber dem Café Noris, das sich als<br />

Eckcafé an einer vielbefahrenen Kreuzung befand, mussten Elke und Heinz die Straße an einer<br />

Ampel überquerten. Es hieß zunächst, einige Minuten warten. Dutzende von Autos donnerten<br />

vor ihnen auf einer <strong>der</strong> Ausfallstraßen von Nürnberg vorbei. Elke und Heinz beachteten<br />

sie nicht. Sie schauten nur konzentriert auf die gegenüberliegende Fußgängerampel. Es<br />

drängte sie ins Café. Endlich zeigte die Ampel grün.<br />

„Auf, auf, lasst uns gehen!“ Elke zog ihren Mann förmlich über die Straße.<br />

„Lass’ dir doch Zeit. Das Café Noris läuft uns doch nicht weg.“ Heinz kam sich wie ein<br />

Schoßhündchen vor, welches von seinem etwas hektischen Frauchen über die Straße gezogen<br />

wurde.<br />

„Aber die Ampel weiß das nicht“, entgegnete Elke hastig. „Ich möchte nicht noch mal<br />

fünf Minuten an <strong>der</strong> Straße stehen. So lange ist es mir jetzt gerade vorgekommen.“<br />

Sie schafften es gerade noch, den gegenüberliegenden Gehsteig zu erreichen, als die Ampel<br />

wie<strong>der</strong> in ihre lange Rotphase zurück fiel.<br />

„Geschafft!“ Elkes Ausruf war für sie etwas sehr Befreiendes.<br />

„Und dein Hundchen ist auch schon da.“ Heinz lächelte seine Frau an.<br />

„Du alter Kindskopf“, gab Elke zurück. „Jetzt aber nichts wie rein ins Café!“<br />

Elke und Heinz betraten durch die einladende Türe die dem Café vorgelagerte Konditorei,<br />

in <strong>der</strong> einige Kunden neugierig auf die leckeren Köstlichkeiten sahen, die sich in den gekühlten<br />

Vitrinen aufgebaut fanden. Auch Elke warf im Vorbeigehen einen gierigen Blick auf all<br />

die Torten und Kuchen.<br />

„Warte doch einen kleinen Moment, Heinz“, rief sie aus. Jetzt war es mehr ihr Mann, <strong>der</strong><br />

sie ins Café drängte, das sich links von ihnen hinter einer Glastüre befand.<br />

„Entscheide dich, aber entscheide dich schnell, Elke!“ Heinz hatte das Café durch die<br />

Glastüre beobachtet. „Dort hinten ist gerade ein schönes Plätzchen frei geworden.“<br />

„Geh’ schon einmal vor Heinz! Ich will mir gleich etwas hier aussuchen.“<br />

80


Heinz ließ den linken Arm seiner Frau, den er bisher festgehalten hatte, los und ging zielstrebig<br />

ins Caféinnere, das gut besucht war, überwiegend von älteren Damen, aber es waren<br />

auch ein paar jüngere Semester unter dem Publikum. Er steuerte auf das kleine Tischchen zu,<br />

das in einer Nische stand, und das gerade frei geworden war. Zu zweit konnte man die umlaufende<br />

Bank benutzen, die hier einen fast rechtwinkligen Knick machte, ohne auf einen Stuhl<br />

sitzen zu müssen, was den Aufenthalt nur angenehm werden lassen konnte.<br />

Heinz setzte sich an das kleine Tischchen und schob das zurückgelassene Geschirr des<br />

Vorgastes etwas beiseite. Von seinem Platz aus konnte er den Eingang des Café sehr gut beobachten<br />

und hatte auch fast alle an<strong>der</strong>en Plätze im Blickfeld.<br />

„Hast du dir etwas Gutes ausgesucht?“ Heinz sah seine Frau lächelnd an, denn er kannte<br />

ihre Schwäche auf ein leckeres Stück Torte genau.<br />

„Ich habe mir ein Stück Schwarzwäl<strong>der</strong> Kirschtorte bestellt“, sagte Elke und nahm auf<br />

dem zweiten Platz auf <strong>der</strong> Bank am Tisch Platz. „Der Platz ist ja ein richtiger Beobachterplatz.<br />

Man übersieht fast das ganze Café und den Eingang.“<br />

„Jetzt kannst du mich auch verstehen, warum ich gerade so gedrängt habe, dieses eben frei<br />

gewordene Plätzchen zu ergattern“, erklärte Heinz seiner Frau. „Ich gönne diesen Platz einfach<br />

nicht irgendeiner Kaffeetante, wenn ich schon einmal hier bin ...“<br />

„... was selten genug vorkommt“, unterbrach ihn Elke.<br />

„Du hast ja recht, Elke“, fügte Heinz hinzu. „Aber wann haben wir schon die Zeit am<br />

Nachmittag unter <strong>der</strong> Woche ins Café zu gehen? Außer im Urlaub doch wohl kaum.“<br />

„Ja, ja, die Zeit ...“, seufzte Elke und blickte auf eine nicht mehr ganz so junge Frau, die<br />

ein paar Tische weiter allein saß. „Soviel Zeit wie die Frau da drüben müsste man immer haben<br />

...“ Elke wollte weiter reden, aber da kam schon eine ältere Bedienung an den Tisch und<br />

räumte ab.<br />

<strong>Die</strong> beiden bestellten je ein Kännchen Kaffee. Elke gab <strong>der</strong> Bedienung den Bon, mit dem<br />

sie in <strong>der</strong> Konditorei ihre Torte bestellt hatte.<br />

„Wo war ich gerade stehen geblieben?“ fragte Elke nachdenklich.<br />

„Bei <strong>der</strong> Frau an dem Tisch dort drüben.“ Heinz half seiner Frau wie<strong>der</strong> den roten Faden<br />

zu finden, den sie gerade verloren hatte.<br />

„Ach ja, die Frau am Tisch dort drüben.“<br />

„Was ist an <strong>der</strong> so Beson<strong>der</strong>es?“ fragte Heinz und drehte seinen Kopf ein wenig, damit er<br />

zum übernächsten Tisch hinüberblicken konnte. „Sie ist nicht gerade das, was man ein aparte<br />

Schönheit nennen könnte.“<br />

„Fällt dir an ihr nichts auf?“ Elke hatte erkannt, was die Frau am übernächsten Tisch tat.<br />

„Sie schreibt“, antwortete Heinz trocken. „Ist das etwas Beson<strong>der</strong>es?“<br />

„Das nicht, aber sich zum Schreiben Zeit zu nehmen ...“<br />

„... setzt voraus, das ich Zeit habe, frei Zeit, ganz zu meiner Verfügung“, unterbrach Heinz<br />

seine Frau.<br />

„Ich möchte jetzt auch gerne schreiben“, schwärmte Elke, „aber ich habe mein Wachstuchheft<br />

daheim gelassen, das ich im Urlaub gekauft habe.“<br />

„Das ist aber schade, Jammer Jammerschade“, feixte Heinz und <strong>der</strong> ironische Unterton<br />

war nicht zu überhören.“<br />

„Das finde ich aber überhaupt nicht lustig, Heinz.“ Elke fand den leisen, versteckten Spott<br />

ihres Mannes im Moment überhaupt nicht angebracht. „Wenn ich nicht schreiben kann, wenn<br />

mir danach zu Mute ist, dann empfinde ich es wie einen großen Durst, den ich nicht stillen<br />

kann.“<br />

„Das klingt ja etwas arg nach großem Bedürfnis“, entgegnete Heinz. „Ich bin froh, im Urlaub<br />

einmal weniger schreiben zu dürfen als bei <strong>der</strong> Arbeit.“<br />

„Du denkst viel zu sehr an Pflicht, wenn du jemanden schreiben siehst“, erklärte Elke<br />

nachdenklich. „Ich bewun<strong>der</strong>e die Frau dort drüben. Ich bewun<strong>der</strong>e, wie sie in all dem Trubel,<br />

<strong>der</strong> hier herrscht, so konzentriert schreiben kann.“<br />

81


Heinz schwieg. Er bereute es jetzt, dass er seine Frau in ihrer Einstellung zum Schreiben<br />

unterschätzt hatte.<br />

„Ihre beiden Kännchen Kaffee und die Schwarzwäl<strong>der</strong> Kirsch für die Dame, bitte.“ <strong>Die</strong> ältere<br />

Bedienung stellte die beiden kleinen Kaffeegedecke und den Teller mit <strong>der</strong> Torte auf das<br />

kleine Tischchen und eilte sofort wie<strong>der</strong> zum nächsten Tisch zu einem Gast, <strong>der</strong> ihr mit <strong>der</strong><br />

Hand signalisiert hatte, dass er zahlen möchte.<br />

Durch die Bedienung war die Unterhaltung zwischen Elke und Heinz unterbrochen worden.<br />

Beide saßen sie nun schweigend da und gossen fast gleichzeitig die erste Tasse aus ihren<br />

weißen Porzellankännchen in ihre Tassen. Heinz konnte in seinem Augenwinkel deutlich beobachten,<br />

wie seine Frau dabei immer wie<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> älteren Frau hinüber blickte, die immer<br />

noch über ihren Schreibblock gebeugt saß und schrieb.<br />

„Sag’ `mal Elke“, begann Heinz nach einer geraumen Weile, „Was hast du eigentlich gedacht,<br />

als du dir in B. dieses nostalgische Wachstuchheft gekauft hast?“<br />

Elke reagierte nicht sofort auf die Frage ihres Mannes, son<strong>der</strong>n schien zu überlegen, was<br />

sie ihm antworten sollte. Sie wendete ihren Kopf Heinz zu und sah ihn ebenso fragend an wie<br />

Heinz sie.<br />

„Ich kann es dir nicht sagen, was mich dazu bewogen hat, überhaupt nach einem so antiquierten<br />

Heft zu fragen.“ Elke merkte, dass sie keine Antwort auf die Frage ihres Mannes geben<br />

konnte. Irgendetwas tief in mir drinnen muss mich dazu getrieben haben. Ich war selbst<br />

überrascht, als ich den Verkäufer nach einem Wachstuchheft fragte.“<br />

„Hm!“ Auch Heinz wurde nachdenklich und trank einen Schluck Kaffee. „Ich kann mir<br />

nur einen Auslöser für den Kauf vorstellen.“<br />

„Und <strong>der</strong> wäre?“ Jetzt wurde Elke neugierig, nahm die Tortengabel und lud ein kleines<br />

Stückchen <strong>der</strong> Schwarzwäl<strong>der</strong> Kirsch auf.<br />

„Ja“, sagte Heinz langsam und kniff seine Augen ein klein wenig zusammen. „Es kann eigentlich<br />

nur das Auffinden <strong>der</strong> schriftlichen Hinterlassenschaften deiner Großmutter sein.“<br />

„Schriftliche Hinterlassenschaften“, wie<strong>der</strong>holte Elke entrüstet und aß schnell die Torte<br />

von <strong>der</strong> Gabel, „wie sich das anhört! Bist du jetzt unter die Juristen gegangen?“ Schnell lud<br />

sie noch ein Stück Torte auf die kleine, zierlich wirkende Tortengabel. „Warum sagst du nicht<br />

schriftliches Erbe o<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>geschriebenes Leben?“<br />

„Entschuldige, Elke!“ Heinz schlug einen bedauernden Ton an. „Das mit <strong>der</strong> Hinterlassenschaft<br />

ist mir so herausgerutscht.“<br />

„Entschuldigung angenommen!“ Elke huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Du könntest<br />

mit deiner These recht haben. <strong>Die</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Briefe und Tagebücher meiner Großmutter<br />

mütterlicherseits hat mich tief beeindruckt. Mein Unterbewusstsein muss daran gearbeitet haben.“<br />

Heinz sagte nichts, son<strong>der</strong>n sah sich nachdenklich um. Er entdeckte die Frau am übernächsten<br />

Tisch, doch sie schrieb jetzt nicht mehr, son<strong>der</strong>n hatte sich auf ihren Stuhl zurückgelehnt<br />

und las das, was sie geschrieben hatte, blickte zwischendurch immer wie<strong>der</strong> kurz auf<br />

und nippte dabei an einem Glas Tee. „Sie muss völlig in ihrer Schreibwelt versunken gewesen<br />

sein, sonst hätte sie nicht so konzentriert schreiben können.“<br />

„Von wem redest du da, Heinz?“<br />

„Na von wem wohl? Von <strong>der</strong> Schreiberin dort drüben!“ Heinz nickte mit seinem Kopf in<br />

ihre Richtung. Jetzt erst begriff Elke, die sich in den letzten Minuten ihrer Torte gewidmet<br />

hatte, was ihr Göttergatte meinte.<br />

„Das bin ich auch, Heinz“, hauchte Elke zu ihrem Mann gewandt. „Du versinkst in eine<br />

ganz an<strong>der</strong>e Welt, wenn du schreibst. Und alles um dich herum verschwindet in einem Nebel<br />

des Nebensächlichen, wenn du dich auf das Papier konzentrierst. Hast du das nicht auch<br />

schon einmal erlebt?“<br />

„Vielleicht schreibe ich etwas oberflächlicher, nicht so konzentriert, wenn ich einen Kugelschreiber<br />

in die Hand nehme. Ich fühle mich dabei immer hellwach und denke ans Ge-<br />

82


schäft.“ Heinz suchte nach einer Erklärung seines im Gegensatz zu seiner Frau stehenden an<strong>der</strong>en<br />

Schreibempfindens.<br />

„Das ist sehr gut möglich“, entgegnete Elke.<br />

<strong>Die</strong> beiden schwiegen eine Weile und sahen zu <strong>der</strong> Schreiberin hinüber. <strong>Die</strong>se musste ihre<br />

Blicke auf sich gespürt haben, denn sie sah plötzlich von ihrem Block auf und wandte ihren<br />

Kopf zu Elke und Heinz herüber, lächelte den beiden zu und vertiefte sich wie<strong>der</strong> in ihre Arbeit.<br />

„Hast du das gerade gesehen?“ fragte Heinz seine Frau kurz danach.<br />

„Natürlich, Heinz“, entgegnete Elke. „Ich glaube, sie fühlt sich ein wenig beobachtet.“<br />

„Aber es macht ihr nichts aus“, meinte Heinz und trank einen Schluck Kaffee. „Sonst hätte<br />

sie uns doch nicht angelächelt. O<strong>der</strong> was meinst du?“<br />

„Ich bin mir nicht sicher“, begann Elke nachdenklich. „Es könnte auch sein, das sie über<br />

ihr Geschriebenes gelächelt hat. O<strong>der</strong> auch über uns. Wir meinen, sie zu beobachten, aber in<br />

Wirklichkeit beobachtet sie uns.“<br />

„Das verstehe ich jetzt nicht ganz.“ Heinz zog seine Stirn in Falten und sah seine Frau<br />

fragend an. „Da musst du mir schon erklären, Elke.“<br />

„Es könnte doch sein, dass sie sich einfach nur Notizen über ihre Beobachtungen hier im<br />

Café macht.“ Elke blickte ihren Mann an. Er machte immer noch ein zweifelndes Gesicht.<br />

„Vielleicht sucht sie nach Figuren für eine Geschichte“, fuhr Elke fort, „und wir sind zwei<br />

Nebenfiguren, ein Ehepaar mittleren Alters, das sich an einem Nachmittag im Café Noris angeregt<br />

unterhält.“<br />

Heinz zuckte mit seinen Schultern. Er verstand seine Frau im Moment nicht ganz. Irgendwie<br />

hatte sie sich seit dem Urlaub ein klein wenig verän<strong>der</strong>t. Hatte dies etwa mit dem<br />

Kauf des <strong>Wachstuchhefte</strong>s zu tun?<br />

Heike blickte auf ihre Uhr und erschrak. ‚Mein Gott, es ist ja schon fast sechs Uhr’, dachte<br />

sie entsetzt. Sie sprang vom Schreibtischstuhl auf, ging zu ihrem Klei<strong>der</strong>schrank, riss die<br />

Türe auf und erschrak zum zweiten Mal. ‚<strong>Die</strong>se Unordnung muss ein Ende haben! Aber jetzt<br />

habe ich keine Zeit um aufzuräumen.’<br />

Heike zog schnell ihre beste Hose und eine helle Bluse an, holte ihre Jacke herbei und<br />

warf sich diese über die Schulter. Da klingelte es an <strong>der</strong> Wohnungstür.<br />

Wolfgang stand draußen und atmete in schnellen kurzen Zügen.<br />

„Uff, ich bin das Treppensteigen nicht mehr gewohnt“, keuchte er. „Aber Gott sei Dank<br />

treffe ich dich noch an.“<br />

„Wieso? Was ist denn los, Wolfgang?“ Heike merkte, wie ihr Gaumen plötzlich trocken<br />

wurde. Es war ein untrügliches Zeichen, dass sie Angst bekam.<br />

„Nur keine Aufregung! Ich bin mit meinem Vater da.“ Wolfgang Brenner versuchte Heike<br />

zu beruhigen, denn ihm war nicht entgangen, dass sich Heikes Gesicht schlagartig ängstlich<br />

verzerrt hatte. „Er meint, du könntest mit uns nach Nürnberg fahren.“<br />

Heike fielen mehrere Steine vom Herzen. Sie atmete erleichtert auf. „Ich brauche noch<br />

zwei Minuten“, sagte sie hastig und drehte sich um, „dann bin ich zum Ausgehen fertig.“<br />

Sie ließ die Appartementtüre offen und eilte ins Bad. Wolfgang wollte nicht im nach außen<br />

offenen Flur stehen bleiben, obwohl dies <strong>der</strong> milde Augusttag durchaus erlaubt hätte. Er<br />

trat in Heikes kleines Reich ein und hörte sie im Bad.<br />

Heike hatte Wolfgang nicht zu viel versprochen. Genau nach zwei Minuten kam sie aus<br />

dem Bad und war nicht überrascht, als sie Wolfgang sah.<br />

„So, jetzt kann’s losgehen“, sagte sie voller Tatendrang. „Ich hoffe nur, dass wir uns nicht<br />

verspäten.“<br />

„Ach, das glaube ich nicht“, entgegnete Wolfgang ruhig. „Wir haben noch fast eine Stunde<br />

Zeit. Das dürfte genügen, die paar Kilometer nach Nürnberg zu fahren. Und wegen des<br />

83


Parkens brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen. Hast du nicht gesagt, gleich in <strong>der</strong><br />

Nähe <strong>der</strong> Bratwurstküche sei ein Parkhaus?“<br />

„Genau dies!“ Heike holte ihre Schlüssel aus <strong>der</strong> Tasche. „Und jetzt lass’ uns nicht länger<br />

hier herumstehen!“<br />

Geschwind schloss Heike ihr Appartement ab und die beiden eilten Richtung Treppenhaus,<br />

neben dem sich auch <strong>der</strong> Aufzug befand.<br />

„Wir sollten langsam ans Zahlen denken“, sagte Elke zu Heinz, nachdem sie mehrmals<br />

auf ihre Armbanduhr gesehen und dabei festgestellt hatte, dass sich <strong>der</strong> kleine Zeiger immer<br />

näher an die Ziffer sechs annäherte. „Wir wollen uns doch um sieben mit Dr. Brenner im<br />

Gulden Stern treffen.“<br />

„Ach daran habe ich gar nicht mehr gedacht“, sagte Heinz und sah Elke mit einer Unschuldsmiene<br />

an. „Ich hätte nicht gedacht, dass ...“<br />

„... die Zeit so schnell vergeht“, unterbrach Elke ihren Mann.<br />

„Kannst du Gedanken lesen?“<br />

„Nein, aber die Uhr“, entgegnete Elke schlagfertig. Sie winkte <strong>der</strong> älteren Bedienung.<br />

„Zahlen bitte!“<br />

<strong>Die</strong> Bedienung kam sofort an den kleinen Tisch, an dem Elke und Heinz nun schon eine<br />

geraume Weile saßen und sich unterhielten, aber auch die Leute im Kaffee beobachteten. Sie<br />

rechnete im Kopf, was zu bezahlen war.<br />

„Sie hatten insgesamt drei Kännchen Kaffee und eine Schwarzwäl<strong>der</strong> Kirschtorte?“<br />

„Richtig!“ bestätigte Heinz und zog seine Geldbörse aus seiner rechten Gesäßtasche.<br />

„Das macht ... 9 Euro 45 und 2 Euro 50 sind 11 Euro 95 bitte!“<br />

Heinz gab ihr zwölffünfzig. „Stimmt so!“ sagte er kurz.<br />

„Danke schön! Einen schönen Abend noch!“<br />

„Danke sehr! Für sie auch!“ Heinz lächelte die Bedienung an. Obwohl diese schon etwas<br />

älter war, strahlte sie aber immer noch einen gewissen Charme aus, was auch Elke nicht verborgen<br />

geblieben war.<br />

„Kommt die Dame, die dort drüben saß, öfters ins Café?“ Nicht nur die Bedienung, son<strong>der</strong>n<br />

auch Elke waren über die plötzliche Frage überrascht, die aus Heinz heraussprudelte.<br />

<strong>Die</strong> Bedienung blickte kurz in die Richtung, in die Heinz zeigte, und wandte sich wie<strong>der</strong><br />

dem Fragenden zu. „Ja, sie kommt jede Woche mindestens einmal.“ <strong>Die</strong> Bedienung unterbrach<br />

sich kurz und lächelte Heinz an, denn sie schien zu erraten, was die Frage hinter <strong>der</strong><br />

Frage war. „Ich glaube, sie schreibt an ihren Lebenserinnerungen“, fuhr die ältere Bedienung<br />

fort.<br />

Heinz tat überrascht und blickte Elke an. <strong>Die</strong>se hatte sich wie<strong>der</strong> von ihrem Erstaunen<br />

über Heinz’ plötzliche Frage gelöst. „Und woher wissen sie das so genau?“ Jetzt war es Elke,<br />

die fragte.<br />

„Ganz einfach!“ <strong>Die</strong> Bedienung wandte sich Elke zu. „Ich habe sie gefragt, weil ich selbst<br />

neugierig war und wissen wollte, was sie schreibt.“ Damit war die Neugierde ihrer beiden<br />

Gäste zunächst gestillt und sie konnte sich jetzt den wenigen an<strong>der</strong>en Gästen widmen, die<br />

noch in ihrem Revier saßen, schließlich ging es auf sechs Uhr zu, eine Zeit, um die das Café<br />

Noris seine Pforten schloss, denn es war ein typisches Tagescafé.<br />

Heinz und Elke standen auf und gingen zur Glastüre, die das Café vom Verkaufsraum <strong>der</strong><br />

Konditorei trennte.<br />

„Siehst du, Elke!“ sagte Heinz im Hinausgehen. „Man muss nur frech fragen können,<br />

dann bekommt man hin und wie<strong>der</strong> eine Antwort auf brennende Fragen.“<br />

„Ohne Fragen über seinen Tellerrand hinaus, säße <strong>der</strong> Mensch o<strong>der</strong> vielmehr sein affenähnlicher<br />

Vorfahr immer noch auf den Bäumen des afrikanischen Busches.“ Elke blickte<br />

Heinz an und schmunzelte.<br />

84


„Da gebe ich dir voll und ganz recht, Elke.“ Heinz machte seiner Frau die Glastüre auf.<br />

Mit wenigen Schritten durchquerten sie den Verkaufsraum <strong>der</strong> Konditorei, in dem die kalorienreiche<br />

Köstlichkeiten von <strong>der</strong> Chefin des Café gerade aus den Vitrinen entfernt wurden.<br />

Elke und Heinz gingen mit schnellen Schritten zur Ampel, die sie sicher auf die gegenüberliegende<br />

Seite <strong>der</strong> vielbefahrenen Ausfallstraße geleiten sollte. Sie mussten im Gegensatz<br />

zu vorhin nicht lange warten, bis sie auf Grün umsprang.<br />

„Es bleibt gerade noch so viel Zeit, um heim zu gehen und die Tagebücher zu holen“,<br />

meinte Elke, als sie in die Straße einbogen, in <strong>der</strong> sie wohnten. „Gleich darauf müssen wir los,<br />

wenn wir pünktlich um sieben beim Gulden Stern sein wollen.“<br />

„<strong>Die</strong> Zeit, die liebe Zeit!“ seufzte Heinz, <strong>der</strong> fast ein wenig Mühe hatte, mit dem schnellen<br />

Schritt seiner Frau mitzuhalten zu können. „Immer hat man zu wenig davon.“<br />

„Jetzt jammere nicht, Heinz!“ entgegnete Elke. „So hetzen müssen wir uns auch nicht.“<br />

„Warum rennst du dann so schnell?“ Heinz verlangsamte seinen Schritt ein wenig. Dadurch<br />

ging seine Frau sofort einen Meter vor ihm. Sie merkte das und wandte sich zu Heinz<br />

um.<br />

„Du hast ja recht, Heinz“, entgegnete sie. „Aber du kennst mich ja. Ich bin ein pünktlicher<br />

Mensch und das Zuspätkommen an<strong>der</strong>er ist mir immer ein Gräuel.“<br />

Heinz hatte seine Frau wie<strong>der</strong> eingeholt und fasste sie an ihrem rechten Arm, denn er ging<br />

immer rechts von ihr.<br />

„Ich kenne dich und ich kenne dich doch noch immer nicht ganz“, sagte er zu Elke und<br />

blieb stehen.<br />

Elke blieb ebenfalls stehen. „Jetzt werde noch philosophisch, Heinz“, sagte sie lächelnd<br />

zu ihrem Mann gewandt. „Keiner kann je einen an<strong>der</strong>en Menschen ganz kennen.“<br />

Heinz erwi<strong>der</strong>te nichts, son<strong>der</strong>n setzte schweigend den Weg fort. Seine Gedanken kreisten<br />

schon mehr als ihm lieb war nur noch um eine Sache, nämlich die Tagebücher. Auch er war<br />

nur zu neugierig und wollte wie seine Frau und seine Tochter besser gestern als heute wissen,<br />

was die Großmutter seiner Frau vor über 80 Jahren geschrieben hatte.<br />

Es dauerte keine zehn Minuten, dann erreichten die Beiden das Haus, indem sie wohnten.<br />

Sie gingen in ihre Wohnung in <strong>der</strong> ...Etage, hielten sich aber nicht lange auf. Heinz holte aus<br />

seinem Arbeitszimmer die sechs Wachstuchkladden und verstaute sie in einer Stofftasche,<br />

Elke nahm sich eine dünne Jacke mit. <strong>Die</strong> Augustabende konnten kühl werden.<br />

Zehn vor halb sieben Uhr abends verließen Heikes Eltern wie<strong>der</strong> ihre Wohnung und strebten<br />

dem U-Bahnhof zu, von dem aus sie in die Innenstadt fahren wollten. Sie mussten nur vier<br />

Stationen fahren, ehe sie am Opernhaus ausstiegen.<br />

Elke schaute auf ihre Armbanduhr. „Wir haben noch jede Zeit <strong>der</strong> Welt“, sagte sie zu<br />

Heinz gewandt. „Wir könnten noch einen kleinen Stadtbummel machen, Heinz.“<br />

<strong>Die</strong>ser war von <strong>der</strong> Idee seiner Frau nicht so sehr begeistert. Stadtbummel mochte er<br />

nicht. Viel lieber war es ihm, gezielt in ein Geschäft zu gehen und das zu kaufen, was er begehrte.<br />

„Wir haben zwar noch fast zwanzig Minuten Zeit bis um sieben“, entgegnete er, „aber<br />

mir wäre es lieber, wenn du deinen Stadtbummel verschieben könntest. Und bis zum Gulden<br />

Stern sind es auch noch ein paar Meter zu laufen.“<br />

Elke zuckte mit den Achseln, wandte sich wie<strong>der</strong> nach vorne und ging schweigend weiter.<br />

„Bist du jetzt beleidigt, Elke?“ fragte Heinz, nachdem sie etwa zwanzig Meter weitergegangen<br />

waren.<br />

„Nein, Heinz!“ seufzte Elke leicht. „Ich weiß doch, dass du keine Stadtbummel magst.<br />

Und außerdem möchte ich nicht zu spät kommen. Auf zum Gulden Stern!“<br />

85<br />

19


Heinz war sichtlich erleichtert, dies von Elke zu hören. Er schmunzelte still in sich hinein<br />

und nahm Elkes rechte Hand.<br />

Hand in Hand schlen<strong>der</strong>ten sie durch die Straßen und Gassen, immer das Ziel vor Augen<br />

und ein wenig Bangen ums Herz, wie denn <strong>der</strong> Abend verlaufe.<br />

„Da seid ihr ja endlich“, sagte Dr. Brenner lässig an seinem Wagen gelehnt.<br />

„Guten Tag, Herr Dr. Brenner“, sagte Heike und gab <strong>der</strong> schlanken großen Gestalt die<br />

Hand.<br />

„Guten Tag, Heike“, erwi<strong>der</strong>te Dr. Brenner. „Ich darf doch Heike zu dir sagen?“<br />

„Aber sicher doch.“ Heike war fast ein wenig geschmeichelt, das Wolfgangs Vater sie mit<br />

ihrem Vornamen anredete, schließlich traf sie ihn heute erst das zweite Mal.<br />

„Hallo Papa!“ Wolfgang begrüßte seinen Vater herzlich.<br />

„Hallo, Wolfgang!“ Dr. Brenner lächelte seinen Sohn an. „Jetzt aber nichts wie in den<br />

Wagen. <strong>Die</strong> Zeit schreitet unerbittlich fort. Und wir wollen doch Heikes Eltern nicht warten<br />

lassen.“<br />

<strong>Die</strong> drei stiegen ein. Wolfgang setzte sich in den Fond <strong>der</strong> Limousine und überließ Heike den<br />

Beifahrersitz.<br />

Dr. Brenner war ein sehr defensiver Fahrer, <strong>der</strong> immer versuchte, so vorausschauend wie<br />

nur irgend möglich zu fahren. Auch ließ er sich nicht durch Termine hetzen, fuhr lieber etwas<br />

zu früh als zu spät ab. Doch heute war er innerlich ein wenig aufgewühlt, was er sich nicht<br />

erklären konnte. ‚Sind es die Tagebücher, die mich nervös machen’, dachte er, als er in die<br />

Hauptstraße einbog, die ihn, vierspurig gebaut, schnell nach Nürnberg bringen sollte, ‚o<strong>der</strong> ist<br />

es das erste Zusammentreffen mit den Eltern <strong>der</strong> Freundin von Wolfgang?’ Seine Gedanken<br />

überließen ihm sich selbst.<br />

‚Sei was sei’, dachte er weiter. ‚Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren und<br />

auf nichts an<strong>der</strong>es.’ Sicher lenkte er die Limousine über die fast autobahnähnlich ausgebaute<br />

Bundesstraße. Sie kamen Nürnberg schnell näher. Von Ferne konnte man schon die imposante<br />

Burganlage sehen, die, über einem nach Westen steil abfallenden Sandstein thronend, die<br />

Altstadt überragte.<br />

„Wir sind ja bis jetzt gut durchgekommen“, sagte Dr. Brenner zu seinem Sohn gewandt,<br />

<strong>der</strong> während <strong>der</strong> Fahrt geschwiegen hatte.<br />

„Bis jetzt ja, Papa.“ Wolfgang Brenner runzelte seine Stirne. „Aber das langsamste Stück<br />

kommt noch. Der Verkehr in Nürnberg ist den ganzen Tag dicht, nicht nur morgens und<br />

abends zu den Stoßzeiten.“<br />

Er sollte recht behalten. Je kürzer die Abstände <strong>der</strong> Straßenkreuzungen und damit <strong>der</strong><br />

Ampeln wurde, desto langsamer kamen sie voran. <strong>Die</strong> Zeiger <strong>der</strong> Uhr rückten unerbittlich auf<br />

sieben Uhr.<br />

Elke und Heinz erreichten die Bratwurstküche „Gulden Stern“ etwa fünf Minuten vor <strong>der</strong><br />

verabredeten Zeit. Vor dem Haus saßen an einigen Tischen ein paar Gäste und ließen es sich<br />

bei Bier und Bratwürsten gut gehen. Aus dem Inneren drang ein Duft von Buchenholzfeuer<br />

und Bratwüsten auf die wenig befahrene Straße. Nur hin und wie<strong>der</strong> fuhr ein Wagen in das<br />

schräg gegenüberliegende Parkhaus, das mit seiner mo<strong>der</strong>nen Architektur so gar nicht zu dem<br />

alten, restaurierten Fachwerkgebäude passen wollte.<br />

„Gehen wir hinein o<strong>der</strong> warten wir noch ein Weilchen hier außen?“ Heinz sah seine Frau<br />

mit einem fast treuherzig fragenden Blick an.<br />

„Warten wir doch außen“, entgegnete Elke. „Vielleicht sehen wir sie, wenn sie in das<br />

Parkhaus fahren.“<br />

„Kennst du denn Dr. Brenners Wagen?“ Heinz zog seine Augenbrauen hoch, mehr zweifelnd<br />

als fragend.<br />

86


„Nein“, entgegnete Elke kurz, „aber er wird nicht gerade mit einem Kleinwagen kommen.“<br />

Heinz schwieg und schlen<strong>der</strong>te gemütlich auf dem Gehsteig vor dem Lokal auf und ab.<br />

Vom Turm <strong>der</strong> nahen Elisabethenkirche schlug es sieben. <strong>Die</strong> Minuten schlichen dahin,<br />

schienen immer länger zu werden. Heinz wollte schon vorschlagen, in die Gaststube zu gehen,<br />

als er sah, wie ein dunkelblauer Mittelklassewagen die Zirkelschmiedsgasse einbog und<br />

auf eine <strong>der</strong> Einfahrten des Parkhauses zufuhr. Aus <strong>der</strong> Entfernung meinte er im Fond eine<br />

Gestalt zu sehen, die ihnen zuwinkte.<br />

„Hast du’s gesehen?“ Elke kam aufgeregt auf Heinz zu. „Das sind sie. Sie sind gerade ins<br />

Parkhaus gefahren.<br />

„Warum bist du denn so aufgeregt?“ fragte Heinz.<br />

„Ich mache mir immer ein wenig Sorgen um meine Tochter“, gab Elke hastig zurück.<br />

„Deine Tochter ist eine erwachsene Frau. <strong>Die</strong> kann doch auf sich selbst aufpassen.“<br />

„Deine Nerven möchte’ ich haben, Heinz.“ Elke schien noch aufgeregter als zuvor. „Sie<br />

wird immer meine Tochter Heike bleiben und ...“<br />

„Ist schon gut, Elke. Ist schon gut“, beschwichtigte Heinz seine Frau. „Wir sind heute alle<br />

ein wenig aufgeregt. Warten wir doch ab.“ Dabei nahm er seine Stofftasche mit den sechs<br />

Wachstuchkladden in die linke Hand. <strong>Die</strong> rechte wollte er für die Begrüßung frei halten.<br />

Endlich, etwa zehn nach sieben kamen Heike, Wolfgang und Dr. Brenner aus dem Parkhaus<br />

und gingen schnellen Schrittes auf das Paar zu, das auf dem gegenüberliegenden Gehsteig<br />

vor <strong>der</strong> ältesten Bratwurstküche Deutschlands seit etwa 15 Minuten auf die Ankommenden<br />

wartete.<br />

„Hallo Heike!“ Elke begrüßte ihre Tochter herzlich und umarmte sie.<br />

„Hallo Mutti, hallo Vati“, begann Heike. „Darf ich euch Wolfgang und seinen Vater vorstellen.“<br />

Man schüttelte sich gegenseitig die Hände und begrüßte sich. Ein Außenstehen<strong>der</strong> wäre<br />

nie auf den Gedanken gekommen, dass Elke und Heinz Markert den beiden männlichen Begleitern<br />

von Heike gerade zum ersten Male begegneten.<br />

„Ich bitte um Entschuldigung, dass wir etwas zu spät sind“, begann Dr. Brenner. „Ich habe<br />

die Verkehrsdichte in Nürnberg um diese Zeit ein wenig unterschätz.“<br />

„Aber das macht doch nichts“, entgegnete Heinz. „So hungrig sind wir auch noch nicht.<br />

Wir waren heute Nachmittag erst im Café und ...“<br />

„Jetzt hör’ aber auf, Heinz!“ unterbrach ihn seine Frau barsch. „Das interessiert doch Dr.<br />

Brenner nicht.“<br />

„Liebe Frau Markert“, sagte Dr. Brenner darauf. „Ich bitte sie um eines: Lassen sie doch<br />

meinen zweiten Vornamen weg. Den höre ich jeden Tag im Institut zur Genüge.“<br />

Elke war verblüfft, so verblüfft über die Offenheit von Wolfgangs Vater, dass sie zunächst<br />

keine Worte fand. „Ehre, wem Ehre gebührt, Herr Dr. Brenner“, begann sie. „Soviel Zeit<br />

muss sein.“<br />

Wolfgangs Vater musste lachen. „Wir wollen uns doch hier nicht streiten, Frau Markert“<br />

„Genau“, warf Heike ein. „Gehen wir doch lieber in die Gaststube. Dort können wir dann<br />

über alles in Ruhe reden.“<br />

„Wo meine Tochter recht hat ...“ Heinz sprach den Satz nicht zu Ende, son<strong>der</strong>n machte eine<br />

Handbewegung in Richtung <strong>der</strong> Türe des Gasthauses, schließlich hatte er Dr. Brenner und<br />

seinen Sohn, Heikes Freund, zu diesem „Arbeitsessen“, wie er es schon öfters genannt hatte,<br />

eingeladen.<br />

Man ging gemeinsam in das Gasthaus, wo die Chefin des Hauses sie an <strong>der</strong> Theke herzlich<br />

begrüßte, denn sie kannte Heikes Eltern schon von vielen Besuchen in ihrer Bratwurstküche.<br />

„Sie haben einen Tisch reserviert, Herr Markert ?“ fragte die Wirtin.<br />

„Ja, schon vor einer Woche.“ Heinz sah die aparte Frau fragend an.<br />

87


„Ich habe Tisch Nr. 2 dort in <strong>der</strong> Ecke für sie reserviert.“ <strong>Die</strong> Chefin des Hauses deute in<br />

eine gemütliche Ecke in <strong>der</strong> ein schwerer Holztisch stand. An ihm konnten mehr als vier Personen<br />

Platz nehmen, man brauchte also nicht zu dicht beieinan<strong>der</strong> sitzen.<br />

„Wo möchten sie gerne sitzen Herr Dr. Brenner?“ fragte Heinz den Vater von Wolfgang.<br />

„Das ist mir egal“, gab dieser kurz zurück. „Ich bräuchte nur ein wenig Licht, wenn ich<br />

mir Ihre Objekte etwas näher ansehen will.“<br />

„Dann setzen sie sich doch an die Stirnseite gleich neben <strong>der</strong> Lampe“, schlug Elke vor.<br />

Dr. Brenner war einverstanden. <strong>Die</strong> Übrigen einigten sich darauf, dass Heinz und Wolfgang<br />

auf den Holzstühlen, Heike und Elke auf <strong>der</strong> Holzbank an <strong>der</strong> Breitseite des Tisches Platz<br />

nahmen. Elke setzte sich Heinz gegenüber, ebenso Heike und Wolfgang. Heinz legte seine<br />

Stofftasche links von sich auf die Holzbank.<br />

„Ich darf mich zunächst für ihre Einladung bedanken“, begann Dr. Brenner. „Wolfgang<br />

hat mir schon alles über ihren Fund erzählt. Damit sie aber auch ein wenig über meine Arbeit<br />

erfahren, schlage ich vor, dass ich ihnen kurz schil<strong>der</strong>e, womit ich meine Brötchen verdiene.“<br />

Wolfgangs Vater wollte gerade fortfahren, da kam die Bedienung und wollte die Bestellungen<br />

aufnehmen. Dr. Brenner unterbrach die Beschreibung seiner Tätigkeit und überlegte,<br />

was er essen solle.<br />

„Also ich möchte acht Bratwürste mit Kartoffelsalat“, begann Elke die Bestellrunde. Ihre<br />

Tochter wollte dasselbe. Heinz bestellte sich zehn Bratwürste mit Kraut und Meerrettich,<br />

ebenso Wolfgang.<br />

„Na, ihr habt ja einen gesegneten Appetit“; sagte Dr. Brenner zu seinem Sohn gewandt.<br />

„Aber Papa, du bist hier in Nürnberg, da sind die Bratwürste nicht so groß wie die fränkischen<br />

auf dem Land. Sie mussten früher ja durch das Schlüsselloch des Bratwurstglöckleins<br />

gepasst haben.“<br />

Heinz, Elke und Heike mussten lachen.<br />

„Ja, ja, die alten Sagen aus Nürnberg“, warf Heinz in die Runde. „Aber ein Fünkchen<br />

Wahrheit ist immer daran.“<br />

Wolfgangs Vater fasste sich an den Kopf. „Ich bin heute das beste Beispiel für einen Akademiker<br />

im Elfenbeinturm. Wie konnte ich’s vergessen, wir sind ja in Nürnberg“ Alle lachten.<br />

„Dann bestelle ich mir auch zehn Bratwürste, aber nur mit Kraut“, sagte er zu <strong>der</strong> Bedienung<br />

gewandt, die noch immer geduldig hinter dem Tisch zwischen Heinz und Wolfgang stand und<br />

ruhig alle Wünsche notierte.<br />

Nachdem man bestellt hatte, nahm Dr. Brenner seinen Themenfaden wie<strong>der</strong> auf und beschrieb<br />

kurz seine Tätigkeit am Institut für Geschichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an <strong>der</strong> Universität Erlangen-Nürnberg<br />

und sein neuestes Projekt einer Art Geschichte <strong>der</strong> Familie im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Er betonte immer wie<strong>der</strong>, dass er Texte aus dem eher privaten Bereich, wie Tagebücher und<br />

Briefe, mit den Augen des Historikers betrachte, <strong>der</strong> sie als Quellen für seine Forschungen<br />

benutzt.<br />

Heinz und Elke hörten ihm aufmerksam zu. Sie verstanden nicht alles, aber die Skepsis<br />

wich und das Vertrauen in Dr. Brenner wuchs. Heike und Wolfgang dagegen waren mehr auf<br />

sich konzentriert, sahen sich in die Augen, streckten ihre Arme über den Tisch. Ihre Hände<br />

berührten sich und wie<strong>der</strong> sprang <strong>der</strong> Funke über, <strong>der</strong> ein Feuer entfachen konnte.<br />

„Wollen Sie sich die Tagebücher einmal ansehen“, sagte Elke zu Dr. Brenner, nachdem er<br />

über sich und seine Arbeit erzählt hatte. Heinz griff zur Stofftasche und wollte eine <strong>der</strong> sechs<br />

Wachstuchkladden herausholen.<br />

„Ich schlage vor, wir schauen uns die Aufzeichnungen erst nach dem Essen an“, wandte<br />

Wolfgangs Vater ein und macht eine abwehrende Handbewegung. Heinz ließ die Stofftasche<br />

los.<br />

„Ein ausgezeichneter Gedanke!“ Heinz hob sein Bierglas und prostete seinem Nachbarn<br />

halblinks von ihm zu. „Auf eine erfolgreiche Entzifferung! Prost!“ Alle an<strong>der</strong>en erhoben auch<br />

88


ihre Gläser, auch Dr. Brenner, aber er trank nur ein Tafelwasser, schließlich musste er noch<br />

zurück nach Erlangen fahren.<br />

„Auf ihr Wohl!“ Dr. Brenner lächelte. „Ich hoffe, dass es nicht so schwierig sein wird, die<br />

Schrift zu entziffern. Aber die Leute haben auch schon früher schön o<strong>der</strong> weniger lesbar geschrieben.“<br />

„Also, was ich bisher gesehen habe“, wandte Heike ein, „sieht sie mehr nach einer leserlichen<br />

als nach einer Apothekerschrift aus.“<br />

„Hast du denn schon darin gelesen?“ Elke war darüber erstaunt, was ihre Tochter gerade<br />

gesagt hatte.<br />

„Natürlich Mutti, während ihr im Urlaub gewesen seid“, antwortete Heike. „Aber ich habe<br />

nur sehr wenig entziffern können.“<br />

„Ja, ja, die gute alte Deutsche Schrift ...“, seufzte Heinz<br />

„... können lei<strong>der</strong> nicht mehr viele Leute lesen“, ergänzte Dr. Brenner.<br />

„Da haben sie nur allzu recht“, stimmte Elke ein. „Selbst meine Eltern können die alte<br />

Schrift nicht mehr lesen.“<br />

„O<strong>der</strong> wollen sie nicht mehr lesen“, warf Heike keck dazwischen. „Ich werde das Gefühl<br />

nicht los, dass Oma die Tagebücher nicht lesen wollte, obwohl sie bestimmt die alte deutsche<br />

Schrift zumindest noch lesen kann. Und ...“<br />

„Das ist doch alles Vermutung, Heike“, unterbrach Elke ihre Tochter. „Jetzt lass’ uns erst<br />

einmal sehen, was in den Tagebüchern steht und danach können wir weiter diskutieren.<br />

„Sie treffen den Punkt genau, Frau Markert“ Dr. Brenner stimmte Heikes Mutter zu. „Erst<br />

essen wir unsere Bratwürste und dann werde ich mir die Aufzeichnungen ihrer Großmutter<br />

ansehen.“ Heike war überstimmt, nahm es aber Dr. Brenner nicht krumm, dass er die Partei<br />

ihrer Mutter ergriffen hatte.<br />

Es dauerte nicht lange, dann standen die köstlich duftenden Bratwürste auf dem Tisch.<br />

Portionen mit acht Stück lagen in runden Zinntellern, ab zehn servierte man sie im Zinnherz.<br />

„Also dann: Guten Appetit“; sagte Heinz als erster. Alle an<strong>der</strong>en stimmten mit ein.<br />

Man nahm sich viel Zeit zum Essen. Und man hatte auch Zeit an diesem milden Sommerabend,<br />

an dem we<strong>der</strong> Dr. Brenner noch alle an<strong>der</strong>en sich noch irgend etwas vorgenommen<br />

hatten.<br />

„Hat es geschmeckt?“, fragte die Bedienung, als sie die geleerten Zinnteller und –herzen<br />

abräumte.<br />

„Ausgezeichnet!“ Dr. Brenner konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt solche guten<br />

Bratwürste gegessen hatte.<br />

„Ja, <strong>der</strong> Gulden Stern ist schon ein Geheimtipp, Herr Dr. Brenner“, sagte Elke zu Wolfgangs<br />

Vater gewandt. „Meine Schwiegermutter hat mir den schon vor einigen Jahren gegeben.“<br />

„Da siehst du einmal wie<strong>der</strong>, für was auch eine Schwiegermutter gut sein kann“, spöttelte<br />

Heinz. „Meine Mutter hat vom Gulden Stern damals aus dem Lokalradio erfahren.“<br />

„Du bist und bleibst ein alter Spötter, Heinz“, wandte Elke ein. „Schwiegermütter sind nur<br />

so gut o<strong>der</strong> schlecht, wie auch ihre Söhne o<strong>der</strong> Töchter sind.“<br />

„Na, was ist denn das für eine Theorie?“ Heike blickte ihre Mutter erstaunt an. „<strong>Die</strong> Mär<br />

von <strong>der</strong> bösen Schwiegermutter entstammt doch eher früheren Zeiten, aus den Grimmschen<br />

Märchen, wo sie als böse Wölfe verkleidet daher kamen.“<br />

„Dem kann ich nun wie<strong>der</strong> überhaupt nicht zustimmen“, mischte sich jetzt Wolfgang ein.<br />

„Ich kenne durchaus freundliche Schwiegermütter, vielleicht Schwiegermütter in spe.“<br />

89<br />

20


Elke errötete leicht, als sie dies hörte, fasste sich jedoch schnell. „So weit sind wir noch<br />

nicht, Herr Brenner!“<br />

„Es war auch als verstecktes Kompliment gemeint, Frau Markert“, sagte Wolfgang entschuldigend.<br />

„Wir wollen uns doch nicht streiten“, beschwichtigte Heinz. „Schauen wir uns lieber das<br />

an, was Heikes Urgroßmutter uns schriftlich hinterlassen hat.“ Dabei ergriff er seine Stofftasche<br />

und holte alle sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> hervor. Sorgsam legte er sie auf den Tisch vor Dr.<br />

Brenner hin.<br />

Alle sahen ein wenig ehrfürchtig auf die schwarzen Hefte. Zunächst getraute sich niemand<br />

etwas zu sagen. Dr. Brenner musterte die Kladden, nahm die oberste in die Hand und schlug<br />

den Heftdeckel vorsichtig auf. Seine Augen überflogen das mit brauner Tinte Geschriebene.<br />

Er sagte nichts, son<strong>der</strong>n blätterte langsam durch die schon leicht vergilbten Seiten.<br />

Heike rutschte unruhig auf <strong>der</strong> Bank hin und her. Schließlich konnte sie nicht mehr still<br />

sein. „Können sie’s lesen?“ fragte sie Dr. Brenner.<br />

„Es ist eine fast noch kindliche Schrift, die sich aber schon gefestigt hat“, begann er langsam<br />

zu dozieren. „<strong>Die</strong> Züge sind klar und die Schrift ist gut lesbar. Es scheint das erste Heft<br />

zu sein. Hm, es steht da ...“ Er unterbrach sich selbst. Alle schauten gespannt auf ihn. Heike<br />

hatte sich fast über ihre Mutter gebeugt, um das Wachstuchheft besser sehen zu können, denn<br />

sie saß wie Wolfgang ihr gegenüber von Dr. Brenner am weitesten entfernt.<br />

„Lesen sie doch vor, Herr Dr. Brenner!“ for<strong>der</strong>te jetzt Elke ihren Nachbarn auf, <strong>der</strong> an <strong>der</strong><br />

Stirnseite des Tisches saß. Auch sie konnte es jetzt nicht mehr erwarten, aus dem Inhalt <strong>der</strong><br />

Aufzeichnungen ihrer Großmutter zu erfahren.<br />

„Tagebuch <strong>der</strong> Elfriede Seiffert, geboren am 17. Mai 1897“, las Wolfgangs Vater langsam<br />

vor. „Freitag, <strong>der</strong> 16. Mai 1913. Morgen ist mein sechzehnter Geburtstag. Vater hat mir erlaubt,<br />

dass ich ...“<br />

„Moment mal!“, unterbrach Heike. „Ich dachte meine Urgroßmutter hieß Wagner. So habe<br />

ich es zumindest in einem an<strong>der</strong>en Heft gelesen.<br />

„Gute Heike!“, entgegnete ihr Heinz. „<strong>Die</strong>s ist Tagebucheintrag aus <strong>der</strong> Jugend deiner<br />

Urgroßmutter. Ihr Mädchenname war nicht Wagner, son<strong>der</strong>n eben Seiffert.“<br />

Heike war beruhigt. „Sicher“, meinte sie darauf, „bei Mädchen muss man ja berücksichtigen,<br />

dass sie ihren Namen bei <strong>der</strong> Heirat än<strong>der</strong>ten.“<br />

„Sieh’ her, Heike“, sagte Dr. Brenner jetzt zu Elkes Tochter gewandt und zeigte ihr die<br />

erste Seite des Tagebuchs:<br />

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������������������������<br />

�����������������<br />

„Ich glaube ihnen ja“, erwi<strong>der</strong>te Heike, nach dem sie die Seite gesehen hatte. „Ich war nur<br />

überrascht über den an<strong>der</strong>en Namen.“<br />

Dr. Brenner las still weiter, dann klappte er das dicke Wachstuchheft wie<strong>der</strong> zu. „Es würde<br />

jetzt die Zeit sprengen, wenn ich begänne, alles hier vorzulesen“, sagte er ruhig. Seine Zuhörer<br />

waren ein klein wenig enttäuscht, hatten sie doch eine kleine Vorlesestunde von Dr.<br />

Brenner erwartet.<br />

„Ich bin auch ihrer Meinung“, stimmte Heinz seinem Nachbarn zur Linken zu. „Es wäre<br />

jetzt zu viel von ihnen verlangt, wenn sie hier Seitenweise vorläsen, Herr Dr. Brenner. Wenn<br />

jemand unbedingt zu Hause die Tagebücher studieren will, kann er das tun.“<br />

„Wie denn, Papa?“ Heikes Augen spiegelten immer noch ihre Enttäuschung über die Unterbrechung<br />

<strong>der</strong> erhofften Lesung. „Wolfgangs Vater nimmt doch die Tagebücher mit ins Institut,<br />

um sie dort zu transkribieren.“<br />

90


„Keine Sorge, Heike“, entgegnete Heinz seiner Tochter. „Ich habe Kopien <strong>der</strong> Tagebücher<br />

für alle Fälle zu Hause.“<br />

„Und du hast nichts gesagt, Papa“, wandte Heike vorwurfsvoll ein, „kein Wort, dass du<br />

die Hefte kopiert hast!“<br />

„Du hast mich ja nicht gefragt“, gab Heinz frech zurück.<br />

„Jetzt streitet doch nicht!“ fuhr Elke dazwischen. „Es ist doch gut, wenn wir Kopien haben.“<br />

„Na, gestern warst du noch ganz an<strong>der</strong>er Meinung“, entgegnete Heinz.<br />

„Man kann doch seine Meinung än<strong>der</strong>n. O<strong>der</strong> etwa nicht?“ Elke schaute ihren Mann etwas<br />

entgeistert an. „Da soll es doch auch einen Bundeskanzler gegeben haben, <strong>der</strong> gesagt haben<br />

soll: ‚Was juckt mich mein Geschwätz von gestern.’“<br />

Dr. Brenner hatte die kleine Diskussion wortlos verfolgt. Doch jetzt musste er auch etwas<br />

zum Thema beitragen. „Ich meine, Sie haben recht getan, Herr Markert, die Tagebücher zu<br />

kopieren. Nur ich arbeite als Historiker lieber am Original, denn es gibt beim Lesen alter Texte<br />

immer wie<strong>der</strong> Stellen, die zwei- o<strong>der</strong> mehrdeutig gelesen werden können. Es ist dann überaus<br />

nutzvoll, sich das Original einmal unter <strong>der</strong> Lupe anzusehen. <strong>Die</strong> Qualität <strong>der</strong> Fotokopien<br />

ist zwar in den letzten Jahren außerordentlich gut geworden, doch wird <strong>der</strong> Kontrast vor allem<br />

bei mit Tinte geschriebenen Texten immer noch nicht optimal dabei wie<strong>der</strong> gegeben, sodass<br />

man beim Lesen <strong>der</strong> Kopien eher dazu verleitet wird, den Text letztendlich falsch wie<strong>der</strong>zugeben.“<br />

Wolfgang Brenner nickte seinem Vater zu und sah Heike an, die ihren kleinen Ärger über<br />

die fehlende Information von ihrem Vater beiseite geschoben hatte. Heike blickte zurück und<br />

sah Wolfgang tief in die Augen. Sie meinte dabei seine Zuneigung allein über seinen Blick zu<br />

spüren.<br />

Elke und Heinz sahen Dr. Brenner ebenfalls an und nickten.<br />

„Ich habe mir gedacht“, begann Heinz, „es schade bestimmt nicht, Kopien <strong>der</strong> schriftlichen<br />

Hinterlassenschaft <strong>der</strong> Großmutter meiner Frau im Haus zu haben. <strong>Die</strong> Tagebücher sind<br />

ja Unikate und wenn ...“<br />

„Du hast es schon richtig gemacht“, unterbrach Elke ihren Mann zustimmend. „Man kann<br />

ja nie wissen, was passiert.“<br />

Sehr richtig!“ Dr. Brenners Stimme klang fast etwas eindringlich. „Es ist immer besser,<br />

wichtig erscheinende Schriftstücke zu kopieren. Schließlich geht das heute so einfach. Wenn<br />

ich nur daran denke, als ich zu studieren begann. Wie viel Zeit ist damals verstrichen, wenn<br />

man eine Vorlesungsstunde vom Skript eines Kommilitonen abschrieb.“<br />

„Ja, das kenne ich auch noch, das Abkupfern von irgendwelchen Texten“, stimmte Heinz<br />

seinem Tischnachbarn an seiner linken Seite zu. „Aber jetzt eine ganz an<strong>der</strong>e Frage: Wie lange<br />

werden Sie denn für die Transskription <strong>der</strong> Tagebücher brauchen?“<br />

Dr. Brenner hob nachdenklich seine Augenbrauen. „Ich denke ... einmal ... na ja, so zwei<br />

bis drei Monate wird es schon dauern.“<br />

„Zwei bis drei ...“ Heike stand eine gewisse Enttäuschung im Gesicht geschrieben.<br />

„Keine Sorge, Heike“, versuchte Dr. Brenner sie aufzuheitern. „Ich meine zwei bis drei<br />

Monate für alle sechs Hefte. Das erste könnte schon in etwa vierzehn Tagen als Datei vorliegen.“<br />

„Als Datei?“ Elke schaute Dr. Brenner mit einem Anflug leichten Entsetzens an.<br />

„Ja, ja, als Datei“, bekräftigte Dr. Brenner. „Ich werde sie meiner Hilfskraft Frau Beck direkt<br />

in den Computer diktieren. Das ist die schnellste Methode mit <strong>der</strong> kleinsten Fehlerwahrscheinlichkeit.“<br />

„Das ist ja geradezu fast genial“, rief Heike begeistert. „Dann können sie die Datei auch<br />

mir zumailen.“<br />

91


„Aber selbstverständlich, Heike“, entgegnete Dr. Brenner mit dem Brustton tiefer Überzeugung.<br />

„Du kannst sie auf deinen Rechner speichern und für deine Eltern ausdrucken. O<strong>der</strong><br />

sind sie auch über das Internet zu erreichen?“<br />

„Nein“, antwortete Heinz, „aber einen alten Computer, Heikes alten Rechner, haben wir<br />

auch.“<br />

„Dann kann ja nichts passieren“, fuhr Dr. Brenner fort. „Dann sind die Texte ja dreifach<br />

gesichert, einmal bei Heike, bei Ihnen, Herr Markert und dann noch mal auf meinen Institutsrechner.“<br />

Alle waren erleichtert. Heinz bestellte sich noch ein Bier und erzählte dabei Dr. Brenner<br />

die Entdeckungsgeschichte <strong>der</strong> Tagebücher in allen Einzelheiten. Wolfgangs Vater zog einen<br />

Notizblock hervor und schrieb einige Sätze, die ihm so wichtig erschienen, dass er sie nicht<br />

vergessen wollte.<br />

Keiner fragte, was denn Dr. Brenner da schrieb, denn sie waren alle, auch Wolfgang<br />

Brenner, in einer leicht euphorischen Stimmung. Jetzt endlich sollte man nach und nach erfahren,<br />

was in den sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>n geschrieben stand. Alle Augen waren gespannt auf<br />

Dr. Brenner gerichtet, <strong>der</strong> die große Aufgabe, die Aufzeichnungen in lesbare Schrift zu übertragen,<br />

spontan übernommen hatte, denn er erhoffte sich auch neue Anregungen für seine,<br />

schon über zwei Jahre laufende Studie über die Entwicklung <strong>der</strong> Familie in <strong>der</strong> ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts als Keimzelle <strong>der</strong> Gesellschaft. Doch Wolfgangs Vater blieb nach außen<br />

wie auch in seinem Innern ruhig, denn er verband mit <strong>der</strong> Transskription <strong>der</strong> Texte keine großen<br />

Erwartungen.<br />

„Ich kann mir schon vorstellen, wie ihnen allen zu Mute ist“, begann er nach einer Weile.<br />

„Da hat man vergessene Aufzeichnungen von seinen Vorfahren entdeckt und kann sie nicht<br />

auswerten. Normalerweise ist es ja umgekehrt. <strong>Die</strong> meisten Genealogen, die ihre Vorfahren<br />

erforschen, stehen vielmehr vor dem Problem, von ihren Ahnen nur die nackten Lebensdaten<br />

zu besitzen, also Geburts-, Heirats- und Sterbedatum. Sie suchen dann verzweifelt nach dem<br />

Fleisch für die Lebensbeschreibung ihrer Vorfahren. Haben Sie eigentlich schon die entsprechenden<br />

Lebensdaten von Elfriede Wagner?“<br />

Heinz, Elke und Heike schauten sich an und zuckten mit den Schultern.<br />

„Um ehrlich zu sein: Wir haben noch nicht danach gesucht.“ Elke blickte Dr. Brenner entschuldigend<br />

an.<br />

„Na dann wird es aber Zeit!“ warf Heike ein. „Vielleicht könnte ich solange die Lebensdaten<br />

meiner Großmutter zusammentragen bis Wolfgangs Vater mit <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Texte<br />

fertig ist.“<br />

„Das wäre schön, wenn Heike das machen würde.“ Dr. Brenner nickte Heike zustimmend<br />

und wandte sich ihren Eltern zu. „Ich werde Heike selbstverständlich jede Hilfestellung dazu<br />

geben.“<br />

„Ist das denn schwer, zum Beispiel die Geburts- o<strong>der</strong> Sterbedaten von einem Vorfahren<br />

herauszufinden?“ fragte Heinz und zog seine Augenbrauen in die Höhe.<br />

„Das kommt ganz darauf an“, entgegnete Dr. Brenner. „Wenn ihre Vorfahren einigermaßen<br />

sesshaft waren o<strong>der</strong> nur regional migrierten, dann kann man die Daten schnell sammeln.<br />

Sind sie aber von weiter hergekommen o<strong>der</strong> fehlen Hinweise auf zum Beispiel Geburtsort,<br />

dann muss man schon eine ganze Menge Gehirnschmalz aufwenden, um die Daten zu ermitteln.“<br />

„Und genau das reizt mich“, mischte sich jetzt Heike ein. „Ich möchte beginnen, meine<br />

Vorfahren systematisch zu erforschen. Aber wie fange ich an?“<br />

„Wir haben doch schon einige Lebensdaten von unseren Vätern und Müttern, also von<br />

deinen Großeltern, Heike.“ Elke schaute ihre Tochter aufmunternd an. „Und von deiner<br />

Urgroßmuter ...“<br />

„Einer meiner Urgroßmütter“, unterbrach Heike ihre Mutter.<br />

„Natürlich von einer deiner Urgroßmütter“, verbesserte sich Elke.<br />

92


„Und darauf kannst du aufbauen, Heike“, ermunterte Wolfgang seine Freundin. „Du gehst<br />

einfach aufs Standesamt und bittest um eine Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde von Elfriede Seiffert.<br />

Dann kennst du schon die Eltern von deiner Uroma.“<br />

„Wenn <strong>der</strong> Vater angegeben ist!“ warf Heinz ein.<br />

„Heinz!“ ermahnte ihn jetzt seine Frau. „Musst du denn immer so negativ denken?“<br />

„Ich räume nur ein, dass vielleicht ...“ Heinz unterbrach sich selbst.<br />

Elke sagte nichts, son<strong>der</strong>n warf ihrem Mann nur einen fast vorwurfsvollen Blick zu und<br />

schüttelte ihren Kopf.<br />

„Bis 1876 zurück liegen die Unterlagen bei den Standesämtern“, sagte Wolfgangs Vater<br />

zu Heike gewandt. „Vorher muss man in den Kirchenbüchern forschen, wenn man die Lebensdaten<br />

seiner Vorfahren herausfinden will.“<br />

„Das ist ja interessant“, entgegnete Heike. „Dann könnte ich also die Geburtsurkunde von<br />

Elfriede Seiffert im Standesamt in Fürth bekommen.“<br />

„Vorausgesetzt, sie ist wirklich in Fürth geboren“, wandte Heinz ein. „Was im Tagebuch<br />

steht, muss nicht immer richtig sein.“ Fast schien es, als wolle Heikes Vater die Entschlossenheit<br />

zur Erforschung von Heikes Vorfahren ein wenig dämpfen. Doch Heike merkte dies<br />

nicht. Ihre Gedanken kreisten nur noch um ihre Vorfahren und die Möglichkeiten, in die Familienforschung<br />

einzusteigen.<br />

„<strong>Die</strong> Heiratsurkunde von Elfriedes Eltern dagegen“, spann Heike ihren Gedanken weiter,<br />

„müsste ich dann vermutlich in den Kirchenbüchern suchen.“<br />

„Sehr richtig, Heike.“ Dr. Brenner nickte mit dem Kopf. „Es ist schon anzunehmen, das<br />

ihre Eltern vor 1876 geheiratet haben, es sei denn, sie sind jung verstorben, bevor Elfriede ...“<br />

Er rechnete schnell im Kopf. „ ... 21 Jahre alt, d.h. volljährig war.“<br />

„Das ist ja fantastisch, wie sie dies aus den Zusammenhängen schließen, Herr Dr. Brenner“,<br />

rief Elke erstaunt aus.<br />

„Das ist reine Übungssache“, wiegelte Wolfgangs Vater die Bewun<strong>der</strong>ung von Elke ab.<br />

„Schließlich bin ich durch meinen Beruf auch schon fast zum Genealogen geworden. Und<br />

diese beherrschen ihr Metier, selbst wenn sie es nur in <strong>der</strong> Freizeit betreiben. Glauben sie<br />

mir!“<br />

„Selbstverständlich“, stimmte Elke Dr. Brenner zu. „selbstverständlich glaube ich ihnen,<br />

Herr Dr. Brenner!“<br />

Es entstand in <strong>der</strong> Unterhaltung eine Pause. Heinz trank genüsslich einen Schluck Bier<br />

und Wolfgangs Vater befeuchtete seinen trocken gewordenen Hals mit Mineralwasser.<br />

„Bringen sie mir bitte auch noch eine Halbe Bier.“ Elke hob ihr leeres Bierglas und winkte<br />

so die Bedienung herbei. <strong>Die</strong>se nickte und trat an den Tisch heran.<br />

„Darf ich sonst noch etwas bringen?“ fragte sie und musterte die Gläser.<br />

Heike schaute zu ihrem Glas. „Bitte bringen Sie mir noch ein Mineralwasser“, sagte sie<br />

ganz spontan zu <strong>der</strong> netten Bedienung.<br />

„Und mir noch ein Hefeweizen“, fügte Wolfgang hinzu.<br />

Nein, man wollte noch nicht auseinan<strong>der</strong>gehen, zumal die Uhr gerade halb neun zeigte,<br />

keine Zeit, um im Hochsommer schon den Heimweg anzutreten.<br />

„Wie war das noch mal mit den Standesämtern?“, fragte Heinz Dr. Brenner.<br />

„<strong>Die</strong> Registrierung von Geburten, früher nur Taufen, Hochzeiten und Sterbefällen oblag<br />

früher ausschließlich den Kirchengemeinden. Erst mit dem „Gesetz über die Beurkundung des<br />

Personenstandes und die Eheschließung“ vom 6. Februar 1875, das offiziell am 1. Januar<br />

1876 in Kraft trat, zog <strong>der</strong> Staat dann diese Aufgaben an sich. Daher muss man bei Geburten-<br />

Heirats- und Sterbefällen nach 1875 bei den Standesämtern nachforschen.“<br />

„Ach so, jetzt begreife ich.“ Heinz schien geistig etwas abwesend. Das Kopieren <strong>der</strong> restlichen<br />

drei Tagebücher hatte ihn nicht nur körperlich etwas mürbe gemacht.<br />

„Hast du vorhin nicht zugehört, Heinz?“ Elke sah ihren Mann fragend an. „Warum hast du<br />

noch mal gefragt. Dr. Brenner hat die Funktion <strong>der</strong> Standesämter doch schon vorhin erklärt.<br />

93


„Ach weißt du, Elke“, begann Heinz. „Irgendwie bin ich heute etwas neben <strong>der</strong> Rolle.“<br />

„Das habe ich gerade bemerkt“, gab Elke zurück.<br />

„Aber das macht doch nichts.“ Dr. Brenner lächelte Heikes Eltern an. „Für einen, <strong>der</strong> noch<br />

nie etwas mit Genealogie zu tun gehabt hat, ist die ganze Forschungsstrategie zunächst immer<br />

etwas undurchsichtig.“<br />

„Wenn Heike ihre Vorfahren erforschen will, kann sie das gerne tun.“ Elke sah ihre Tochter<br />

an. „Aber was hat dies alles mit den Tagebüchern zu tun?“ <strong>Die</strong>se Frage war mehr an<br />

Wolfgangs Vater gerichtet.<br />

„Oberflächlich betrachtet“, begann dieser und wandte sich Elke zu, „hat dies zunächst<br />

nichts mit dem Auffinden <strong>der</strong> Tagebücher zu tun. Aber wenn ich die Texte wissenschaftlich<br />

auswerten möchte, brauche ich auch das soziale Umfeld, in das Elfriede eingebettet war. Da<br />

tauchen hun<strong>der</strong>t Fragen auf.“<br />

„Zum Beispiel welche?“ Elke wurde neugierig.<br />

„In welchem Hause wuchs Elfriede Seiffert auf? Welchen Beruf hatte ihr Vater? War er<br />

noch am Leben, als seine Tochter das Tagebuchschreiben begann? O<strong>der</strong> hat Elfriede gewissermaßen<br />

aus Kummer zu schreiben begonnen? usw. usw.“<br />

„Und das bekommt man heraus, wenn man die Lebensdaten von Elfriede kennt?“ Elke<br />

war nach <strong>der</strong> Antwort von Dr. Brenner etwas misstrauisch geworden.<br />

„Indirekt, Frau Markert, indirekt“, entgegnete Dr. Brenner. „Man kann das Tagebuch und<br />

damit die Gedanken, die ihre Großmutter zu Papier brachte, besser verstehen, wenn man<br />

weiß, wie das Lebensumfeld von Ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesehen hat, ob z.B.<br />

ihr Vater o<strong>der</strong> ihre Mutter in früher Kindheit o<strong>der</strong> Jugend verstorben ist und <strong>der</strong> überlebende<br />

Ehepartner vielleicht noch einmal geheiratet hat. Es sind noch viele an<strong>der</strong>e Konstellationen<br />

möglich.“<br />

„Jetzt begreife ich langsam“, mischte sich jetzt Heinz in die Diskussion ein. „Sie raten<br />

Heike, das Lebensumfeld ihrer Großmutter über die Lebensdaten ihrer Verwandten etwas abzustecken.“<br />

„Genau das ist es“, entgegnete Dr. Brenner, „was die Familienforschung leisten kann.<br />

Man kann bestimmte äußere Konstellationen, wie wir sagen, allein durch die Erforschung <strong>der</strong><br />

Lebensdaten von Bezugspersonen wie Eltern und Großeltern ganz einfach ermitteln, muss<br />

sich darüber aber im Klaren sein, das diese nichts über das Denken und Handeln <strong>der</strong> Person<br />

selbst aussagen kann.“<br />

„Das finde ich ja außerordentlich interessant“; sagte Elke zustimmend. „Mir war nur <strong>der</strong><br />

weitere Zusammenhang gerade völlig unklar. Deswegen habe ich nachgefragt.“<br />

„Ich glaube, wir brauchen uns alle nicht wegen unserer Unwissenheit über eine <strong>der</strong> historischen<br />

Hilfswissenschaften zu schämen.“ Heike zwinkerte zuerst ihrer Mutter, dann ihrem<br />

Vater zu. „Lasst mich erst einmal Familienforschung betreiben, während Dr. Brenner seiner<br />

Sekretärin ...“<br />

„... seiner wissenschaftlichen Hilfskraft Frau Beck.“, verbesserte Wolfgangs Vater.<br />

„... seiner wissenschaftlichen Hilfskraft die Texte aus den Tagebüchern diktiert“, fuhr<br />

Heike fort. „Ich finde es spannend, was man alles herausfinden kann, wenn man sich seinen<br />

Vorfahren widmet.<br />

„Erwarte nicht zu viel“, dämpfte Dr. Brenner Heikes Begeisterung. „Man kann sehr viel<br />

herausfinden, aber je<strong>der</strong> Mensch kann in sich nicht in allen Punkten konsequent sein. Es muss<br />

ganz einfach Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten und Inkonsequenzen im Handeln <strong>der</strong> Menschen geben.<br />

Das liegt in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Menschen ganz allgemein.“<br />

„Ich werde mir auf jeden Fall ein wenig Zeit nehmen und versuchen, das Leben meiner<br />

Urgroßmutter zu erforschen.“ Heike wollte sich ihren Optimismus nicht nehmen lassen, aber<br />

sie war sich in <strong>der</strong> Methode des Herangehens an die Familienforschung noch nicht sicher.<br />

„Aber wie gehe ich jetzt am besten vor?“ fragte sie an Wolfgangs Vater gewandt.<br />

94


„Du könntest das Geburtsdatum deiner Großmutter, das sie ja selbst in ihrem ersten Tagebuch<br />

angegeben hat, dadurch bestätigen, indem du dir eine Kopie o<strong>der</strong> Abschrift <strong>der</strong> Geburtsurkunde<br />

besorgst.“ Dr. Brenner blickte kurz Heike an, wandte sich jedoch ihrer Mutter zu,<br />

denn er wollte aus ihrer Miene erfahren, wie sie zu seinem Vorschlag stand.<br />

Elkes Mutter spürte den Blick von Dr. Brenner auf sich, hob den Kopf leicht und nickte<br />

unmerklich, doch Wolfgangs Vater merkte sofort, dass sie auf seiner und Heikes Seite stand.<br />

Schließlich ging es um ihre Großmutter, von <strong>der</strong> sie sehr wenig wusste. Selbst das Geburtsdatum,<br />

wenn es denn stimmte, hatte sie erst an diesem Abend erfahren. Ihre Großmutter hatte<br />

früher fast nichts aus ihrer Vergangenheit erzählt. ‚Warum nur?’, dachte Elke bei sich. ‚Wollte<br />

sie damals nichts von sich erzählen o<strong>der</strong> tat sie es nur deswegen nicht, weil keiner sie danach<br />

gefragt hatte?’<br />

„Du bist ja plötzlich so nachdenklich“, bemerkte Heike, die in den vergangenen Minuten<br />

ihre Mutter genau beobachtet hatte.<br />

„Ach nichts, Heike“, entgegnete Elke. „Es sind nur ein paar Fragen bei mir aufgetaucht.“<br />

„Und welche?“ wollte Heike wissen.<br />

„Darüber muss ich noch ein paar mal nachdenken und darüber schlafen“, entgegnete Elke<br />

ihrer Tochter. Heike schien sie zu verstehen und bohrte nicht weiter nach.<br />

„Scheuen sie sich nicht, sich Fragen zu notieren“, nahm Dr. Brenner wie<strong>der</strong> den Faden<br />

auf, den Heikes Mutter gerade gesponnen und fallen gelassen hatte. „Keine Frage ist zu<br />

dumm. Schade ist nur, wenn man Fragen vergisst. Sie haben ja selbst gesehen, dass ich mir<br />

Notizen gemacht habe, als ihr Mann am Anfang die Entdeckungsgeschichte erzählte.“<br />

„Ich wollte nicht fragen, was Sie gerade aufgeschrieben haben, Herr Dr. Brenner.“ Elke<br />

errötete leicht. „So indiskret wollte ich nicht sein.“<br />

Dr. Brenner lachte und mit ihm Wolfgang, denn er kannte seinen Vater. „Ich habe vorhin<br />

die Entdeckungsgeschichte kurz notiert. Auch die kann unter Umständen bei <strong>der</strong> Transkription<br />

<strong>der</strong> Texte bzw. bei <strong>der</strong> weiteren Auswertung wichtig werden.“<br />

„Sie denken aber an alles“, sagte Heinz mit einem nicht überhörbaren Unterton des<br />

Wohlwollens, das entsteht, wenn jemand sich überzeugen lässt.<br />

„Das bringt mein Beruf mit sich, Herr Markert“, entgegnete Dr. Brenner.<br />

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagte Wolfgang und lächelte seinem Vater zu. Heike beobachtete<br />

ihn aufmerksam. Ihr entging nichts, was ihr Freund heute sagte und wie er es sagte.<br />

„Also dann: Trinken wir auf das Gelingen des Unternehmens ...“ Heinz hob sein Bierglas.<br />

„Wie könnten wir es nennen?“ fragte er in die Runde, sich selbst unterbrechend.<br />

„... des Unternehmens „Elfriede“, rief Heike spontan.<br />

Heinz, <strong>der</strong> sein Glas etwas sinken ließ, hob es wie<strong>der</strong> an und brachte den Toast aus: Trinken<br />

wir auf das Gelingen des Unternehmens „Elfriede Seiffert“! Prost!“<br />

Alle prosteten sich zu, ohne Unterschied ob jemand Bier o<strong>der</strong> Mineralwasser trank. Man<br />

diskutierte noch eine geraume Weile und trennte sich schließlich, als die Uhr kurz vor zehn<br />

zeigte. Heike fuhr mit Wolfgang und Dr. Brenner nach Erlangen zurück. Elke und Heinz<br />

schlen<strong>der</strong>ten Richtung U-Bahnhof Opernhaus.<br />

„Na, ich bin ja gespannt, was bei <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Tagebucheintragungen herauskommt“,<br />

begann Heinz. „Ich glaube, Heike macht sich da viel zu große Hoffungen auf irgendein<br />

Geheimnis. Deine Großmutter hat eben gerne in ihr Tagebuch geschrieben. Das machen<br />

Tausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen. Und letztendlich sind die beiden<br />

Koffer und damit die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> schlichtweg in Vergessenheit geraten. Was ist<br />

schon dabei?“<br />

„Ein bisschen komisch ist es schon“, entgegnete Elke, „dass meine Mutter sich nicht an<br />

mehr erinnern kann. Sie und ihre Mutter müssten doch über den Inhalt <strong>der</strong> Koffer gesprochen<br />

haben. O<strong>der</strong> sollte meine Großmutter die Tagebücher und Briefe meiner Mutter doch verheimlicht<br />

haben?“<br />

95


Heinz schwieg. Er nahm Elkes linke Hand. Sie sah ihn kurz an und die beiden schlen<strong>der</strong>ten<br />

weiter durch die milde Augustnacht. In ihren Köpfen spukte noch manche Frage wegen<br />

<strong>der</strong> Tagebücher herum, aber diese blieben zunächst ungestellt, denn viel zu viel war noch reine<br />

Spekulation. Man musste erst die Tagebuchtexte lesen, sie vielleicht sogar studieren, um<br />

irgendwelche Schlüsse daraus ziehen zu können.<br />

Nach wenigen Minuten erreichten Elke und Heinz den U-Bahnhof. Dort brauchten sie<br />

nicht lange warten. Es blieb ihnen daher überhaupt keine Zeit, über diesen Abend weiter<br />

nachzudenken. Wortlos, aber immer noch Hand in Hand stiegen sie in den in rot gehaltenen<br />

U-Bahnwagen ein. <strong>Die</strong> Schiebetüren fielen zu und ab ging die Fahrt durch das Dunkel <strong>der</strong><br />

Röhre.<br />

Heike wachte auf mit einem Gefühl <strong>der</strong> Erleichterung. Sie konnte es sich nicht recht erklären,<br />

aber sie war froh, dass die schriftlichen Aufzeichnungen ihrer Großmutter in guten Händen<br />

waren. Nun sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis sie an ihrem Rechner lesen konnte,<br />

was vor mehr als fünfundachtzig Jahren geschrieben worden war. Sie stand auf und ging<br />

ins Bad. Vorher setzte sie ihre Kaffeemaschine in Gang. Ohne dieses dunkle Gebräu wollte<br />

sie den Tag nicht beginnen. Heike hatte sich für diesen Tag nichts Beson<strong>der</strong>es vorgenommen,<br />

nur eines wollte sie tun: Sie wollte das Geburtsdatum ihrer Großmutter überprüfen, so wie es<br />

am Abend Dr. Brenner vorgeschlagen hatte.<br />

<strong>Die</strong> Sonne schien schon durch das Fenster, als Heike sich gemütlich an den Frühstückstisch<br />

setzte und begann, ein Marmeladenbrot zu streichen.<br />

‚Fahre ich mit dem Auto o<strong>der</strong> mit dem Zug nach Fürth?’ fragte sie sich. ‚Ich muss einmal<br />

nachsehen, wo das Standesamt in Fürth ist. Wenn es in <strong>der</strong> Nähe des Hauptbahnhofes ist, wird<br />

es günstiger sein, wenn ich mit meiner Studentenkarte den Zug nehme.’<br />

Heike stand vom Frühstückstisch auf und suchte das Telefonbuch, aber in diesem waren<br />

nur die Teilnehmer von Erlangen und Umgebung.<br />

‚Da werde ich wohl schnell im Netz nachsehen müssen’, dachte sie bei sich und ging zum<br />

Rechner hinüber, <strong>der</strong> neben ihrem Schreibtisch auf einem Bord stand. Sie schaltete das Gerät<br />

ein und nach wenigen Minuten war ihre Entscheidung gefallen: Sie wollte mit dem Zug nach<br />

Fürth fahren, denn das Standesamt, so hatte es sich herausgestellt, war in einem Nebenflügel<br />

des Rathauses beheimatet, welches zu Fuß in wenigen Minuten vom Hauptbahnhof in Fürth<br />

bequem erreichbar war.<br />

Eine Viertelstunde später war Heike auf dem Weg zum Bahnhof. Sie werde schon irgendeinen<br />

Zug erreichen, hatte sie sich gesagt. Und außerdem komme es in den Semesterferien<br />

nicht gerade auf jede Minute an.<br />

Fröhlich vor sich hinsummend, fast ein wenig übermütig ging sie die Straßen entlang. Den<br />

Weg war sie seit den letzten Jahren immer wie<strong>der</strong> gegangen. Sie kannte sich aus, wusste wie<br />

sie über einige Schleichwege noch schneller zum Bahnhof kommen konnte, <strong>der</strong> nur wenige<br />

Schritte vom Stadtzentrum, dem Hugo, wie er im Volksmund genannt wurde, entfernt war.<br />

Gute zwanzig Minuten ging Heike, dann war ihr erstes Ziel des Tages erreicht. Und sie<br />

hatte Glück, denn sie erwischte einen Zug, <strong>der</strong> nicht an jedem Haltepunkt zwischen Erlangen<br />

und Fürth hielt. Weitere zwanzig Minuten später stieg sie in Fürth aus und suchte nach einem<br />

Stadtplan, denn hier in Fürth war sie nur selten und hatte die Wege nicht im Kopf.<br />

Es dauerte einige Augenblicke, dann erspähte Heike in <strong>der</strong> Bahnhofshalle einen Stadtplan.<br />

Sie studierte ihn ausgiebig und prägte sich den kürzesten Weg zum Rathaus ein. Sie wollte<br />

sich gerade umdrehen und zum Ausgang gehen, als sie hinter sich eine Männerstimme und<br />

Schritte vernahm, die näher zu kommen schienen: „Na, Fräulein Markert, wohin des Wegs?“<br />

96<br />

21


Heike zuckte leicht zusammen. Es war bisher nur ein paar Mal vorgekommen, dass sie<br />

von hinten angesprochen wurde. Sie drehte sich schnell um und versuchte so normal zu sprechen,<br />

wie es die Situation erlaubte. Vor ihr stand ein schlanker Mann mit dunklem Dreitagebart,<br />

<strong>der</strong> vom Alter her gesehen kein Student mehr sein konnte, aber auch nicht den Anschein<br />

eines seriösen Wissenschaftlers hatte. Sie kannte ihn nicht.<br />

„Ich kenne Sie nicht“, sagte Heike mit betont fester Stimme. „Woher wissen Sie ...“<br />

„Entschuldigen Sie“, unterbrach sie <strong>der</strong> Fremde, „ich habe Sie gestern Abend zusammen<br />

mit Dr. Brenner in Nürnberg gesehen.“<br />

„Und woher wissen Sie meinen Namen und wie heißen Sie überhaupt?“ Heike wurde böse.<br />

Der Fremde lächelte hintergründig. „Mein Name ist Harald Grattler und ich arbeite im<br />

selben Institut wie Dr. Brenner ...“<br />

„Dann hat Ihnen Dr. Brenner von mir erzählt?“ Heike atmete erleichtert auf.<br />

„Ja, vor etwa einer halben Stunde.“ Wie<strong>der</strong> lächelte Harald Grattler Heike auf eine Weise<br />

an, die ihr Angst machte. „Und was machen Sie in Fürth?“<br />

Der son<strong>der</strong>bare Kollege von Wolfgangs Vater ließ anscheinend nicht locker und wollte<br />

wissen, was Heike nach Fürth führte. Instinktiv fühlte Heike, das sie diesen ihr äußerst unangenehm<br />

erscheinenden Zeitgenossen nicht abschütteln konnte, wenn sie ihm die Antwort<br />

verweigerte<br />

„Ich will nur eine alte Freundin aus meiner Schulzeit besuchen“, log Heike Harald<br />

Grattler an. „Sie ist erst vor kurzem nach hier umgezogen und ...“<br />

„Na dann wünsche ich noch einen schönen Tag“, unterbrach Heikes Gegenüber kurz angebunden,<br />

drehte sich zur Seite, hob kurz grüßend die Hand und war genau so schnell in <strong>der</strong><br />

Menge verschwunden, aus <strong>der</strong> er plötzlich dieser aufgetaucht war.<br />

Heike schüttelte den Kopf. Etwas verwirrt schaute sie noch mal auf den Stadtplan. Sie hatte<br />

ein ungutes Gefühl, konnte sich ihre innere Unruhe aber nicht erklären.<br />

‚Ich denke, das Beste wird sein: Ich gehe jetzt ganz ruhig ins Standesamt und denke nicht<br />

mehr an diesem komischen Kerl’, dachte Heike bei sich. Gefasst marschierte sie los.<br />

Das Standesamt in Fürth war in einem Nebengebäude des Rathauses untergebracht. Es<br />

war ein nicht gerade ansehnlicher Bau, etwas renovierungsbedürftig, aber durchaus noch so<br />

gut erhalten, um seiner Funktion zu genügen. Heike fasste den polierten Messinggriff <strong>der</strong> Türe<br />

und gelangte einige Stufen aufwärts gehend in einen Korridor, von dem rechts und links<br />

altehrwürdige Türen in die Amtsstuben führten. Sie fühlte sich ein wenig an das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

erinnert, zumindest wenn sie die Umgebung mit alten Abbildungen in Bildbänden verglich.<br />

Heike schaute rechts und links an die Türschil<strong>der</strong>. Bei <strong>der</strong> letzten Tür links war sie endlich<br />

am Ziel. Sie klopfte. Niemand antwortete. Mutig öffnete sie die quietschende Tür und sah<br />

sich vor einem Tresen aus klarlackiertem Holz, <strong>der</strong> in U-Form den Blick in den <strong>Die</strong>nstraum<br />

freigab, von dem aus links eine Türe in einen dahinterliegenden Raum führte. <strong>Die</strong>se stand<br />

offen und Heike hörte jetzt gedämpfte Stimmen aus dem Nebenraum. Sie räusperte sich bewusst<br />

laut.<br />

„Grüß Gott!“ Der Gruß verfehlte seine Wirkung nicht.<br />

„Ich komme gleich“, tönte eine kräftige Frauenstimme aus dem Nebenzimmer.<br />

Es dauerte keine Minute, dann erschien eine kleine, aber dennoch stattlich anzusehende<br />

Frau und lächelte Heike an.<br />

„Sie wünschen?“ fragte die Bedienstete.<br />

„Ich möchte gerne eine Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde einer meiner Urgroßmütter?“ Heikes<br />

Stimme klang etwas belegt. <strong>Die</strong> Situation war für sie neu. Ihr Mund wurde fast schlagartig<br />

trocken.<br />

97


„In welcher Angelegenheit brauchen Sie die Urkunde?“ fragte die kleine, stämmige Frau<br />

hinter dem Tresen, dessen Oberfläche aus einem glatten, grünen Material bestand, das in das<br />

Holz eingelassen war.<br />

„Ich erforsche meine Vorfahren.“ Heikes Stimme festigte sich.<br />

„Ah, dann sind sie Ahnenforscherin“, rief die Bedienstete erfreut. Heike nickte. Sie war<br />

erstaunt, wie sich die Miene <strong>der</strong> Frau hinter <strong>der</strong> Besucherbarriere schlagartig aufhellte.<br />

„Von welchem Ihrer Großeltern ist dies die Mutter?“<br />

Heike war über die Frage etwas überrascht, fasste sich schnell und lächelte die Frau an.<br />

„Es ist die Mutter meiner Großmutter mütterlicherseits“, erklärte sich Heike.<br />

„Dann sind Sie in direkter Linie mit ihr verwandt und haben auch einen Anspruch auf eine<br />

Kopie“, entgegnete die Bedienstete. „Wie heißt denn ihre Großmutter und wann ist sie geboren?“<br />

„Meine Großmutter hieß mit Mädchennamen Elfriede Seiffert und ist am 17. Mai 1897<br />

hier in Fürth geboren.“ Heike fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte ihr Anliegen vorgebracht.<br />

„Na, dann wollen wir einmal im Geburtenregister von 1897 suchen“, sagte die Frau hinter<br />

dem Tresen, drehte sich um und ging zu einem Regal an <strong>der</strong> rechten Seite des Raumes, in<br />

dem viele Bücher mit schwarzen Rücken standen. Heike konnte aus <strong>der</strong> Entfernung gerade<br />

noch die Zahlen erkennen, die mit schnörkeliger Schrift auf Etiketten geschrieben standen, die<br />

auf den schmalen Buchrücken klebten.<br />

<strong>Die</strong> Bedienstete holte einen schmalen Band aus dem Regal und legte ihn auf einen<br />

Schreibtisch neben <strong>der</strong> Regalwand, <strong>der</strong> außer einer Schale mit Stiften und einer grünen<br />

Schreibunterlage nichts beherbergte. Sie blätterte eine Weile, suchte Spalten ab, blätterte eine<br />

Seite vor und suchte weiter. Auf einem Punkt blieben ihre Augen stehen. Hatte sie gefunden<br />

was Heike suchte? War Elfriede Seiffert im alphabetischen Register aufgetaucht? Heike wurde<br />

etwas nervös, aber das merkte Frau Ebner, die Standesamtangestellte, nicht. Sie war es<br />

gewohnt, in alten Registern mit deutscher Schrift zu suchen.<br />

Heike wurde immer nervöser, wollte aber nicht ungeduldig erscheinen und stand weiter<br />

scheinbar ruhig am Tresen. Frau Ebner suchte immer noch in dem Registerband. Wie<strong>der</strong> blieben<br />

ihre Augen auf einer Zeile stehen. Sie nahm einen Zettel aus einen alten, kleinen Holzkästchen,<br />

das auf dem Schreibtisch gegenüber stand und notierte sich etwas. Ohne ihre Besucherin<br />

weiter zu beachten, ging sie ins Nebenzimmer. Heike hörte wie sie zu einem dort Anwesenden<br />

etwas sprach, konnte aber nicht verstehen, um was es sich handelte.<br />

Nach etwa drei Minuten, Heike schien es wie eine kleine Ewigkeit, kam Frau Ebner wie<strong>der</strong><br />

ohne den Zettel in das Besucherzimmer zurück und lächelte Heike an.<br />

„Ihre Angaben über den Geburtstag ihrer Urgroßmutter waren richtig“, begann die Bedienstete.<br />

„Es dauert noch einen kleinen Moment bis die Fotokopie gemacht ist und bis <strong>der</strong><br />

Standesbeamte unterschrieben hat.“<br />

„Warum muss die Kopie unterschrieben werden?“ Heike sah Frau Ebner ungläubig an.<br />

„Sie bekommen von uns eine beglaubigte Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde und ich bekomme<br />

von Ihnen 5 Euro Gebühr.“<br />

„Ah, ja, natürlich.“ Heike fühlte sich zwar etwas überfahren, aber für die Erforschung ihrer<br />

Vorfahren wollte sie alles tun. <strong>Die</strong>s hatte sie sich fest vorgenommen.<br />

Heike holte ihre Geldbörse aus <strong>der</strong> Tasche hervor und entnahm ihr einen Fünfeuroschein,<br />

den sie immer als „graue Maus“ bezeichnete, und gab ihn Frau Ebner. „<strong>Die</strong> Quittung über die<br />

Gebühr ist auf <strong>der</strong> Rückseite <strong>der</strong> beglaubigten Kopie“, erklärte diese.<br />

„Ist schon in Ordnung“, gab Wolfgangs Freundin zurück. „Für die Erforschung meiner<br />

Vorfahren ist mir die Gebühr nicht zu teuer.“<br />

Frau Ebner lächelte Heike an und verschwand wie<strong>der</strong> im Nebenzimmer, wo sie den Geldschein<br />

in eine Geldkassette legte.<br />

Heike hörte wie<strong>der</strong> Stimmen im Nebenraum. Es dauerte noch eine geraume Zeit, dann erschien<br />

die Bedienstete wie<strong>der</strong>, in <strong>der</strong> Hand ein Stück Papier, kleiner als ein Briefbogen , aber<br />

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etwas größer als ein kleines Schulheft. Es hatte ein eigenartig längliches Format, eine Größe,<br />

die sie so noch nie gesehen hatte.<br />

„So, hier ist Ihre Geburtsurkunde“, sagte die Bedienstete und gab Heike die beglaubigte<br />

Kopie. „Einen schönen Tag noch! Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ Heike war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als dass sie im<br />

Moment mehr als diese Grußformel sagen konnte. Sie schaute kurz auf die Kopie und erschrak.<br />

Es war ein Formular, welches mit alter Schrift ausgefüllt worden war. Einige Zeilen<br />

waren durchgestrichen, an<strong>der</strong>es dazwischen ergänzt. Soviel sah sie jetzt, aber die Schrift<br />

konnte sie nicht entziffern.<br />

Vorsichtig steckte Heike die Geburtsurkunde in ihre Tasche zu den Papieren, die sie ständig<br />

bei sich trug, und blickte sich noch einmal im Raum um. <strong>Die</strong> Bedienstete war wie<strong>der</strong> in<br />

den Nebenraum gegangen. Heike stand alleine in dem Besucherzimmer und sah auf das Fenster.<br />

Erst jetzt bemerkte sie, dass es mit einem altmodisch geschwungenen Gitter versehen war.<br />

Plötzlich merkte Heike, dass ihr dieser Raum des Standesamtes nicht nur ein wenig antiquiert,<br />

son<strong>der</strong>n fast unheimlich vorkam. <strong>Die</strong> Bedienstete hatte sich zwar bemüht, freundlich<br />

zu sein, doch irgend ein Rest eines gewissen unausgesprochenen Vorurteils gegenüber Familienforschern<br />

von Seiten <strong>der</strong> Bediensteten schwang über allem immer mit. Heike konnte sich<br />

ihr Gefühl nicht erklären, zu neu waren noch die Eindrücke <strong>der</strong> letzten Minuten. Und warum<br />

in aller Welt hatte man das Amt hinter vergitterten Fenstern untergebracht? Sie kam sich fast<br />

vor wie in einem Gefängnis. Der Fluchttrieb wurde schlagartig in ihr geweckt.<br />

‚Nur fort von hier!’, dachte Heike und ging zu <strong>der</strong> Türe, die eigenartigerweise jetzt nicht<br />

quietschte, als sie geöffnet wurde. Hastig eilte Heike den dunklen Korridor entlang und<br />

sprang fast die Treppe hinunter.<br />

‚Endlich bin ich weg von diesem Ort.’ Heike hörte, wie ihr Blut in den Ohren rauschte.<br />

‚Ich möchte hier nicht arbeiten’, dachte sie bei sich, öffnete die Haustüre und bog nach rechts<br />

in den Gehsteig ein. Eiligen Schrittes schlug sie den Weg zurück zum Hauptbahnhof ein. Heike<br />

war in ihren Gedanken versunken. Sie konnte nicht merken, dass sie von <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Straßenseite beobachtet wurde.<br />

Dr. Brenner kam etwas später als sonst ins Institut für Neuere Geschichte und beeilte sich,<br />

in sein Büro zu gehen. Auf dem Flur sah er niemanden. In <strong>der</strong> rechten Hand trug er wie üblich<br />

seinen anthrazitfarbenen Koffer, in <strong>der</strong> linken Hand eine Stofftasche, die mit sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>n<br />

gefüllt war. Er schloss sein Büro auf. Alles lag so da, wie er es gestern verlassen<br />

hatte. Dr. Brenner legte seinen Aktenkoffer auf seinen üblichen Platz, einem Aktenbock mit<br />

Rollen. <strong>Die</strong> Stofftasche stellte er zunächst auf die dunkelbraune Schreibunterlage, die er jeden<br />

Tag abends von Papieren freiräumte, denn er konnte es nicht leiden, auf <strong>der</strong> einzigen Schreibfläche<br />

im Büro am Morgen irgendwelche Papiere liegen zu sehen und seien sie noch so geordnet.<br />

Kaum hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und wollte seine zusätzliche Fracht auspacken,<br />

da klingelte das Telefon. Dr. Brenner nahm den Hörer ab und meldete sich. Am an<strong>der</strong>en<br />

Ende war ein Kollege, den er als Wissenschaftler sehr schätzte.<br />

„Ach so! Hm, ja! Sie können heute nicht kommen, Herr Grattler.“ Es entstand eine kurze<br />

Pause. „Aber Ihnen geht’s gut?“<br />

„Danke, ich fühle mich wohl, muss aber heute etwas unerwartet Dringendes erledigen,<br />

Herr Dr. Brenner“, antwortete Harald Grattler.<br />

„Na, dann tun Sie das! Ich sage im Sekretariat Bescheid, dass Sie heute einen Tag Urlaub<br />

nehmen wollen.“ Damit war das Telefongespräch beendet. Dr. Brenner rief noch schnell bei<br />

99<br />

22


<strong>der</strong> Sekretärin seines Chefs, Prof. Pre<strong>der</strong>sen, an, dann packte er die sechs Tagebücher aus <strong>der</strong><br />

Stofftasche aus und legte sie auf einen freien Platz.<br />

Zunächst ging er seinem Tagesgeschäft nach. Erst nach <strong>der</strong> Kaffeepause, in <strong>der</strong> sich die<br />

meisten Institutsmitglie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Pausenecke trafen, ergriff er jede einzelne <strong>der</strong> sechs Wachstuchkladden,<br />

untersuchte sie eingehend von außen, schlug jeweils die erste Seite auf und sortierte<br />

ihre Reihenfolge neu. Dann legte er den neu gebildeten Stapel wie<strong>der</strong> auf seinen Platz.<br />

Dr. Brenner überlegte eine Weile. ‚Sollte ich mit dem ältesten, dem Jugendtagebuch anfangen<br />

o<strong>der</strong> mit einem an<strong>der</strong>en?’, fragte er sich. ‚Sicherlich wären die späteren Tagebücher mit Sicherheit<br />

interessanter, aber vielleicht nimmt sie in ihren späteren Aufzeichnungen Bezug zu<br />

früheren Eintragungen, denn man muss zunächst einmal davon ausgehen, dass Elfriede Seiffert<br />

in ihren späteren Jahren in ihren frühen Tagebüchern gelesen hat. Je<strong>der</strong> Mensch will sich<br />

erinnern, wenn er älter wird. Und was gibt es Besseres, als sich durch das Lesen seiner Tagebücher<br />

zu erinnern?’<br />

Dr. Brenner schwankte noch über die Art und Weise, wie er die Tagebücher lesen wollte,<br />

entschied sich aber dann doch, die <strong>Wachstuchhefte</strong> chronologisch aufzuarbeiten. Da seine<br />

Hilfskraft Frau Beck an diesem Tag nicht im Institut war, entschloss er sich, zunächst selbst<br />

den Text in den Rechner zu übertragen. Vielleicht war es dann für seine wissenschaftliche<br />

Hilfskraft leichter, sein begonnenes Werk fortzusetzen, in dem er ihr den Text direkt in die<br />

Maschine diktierte. Vorsichtig schlug er die erste Seite des Heftes auf, welchen in dem Stapel<br />

zu oberst lag, und las ...<br />

Es ging schon gegen drei Uhr nachmittags, als Dr Brenner endlich begann, die ersten Seiten<br />

des Tagebuches von Elfriede Seiffert in den Rechner zu tippen. Tief hatte er sich eingelesen<br />

in das Leben <strong>der</strong> Schreiberin, die einen Tag vor ihrem ... Geburtstag begonnen hatte, ein<br />

Tagebuch zu führen. Über den Grund, warum die Großmutter von Elke ein Tagebuch begonnen<br />

hatte, dachte Dr. Brenner nicht weiter nach. Er wollte die Texte so schnell wie möglich<br />

im Rechner gespeichert sehen, damit die Freundin seines Sohnes und <strong>der</strong>en Eltern lesen konnten,<br />

welche Ängste und Freuden ihre Vorfahren so bewegt hatten, dass Elfriede sie ihrem Tagebuch<br />

anvertraute.<br />

Dr. Brenner mochte wohl eine knappe Stunde am Rechner gearbeitet haben, als etwa 15<br />

Minuten vor vier Uhr das Telefon läutete. Er ließ das ihm wohlvertraute Klingelsignal dreimal<br />

ertönen und nahm dann den Hörer ab.<br />

„Brenner“, meldete er sich kurz.<br />

„Hier ist Elke Markert“, meldete sich die Stimme am an<strong>der</strong>en Ende. „Ich wollte Ihnen nur<br />

sagen, das Heike heute Vormittag die Geburtsurkunde meiner Großmutter vom Standesamt<br />

Fürth bekommen hat.“<br />

„Das ist ja wun<strong>der</strong>bar, Frau Markert“, entgegnete Dr. Brenner. „Dann stimmt ja die Angabe,<br />

die Ihre Großmutter auf <strong>der</strong> ersten Seite des ältesten Heftes gemacht hatte.“<br />

„Es gibt jetzt lei<strong>der</strong> aber nur ein Problem: Wir haben Schwierigkeiten, die Urkunde zu lesen,<br />

weil ...“<br />

„... weil sie ebenfalls in Deutscher Schrift geschrieben ist“, unterbrach Dr. Brenner.<br />

„Genau!“ Elkes Stimme klang etwas flehentlich.<br />

„Das wird das generelle Problem bleiben“, dozierte Wolfgangs Vater, ohne auf die noch<br />

unausgesprochene Bitte einzugehen, die in Elkes Stimme mitschwang. „Ich kann Ihnen nur<br />

raten, die alte Schrift zu schreiben. Dabei lernt man sie am schnellsten.“<br />

„Sie haben recht, Herr Dr. Brenner“, entgegnete Elke. „Aber unsere Neugier ist jetzt riesengroß.<br />

Nicht nur Heike möchte die Urkunde so schnell wie möglich vollständig lesen.“<br />

„Schicken Sie mir doch eine Fotokopie von <strong>der</strong> Geburtsurkunde, Frau Markert“ Dr. Brenner<br />

wusste, worauf Heikes Mutter hinaus wollte. „Dann kann ich Ihnen spätestens übermorgen<br />

den Text telefonisch mitteilen.“<br />

„Das ist ein guter Vorschlag, Herr Dr. Brenner“, willigte Elke ein. „Morgen haben Sie eine<br />

Kopie davon.“<br />

100


„Gut, machen Sie das.“ Dr. Brenners Stimme klang ruhig und gelassen. „Übrigens Fr.<br />

Markert: Ich habe schon ein paar Seiten aus dem ältesten Tagebuch abgeschrieben.“<br />

„Vielen Dank!“ Elkes Dank war tief empfunden. „Können Sie die Schrift einigermaßen<br />

lesen?“<br />

„Das ist bisher kein Problem, Frau Markert. Noch schreibt Ihre Großmutter mit gut lesbarer<br />

Schülerhandschrift.“ Dr. Brenner wollte zum Ende des Telefonates kommen. Elke schien<br />

dies zu spüren und verabschiedete sich am Telefon.<br />

„Jetzt möchte ich Ihnen aber nicht länger die Zeit stehlen, Herr Dr. Brenner. Wir hören ja<br />

wie<strong>der</strong> von einan<strong>der</strong>.“<br />

„Gut, Frau Markert“, entgegnete Wolfgangs Vater. „Schönen Tag noch!“<br />

Elke legte den Hörer ganz vorsichtig auf die Gabel, als wollte sie den Apparat schonen.<br />

Sie war Dr. Brenner ja so dankbar, dass er die mühevolle Aufgabe übernommen hatte, die<br />

vielen Seiten in lesbare Schrift zu überführen.<br />

„Heinz!“ rief sie in Richtung Wohnzimmer, in dem es sich ihr Mann gemütlich gemacht<br />

hatte. „Könntest Du noch mal schnell zum Kopierladen gehen und eine Fotokopie <strong>der</strong> alten<br />

Geburtsurkunde machen?“<br />

„Hast du keine Zeit dafür?“ fragte <strong>der</strong> Angerufene „Ich wollte heute eigentlich nicht mehr<br />

ausgehen, denn ich habe mich schon umgezogen.“<br />

Elke eilte ins Wohnzimmer. „Aber Heinz!“ sagte sie und runzelte die Stirn. „Ist dir meine<br />

Großmutter so wenig wert?“<br />

„Ich verstehe schon. Aber warum brauchst du eine Fotokopie <strong>der</strong> Urkunde, die uns Heike<br />

heute Mittag gebracht hat?“ Heinz blickte von seinem Buch auf, legte dieses langsam auf den<br />

Tisch und setzte seine Lesebrille ab, die jetzt an einem Bändchen um seinen Hals baumelte.<br />

„Nicht ich brauche eine Kopie, son<strong>der</strong>n Dr. Brenner.“ Elkes Stimme nahm jetzt einen<br />

nachdrücklicheren Ton an. „Er will uns helfen, die Geburtsurkunde meiner Großmutter vollständig<br />

zu entziffern.“<br />

„Ich glaube, jetzt ist das Familienforschungsfieber ausgebrochen.“ Wi<strong>der</strong>willig stand<br />

Heinz auf und ging in die Essdiele, wo seine Schuhe standen. „Aber umziehen werde ich<br />

mich jetzt nicht.“<br />

Elke schwieg. Sie kannte ihren Göttergatten und wusste, das er sich ärgerlicher gab als er<br />

in Wirklichkeit war. Wortlos ging sie zurück in die Küche, um dort das aus <strong>der</strong> Maschine entnommene<br />

Geschirr wie<strong>der</strong> in den Einbauschränken zu verstauen.<br />

Heinz brauchte keine Jacke anzuziehen, denn dieser Augustnachmittag war mild und<br />

warm. Das Thermometer am Küchenfenster zeigte 23°C.<br />

Etwas missgelaunt trottete Heinz in Richtung des Kopierladens, in dem er schon die Kopien<br />

<strong>der</strong> Tagebücher gezogen hatte. In seinen Händen hielt er die beglaubigte Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde<br />

von Elfriede Seiffert. Sie war in <strong>der</strong> Mitte zusammengefaltet. Von außen konnte<br />

man nicht sehen, war dieses unscheinbare Stück Papier beinhaltete. Heinz hatte nur einen<br />

kurzen Blick darauf geworfen und versucht einige Worte zu entziffern, hatte aber schnell aufgegeben,<br />

den Versuch fortzusetzen, zu krakelig war die Urkunde in seinen Augen geschrieben.<br />

Konnte er sonst die alte Schrift nur äußerste mühsam lesen, selbst wenn sie nach allen<br />

Regeln <strong>der</strong> Schreibkunst geschrieben worden war.<br />

‚Was ist nur in Heike und Elke gefahren’, dachte er bei sich und ging über die schmale<br />

Nebenstraße, die zu <strong>der</strong> etwas stärker befahrenen führte, in welcher <strong>der</strong> Kopierladen lag. ‚Sie<br />

sind ja ganz wild zu erfahren, wer die Eltern ihrer Urgroß- bzw. Großmutter waren. Was hat<br />

das denn mit den Tagebüchern zu tun? Ich verstehe die Zusammenhänge nicht. Dr. Brenner<br />

hat sich gestern Abend da auch nicht so klar ausgedrückt. O<strong>der</strong> hatte ich zu dieser Zeit schon<br />

zu viele Bierchen getrunken?’<br />

Nach wenigen Minuten erreichte Heinz den Kopierladen, in dem sich heute wenige Kunden<br />

aufhielten, wie es ihm schien.<br />

101


„Bitte eine Kopie von diesem hier“, sagte er mit einem mürrischen Unterton zu <strong>der</strong> jungen<br />

Frau, die heute hinter <strong>der</strong> Ladentheke stand. <strong>Die</strong> nicht unattraktive junge Dame nahm die Geburtsurkunde<br />

und entfaltete sie zu ihrer ganzen Größe.<br />

„O, das ist aber ein ganz ungewöhnliches Format!“, rief sie erstaunt aus. „Ich will einmal<br />

sehen, ob ich die Seite auf A4 drauf bekomme, sonst müsste ich sie ein wenig verkleinern.“<br />

„Verkleinern Sie nur!“ Heinz war alles recht, wenn es nur schnell gehen würde. Er wollte<br />

so schnell wie möglich wie<strong>der</strong> zurück in <strong>der</strong> Wohnung sein, wo er sich dem süßen Nichtstun<br />

hingeben wollte.<br />

<strong>Die</strong> junge Frau ging an eine <strong>der</strong> Kopiermaschinen, die gerade frei war, und legte die Kopie<br />

<strong>der</strong> Geburtsurkunde auf die Glasfläche. „Es passt gerade noch auf A4“, rief sie Heinz zu.<br />

Der nickte nur. <strong>Die</strong> Klappe wurde zugeklappt, ein grüner Knopf gedrückt und zehn Sekunden<br />

später kam die junge Frau an die Ladentheke zurück, an <strong>der</strong> Heinz stehen geblieben war.<br />

„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“ Erwartungsvoll blickte die junge Frau Heinz an.<br />

„Nein danke! Wie viel macht’s?“ Heinz klang immer noch kurz angebunden.<br />

„Dann bekomme ich von Ihnen 10 Cent“, entgegnete die junge Frau und lächelte Heinz<br />

an. <strong>Die</strong>ses merkte er nicht, son<strong>der</strong>n fingerte eine Zehncentmünze aus seiner Geldbörse hervor,<br />

nahm die Kopie <strong>der</strong> Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde in Empfang, nickte kurz zum Gruß und verließ<br />

wortlos den Laden.<br />

„Du bist aber schnell zurück“, sagte Elke, als Heinz in den Flur <strong>der</strong> Wohnung trat.<br />

„Ich wollte schnell zurück sein“, entgegnete Heinz mürrisch, „denn ich will für den Rest<br />

des Tages meine Ruhe haben.“<br />

„Was hast Du denn?“ Elkes Frage klang ein wenig besorgt. „Ist Dir nicht gut, Heinz?“<br />

„Mir ist nicht schlecht“, antwortete Heinz und versuchte seiner Stimme wie<strong>der</strong> einen<br />

freundlicheren Klang zu geben. „Ich hatte nur keine Lust, noch einmal außer Haus zu gehen.“<br />

„Das habe ich deutlich gemerkt, Heinz.“ Elke nickte mit dem Kopf<br />

„Mir fällt diese ganze Familienforschung auf den Wecker.“ Heinz machte ein Gesicht, als<br />

hätte er gerade eine halbe Zitrone gegessen. „Warum muss jetzt Heike nach den Eltern ihrer<br />

Großmutter forschen? Was hat das alles mit diesen Tagebüchern zu tun?<br />

„Lass’ sie doch, Heinz!“ entgegnete Elke ruhig. „Wenn es ihr Spaß macht, soll sie doch<br />

nach ihren Vorfahren forschen. Es ist doch keine Sünde, wenn man wissen will, wann, wo<br />

und wie seine Vorfahren gelebt und gearbeitet haben.“<br />

„Sünde!“ Heinz hob verächtlich seine Augenbrauen. „Du siedelst das alles ein wenig hoch<br />

an.“<br />

„Na ja, vielleicht hätte ich besser Schande sagen müssen“, entschuldigte sich Elke. „Aber<br />

ich finde trotzdem, dass Heike ruhig ein wenig das Umfeld ihrer Urgroßmutter erkunden sollte.<br />

Und dazu muss sie wissen, wer ihre Eltern waren. Vielleicht lässt sich <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Satz in ihren Tagebüchern dann besser verstehen.“<br />

„Mag ja alles richtig sein“, winke Heinz ab. „Aber ich möchte im Moment mit alle dem<br />

nicht behelligt werden. Mir gehen ganz an<strong>der</strong>e Gedanken im Kopf herum.“<br />

„Welche an<strong>der</strong>en Gedanken denn?“ Elke war erschreckt und überrascht zugleich.<br />

„Ich mache mir ein wenig Sorgen um Heike.“<br />

„Um Heike?“ Elke stand verblüfft da und schüttelte ihren Kopf.<br />

„Ich bin mir nicht so sicher“, begann Heinz, „ob Heikes Freund <strong>der</strong> richtige Umgang für<br />

sie ist. Er bringt sie auf so viele neuen Ideen.“<br />

„Aber das Auffinden <strong>der</strong> Tagebücher hat uns alle auf neue Ideen gebracht.“ Elke musste<br />

lachen. „Sei doch froh, dass Heike einen Freund gefunden hat, dessen Vater uns hilft die Vergangenheit<br />

zu erforschen.“<br />

„Ja, Ja, Du hast ja recht, Elke“, gab Heinz zu. „Aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl dabei,<br />

wenn jetzt Heike neben ihrem Studium noch Familienforschung betreibt. Ich habe eben<br />

Angst, dass sie ihr Studium vernachlässigt.“<br />

102


„Ich habe da keine Angst“, entgegnete Elke. „Heike ist ein vernünftiges Mädel. Und als<br />

Studentin hat sie allemal mehr Möglichkeiten, sich hie und da einen Tag für an<strong>der</strong>e Tätigkeiten<br />

abzuzwacken als später, wenn sie im Beruf steht.“<br />

Heinz schwieg, aber seine Miene verriet, dass seine zurückhaltende Meinung Heikes neuem<br />

Hobby gegenüber noch nicht gewichen war.<br />

Elke betrachtete ihren Mann kurz, dann kam ihr wie<strong>der</strong> das Telefongespräch mit Wolfgangs<br />

Vater in den Sinn. „So und jetzt gib mir die Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde meiner Großmutter,<br />

damit ich sie Dr. Brenner zusenden kann.“ Elke entriss ihrem Mann fast die Kopie,<br />

die er noch immer in seiner rechten Hand hielt.<br />

„Ach so, ja“, sagte Heinz nachdenklich, nachdem Elke bereits einige Schritte in Richtung<br />

Wohnzimmer gemacht hatte, wo sie die Kopie ohne weiteres Schreiben sorgfältig faltete und<br />

in ein Briefkuvert steckte.<br />

„Den Brief bringe ich jetzt selbst zum Briefkasten“, sagte sie mit fester Stimme, nachdem<br />

sie den Briefumschlag zugeklebt hatte.<br />

„Hast Du kein Vertrauen mehr zu mir?“ Heinz’ Frage klang bitter.<br />

„Aber Heinz!“ Elkes Stimme wurde sanft. „Leg’ Dich nur hin! Ich weiß doch, dass Du<br />

heute keine Lust mehr zum Vorgehen hast.“ Dabei ergriff sie ihre Schlüssel und eilte mit dem<br />

Kuvert in Richtung Wohnungstüre.<br />

Heinz sagte kein Wort. Nachdenklich ging er in das Zimmer, das früher Heikes Zimmer<br />

gewesen war und legte sich auf das Sofa. Er hörte noch wie die Wohnungstüre ins Schloss<br />

fiel, dann trat die Stille ein, die er sich für die wenigen restlichen Urlaubstage sehnlichst<br />

wünschte.<br />

„Da sind Sie ja Frau Beck.“, rief Dr. Brenner freudig aus, als er am nächsten Tag gegen<br />

halb neun Uhr vormittags die aparte Erscheinung seiner wissenschaftlichen Hilfskraft durch<br />

die weit offenstehende Bürotüre auf dem Flur vorbeigehen sah. Gabi Beck musste den freudigen<br />

Ausruf von Dr. Brenner gehört haben, denn sie machte kehrt und betrat einen Augenblick<br />

später das Büro.<br />

„Guten Morgen, Herr Doktor“, begrüßte sie Wolfgangs Vater und eilte an den Schreibtisch,<br />

an dem ihr Brötchengeber saß und in seinen Papieren las. „Sie sind heute aber schon<br />

früh hier?“<br />

Ihre Frage war nicht ganz unberechtigt, denn Dr. Brenner erschien im Institut für Neuere<br />

Geschichte üblicherweise meist erst gegen neun Uhr.<br />

„Morgenstund’ hat Gold im Mund“, zitierte Dr. Brenner ein altes Sprichwort. „Guten<br />

Morgen, Frau Beck. Heute habe ich einen Anschlag auf sie vor.“<br />

„So, so, hoffentlich keinen unangenehmen!“ Gabi Beck ließ sich so schnell nicht überrumpeln.<br />

„Das wird sich zeigen.“ Dr. Brenners Stimme klang überraschend fest an diesem Morgen.<br />

Frau Beck zuckte kurz zusammen, fasste sich aber sofort wie<strong>der</strong>. „Ich habe Ihnen doch von<br />

dem kleinen Nebenauftrag erzählt.“<br />

„Welchen?“ Dr. Brenners Hilfskraft wurde neugierig.<br />

„Habe ich es Ihnen noch nicht erzählt?“ Dr. Brenner war sich nicht mehr so sicher, ob er<br />

Frau Beck schon etwas von den Tagebüchern erzählt hatte. „Ich habe eine neue Quelle für<br />

meine Abhandlung entdeckt. Es sind ...“<br />

„... die Tagebücher <strong>der</strong> Urgroßmutter <strong>der</strong> Freundin ihres Sohnes“, unterbrach ihn Gabi<br />

Beck. „Harald, äh ich meine Herr Grattler hat mir vorgestern schon davon erzählt.“<br />

23<br />

103


Dr. Brenner erschrak ein wenig über die Tatsache, dass seine Hilfskraft so viel über sein<br />

Vorhaben wusste.<br />

„Ach ja, ich habe es ja Herrn Grattler irgendwann vorgestern erzählt.“ Dr. Brenner nahm<br />

seinen verlorengegangenen Gesprächsfaden wie<strong>der</strong> auf. „Wir müssen die Quelle, o<strong>der</strong> besser<br />

gesagt: die Quellen erst erschließen und in die heutige Schrift übertragen. Ich finde es zur<br />

Vermeidung von Übertragungsfehlern am besten, wenn man die Texte direkt in den Rechner<br />

tippt. Gestern hab ich schon etwas eingegeben. Sie können daran anknüpfen. Ich werde Ihnen<br />

später aus dem Original diktieren. Doch zunächst müssen wir unser Tagegeschäft erledigen<br />

...“<br />

Dr. Brenner gab Frau Beck einige Papiere, die sie zu bearbeiten hatte. Sie nahm sie wortlos<br />

und ging ins angrenzende kleine Schreibzimmer, ihren etwas einsamen Arbeitsplatz, denn<br />

<strong>der</strong> zweite Schreibplatz ihr gegenüber war seit einiger Zeit verwaist. Dr. Brenner war so in<br />

seine geistige Arbeit vertieft, dass er nicht merkt, wie sich auf Gabi Becks feingeschnittenem<br />

Gesicht eine hoch erfreute Miene breit machte. Jetzt konnte sie bald nicht nur Dr. Brenner bei<br />

seiner Abhandlung helfen, son<strong>der</strong>n vielleicht auch Harald, <strong>der</strong> sie fast magisch anzog.<br />

‚Vielleicht habe ich einen Hang zum Düsteren o<strong>der</strong> gar zum Bösen’, dachte Gabi Beck,<br />

während sie die Schriftstücke, die ihr Dr. Brenner gegeben hatte sorgfältig links neben dem<br />

Monitor ablegte. ‚Aber ich muss Harald helfen, seine dunkle Vergangenheit zu erhellen.’<br />

Sie ging zurück zur Zimmertüre, die noch offen stand, und schloss sie. Dann setzte sie<br />

sich an ihren Schreibplatz und griff zum Telefon, welches auf einem schwenkbaren Arm genau<br />

zwischen den beiden Schreibtischen schwebte.<br />

Sie schwenkte das Telefon zu sich herüber und wählte die Nummer des Apparates, <strong>der</strong> im<br />

Büro von Harald Grattler stand. Sie ließ es mehr als ein halbes Dutzend Mal klingeln, aber es<br />

nahm niemand ab. Enttäuscht legte sie den Hörer wie<strong>der</strong> auf.<br />

‚Wo treibt sich denn Harald wie<strong>der</strong> herum’, dachte sie bei sich. Sie konnte ja nicht wissen,<br />

dass ihr Freund seine Recherchen schon längst aufgenommen hatte und sich an diesem Vormittag<br />

nicht in Erlangen aufhielt.<br />

Dr. Brenner kam erst gegen halb elf Uhr in das Schreibzimmer. Gabi Beck hatte bis dahin<br />

all die Arbeiten erledigt, die ihr Wolfgangs Vater am Morgen zur Erledigung gegeben hatte.<br />

Sie gönnte sich gerade eine kleine Kaffeepause.<br />

„So, Frau Beck“, begann Dr. Brenner. „Wenn Sie alles an<strong>der</strong>e erledigt haben, dann bitte<br />

ich Sie in mein Büro.“<br />

„Alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigt, Herr Doktor.“ Gabi Beck gab Dr. Brenner die<br />

Schreiben, die sie für ihn seit dem Morgen geschrieben hatte. <strong>Die</strong>ser überflog die Seiten mit<br />

geübtem Blick, nickte beifällig und legte sie vor sich auf Gabis Schreibtisch.<br />

„Ich werde sie später nochmals genauer durchsehen.“ Dr. Brenner wusste, dass er sich auf<br />

seine wissenschaftliche Hilfskraft, die eigentlich mehr Schreib- als wissenschaftliche Arbeiten<br />

für ihn verrichtete, verlassen konnte. „Kommen Sie mit, Frau Beck! Jetzt tauchen wir ein in<br />

das Leben <strong>der</strong> Elfriede Seiffert um das Jahr 1913.“<br />

„Ich bin gespannt, was sie geschrieben hat“, sagte Frau Beck, stand auf und trank den letzten<br />

Schluck aus ihrer Kaffeetasse aus. „Ich habe schon immer gerne in veröffentlichten Tagebüchern<br />

gelesen, auch wenn sie wesentlich schwerer zu lesen sind als ein Roman. Aber in<br />

unveröffentlichten ...“<br />

„Nur keine Angst, Frau Beck“, ermunterte Dr. Beck seine Mitarbeiterin. „Aber erwarten<br />

Sie auch nicht zu viel von den Texten. Ich arbeite die Tagebücher chronologisch auf. Und wir<br />

befinden uns im Moment noch im Leben <strong>der</strong> Elfriede Seiffert als sechzehnjähriges Mädchen.“<br />

„<strong>Macht</strong> nichts!“ Gabi Beck folgte Dr. Brenner in dessen Büro, in dem es für einen Außenstehenden<br />

immer etwas wild aussah. Aber für den Historiker lag jedes Buch, jedes Blatt Papier,<br />

je<strong>der</strong> Zettel an seinem richtigen Platz. Jede Stelle des Büros hatte eine bestimmte Bedeutung.<br />

104


„Setzen Sie sich gleich an meinen Rechner!“ for<strong>der</strong>te Dr. Brenner seine Mitarbeiterin auf,<br />

als im Büro ankamen. „ <strong>Die</strong> Datei, in die ich die Texte haben möchte, ist schon geöffnet. Ich<br />

muss nur schnell das richtige Buch herholen.“<br />

Dr. Brenner bot Gabi Beck seinen Schreibtischstuhl an und rückte ihn vor seinen Rechner.<br />

Er selbst holte sich einen an<strong>der</strong>en Stuhl und stellte ihn schräg hinter dem seiner Mitarbeiterin.<br />

Dann kramte er auf seinem Schreibtisch. Als er das Wachstuchheft, aus dem er gestern bereits<br />

einen kleinen Teil des Textes eingegeben hatte, fand, atmete er tief durch und begann in ihm<br />

zu blättern ...<br />

Es dauerte eine Weile bis Dr. Brenner die Stelle im Text gefunden hatte, an dem er am vorigen<br />

Tag die Bearbeitung abgebrochen hatte. Gabi Beck rutschte ungeduldig auf dem Stuhl<br />

hin und her. Dr. Brenner entging dies nicht.<br />

„Noch einen kleinen Moment Geduld, Frau Beck“, sagte er bedächtig. „Ich habe gestern<br />

lei<strong>der</strong> vergessen, ein Buchzeichen ins Heft zu legen.“<br />

„Ich bin nur Ihren Stuhl nicht gewohnt“, entgegnete Gabi Beck ausweichend.<br />

<strong>Die</strong> Uhr im Büro zeigte kurz vor halb zwölf Uhr, als Dr. Brenner begann, langsam aus<br />

dem ersten Tagebuch <strong>der</strong> Elfriede Seiffert zu diktieren. Eigentlich war es kein Diktieren, son<strong>der</strong>n<br />

ein langsames, getragenes Vorlesen, denn auch Dr. Brenner musste die Schrift erst entziffern.<br />

Seine Stimme war leise, aber laut genug, dass es Gabi Beck verstehen konnte.<br />

Freitag, <strong>der</strong> 16. Mai 1913<br />

Morgen ist mein sechzehnter Geburtstag. Vater hat mir erlaubt, dass ich zu meinem Geburtstag<br />

ein paar Freundinnen einladen darf. Ich habe an Hedwig und Elisabeth gedacht,<br />

denen ich sehr nahe stehe. Alle an<strong>der</strong>en kann ich nicht ausstehen. Ich habe überhaupt wenig<br />

Freundinnen. Aber ich bin glücklich, dass ich wenigstens diese beiden habe.<br />

Oft frage ich mich: Bin ich eigentlich ein glücklicher Mensch? Was ist überhaupt Glück?<br />

Es schwirren mir so viele Fragen durch den Kopf, dass mir manchmal richtig schwummerig<br />

wird.<br />

Mutti hat gestern eine etwas geheimnisvolle Bemerkung über meinen Geburtstag gemacht.<br />

Sie meinte, es sei <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Zeit, dass ich mich jetzt langsam auch an<strong>der</strong>en Dingen widmen<br />

sollte. Was für an<strong>der</strong>e Dinge sie wohl gemeint hat?<br />

Langsam muß ich wie<strong>der</strong> aufhören zu schreiben, denn es wird langsam dunkel und es<br />

wird Zeit, ins Bett zu gehen. Aber es bleiben so viele leere Zeilen auf <strong>der</strong> ersten Seite vor mir,<br />

daß mir fast Angst wird, ich könnte die Lust am Schreiben verlieren. Also versuche ich es weiter,<br />

doch zuvor muß ich eine Kerze anzünden.<br />

Es wird so unheimlich still in <strong>der</strong> Wohnung und so dunkel draußen. Ich glaube ich fürchte<br />

mich ein wenig. Aber wovor fürchte ich mich? Ist es die Zukunft, von <strong>der</strong> ich heute nicht weiß,<br />

was sie mir bringen wird?<br />

Ich schreibe in <strong>der</strong> Küche an dem Tisch, an dem wir auch essen. In meiner kleinen Kammer<br />

ist kein Platz für einen Tisch, nur Klaras und mein Bett sowie eine kleine Kommode paßt<br />

hinein.<br />

Gerade war meine Mutter hier und hat mich ermahnt ins Bett zu gehen. Ich mache nun<br />

Schluß für heute, mein liebes, noch fast unbeschriebenes Tagbuch.<br />

Als Harald Grattler etwa gegen zwölf Uhr mittags am Büro von Dr. Brenner vorbeiging,<br />

war die Türe geschlossen. Kein Wort von innen drang auf den Flur. Er ahnte nicht das hinter<br />

<strong>der</strong> Türe an einem Projekt gearbeitet wurde, in dem er auch eine gewisse Rolle spielen sollte,<br />

er vermutete etwas ganz an<strong>der</strong>es.<br />

Dr. Brenner machte eine kleine Pause. Er las etwas voraus und las dann den nächsten Tagebucheintrag<br />

so langsam vor, dass ihn Frau Beck gleich tippen konnte.<br />

105


Sonntag, 18. Mai AD 1913<br />

Wie schnell doch gestern mein Geburtstag verging. Kaum von <strong>der</strong> Schule nach Hause gekommen,<br />

war auch schon <strong>der</strong> Nachmittag da. Und dann kamen zuerst Elisabeth und dann<br />

Hedwig mit ihren kleinen Geschenken, die mir große Freude bereitet haben. Mutter kochte<br />

uns allen Malzkaffee. Dazu aßen wir den Kuchen, den Klara gebacken hatte. Da das Wetter<br />

schön war, gingen wir nach dem Kaffeetrinken und spielten im Hof. Papa kam gestern spät<br />

von <strong>der</strong> Arbeit nach Hause. Er war wie<strong>der</strong> im roten Ochsen und roch abends nach Schnaps.<br />

Mutter hat furchtbar geschimpft, daß Vater immer so viel Geld in <strong>der</strong> Wirtschaft lässt und<br />

ihm bittere Vorwürfe gemacht, daß er seine Familie vernachlässige. <strong>Die</strong> heitere Stimmung<br />

des Nachmittages war gründlich verdorben. Ich rannte in meine Kammer und weinte.<br />

Dr. Brenner unterbrach wie<strong>der</strong> sein Diktat. „Haben Sie alles, Frau Beck?“<br />

„Ich komme gut mit, Herr Doktor. Sie diktieren ja ganz langsam.“ Gabi Beck sah auf den<br />

Bildschirm, <strong>der</strong> sich mehr und mehr mit Worten und Sätzen füllte.<br />

„Ich muss immer ein bis zwei Sätze vorauslesen, deswegen kann ich nicht so schnell diktieren,<br />

wie sie es vielleicht gewohnt sind, Frau Beck.“ Dr. Brenner sah wie<strong>der</strong> auf die Zeilen<br />

in dem Wachstuchheft. „Aber es ist doch äußerst interessant, dass gleich im zweiten Tagebucheintrag<br />

so viele Informationen über das soziale Umfeld <strong>der</strong> Elfriede Seiffert stehen.“<br />

„Wie meinen Sie das, Herr Doktor?“ <strong>Die</strong> Frage von Gabi Beck war nicht unberechtigt,<br />

hatte sie sich doch weniger auf den Inhalt als mehr auf das Schreiben an sich konzentriert.<br />

„Ganz einfach, Frau Beck“, begann Dr. Brenner. „Wir erfahren schon in den ersten beiden<br />

Tagebucheinträgen, in welcher Gesellschaftsschicht die Schreiberin steht. Ihr Vater scheint<br />

ein Fabrikarbeiter zu sein, <strong>der</strong> einen Teil seines wöchentlich ausbezahlten Lohn in <strong>der</strong> Kneipe,<br />

im „roten Ochsen“, lässt, worüber die Hausfrau, Elfriedes Mutter, natürlich sehr ungehalten<br />

ist, denn sie muss mit dem wenigen Geld, dass ihr Mann am späten Samstagabend noch nach<br />

Hause bringt, ärmlich wirtschaften. Elfriede ist über diese Umstände unglücklich und weint<br />

sich in ihrer Kammer aus, die sie vermutlich mit ihrer Schwester Klara teilt.“<br />

Gabi Beck beeindruckte diese kurze Erklärung sehr. Nachdenklich las sie auf dem Bildschirm,<br />

was sie und auch Dr. Brenner bisher aus dem ältesten Tagebuch transkribiert hatten.<br />

„Können wir weitermachen?“ fragte Dr. Brenner nach einer Weile<br />

„Ja sicher, Herr Doktor“, entgegnete Gabi Beck und konzentrierte sich wie<strong>der</strong> auf die<br />

Worte von Dr. Brenner, <strong>der</strong> ihr weiter diktierte.<br />

Jetzt sitze ich wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche. Mutti hat mich schon gefragt, ob ich denn nicht ins<br />

Bett gehen will. Es sei schon spät und morgen wäre ja wie<strong>der</strong> Schule. – So muss ich nun auch<br />

heute Dich schließen, liebes Tagebuch, lei<strong>der</strong> mit Tränen in den Augen und großen Kummer<br />

im Herzen.<br />

Dr. Brenner diktierte Frau Beck bis halb ein Uhr aus dem Tagebuch, dann meldete sich<br />

sein Magen zu Wort und veranlasste ihn schließlich, die Arbeit zu unterbrechen.<br />

„Ich glaube, wir haben uns jetzt eine kleine Pause verdient, Frau Beck.“ Dr. Brenner stand<br />

auf, klappte das schwarze Wachstuchheft zu und legte es auf den Stapel <strong>der</strong> restlichen Hefte.<br />

Gabi Beck atmete tief durch und drückte auf den Speicherknopf des Schreibprogramms.<br />

Sie stand ebenfalls auf und streckte sich. „Es kostet doch einige Konzentration dieses Schreiben<br />

nach Diktat“, sagte sie und gähnte.<br />

„Wir sollten ein wenig an die frische Luft gehen und uns dabei die Beine vertreten“, meinte<br />

darauf Dr. Brenner und kramte seine Schlüssel aus <strong>der</strong> Hosentasche hervor. „Kommen sie<br />

mit, Frau Beck! Gönnen wir uns etwas Feines beim Italiener gegenüber!“<br />

106


„Vielen Dank für die Einladung, Herr Doktor“, entgegnete sie. „Aber ich habe noch etwas<br />

in <strong>der</strong> Stadt zu erledigen.“<br />

„Na dann eben nicht!“ In Dr. Brenners Stimme klang unüberhörbar eine kleine Enttäuschung<br />

mit.<br />

Frau Beck war schon aus dem Büro gegangen, als Dr. Brenner die Türe schloss und von<br />

außen absperrte. In seinen längeren Pausen, die er ausnahmslos außerhalb des Institutes verbrachte,<br />

sperrte er immer sein Büro ab; nicht, dass er den Mitarbeitern misstraute, er hatte<br />

seine Angewohnheiten und von diesen wollte er nicht lassen.<br />

Bevor Dr. Brenner das Institut verließ, schaute er noch kurz beim Sekretariat vorbei. Er<br />

wollte wissen, ob Post für ihn gekommen war. Tatsächlich lag in seinem Fach ein Brief, <strong>der</strong><br />

an ihm persönlich gerichtet war. Dr. Brenner sah auf den Absen<strong>der</strong>, nickte zufrieden und<br />

steckte den Brief in seine linke Hosentasche. Dann verließ er das Institut und eilte zu jenem<br />

italienischen Restaurant, welches sich nur wenige Schritte entfernt auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Straßenseite befand.<br />

„Hallo, Luigi!“ begrüßte Dr. Brenner den Inhaber <strong>der</strong> Pizzeria, <strong>der</strong> gerade hinter dem Tresen<br />

ein Pils zapfte.<br />

„Hallo Dottore!“ Luigi kannte Dr. Brenner gut, <strong>der</strong> ein häufiger Gast war, denn er liebte<br />

die italienische Küche genauso wie die einheimische.<br />

„Bring’ mir ein Mineralwasser und eine Portion Spaghetti Bolognese, Luigi!“ Dr. Brenner<br />

brauchte keine Speisekarte. Er setzte sich an einen kleinen Tisch, <strong>der</strong> gerade so groß war, dass<br />

zwei Gäste bequem an ihm essen konnten. Fast reflexhaft griff er in seine linke Hosentasche<br />

und holte den Brief hervor. Ein kleines Klappmesser, das er ständig bei sich trug, diente ihm<br />

als Brieföffner. Der Brief enthielt eine Kopie <strong>der</strong> Geburtsurkunde <strong>der</strong> Tagbuchschreiberin, die<br />

ihm Elke Markert, wie am Telefon verabredet, zugesendet hatte. Er nahm das einzelne Blatt<br />

und begann in dem mit Frakturschrift vorgedrucktem und mit steiler gotischer Schrift ausgefülltem<br />

Formular zu lesen:<br />

Nr. ...<br />

Fürth, am 18. Mai 1897<br />

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, <strong>der</strong> Persönlichkeit nach<br />

Durch Wehrpass anerkannt,<br />

<strong>der</strong> Fabrikarbeiter Jakob Seiffert<br />

wohnhaft zu Fürth ...str.<br />

evangelischer Religion, und zeigte an, daß von <strong>der</strong><br />

Johanna Seiffert, geb. Winkler, seiner Ehefrau,<br />

evangelischer Religion, wohnhaft<br />

bei ihm,<br />

zu Fürth, in seiner Wohnung<br />

am siebzehnten Mai des Jahres<br />

tausend acht hun<strong>der</strong>t neunzig und sieben vormittags<br />

um acht Uhr ein Kind weiblichen<br />

Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen<br />

Elfriede<br />

erhalten habe.<br />

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben<br />

Jakob Seiffert<br />

107


Der Standesbeamte<br />

In Vertretung<br />

...<br />

‚Aha’, dachte sich Dr. Brenner, nach dem er gelesen hatte, ‚das Geburtdatum von Elfriede<br />

Seiffert ist also richtig.’Er atmete tief durch, faltete die Kopie wie<strong>der</strong> zusammen und steckte<br />

sie in das Briefkuvert zurück. ‚Ich dachte mir schon, dass Elfriedes Vater in einer Fabrik gearbeitet<br />

haben könnte. Und jetzt haben wir den Beweis. Man sollte wirklich alle verfügbaren<br />

Quellen ausschöpfen.’ Dr. Brenner fühlte sich in seiner Arbeitsweise bestätigt.<br />

„Eine gute Nachricht, Dottore?“ fragte Luigi nach einer Weile und stellte mit einer eleganten<br />

Bewegung einen großen Teller dampfen<strong>der</strong> Spaghetti vor Dr. Brenner hin. „Prego, ihre<br />

Pasta, Dottore! Guten Appetit!“<br />

„Vielen Dank, Luigi! Es ist eine sehr gute Nachricht.”<br />

Dr. Brenner aß mit größtem Genuss seine Spaghetti Bolognese. Luigi, <strong>der</strong> nicht mehr so<br />

viele Gäste wie zur Mittagszeit zu betreuen hatte, beobachtete ihn vom Tresen aus und bemerkte<br />

dabei, wie sich die Gesichtszüge seines Stammgastes immer mehr entspannten. Er<br />

schrieb dies seinen gutem Essen zu, aber heute war es nicht nur dieses.<br />

‚Na, da kann ich ja Wolfgangs Freundin und ihren Eltern eine gute Mitteilung senden’,<br />

dachte Dr. Brenner bei sich, als er den leeren Teller ein wenig zur Seite schob. ’Ich werde<br />

Heike gleich eine e-Mail schicken, wenn ich wie<strong>der</strong> im Büro bin.’<br />

„Zahlen bitte, Luigi!“<br />

„Prego Dottore!“ Luigi war sofort zur Stelle, rechnete kurz im Kopf und sagte dann: „Das<br />

macht 8 Euro, Dottore.“<br />

„Hast Du wie<strong>der</strong> zu meinen „Gunsten“ gerundet. Luigi?“ Dr. Brenner gab den Italiener einen<br />

Zehneuroschein. „Der Rest ist für die gute Küche.“<br />

„O vielen Dank, Dottore, vielen Dank!“ Luigi verbeugte sich überschwänglich, als Dr.<br />

Brenner grüßend die Pizzeria verließ.<br />

Dr. Brenner beeilte sich nicht, ins Institut zurückzugehen. Keine Stechuhr wartete darauf,<br />

dass sie die Mittagspause offiziell beenden konnte. Er schlug seinen Weg vielmehr in Richtung<br />

Schlossplatz ein, wo die Verwaltung <strong>der</strong> Universität in einem altehrwürdigen Gebäude<br />

untergebracht war, um dort noch eine Kleinigkeit zu erledigen.<br />

Wenig später als eine halbe Stunde, nachdem er die Pizzeria verlassen hatte, kehrte Dr.<br />

Brenner wie<strong>der</strong> in sein Büro zurück. Alles lag noch so da, wie er es zurückgelassen hatte. Der<br />

Bildschirmschoner seines Rechners zeigte immer noch die Fischchen, die für das Auge beruhigend<br />

ihre Kreise im Wasser zogen.<br />

Dr. Brenner setzte sich sogleich an den Rechner und gab den Text <strong>der</strong> Geburtsurkunde von<br />

Elfriede Seiffert ein. Zwei Handgriffe später war die elektronische Nachricht auf dem Weg zu<br />

<strong>der</strong> Freundin seines Sohnes. Danach schlug er wie<strong>der</strong> das Wachstuchheft auf das ganz oben<br />

auf dem Stapel lag, eines <strong>der</strong> Tagebücher von Elkes Großmutter.<br />

Heike jubelte, als sie auf <strong>der</strong> Anzeige <strong>der</strong> neu angekommenen Nachrichten Dr. Brenners<br />

Name sah.<br />

‚Wolfgangs Vater ist aber schnell’, dachte sie bei sich, bevor sie die Nachricht las:<br />

Hallo Heike,<br />

in <strong>der</strong> Anlage sende ich Dir den Text <strong>der</strong> Geburtsurkunde Deiner Urgroßmutter. Viel Spaß<br />

beim Auswerten.<br />

Dr. Brenner<br />

108


Heike holte sich die Datei mit dem Text <strong>der</strong> Geburtsurkunde und studierte ihn gründlich.<br />

‚Man sollte es nicht glauben, wie viel Information in so einer Geburtsurkunde steckt. Jetzt<br />

weiß ich sogar schon den Mädchennamen meiner Ururgrossmutter.’<br />

Voller Freude griff Heike zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihrer Eltern. Es dauerte<br />

eine Weile, bis in Nürnberg jemand den Hörer abnahm.<br />

„Markert!?“<br />

Heike erkannte sofort die Stimme ihrer Mutter. „Hallo Mutti!“<br />

„Hallo Heike!“ <strong>Die</strong> Stimme von Elke klang neugierig. „Was gibt’s neues?“<br />

„Stell’ Dir vor, Mutti, Wolfgangs Vater hat mir den Text <strong>der</strong> Geburtsurkunde Deiner<br />

Großmutter schon via E-Mail zugeschickt.“<br />

„Der ist aber schnell“; entgegnete Elke erstaunt.<br />

„Das habe ich mir gerade auch gedacht, Mutti.“<br />

Les’ doch mal vor, Heike.“ Auch Heikes Mutter konnte es kaum erwarten, neue Informationen<br />

über die Schreiberin <strong>der</strong> Tagebücher zu erfahren.<br />

„Soll ich wirklich alles vorlesen?“<br />

„Aber sicher doch, Heike!“<br />

„Also gut“, willigte Heike ein. „Ich muss mir nur kurz den Ausdruck holen.“<br />

„Ist gut, Heike. So lange warte ich gerne.“<br />

Heike legte den Hörer beiseite und eilte in ihr Arbeitszimmer, das gleichzeitig Wohn- und<br />

Schlafzimmer war. Nach knapp einer Minute war sie wie<strong>der</strong> am Telefon, in <strong>der</strong> linken Hand<br />

den Ausdruck <strong>der</strong> Datei, den ihr Dr. Brenner geschickt hatte, in <strong>der</strong> rechten Hand den Hörer.<br />

„Also da steht“, begann sie und las die Geburtsurkunde vor ...<br />

Als Heike damit fertig war, sagte ihre Mutter einen Moment lang nichts.: „Das finde ich ja<br />

fantastisch!“, rief sie dann erstaunt aus. „Was in so einer Geburtsurkunde alles steht!“<br />

„Ich glaube, jetzt sind wir schon ein ganzes Stückchen weiter“, entgegnete Heike. „Wenn<br />

wir jetzt noch die Texte aus den Tagebüchern haben, können wir uns schon ein klareres Bild<br />

über Elfriede Seiffert machen. O<strong>der</strong> was meinst Du?“<br />

„Dr. Brenner hatte schon recht, wenn er meinte, wir sollten etwas Familienforschung betreiben.<br />

Meinst Du nicht auch Heike? Wenn man die Texte aus den Tagebüchern richtig und<br />

ganz verstehen will, muss man auch das soziale Umfeld kennen. Und dazu gehören auch die<br />

Eltern und Geschwister.“ Elke kam ein wenig ins Dozieren. Man konnte ganz deutlich hören,<br />

dass sie in ihrer Ausbildung ein wenig Geschichte und Sozialkunde studiert hatte.<br />

„Also langsam macht’s mir Spaß Genealogie zu betreiben“; entgegnete Heike. „Wenn nur<br />

nicht immer diese alte Schrift wäre.“<br />

„Du siehst, Heike, die Beherrschung <strong>der</strong> alten Deutsche Schrift gehört zum Handwerkszeug<br />

eines Hobbygenealogen.“ Elke tat es fast ein wenig Leid, dass auch sie das Handwerkszeug<br />

nur sehr mangelhaft beherrschte. „Ich glaube, wir sollten gemeinsam das Schreiben und<br />

Lesen <strong>der</strong> alten Schrift üben, dann sind wir unabhängig von Dr. Brenner und brauchen ihn<br />

nicht über Gebühr belasten. Ich meine, ich müsste noch ein Buch über die Entwicklung <strong>der</strong><br />

deutschen Schreibschrift haben.“<br />

„Dann such’ es bitte möglichst schnell, denn ich bin wahnsinnig daran interessiert, die<br />

Sütterlin-Schrift zumindest zu lesen.“ Heikes Begeisterung, ihre Vorfahren zu erkunden<br />

wuchs.<br />

„Aber ein musst Du wissen, Heike“, fuhr ihre Mutter fort. „Eine Schrift kann man immer<br />

nur lesen, wenn man sie auch schreiben kann. Also müssen wir wie<strong>der</strong> schreiben lernen.“<br />

Heike musste lachen, fasste sich aber gleich wie<strong>der</strong>. „Das hat sich jetzt komisch angehört,<br />

Mutti, aber ich glaube Dir.“<br />

„Das kannst Du auch, Heike“, bekräftigte Elke. „Ich werde jetzt das Buch suchen und<br />

wenn ich es gefunden habe, rufe ich Dich wie<strong>der</strong> an.“<br />

109


„Das brauchst Du nicht tun, Mutti“, fuhr Heike fort. „Ich bin heute noch mit Wolfgang<br />

verabredet und fahre nach Nürnberg. Ich ruf’ Dich dann später an.“<br />

„Mach’ was Du für richtig hältst.“ Elke musste lachen, Heike auch.<br />

„Also mach’s gut. Bis später!“ verabschiedete sich Heike.<br />

„Bis später!“ Elke legte den Hörer auf und überlegte, wo sie das Buch aus alten Studienzeiten<br />

aufgehoben haben könnte.<br />

Heike beeilte sich. Sie zog ihre neue Jeans an und ging wenig später zum Parkplatz, wo ihr<br />

Kleinwagen stand, mit dem sie zügig nach Nürnberg zu Wolfgang fuhr. <strong>Die</strong>ser wohnte noch<br />

bei seinem Vater in einer alten Villa am Ostrand <strong>der</strong> Stadt. Der Vorort war sei jeher bekannt,<br />

dass in ihm überwiegend akademisch gebildete Leute und auch solche wohnten, die es zu einem<br />

Wohlstand gebracht hatten, <strong>der</strong> es ihnen gestattete, ohne Hypotheken in all den schönen<br />

Häusern zu wohnen, die etwas abseits <strong>der</strong> viel befahrenen Straße standen, auf <strong>der</strong> im Mittelalter<br />

schon Könige und Kaiser reisten.<br />

Heike stellte ihr Auto in <strong>der</strong> von Bäumen gesäumten Straße vor Dr. Brenners Villa ab. In<br />

dieser Straße, die schon fast als eine Allee zu bezeichnen war, gab es niemals Parkprobleme,<br />

denn ihre Anwohner hatten es nicht nötig, ihre Wagen vor dem Haus zu parken. So fiel es<br />

jenem Beobachter in einer dunkelblauen Limousine nicht beson<strong>der</strong>s schwer, festzustellen,<br />

welcher Wagen dem Besuch gehörte, <strong>der</strong> sich eilig <strong>der</strong> Türe näherte, die in den Vorgarten des<br />

Anwesens von Dr. Brenner führte.<br />

Heike bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde. Aber Harald Grattler fühlte sich in seiner<br />

Vermutung bestätigt, dass Heike, die er schon in Fürth gezielt beobachtet hatte, nicht nur wegen<br />

des Sohnes von Dr. Brenner diese Gegend aufsuchte. Er hatte sie hier schon erwartet, jedoch<br />

viel später. Jetzt es war erst früher Nachmittag. <strong>Die</strong> Sonne stand noch hoch im Süden<br />

und tauchte die aus Sandstein erbaute Villa in ein fast mystisches, gleißendes Licht.<br />

„Hallo Heike!“ Freudig begrüßte Wolfgang seine Freundin.<br />

„Hallo Wolfgang!“ Heike fiel ihm um den Hals und gab Wolfgang einen Kuss. „Ich muss<br />

schon sagen, Dein Vater arbeitet ja sehr schnell.“<br />

„Soso! Wie soll ich das verstehen?“ Wolfgang tat etwas verwun<strong>der</strong>t, doch er wusste um<br />

Heikes große Freude. Sein Vater hatte ihm vor etwa einer halben Stunde mitgeteilt, dass er<br />

den Text <strong>der</strong> Geburtsurkunde Heike mit <strong>der</strong> elektronischen Post zugesandt hatte.<br />

„Es ist ja so spannend, wenn man mehr über seine Vorfahren erfährt.“ Heike war ganz euphorisch.<br />

„Aber Du wirst mir doch jetzt nicht die Geburtsurkunde Deiner Großmutter vorlesen wollen.“<br />

In Wolfgangs Stimme schwang eine nicht kleine Portion Ironie mit. „Wir hatten doch<br />

an<strong>der</strong>es vor. O<strong>der</strong> Nicht?“<br />

„Nein, nein, Wolfgang“, beschwichtigte Heike ihren Freund. „Ich habe den Text doch<br />

überhaupt nicht hier. Er ist auf meinem Rechner gespeichert ...“<br />

„Und <strong>der</strong> steht in Deinem Verführungsappartement.“ Wolfgang unterbrach Heike nur ungern,<br />

aber er spürte, dass er ihr Gesprächsthema unbedingt wechseln musste.<br />

Heike stupste Wolfgang voller Übermut. „Das könnte Dir so passen!“ rief sie und versuchte<br />

so erbost wie nur möglich zu wirken. „Deine Phantasie geht mit Dir gerade durch.“<br />

Wolfgang musste lachen. „Ich wollte Dich doch nur ein wenig aus <strong>der</strong> Reserve locken.“<br />

Heike kniff die Augen zusammen. „So, so! Und das soll ich Dir nun glauben?“<br />

Wer die beiden so sah, konnte nicht an<strong>der</strong>s, als Heike und Wolfgang für ein frisch verliebtes<br />

Paar zu halten. Und dieser Meinung war auch Harald Grattler, <strong>der</strong> sie zusammen gesehen<br />

24<br />

110


hatte und <strong>der</strong> immer noch in seiner dunkelblauen Limousine saß und darüber nachdachte, wie<br />

er an mehr Informationen kommen könnte. Ein Name hatte diese innere Aufgewühltheit hervorgerufen,<br />

an <strong>der</strong> er seit einigen Tagen litt: Elfriede Wagner, geb. Seiffert. <strong>Die</strong>se Frau hatte<br />

nicht nur in <strong>der</strong> Familie Wagner eine Rolle gespielt, das wusste er. Aber sah noch keine Zusammenhänge.<br />

Und da erfuhr er zufällig durch einen Kollegen, dass diese Frau ein Tagebuch<br />

geschrieben hatte.<br />

„Und was machen wir jetzt mit diesem angebrochenen Nachmittag?“ Heike wandte sich<br />

Wolfgang zu und schloss die Augen.<br />

Wolfgang verstand. „Wir könnten bei diesem schönen sonnigen Wetter spazieren gehen<br />

o<strong>der</strong> ...“ Wolfgang zögerte, jetzt verstand Heike.<br />

Sie küssten sich lange, doch als Wolfgang tiefer gehen wollte, wehrte Heike ab.<br />

„Nicht jetzt und nicht hier!“<br />

„Warum nicht?“<br />

„Ich habe jetzt keine Lust. Lass’ uns lieber eine Tasse Kaffee trinken.“ Heike fühlte sich<br />

wirklich nicht wohl. Sie hatte den ganzen Tag schon leichte Kopfschmerzen, die nicht vergehen<br />

wollten.<br />

Wolfgang ließ von ihr ab. „Also gut! Ich mache uns zwei Kaffee.“ Er ging eilig in die Küche.<br />

„Trinken wir den Kaffee doch auf <strong>der</strong> Terrasse“, rief Wolfgang Heike aus <strong>der</strong> Küche zu.<br />

<strong>Die</strong> beiden setzten sich auf die kleine Terrasse, die sich hinter dem Haus, auf <strong>der</strong> Straße<br />

abgewandten Seite befand. Dort standen einige bequeme Korbstühle.<br />

„Du hast es schön hier, Wolfgang“, begann Heike. „Wenn ich da an meine Studentenbude<br />

denke!“ Sie atmete tief durch, sog die milde Augustluft ein. „Aber bei meinen Eltern war ich<br />

noch beengter. Zum Schluss wusste ich nicht mehr wohin mit meinen Schulunterlagen.“<br />

„Aber Dein Studentenappartement ist doch bestimmt auch nicht viel größer als Dein früheres<br />

Zimmer bei Deinen Eltern“, entgegnete Wolfgang. „Es sieht zumindest nicht so aus.“<br />

„Das Appartement sieht nur so klein aus, aber ich habe bisher alles untergebracht.“ Heike<br />

rührte die Milch in ihrer Kaffeetasse um, die sie sich eingeschenkt hatte. „Natürlich habe ich<br />

nach dem Abitur einiges weggeworfen.“<br />

„Aha, das ist des Rätsels Lösung.“ Wolfgang grinste leicht. „Zwischendurch muss man<br />

auch etwas wegwerfen, sonst erschlagen einen die Dinge irgendwann einmal.“<br />

„Ja, ja“, seufzte Heike, aber es war nur gespielt, denn sie lachte gleich darauf Wolfgang<br />

wie<strong>der</strong> an. „So lassen sich die Semesterferien gut genießen. Ein Tässchen Kaffee mit Ruhe im<br />

Freien trinken, das gefällt mir.“<br />

„Ich bin auch nicht gerade erpicht darauf, in den Touristentrubel <strong>der</strong> Altstadt einzutauchen.“<br />

Wolfgang wurde nachdenklich. „Aber das nun einmal das Los einer Stadt mit langer<br />

und bewegter Geschichte.“<br />

Heike nippte schweigend an ihrer Tasse. Sie stand auf und ging an den Rand <strong>der</strong> Terrasse,<br />

<strong>der</strong> gerade noch von <strong>der</strong> Nachmittagssonne beschienen wurde. Ihre Arme ausstreckend blinzelte<br />

Heike in die Sonne. „Ich bin ja gespannt, was Dein Vater alles herausbringt bei <strong>der</strong><br />

Übertragung <strong>der</strong> Tagebuchtexte“, sagte sie bedächtig.<br />

„Du hast ja im Moment überhaupt nichts an<strong>der</strong>es im Kopf als die Tagebücher Deiner Urgroßmutter.“<br />

Wolfgangs Stimme klang fast ein wenig vorwurfsvoll.<br />

„Wun<strong>der</strong>t Dich das?“ Heike ging langsam zum Tisch zurück.<br />

„Ehrlich gesagt nicht, Heike“, gab Wolfgang zu. „Aber ich bleibe realistisch und erwarte<br />

nicht zu viel.“<br />

Heike setzte sich wie<strong>der</strong> auf den Korbstuhl und kramte in ihrer Handtasche, die über <strong>der</strong><br />

Lehne hing.<br />

„Was suchst Du denn?“ Wolfgang konnte seine Neugier nicht unterdrücken.<br />

Heike schwieg und kramte weiter. Es dauerte noch einen Moment, dann hatte Heike gefunden,<br />

was sie suchte. Schließlich holte sie das Wachstuchheft hervor, das sie durch Zufall in<br />

111


dem Schreibwarengeschäft bei <strong>der</strong> U-Bahnstation gefunden hatte, schlug es auf, blätterte ein<br />

paar Seiten vor und begann dann zu schreiben.<br />

Wolfgang wun<strong>der</strong>te sich, sagte aber nichts und ließ Heike eine Zeit gewähren.<br />

Heike schrieb ein paar Zeilen, dann hob sie den Kopf und wandte sich wie<strong>der</strong> Wolfgang<br />

zu. „Weißt Du! Ich musste jetzt einfach ein paar Gedanken zu Papier bringen, sonst wären sie<br />

mir entschwunden..“<br />

„Das klingt ja fast wie eine Sucht, eine Sucht nach dem Schreiben.“ Wolfgang hatte sich<br />

zurückgelehnt und sprach mit einer bedächtigen Nachdenklichkeit, wie sie große Denker<br />

manchmal an den Tag legen.<br />

„Wenn du es so ausdrücken willst, Wolfgang“, entgegnete Heike, „dann klingt das aber<br />

reichlich hart. Nein, ich musste schreiben, weil ich meine Gedanken nicht verlieren will. Ich<br />

will diese schnellen und windigen Gebilde in unserem Kopf einfach nur festhalten, damit ich<br />

sie später wie<strong>der</strong> lesen und weiter darüber nachdenken kann.“<br />

Wolfgang schmunzelte. „Das mit <strong>der</strong> Sucht war nicht so krass gemeint“, entschuldigte er<br />

sich. „Aber mein Vater hat mir erzählt, dass er Leute kenne, die schon fast eine Schreibmanie<br />

entwickelt haben und sich beinahe in psychiatrische Behandlung begeben mussten. Einem<br />

jetzigen Kollegen sei es so während seiner Doktorarbeit ergangen.“<br />

„Na meistens soll es doch umgekehrt sein“, warf Heike ein. „<strong>Die</strong> Leute sitzen und brüten<br />

und kein Satz will sich einfinden.“<br />

„Mag sein, aber es gibt auch das an<strong>der</strong>e Extrem.“ Wolfgang schaute Heike liebevoll an.<br />

„Aber können wir nicht von etwas An<strong>der</strong>em reden?“<br />

„Gleich, Wolfgang! Aber mir ist noch etwas eingefallen.“ Heike schrieb wie<strong>der</strong> in das<br />

Wachstuchheft. Jetzt konnte Wolfgang seine Neugier nicht mehr zügeln.<br />

„Was schreibst Du denn da?“<br />

Heike sagte zunächst nichts, son<strong>der</strong>n beendete ihre Notizen. „Ich habe mich gefragt, warum<br />

ein sechszehnjähriges Mädchen mit dem Tagebuchschreiben beginnt.“<br />

„Und auf welches Ergebnis bis Du gekommen?“ Wolfgang zog zweifelnd die Augenbrauen<br />

hoch. Er selbst hatte sich diese Frage schon gestellt, war aber durch bloßes Nachdenken<br />

nicht weiter gekommen.<br />

„Einen ganz simplen Grund habe ich Dir gerade genannt.“ Heike lächelte ihren Freund an.<br />

„Welchen denn?“<br />

„Ganz einfach: Elfriede Seiffert hatte Gedanken, Gefühle, Ängste, die sie festhalten wollte,<br />

um sie vielleicht später einmal nachvollziehen zu können.“<br />

Wolfgang nickte zustimmend. „Deine Erklärung ist so einfach und doch fast genial.“<br />

„Aber sie ist mit Sicherheit nur eine von vielen“, wandte Heike ein. „Vielleicht hatte Elfriede<br />

gerade ein gedrucktes Tagebuch gelesen und war dadurch inspiriert worden. Es gibt bestimmt<br />

noch viel mehr Gründe, in ein Tagebuch o<strong>der</strong> auch nur in ein Notizbuch zu schreiben.“<br />

„Das ist gut möglich“, sagte Wolfgang nachdenklich, „und auch sehr wahrscheinlich, doch<br />

wenn das Schreiben zum Zwang wird ...“ Er unterbrach sich selbst und überlegte kurz, dann<br />

fuhr er fort „Bei Harald Grattler ist es fast dazu gekommen.“<br />

„Wer ist Harald Grattler?“ Heike schaute Wolfgang fragend an.<br />

„Das ist ein Kollege von Vater.“<br />

„Ach so. Muss ich ihn kennen?“ Heike neigte den Kopf ein wenig zur Seite.<br />

„Nein“, entgegnete Wolfgang, „dies muss man nicht. Irgendwie kommt <strong>der</strong> mir immer ein<br />

wenig falsch vor.“<br />

„Wie meinst Du das, Wolfgang?“ Heike schaute Wolfgang entgeistert an.<br />

„Na ja, er macht bei mir einen undurchsichtigen Eindruck“, begann Wolfgang. „Mein Vater<br />

erzählte mir, dass er bei seiner Promotion zunächst furchtbar viel geschrieben hat. Und er<br />

wollte noch immer weiter schreiben. Bei ihm ist das Schreiben fast zur Manie geworden, bis<br />

ihm sein Doktorvater zu einem Therapeuten geschickt hat ...“<br />

112


„Ist er denn auch zu dem hingegangen?“ Jetzt war Heikes Neugier geweckt.<br />

„So viel ich weiß, ja.“ Wolfgang senkte den Blick. „Aber können wir nicht von etwas an<strong>der</strong>em<br />

sprechen, Heike?“<br />

Heike nickte stumm. Damit war das Thema erledigt.<br />

Der Mann mit dem Dreitagebart in <strong>der</strong> dunkelblauen Limousine wartete noch etwa zwei<br />

Stunden, nachdem Heike in das Haus von Wolfgangs Vater gegangen war. Nichts, aber auch<br />

wirklich nichts zeigte sich. Kein Mensch betrat o<strong>der</strong> verließ das idyllisch gelegene Anwesen<br />

von Dr. Brenner. Allerdings hatte <strong>der</strong> Beobachter keinerlei Einblick in das, was hinter dem<br />

Haus vor sich ging. Hätte er es gesehen, er wäre sicherlich enttäuscht gewesen. Und mit seinen<br />

Recherchen wäre er auch nicht weiter gekommen.<br />

Heike und Wolfgang hatten auf dessen Vater gewartet in <strong>der</strong> Hoffnung, näheres über die<br />

bereits übertragenen Texte zu erfahren. Doch <strong>der</strong> war nicht gekommen. So entschloss sich<br />

Heike, Wolfgang im Haus seines Vaters alleine zu lassen, denn sie wollte sich abends mit einer<br />

Freundin treffen.<br />

Es war schon kurz nach halb sieben Uhr, als sich Heike von Wolfgang verabschiedete. Eilig<br />

ging sie zu ihrem Wagen und fuhr nach Erlangen zurück. Dabei wurde sie auf <strong>der</strong> vierspurig<br />

ausgebauten Bundesstraße kurz vor Erreichen des Ortsschildes <strong>der</strong> Universitätsstadt Erlangen<br />

von einer dunkelblauen Limousine überholt.<br />

Elke Markert schaute auf ihre Armbanduhr. ‚Warum wohl Heike nicht anruft?’ dachte sie<br />

bei sich. ‚Sie hatte es mir doch versprochen. Na ja, es wird ihr wohl etwas dazwischen gekommen<br />

sein.’<br />

Heinz kam in die Essdiele und sah Elke an. „Du bist ja so nachdenklich, Elke“, sagte er<br />

bedächtig und setzte sich an den Tisch.<br />

„Ich habe gerade an Heike gedacht“, entgegnete Elke. „Sie wollte doch anrufen und uns<br />

über den Fortgang <strong>der</strong> Textübertragung durch Dr. Brenner unterrichten.“<br />

„Mach’ Dir keine Sorgen, Elke! <strong>Die</strong> jungen Leute von heute vergessen manchmal, was sie<br />

versprochen haben.“ Heinz lächelte seine Frau an. „Außerdem ist es jetzt erst kurz nach halb<br />

sieben. Der Abend ist noch lange ...“<br />

„Aber nicht Heike!“ konterte Elke. „Sie war schon immer sehr zuverlässig.“<br />

„Na, vielleicht ruft sie ein wenig später an, Elke.“, versuchte Heinz seine Frau zu beruhigen.<br />

„Vielleicht ist sie mit Wolfgang in die Stadt gefahren und vergnügt sich jetzt mit ...“<br />

„Aber, Heinz!“, entrüstete sich Elke. „Das geht zu weit.“<br />

„Lass’ mich doch ausreden, Elke!“ Heinz lächelte immer noch. „Vielleicht vergnügt sich<br />

Heike jetzt im Eiscafé mit einem Eisbecher.“<br />

Elke sagte darauf nichts, son<strong>der</strong>n stand auf und ging langsam in die Küche, um das Abendessen<br />

zu richten, das seit eh und je um sieben Uhr abends eingenommen wurde.<br />

Heike sperrte die Türe zu ihrem Appartement auf und legte ihre Tasche auf die kleine Ablage,<br />

die neben <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe in dem schmalen Flur stand, <strong>der</strong> zu ihrem Zimmer führte. Es<br />

war stickig in <strong>der</strong> kleinen Wohnung. Heike eilte zu dem großen Fenster und riss es auf. Von<br />

außen strömte sofort die milde Augustluft in das Appartement. Ganz langsam wurde die abgestandene<br />

Luft nach außen verdrängt.<br />

Der Computer stand auf Heikes Schreibtisch, <strong>der</strong> sich jetzt in den Semesterferien ordentlich<br />

aufgeräumt präsentierte. Sie schaltete das Gerät ein. Nur ein Gedanke geisterte in ihrem<br />

25<br />

113


Kopfe herum. ‚Hoffentlich hat Dr. Brenner mir eine e-mail mit den bisher übertragenen Texten<br />

geschickt.’<br />

Ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht, als sie Dr. Brenners Mitteilung las:<br />

Hallo Heike,<br />

es hat heute ein wenig gedauert, aber kurz nach halb sieben habe ich erst meine heutige<br />

Arbeit an den Texten beendet. Du findest sie in <strong>der</strong> Datei in <strong>der</strong> Anlage zu dieser Mail.<br />

Viele Grüße auch an Deine Eltern<br />

Dr. Brenner<br />

Heike atmete tief durch und holte sich die angesprochene Datei auf ihren Rechner. Nachdem<br />

sie das Ergebnis von Dr. Brenners heutiger Arbeit gespeichert hatte, druckte sie die drei<br />

Seiten aus, denn sie wollte doch ihren Eltern berichten. Sie drehte sich zum Telefon um, wollte<br />

schon den Hörer abnehmen, als sie unvermittelt und ganz spontan auf ihre Armbanduhr<br />

sah. <strong>Die</strong>se zeigte zwölf Minuten nach sieben Uhr an.<br />

‚O, jetzt muss ich noch ein paar Minuten warten’, dachte Heike bei sich. ‚Ich will meine<br />

Eltern nicht beim Abendessen stören. Papa wäre bestimmt sehr ungehalten.’<br />

Sie wandte sich wie<strong>der</strong> vom Telefon ab und ordnete die Papiere auf ihren Schreibtisch.<br />

Heike hatte noch genügend Zeit. Ihr Treffen mit ihrer Freundin war erst gegen halb neun geplant.<br />

Heinz räumte seinen Teller vom Tisch und trug ihn in die Küche. Er wollte gerade wie<strong>der</strong><br />

in die Essdiele zurückgehen, als das Telefon schellte.<br />

„Geh’ mal ran, Heinz!“ rief Elke, die gerade die nicht gegessene Wurst wie<strong>der</strong> einpackte.<br />

Heinz ging ruhig in die Essdiele zurück, ließ das Telefon nochmals schellen und nahm er<br />

dann den Hörer ab. „M:!“<br />

„Hallo, Papa!“ Heike erkannte die Stimme ihres Vaters sofort.<br />

„Hallo, Heike!“ <strong>Die</strong> Miene von Heinz erhellte sich schlagartig. „Mutti hat auf Deinen Anruf<br />

schon gewartet.“<br />

„Ja entschuldigt, aber es ist etwas später geworden und ich wollte Euch auch nicht beim<br />

Abendessen stören“, entschuldigte sich Heike.<br />

„Hast Du eine Nachricht von Dr. Brenner bekommen?“ Auch Heinz war neugierig auf den<br />

Inhalt <strong>der</strong> Tagebücher geworden.<br />

„Ja, er hat mir eine e-Mail geschickt und dazu etwa drei A4-Seiten mit dem Beginn des<br />

Tagebuches“, entgegnete Heike ihren Vater. „Soll ich sie vorlesen?“<br />

„Gott bewahre, Heike!“ winkte Heinz ab. „Du kannst sie uns morgen ja vorbei bringen.“<br />

„Das trifft sich gut, Papa“, sagte Heike und blickte durch ihr Appartement als suche sie etwas.<br />

„Ich will morgen mit Wolfgang in die Stadt gehen, denn ich brauche dringend noch eine<br />

Jeans.“<br />

„Na prima!“ rief Heinz aus. „Elke und ich wollen morgen auch in die Stadt gehen. Da<br />

könnten wir uns ja irgendwo treffen.“<br />

„Machen wir doch gleich Nägel mit Köpfen, Papa“, entgegnete Heike. „Wie wär’s um<br />

zehn am Ehekarussell ?“<br />

„Da muss ich erst Elke fragen. Warte einen Moment, Heike!“ Heinz legte den Hörer beiseite<br />

und rief Elke in die Küche zu: „Schaffen wir es bis zehn in <strong>der</strong> Stadt zu sein, Elke?“<br />

„Kein Problem, Heinz, wenn Du rechtzeitig aufstehst“, rief Elke aus <strong>der</strong> Küche zurück.<br />

Heinz musste lachen und griff wie<strong>der</strong> nach dem Hörer. „Hast Du gehört, Heike?“<br />

„Ich habe alles mitgehört, Papa“, gluckste Heike ins Telefon, denn sie musste jetzt ihr Lachen<br />

unterdrücken. „Also bis morgen um zehn am Ehekarussell!“<br />

„Alles klar, bis morgen um zehn Uhr, Heike!“<br />

114


„Auf Wie<strong>der</strong>hören, Papa! Bis morgen!“ Heike legte den Hörer wie<strong>der</strong> auf und ließ ihrem<br />

angestauten Lachen freien Lauf.<br />

Heike sah auf ihre Armbanduhr und erschrak. ‚Jetzt muss ich mich aber beeilen’, dachte<br />

sie bei sich. ;Sonst muss Brigitte warten.’<br />

Sie hatte sich schon vor einiger Zeit mit einer Freundin für diesen Tag gegen halb neun<br />

Uhr abends am Hugenottenplatz verabredet. Heike kannte Brigitte Nauer noch aus ihrer<br />

Schulzeit. Beide hatten im selben Jahr ihr Abitur gemacht, sich aber hinterher aus den Augen<br />

verloren. Es sei an <strong>der</strong> Zeit, sich abends einmal wie<strong>der</strong> zu treffen, um ein wenig zu plau<strong>der</strong>n,<br />

hatte Brigitte am Telefon gesagt. Und Heike hatte sofort zugestimmt. Das lag jetzt schon fast<br />

zwei Monate zurück. Wolfgang Brenner hatte sie erst über eine Woche später kennen gelernt.<br />

Heike holte rasch eine an<strong>der</strong>e Hose hervor und zog sich um. Hastig bürstete sie ihre Haare<br />

vor dem Spiegel, <strong>der</strong> im kurzen Flur hing. ‚Zum Friseur solltest Du auch wie<strong>der</strong> gehen’, sagte<br />

sie zu sich. ‚Für Freitag habe ich mir noch nichts vorgenommen. Da könnte ich gleich früh ...’<br />

Heike brach den Gedanken ab, steckte ihre Schlüssel in ihre Tasche und schloss das Fenster<br />

ihres Zimmers. Einige Minuten später war sie schon auf dem Weg in Richtung Hugo. <strong>Die</strong><br />

Zeiger <strong>der</strong> Uhr rückten unerbittlich auf acht Uhr vor.<br />

Heike musste von ihrem Appartement fast zwanzig Minuten zu Fuß gehen, bis sie den<br />

zentralen Platz nahe des Bahnhofs von Erlangen erreichte, von dem sternförmig alle Buslinien<br />

ausgingen. Als sie in die Fußgängerzone einbog, waren es nur noch ein paar Schritte bis zu<br />

einem Kiosk, <strong>der</strong> gegenüber den Busbuchten stand. An diesem hatten sie sich verabredet.<br />

Nachdem Heike ihn erreicht hatte, schaute sie wie<strong>der</strong> auf ihre Uhr.<br />

‚Puh, gerade so geschafft!’ Ihre Gedanken waren alle bei Brigitte. ‚Ich bin gespannt wann<br />

sie kommt.’<br />

Heike ging einige Schritte auf und ab und blickte sich dabei um. Von Brigitte war nichts<br />

zu sehen. Sie wusste auch nicht aus welcher Richtung sie kommen konnte.<br />

Plötzlich wurde es Heike dunkel vor den geöffneten Augen und eine dunkel-rauchige<br />

Stimme fragte: „Wer ist’s?“ Brigitte hatte sich von hinten an Heike herangeschlichen, als diese<br />

längere Zeit immer in dieselbe Richtung blickte.<br />

Heike drehte sich ruckartig um. <strong>Die</strong> beiden Freundinnen fielen sich um den Hals und begrüßten<br />

sich herzlich.<br />

„Hallo Heike! Schön, dass Du gekommen bist“, rief Brigitte freudig aus und drückte Heike<br />

noch einmal an sich.<br />

„Grüß’ Dich, Brigitte! Wie geht es Dir?“ Heike befreite sich von Brigittes Umarmung und<br />

lächelte ihre alte Freundin an, <strong>der</strong>en Miene sich in Sorgenfalten legte.<br />

„Gesundheitlich geht es mir ja gut, aber seelisch ...“ Brigitte blickte Heike an und zuckte<br />

mit den Achseln, als wollte sie sagen, sie wisse auch nicht, woher ihre Nie<strong>der</strong>geschlagenheit<br />

komme. Doch die Wirklichkeit holte sie schnell wie<strong>der</strong> ein.<br />

„Komm’ erzähl!“ for<strong>der</strong>te sie Heike auf.<br />

„Hier auf <strong>der</strong> Straße?“ Brigitte blickte Heike ungläubig an.<br />

„Nein! Lass’ uns irgendwo hingehen!“ Heike verspürte ein immer stärker werdendes Hungergefühl.<br />

„Geh’n wir doch ins ... !“<br />

„Heike, sei mir bitte nicht böse“, erwi<strong>der</strong>te Brigitte bestimmt, „aber von Kneipen und Cafés<br />

habe ich im Moment die Schnauze voll.“<br />

„Oh je! Hast Du ein schlechtes Erlebnis gehabt?“ Heikes wollte Brigitte zum Erzählen<br />

animieren.<br />

„Wir können über alles reden, Heike. Aber bitte nicht hier.“ Brigitte machte ein sorgenvolles<br />

Gesicht. „Geh’n wir doch in meine Bude. Da können wir ungestört reden.“<br />

„Einverstanden! Aber ich habe noch nicht zu Abend gegessen.“ Heike hörte jetzt die Geräusche,<br />

mit <strong>der</strong> ihr Magen deutlich darauf verwies, dass er arbeiten wollte.<br />

„Kein Problem, Heike. Ich habe noch eine selbstgemachte Pizza daheim. <strong>Die</strong> machen wir<br />

warm und trinken einen italienischen Rotwein dazu“, sagte Brigitte und überzeugte Heike.<br />

115


„Na, wenn Du so viel daheim hast, dann lasse ich mich gerne einladen.“ Heike lächelte<br />

Brigitte an. <strong>Die</strong>se spürte ihren warmen Blick und nickte nur.<br />

„Also auf in meine Bude!“ for<strong>der</strong>te Brigitte ihre Freundin auf. <strong>Die</strong> beiden schlugen den<br />

Weg ein, den sie vor einigen Jahren schon öfters vom Hugenottenplatz aus gegangen waren,<br />

als Heike mit dem Bus immer nach Erlangen fuhr und Brigitte sie vom Bus abholte.<br />

„Stör’ Dich nicht, dass ich heute noch nicht aufgeräumt habe“, sagte Brigitte, als sie die<br />

Türe zu ihrer Zweizimmerwohnung aufsperrte, die unweit des Stadtzentrums in einer stillen<br />

Nebenstraße in einem zweistöckigem, alten Haus lag.<br />

Der Fußboden knarrte, als Heike und Brigitte den Flur <strong>der</strong> Wohnung betraten, <strong>der</strong> geradeaus<br />

ins das Zimmer führte, in dem sie früher oft lange Gespräche bis tief in die Nacht geführt<br />

hatten, denn Brigitte hatte diese Wohnung schon vor ihrem Abitur bewohnt. Sie war früh von<br />

ihren Großeltern weggezogen, welche sie als Waise aufgezogen hatten.<br />

„Der Fußboden ist immer noch <strong>der</strong> alte“, bemerkte Heike und blieb in <strong>der</strong> Mitte des Ganges<br />

stehen.<br />

Ja, ja“, lachte Brigitte, „<strong>der</strong> verrät jeden, <strong>der</strong> auf diesem Weg bei mir eindringen will.“<br />

Heike musste auch lachen. Insgeheim liebte sie Wohnungen in alten Häusern und ein knarren<strong>der</strong><br />

Fußboden war genau das, was Brigittes Wohnung so anheimelnd machte. Sie hatte sich<br />

schon früher hier sehr wohl gefühlt.<br />

„Geh’ gerade aus in mein Studierzimmer und mach’s Dir gemütlich“, wies Brigitte ihre alte<br />

Freundin an. „Ich hole gleich etwas zu trinken aus <strong>der</strong> Küche.“<br />

„Mach’ Dir doch nicht so viel Mühe, Brigitte.“ Heike machte ein abwehrende Bewegung,<br />

aber die sah Brigitte nicht mehr, denn sie war schon in <strong>der</strong> kleinen Küche verschwunden, von<br />

<strong>der</strong> aus man in den Hof hinaus sehen konnte.<br />

Heike ging in das Zimmer und setze sich an den kleinen Tisch, an dem gerade zwei o<strong>der</strong><br />

drei Leute Platz fanden. ‚Komisch’, dachte sie bei sich, ‚Brigitte redet vom Studierzimmer<br />

und sie hat überhaupt keinen Schreibtisch. Ich möchte nicht an so einem kleinen Tischchen<br />

arbeiten.’<br />

„So, da bin ich schon“, platzte Brigitte nach wenigen Augenblicken in das Zimmer. In <strong>der</strong><br />

rechten Hand hielt sie eine Flasche Rotwein, in <strong>der</strong> linken zwei Gläser. „Jetzt trinken wir erst<br />

einmal einen Schluck Valpolicella, bevor die zwei Pizzas fertig sind.“<br />

„Wo hast Du denn die Pizzas her?“ Heike schaute ihre Freundin ungläubig an. „Machst Du<br />

immer tiefgefrorene.“<br />

„Aber woher!“ wehrte Brigitte ab. „Ich habe den Teig heute Nachmittag schon vorbereitet<br />

und in den Formen kühl gestellt. Das Belegen ist dann nur noch eine Kleinigkeit. Du magst<br />

doch Schinken, Salami und Artischocken? O<strong>der</strong> nicht?“<br />

Brigitte schaute Heike fragend an, stellte die Weinsflasche und die Gläser auf den Tisch<br />

und setzte sich neben sie.<br />

„Du hast es also nicht vergessen“, begann Heike, „dass ich für diese drei Beläge schwärme.“<br />

Sie sah ihre alte Freundin mit einem Blick an, aus dem eine son<strong>der</strong>bare Mischung aus<br />

Freude und Dankbarkeit sprach.<br />

Brigitte goss den Rotwein in die beiden Gläser und hob mir <strong>der</strong> rechten Hand ihr Trinkgefäß<br />

mit einer feierlichen Miene, als wolle sie eine Zeremonie zelebrieren. „Auf Dein Wohl,<br />

liebe Heike! Ich bin Dir so dankbar, das wir uns heute sehen.“<br />

„Prost! Auf Dein Wohl, Brigitte!“ Heike hob ebenfalls ihr Glas. <strong>Die</strong> beiden stießen an.<br />

„Du kannst Dir nicht vorstellen, was ich in den letzten Jahren alles erlebt habe“, begann<br />

Brigitte. „Ich könnte fast ein Buch über meine Erlebnisse schreiben.“<br />

„Meinst Du jetzt Dein Studium o<strong>der</strong> Dein Privatleben?“ Heikes Neugier war geweckt.<br />

„Beides, aber vor allem mein Leben, Heike. Ich möchte die letzten beiden Jahre nicht noch<br />

einmal durchmachen.“<br />

116


„War’s denn wirklich so schlimm? Ich dachte, Dir geht’s gut, weil Du nichts mehr von Dir<br />

hast hören lassen.“ Heike stellte ihr Glas auf den Tisch und führte ihre linke Hand zu Brigittes<br />

rechter gegenüber.<br />

Brigitte begann plötzlich zu schluchzen. „Es war noch schlimmer als schlimm“, begann sie<br />

mit tränenerstickter Stimme. „Du kennst doch noch Jürgen?“<br />

„Ja, was ist mit ihm?“ Heikes Augen weiteten sich.<br />

„Er ist nicht mehr“, schluchzte Brigitte und ihre Auge begannen sich rot zu färben. „Er ist<br />

überfahren worden. Tot!“<br />

Heike war entsetzt. „Das muss Dir sehr nachgegangen sein“, sagte sie zu Brigitte gewandt<br />

und versuchte, ihrer Stimme festen Halt zu geben. Ihr Hals wurde schlagartig trocken. „Ich<br />

weiß doch, dass er Dir sehr viel bedeutete.“<br />

„Wir waren schon so gut wie verlobt“, schluchzte Brigitte weiter. „Und dann kam dieser<br />

schreckliche Anruf ...“<br />

Heike streichelte Brigittes rechte Hand und rang nach Worten, aber sie fand keine. Auch<br />

wenn sie jetzt welche gefunden hätte, so konnte sie doch mit dem trockenen Hals nicht reden.<br />

Hastig trank sie einen Schluck Wein. Brigitte sah auf Heikes Hand, die wärmend auf <strong>der</strong> ihren<br />

ruhte, und fasste sich wie<strong>der</strong>. „Was soll’s! Life must go on!“ Sie griff mit ihrer rechten Hand<br />

nach ihrem Glas und trank ebenfalls einen Schluck.<br />

Es entstand eine Stille zwischen beiden. Sie sahen sich nur an und ihre Augen sprachen<br />

miteinan<strong>der</strong>. Endlich brach Heike das Schweigen.<br />

„Und wie ging es dann weiter?“ Heikes Frage schwebte einen Augenblick im Raum, denn<br />

Brigitte antwortete nicht sofort.<br />

„Ja und dann kam die Sache mit Robert“, begann Brigitte schließlich. „Er war charmant<br />

und zuvorkommend, schien mir fast jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Ich schöpfte<br />

wie<strong>der</strong> Hoffnung auf ein neues Glück, auch wenn ich immer wie<strong>der</strong> an Jürgen denken musste.<br />

Das ging eine ganze Weile so. Doch irgendwann merkte ich, das Robert nicht das war, was er<br />

vorgab.“<br />

„Da ging es mir ja im Vergleich zu Dir fast Gold“, entgegnete Heike. „Aber erzähl’ weiter!<br />

Was geschah mit Robert?“<br />

Brigitte atmete tief durch. „Er war nach einiger Zeit wie verän<strong>der</strong>t, äußerte Dinge, auf die<br />

ich jetzt lieber nicht eingehe, sonst vergeht mir <strong>der</strong> Appetit.“<br />

„Wie meinst Du das?“ Heike war verblüfft. Sie konnte sich keinen Reim aus dem machen,<br />

was Brigitte andeutete.<br />

„Das mit dem Appetit war mehr im übertragenen Sinne gemeint“, nahm Brigitte wie<strong>der</strong> ihren<br />

eigenen Erzählfaden auf. „Er entpuppte sich als ein Macho im wahrsten Sinn des Wortes,<br />

wollte völlig über mich bestimmen. Von seiner politischen Einstellung will ich gar nicht erst<br />

reden. – Auf jeden Fall: Wir stritten uns immer häufiger und immer heftiger, bis ich es nicht<br />

mehr aushalten konnte und mit ihm Schluss gemacht habe.“<br />

„Vielleicht war das gut so.“<br />

„Das meinte ich auch“, fuhr Brigitte fort. „Aber <strong>der</strong> Kerl wollte es nicht einsehen, dass ich<br />

mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte. Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, bis ich ihm mir<br />

vom Hals schaffen konnte. Und das auch nur mit einem Trick!“<br />

„Einem Trick?!“ Heike kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das musst Du mir aber<br />

näher erklären.“<br />

„Mach’ ich auch, aber zu vor will ich erst nach unseren Pizzas schauen“, sagte Brigitte und<br />

stand auf. „Ich komme gleich wie<strong>der</strong>.“ Sie eilte in die Küche und ließ Heike mit ihren Gedanken<br />

allein.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Brigitte mit zwei Riesentellern und noch riesigeren, köstlich riechenden<br />

Pizzas aus <strong>der</strong> kleinen Küche zurückkam. Heike traute ihren Augen kaum. So große<br />

Pizzas hatte sie seither nur selten gesehen.<br />

„Wer soll denn die essen?!“ rief sie spontan aus und schlug die Hände über den Kopf.<br />

117


„Na, wir natürlich“, lachte Brigitte. „Sie schauen zwar riesig aus, aber <strong>der</strong> Boden ist dafür<br />

umso dünner.“<br />

„Das will ich erst einmal sehen“, entgegnete Heike skeptisch.<br />

„Also dann: Guten Appetit, Heike! Lass’ Dir’s schmecken.“ Brigitte stellte einen Teller<br />

vor Heike hin und den zweiten auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. Sie holte sich<br />

einen Stuhl heran und setzte sich.<br />

„Guten Appetit, Brigitte“<br />

<strong>Die</strong> beiden begannen ihre Riesenpizzas genüsslich zu verspeisen. Zwischendurch tranken<br />

sie immer wie<strong>der</strong> von dem Valpolicella, den Brigitte vor dem Essen aufgetischt hatte. Brigitte<br />

schien einen großen Hunger zu haben. Sie vertilgte das frühere italienische Armeleuteessen<br />

vollständig. Heike, die etwas schlanker und zierlicher war als Brigitte, hatte da mehr Schwierigkeiten,<br />

ihre Portion aufzuessen.<br />

„Buh! Ich kann nicht mehr“, stöhnte sie, als noch etwa ein Viertel <strong>der</strong> selbst gemachten<br />

Riesenpizza auf ihrem Teller lag. „Solche Portionen bin ich einfach nicht gewöhnt.“<br />

„<strong>Macht</strong> nichts! Sie schmeckt kalt auch noch einen Tag später gut“, entgegnete Brigitte<br />

schlagfertig.<br />

„Darauf muss ich erst einen großen Schluck trinken. Ich hoffe nur, <strong>der</strong> Rotwein hilft bei<br />

<strong>der</strong> Verdauung mit.“<br />

Brigitte sagte nichts, son<strong>der</strong>n stand auf und räumte die Teller von dem kleinen Tisch ab.<br />

Ihr Aufenthalt in <strong>der</strong> Küche war nur kurz. Sie wollte ihre alte Freundin nicht lange alleine im<br />

Studierzimmer sitzen lassen. <strong>Die</strong>ses glich eher einer Kombination von Schreib-, Wohn und<br />

Schlafzimmer. In einer Ecke stand eine gemütliche kleine Couch, auf <strong>der</strong> gerade zwei Personen<br />

Platz fanden. Ein kleines, niedriges Tischchen ergänzte die gemütliche Ecke des relativ<br />

großen Zimmers. Dort hin bat Brigitte ihren Gast, nachdem sie aus <strong>der</strong> Küche zurück kam.<br />

„Setzen wir uns doch aufs Sofa“, for<strong>der</strong>te sie Heike auf. „Du musst jetzt ungedingt erzählen,<br />

was Du die letzte Zeit so erlebt hast.“<br />

Heike stand auf und wollte gerade ihr Weinglas mitnehmen, als Brigitte dies schnell zu<br />

verhin<strong>der</strong>n wusste. „Nein, nein, das mach’ ich schon“, sagte sie und nahm Heike das Glas ab.<br />

<strong>Die</strong> beiden machten es sich auf dem kleinen Sofa bequem. Brigitte konnte es fast nicht erwarten,<br />

dass Heike zu erzählen begann. Doch diese brauchte noch eine Weile, bis sich die<br />

erste Völle des Essens bei ihr gesenkt hatte.<br />

„Jetzt erzähl’ doch!“ drängelte Brigitte.<br />

„Uh ah“, schnaufte Heike und stand wie<strong>der</strong> auf. „Ich glaube ich brauche noch einige Momente,<br />

bis ich sitzen kann. Lass’ mich jetzt lieber stehen, Brigitte, sonst kommt mir noch das<br />

gute Essen hoch.“<br />

„Dann erzähl’ doch im Stehen! Was hast Du in <strong>der</strong> letzten Zeit gemacht, Heike?“<br />

„Das ist eine längere Geschichte, Brigitte“, begann Heike und ging im Zimmer auf und ab.<br />

„Da muss ich ein wenig weiter ausholen.“<br />

„Dann hol’ aus, aber erzähle!“ Brigittes Ungeduld schien sich von Minute zu Minute zu<br />

steigern.<br />

„Also zunächst habe ich Anfang Mai Wolfgang bei einer Geburtstagsparty kennen gelernt...“<br />

Heike unterbrach sich selbst, kaum dass sie begonnen hatte. Sie beobachte Brigitte,<br />

<strong>der</strong>en Miene bei dem Satz einen Anflug von Melancholie bekam, und erwartete eine Zwischenfrage,<br />

doch Brigitte saß nur erwartungsvoll da und sah sie mit einem Lächeln an, das sie<br />

bei ihr noch nicht gesehen hatte.<br />

„Warum erzählst Du nicht weiter?“ Brigitte sah Heike erwartungsvoll an.<br />

„Tut es Dir denn nicht im Herzen weh, wenn ich von meinem Glück erzähle?“<br />

„Es freut mich für Dich, dass Du jemanden gefunden hast, den Du gerne magst.“ Brigitte<br />

wollte Heikes Frage nicht direkt beantworten.<br />

Es entstand eine son<strong>der</strong>bare Spannung zwischen den beiden. Keine <strong>der</strong> beiden wollte das<br />

große Wort aussprechen, das doch immer in aller Munde war.<br />

118


Heike setzte sich wie<strong>der</strong> ihrer Freundin gegenüber. Sie stütze ihre beiden Ellenbogen auf<br />

den Tisch auf und öffnete ihre Hände zu einem Halbrund, in das sie ihren Kopf legte. „Ja, ich<br />

liebe Wolfgang“, sagte sie nach einer Weile. „Ich habe es gleich gespürt, als ich ihn sah.“<br />

„Dann war es Liebe auf den ersten Blick“, stellte Brigitte folgerichtig fest. Sie streckte ihre<br />

rechte Hand aus und berührte Heikes linken Unterarm ganz leicht. Heike durchfuhr ein kurzer,<br />

heißer Schauer, den sie sich nicht erklären konnte. Plötzlich empfand sie zu ihrer Freundin<br />

dasselbe, was sie für Wolfgang empfand. Für Heike war es eine Situation, in <strong>der</strong> sie bisher<br />

noch nie war.<br />

Brigitte schien zu merken, dass in Heike zwei Stimmen <strong>der</strong> Empfindung miteinan<strong>der</strong> rangen.<br />

Sie spürte es, zuerst instinktiv, dann wurde ihr bewusst, dass auch sie für Heike mehr<br />

empfand als nur reine Freundschaft.<br />

„Jetzt setz’ dich doch endlich“, for<strong>der</strong>te Brigitte Heike auf. Sie folgte ihr, ohne ein Wort zu<br />

sagen. Brigitte stellte die beiden Glaser auf den niedrigen Tisch, <strong>der</strong> vor dem zweisitzigen<br />

Sofa stand und drehte ihren Oberkörper Heike zu.<br />

„Jetzt sprechen wir mit den Augen“, sagte Brigitte und legte ihre Hände um Heikes Hals.<br />

Plötzlich begann sie zu schluchzen. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich bin ja so froh , dass<br />

ich wenigstens noch dich habe, Heike.“ Brigitte musste ihren Gefühlen freien Lauf geben. Sie<br />

umarmte Heike und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich brauche Dich“, schluchzte sie.<br />

„Ich bin ja so glücklich, dass wir uns heute getroffen haben.“<br />

Heike wischte mit ihrer Hand Brigittes Tränen ab. „Auch ich bin glücklich, dass ich jetzt<br />

bei Dir bin, Brigitte“, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr. Brigitte konnte Heikes warmen<br />

Atem deutlich spüren. „Du bekommst Dein Glück, da bin ich ganz sicher.“<br />

„Küss mich, Heike!“ for<strong>der</strong>te Brigitte ihre Freundin auf. „Ich brauche das Glück jetzt.“<br />

Brigitte drückte Heike fest an sich, sah ihr tief in die Augen und gab ihr einen langen und leidenschaftlichen<br />

Kuss. Heike wehrte sich nicht. Das Eis war gebrochen, schmolz in Windeseile<br />

dahin und wurde zum rauschenden Strom <strong>der</strong> Leidenschaft, die beide erfasste und verschlang.<br />

Heike erwi<strong>der</strong>te den leidenschaftlichen Kuss. „Ich finde es zwar verrückt, was wir machen“,<br />

hauchte sie Brigitte ins Ohr, „aber es ist so wun<strong>der</strong>schön.“<br />

„Ja, da ist es“, flüsterte Brigitte leidenschaftlich und langte ihrer Freundin in den Schritt.<br />

Heike stieß einen lustvollen Schrei aus, als sie Brigittes Hand auf <strong>der</strong> Hose spürte.<br />

„Was machst Du nur mit mir?“ Heike stöhnte. Brigitte sagte nichts, son<strong>der</strong>n rieb bei ihr<br />

weiter im Schritt. Sie nahm ihre Freundin zärtlich in den Arm und gab ihr einen weiteren, leidenschaftlichen<br />

Kuss.<br />

„Ich kann nicht an<strong>der</strong>s, Heike. Ich muss es tun.“<br />

„Ja, tue es!“<br />

Brigitte öffnete den Gürtel von Heikes Jeans, knöpfte die Hose auf und zog sie über die<br />

Hüften nach unten.<br />

„Ja, mach’ weiter. Es ist so schön“, stöhnte Heike und wand sich unter den streichelnden<br />

Händen ihrer Freundin.<br />

Jetzt gab es für die beiden kein Halten mehr. Sie zogen sich aus, wälzten sich nackt und<br />

wollüstig auf dem Sofa. Ihre Küsse wurden immer wil<strong>der</strong>. Dabei waren ihre beiden Mün<strong>der</strong><br />

nicht mehr das einzige Ziel für ihre Lippen. <strong>Die</strong> beiden Freundinnen vergruben sich in den<br />

Schoß <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en.<br />

Brigitte liebkoste ihre Freundin an ihrer intimsten Stelle. Dabei wurde sie immer wil<strong>der</strong>.<br />

Sie leckte wild und leidenschaftlich an <strong>der</strong> Spalte ihrer Freundin, biss in ihre Schamlippen.<br />

Heike schrie laut auf. <strong>Die</strong> Lust vertrieb den kurzen Schmerz, den Brigitte ihr mit den Zähnen<br />

bereitete. Heike konnte nicht an<strong>der</strong>s und saugte sich an Brigittes linker Brustwarze fest, zog<br />

sie mit ihren Lippen in die Länge und strich sie mit den Schneidezähnen. Brigitte ließ kurz<br />

von Heikes Schamlippen los.<br />

119


„Ja, beiß’ sie!“ schrie Brigitte voller Wolllust. „Ich mag es, wenn Du sie beißt!“ Im nächsten<br />

Augenblick steckte ihre Zunge in Heikes jetzt weit geöffneter Spalte. Sie spürte Heikes<br />

Feuchte, die langsam in eine Nässe überging, die Brigitte nur noch wil<strong>der</strong> machte.<br />

„O ja! Du machst mich fertig“, schrie Heike plötzlich. Sie merkte, wie sich ihr Schoß zusammenkrampfte.<br />

Danach gab es für sie kein Halten mehr. „Trink’ mich aus! Trink’ mich<br />

aus!“ stieß sie voller Lust aus. Brigitte spürte wie Heike zu sprudeln begann, aber dieser Saft,<br />

<strong>der</strong> sich über ihr Gesicht ergoss, schmeckte nicht bitter, son<strong>der</strong>n vielmehr etwas säuerlich.<br />

Heike wand sich über Brigitte. Ihr Körper zitterte bis ihr Höhepunkt langsam nachließ und<br />

sie in ein tiefes Gefühl <strong>der</strong> Befriedigung stürzte. Jetzt konnte Brigitte nicht an<strong>der</strong>s und setzte<br />

sich über Heikes Mund. „So, jetzt bist Du dran!“ Brigitte spreizte mit ihren Fingern ihre<br />

Schamlippen und presste sie auf Heikes weit geöffneten Mund, in dem <strong>der</strong>en Zunge schlängelnd<br />

ihren Kitzler suchte. „Leck’ mich aus! Leck’, solange Du willst!“ befahl sie ihrer<br />

Freundin. Wie in Trance spürte sie Heikes heißen Atem und die Zunge, die sie ebenfalls zum<br />

Sprudeln brachte.<br />

„Ah, ja!“ Brigittes fast markerschüttern<strong>der</strong> Schrei markierte ihren Höhepunkt. „Mir<br />

kommt’s! Mir kommt’s! Jetzt spritze ich auf Dich!“ schrie sie und Heike saugte das köstlich<br />

schmeckende Nass aus dem brodelnden Schoß ihrer Freundin, die heute zu ihrer Geliebten<br />

geworden war.<br />

Erschöpft und tief befriedigt ließen sich Heike und Brigitte auf das Sofa fallen. Wer hätte<br />

das gedacht, was sie gerade gemacht hatten? Beiden schwirrte <strong>der</strong> Kopf. Es dauerte Minuten,<br />

bis es ihnen ins Bewusstsein drang, dass sie sich gegenseitig zum Höhepunkt gebracht hatten.<br />

Heike schlug ganz langsam ihre Augen auf. Es schien ihr, als erwachte sie aus einem<br />

Traum. Aber es war die Wirklichkeit, die sie wie<strong>der</strong> einnahm. Sie spürte die warme, weiche<br />

Haut von Brigittes Schulter an <strong>der</strong> ihren.<br />

„Was haben wir gemacht?“ Brigitte blinzelte ihre Freundin an.<br />

„Wir haben uns geliebt, Brigitte, so innig geliebt, dass wir aus uns selbst gegangen sind.“<br />

Heike gab Brigitte einen zarten Kuss auf den Hals. <strong>Die</strong>se zog sie wie<strong>der</strong> an sich und sah ihr<br />

tief in die Augen.<br />

„Ich hätte nie gedacht, dass es mit einem weiblichen Wesen so schön sein kann“, begann<br />

Brigitte und küsste Heike noch einmal. „Geträumt habe ich schon öfter davon, aber die Wirklichkeit<br />

ist noch schöner als ein Traum ...“<br />

Heike seufzte kaum wahrnehmbar. „Ich bin noch völlig fertigt“, sagte sie leise in Brigittes<br />

Ohr. „Ich kann jetzt noch nicht aufstehen.“<br />

„Dann bleib’ doch liegen und schlafe heute Nacht bei mir.“ Brigittes Stimme klang im Ohr<br />

ihrer Freundin schmeichelnd und sehr verführerisch.<br />

Heike streckte sich und hob ihre Arme in die Höhe. „Danke für das Angebot“, flüsterte sie,<br />

„aber ich hatte nicht vor, hier bei Dir zu übernachten.“<br />

„Warum nicht?“<br />

„Ich weiß es auch nicht.“<br />

„Bleib’ hier bei mir, Heike. Wir sind nicht nur Freundinnen, son<strong>der</strong>n ...<br />

„... auch Lesbierinnen geworden“, unterbrach Heike.<br />

„Ach was!“ Brigitte versuchte abzuwiegeln. „Du schätzt doch so gut wie ich so einen<br />

schönen steifen Stängel, wenn er ...“<br />

„Hör’ auf, Brigitte! Ich möchte jetzt an etwas an<strong>der</strong>es denken.“<br />

„Und an was willst Du denken?“ Brigitte wurde neugierig. Sie konnte es sich nicht vorstellen,<br />

dass Heike plötzlich an etwas an<strong>der</strong>s als an das denken wollte, von dem sie jetzt sprachen.<br />

„Ich muss an Wolfgang denken“, sagte Heike nach einer Weile leise.<br />

„An Wolfgang!“ Brigitte fuhr hoch. Sie spürte einen schmerzenden Stich in ihrem Innern.<br />

Sie wollte etwas sagen, aber dieses plötzlich in ihr aufgeschossene Gefühl war stärker und<br />

120


verbot ihr zu reden. Sie sah Heikes Freund plötzlich mit ganz an<strong>der</strong>en Augen als noch vor<br />

einer Stunde. Er war ihr Konkurrent geworden.<br />

Heike spürte am Tonfall von Brigittes Ausruf instinktiv, dass <strong>der</strong> Vorname ihres Freundes<br />

für Brigitte zum Reizwort geworden war. Sie überlegte, was sie sagen sollte, zog es aber vor,<br />

im Moment zu schweigen und abzuwarten, was Brigitte weiter sagen würde.<br />

„Was ist mit Dir, Heike?“ fragte Brigitte nach einer Weile, in <strong>der</strong> sie nackt und still nebeneinan<strong>der</strong><br />

lagen.<br />

„Ich muss immer an Wolfgang denken“, entgegnete diese. „Ich frage mich, ob ich ihn heute<br />

mit Dir betrogen habe.“<br />

„Ach Quatsch!“ Brigittes Entrüstung war nicht gespielt. „Wir haben eben alle beide einen<br />

gewissen Hang zum Bisexuellen. Weiter nichts!“<br />

„Du machst Dir’s aber einfach, Brigitte!“ Heike drehte sich zu ihrer Freundin um und sah<br />

ihr ins Gesicht. Dabei erkannte sie erst, dass Brigitte einige kleine Sommersprossen auf ihrer<br />

Nase hatte. „Für mich war es schön bei Dir, Brigitte. Aber es war doch reiner Sex, zu dem wir<br />

uns in unserer Geilheit haben hinreißen lassen. O<strong>der</strong> nicht?“<br />

„Sei mir nicht böse, Heike, aber ich habe jetzt keine Lust, philosophischen Gedanken<br />

nachzuhängen.“ Brigitte gähnte. Sie war müde vom Tag. „Bleib’ doch bei mir heute Nacht.<br />

Ich will nicht wie<strong>der</strong> alleine aufwachen morgen früh.“ Brigitte versuchte Heike zu umarmen.<br />

Nur wi<strong>der</strong>willig ließ ihre Freundin sie gewähren.<br />

Heike sah Brigitte tief in ihre blauen Augen. „Ich mag Dich sehr, Brigitte“, flüsterte sie ihrer<br />

Freundin ins Ohr. „Aber Wolfgang liebe ich von ganzen Herzen. Das habe ich vorhin erst<br />

so richtig gespürt.“<br />

„Ich mag’ Dich nicht nur, ich liebe Dich, Heike.“ Brigitte gab ihrer Freundin einen langen<br />

Kuss. Heike spürte, wie Brigittes Zunge den Weg in Ihren Mund suchte.<br />

„Bist Du sicher, dass es Liebe ist?“ Heikes Frage entfachte in Brigitte ein Gefühl <strong>der</strong> Einsamkeit.<br />

Sie brauchte jemanden, dem sie voll und ganz vertrauen konnte. Aber konnte sie das<br />

bei Heike?<br />

„Geh’n wir schlafen!“ for<strong>der</strong>te Brigitte ihre Freundin auf. Doch Heike stand auf und suchte<br />

nach ihren Kleidungsstücken, die zusammen mit Brigittes verstreut auf den Boden lagen.<br />

„Sei mir nicht böse, Brigitte, aber ich muss nach Hause“, sagte Heike und begann sich anzuziehen.<br />

„Ich will jetzt alleine sein und auch alleine nachdenken.“<br />

„Nein, ich bin Dir nicht böse, Heike“, entgegnete Brigitte verträumt. „Es wäre zu schön<br />

gewesen, wenn Du bei mir übernachtet hättest. Aber ich will Dich nicht an mich fesseln. Du<br />

kannst je<strong>der</strong> Zeit zu mir kommen, wenn Du Lust auf mich hast o<strong>der</strong> auch nur, wenn Du mit<br />

mir einfach nur reden willst.“<br />

Heike zog ihre Hose über ihre Hüften und schloss den Gürtel. Dann setzt sie sich auf das<br />

Sofa, auf <strong>der</strong> Brigitte noch immer nackt lag, und beugte sich zu ihr herab. „Ich komme wie<strong>der</strong><br />

zu Dir, Brigitte. Aber jetzt muss ich gehen. Gute Nacht, schlaf’ gut!“ Sie gab ihr einen Kuss<br />

auf die Wange und stand auf.<br />

Brigitte streckte sich. Dabei kamen ihre üppigen Brüste erst richtig zur Geltung. Aber die<br />

sah Heike nicht mehr, denn sie hatte bereits ihre Tasche gepackt und unter ihren rechten Arm<br />

geklemmt. Eilig lief sie in Richtung <strong>der</strong> Wohnungstüre.<br />

„Mach’s gut, Brigitte! Tschüß!“<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen! Komm’ bald wie<strong>der</strong>, Heike!“, rief Brigitte ihrer Freundin nach und<br />

rappelte sich langsam vom Sofa hoch. Sie hörte noch, wie die Türe ins Schloss fiel, bevor sie<br />

aufstand und so, wie sie war, ins Bad ging.<br />

Heike eilte durch die nächtlichen Straßen von Erlangen. Sie erreichte gerade noch den<br />

Nachtbus nach Nürnberg, mit dem sie ein Stück in Richtung ihres Studentenappartements fahren<br />

konnte. Zwanzig Minuten nachdem sie von Brigitte hastig aufgebrochen war, schloss sie<br />

die Türe ihrer kleinen Unterkunft auf. Ihre Tasche flog in hohem Bogen auf die kleine Kommode,<br />

die unter <strong>der</strong> winzigen Gar<strong>der</strong>obe stand. Heike gähnte.<br />

121


‚Ich hätte mich doch nicht auf Brigitte einlassen sollen’, dachte sie und merkte, wie sich<br />

ihr schlechtes Gewissen immer heftiger bei ihr meldete. ‚Jetzt bin ich Wolfgang untreu geworden.<br />

Kann ich mir das je selbst verzeihen?’<br />

‚Sei keine Närrin’, meldete sich ihre innere Stimme zu Wort. Du hast mit Brigitte Spaß gehabt,<br />

sonst weiter nichts. Genieße dein Leben, wenn du jung bist, später ist es vorbei mit den<br />

Abenteuern in fremden Betten.’<br />

„Geh’ hinweg, Du Teufel!!“ Heike schrie und erschrak über sich selbst. ;Nein, mache Dir<br />

jetzt keine Gewissensbisse’, dachte sie gleich danach bei sich und zog sich aus. Dabei fühlte<br />

sie wie<strong>der</strong> ihren Körper, <strong>der</strong> innerlich immer noch vor Lust bebte.<br />

Um halb zwei Uhr ging Heike ins Bett. Es dauerte nur wenige Minuten, dann verfiel sie<br />

zunächst in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Doch ihr Unterbewusstsein arbeitete unermüdlich<br />

weiter.<br />

Nach zwei Stunden fand sie sich in einem blühenden Garten wie<strong>der</strong>, <strong>der</strong> terrassenförmig<br />

angelegt war. Hinter vielen Büschen gab es Nischen, in denen sich Pärchen vergnügten. Heike<br />

wan<strong>der</strong>te im Garten umher, lange Zeit, immer wie<strong>der</strong> auf Menschen stoßend, die sich liebten.<br />

Sie wan<strong>der</strong>te immer weiter und erschrak plötzlich, denn sie meinte, sich selbst in einer <strong>der</strong><br />

Nischen nackt auf einer Steinbank sitzend zu sehen, einen ihr unbekannten, ebenfalls nackten,<br />

schlanken Mann umarmend. Als sie näher trat, drehte sich <strong>der</strong> Mann ihr zu und sie erkannte<br />

Wolfgang, <strong>der</strong> sie anlächelte. „Sei ungesorgt“, sagte er zu ihr. „Ich liebe Dich und ich werde<br />

Dich immer lieben, was auch immer kommen wird.“ Heike wollte etwas antworten, brachte<br />

aber keinen Ton heraus. Da drehte sich auch die Frau um, die Wolfgang immer noch in den<br />

Armen hielt. Das erste, was sie von ihr sah, war nicht ihr Gesicht, son<strong>der</strong>n ihre üppigen Brüste,<br />

die ihr bekannt vorkamen. „Ich liebe Dich auch, Heike“, sagte die Frau und nur an ihrer<br />

Stimme erkannte Heike, dass es Brigitte war.<br />

Heike wachte schweißgebadet auf. Draußen begann es bereits zu dämmern. Ihr Herz pochte<br />

ihr bis zum Hals. Sie hatte noch das Bild vor Augen, wie sich ihre Freundin ...<br />

‚Mach’ Dich nicht verrückt’, dachte Heike bei sich. ‚Es war nur ein Traum und Du kannst<br />

noch schlafen.’ Sie drehte sich im Bett um und war bald wie<strong>der</strong> eingeschlafen.<br />

Das Telefon klingelte kurz nach acht Uhr, aber die Lautstärke des Signaltons konnte Heike<br />

nicht wachrütteln. Zu anstrengend war die Nacht gewesen, als dass sie um diese Uhrzeit<br />

schon wach sein konnte. Sie schlief friedlich noch eine halbe Stunde weiter.<br />

Was Heike nicht wissen konnte, war, woher <strong>der</strong> Anruf kam. Ein hagerer Mann mit Dreitagebart<br />

hatte den Hörer in <strong>der</strong> Telefonzelle nicht weit von Heikes Appartement aufgelegt und<br />

ging in sich hineingrinsend in Richtung <strong>der</strong> Straße die zum Institut für Neuere Geschichte<br />

führte. Ihm war kein Schritt Heikes in den letzten Tagen fremd geblieben, denn er hatte sie<br />

und damit auch Wolfgang auf Schritt und Tritt verfolgt.<br />

Harald Grattler ging nicht ins Institut, son<strong>der</strong>n daran vorbei. Er hatte heute keine Lust zu<br />

arbeiten, wollte sich lieber die mehr o<strong>der</strong> weniger großen nackten Brüstchen im Freibad genüsslich<br />

betrachten, die ein warmer, sonniger Spätsommertag versprach. Sein Plan über sein<br />

weiteres Vorgehen stand fest. Er musste Heike und ihren Freund nicht weiter beschatten. In<br />

ihm war die Erkenntnis gereift, dass er nur durch die Schriftstücke den toten Punkt in seiner<br />

Ahnenforschung überwinden konnte, die im Büro von Dr. Brenner in dessen Stahlschrank<br />

lagerten. Dabei sollte ihm jedes Mittel recht sein, dessen er habhaft werden konnte. Doch zunächst<br />

trieb in jener Trieb ins Freibad, <strong>der</strong> die Menschen nicht aussterben ließ.<br />

Heike blickte in Richtung Westen. <strong>Die</strong> Wolken, die sie dort sah, verhießen nicht allzu Gutes.<br />

Sie waren dunkelgrau, fast schwarz mit einem etwas grünlichen Schimmer. „Ich meine,<br />

26<br />

122


wir sollten austrinken und unsere Zelte hier abbrechen, denn es sieht nicht gut aus an <strong>der</strong> Wetterfront“,<br />

sagte sie zu allen mit ernster Miene.<br />

„Nur keine Panik, Heike“, wiegelte Wolfgang ab. „Das Wetter wird noch eine Weile dauern.“<br />

„Da kann man sich aber leicht täuschen“, entgegnete Elke. „So ein Gewitter zieht manchmal<br />

sehr schnell heran und dann bleibt meist wenig Zeit, sich ins Trockene zu bringen.<br />

„Also zahlen wir!“ Heikes Vater zeigte sich entschlossen und winkte dem Kellner, <strong>der</strong> viel<br />

zu tun hatte. „Ich übernehme die Zeche.“<br />

Elke blickte ihren Mann kurz überrascht an, sah aber dann zu Wolfgang, <strong>der</strong> mit Heike auf<br />

<strong>der</strong> gegenüberliegenden Seite des Tisches saß.<br />

„Vielen Dank, Herr Markert“, bedankte sich Wolfgang. „Ich hoffe ich kann mich irgendwann<br />

dafür revanchieren.“<br />

„Nicht <strong>der</strong> Rede wert, Wolfgang.“ Heinz macht mit seiner rechten Hand eine abweisende<br />

Bewegung und lachte. „Wir wollen uns doch hier nicht übers Bezahlen streiten.“<br />

Heikes Befürchtungen waren nicht übertrieben. Das Unwetter zog schneller heran als es<br />

mancher erwartet hatte. Heike, ihre Eltern und Wolfgang konnten gerade noch in eine Einkaufspassage<br />

flüchten, als es zunächst heftig zu regnen begann. Blitze durchzuckten in immer<br />

kürzeren Abständen den verdunkelten Himmel. Der Donner erschütterte die schlagartig kühl<br />

gewordene Luft. Dann hellte es sich zwar kurzzeitig etwas auf, aber <strong>der</strong> grünliche Schimmer,<br />

den Heike gesehen hatte, entpuppte sich zu einem heftigen Hagelschlag. <strong>Die</strong> fast tischtennisballgroßen<br />

Hagelkörner schlugen ein, auf die Dächer <strong>der</strong> Häuser, auf den Boden, <strong>der</strong> in kurzer<br />

Zeit weiß wie im Winter war, übersäht von dem gefrorenem Wasser, welches sich in großer<br />

Höhe in den Wolken gebildet hatte.<br />

Heike zitterte, sie fröstelte in ihrem T-Shirt. Wolfgang nahm sie in den Arm und versuchte,<br />

ihr ein wenig Wärme zu geben. Aber er hatte auch keine Jacke bei sich, die er Heike hätte<br />

umhängen können. So konnten nur seine warmen Hände Heikes kalten Oberarme etwas wärmen.<br />

„Brrr, mich friert’s“, stellte auch Heikes Mutter fest, die zusammen mit Heinz Wolfgang<br />

gegenüber in <strong>der</strong> Passage stand, in die sich noch einige an<strong>der</strong>e Leute vor dem Unwetter geflüchtet<br />

hatten. Auch Heinz hatte wie Wolfgang keine Jacke dabei und versuchte, auch Elke<br />

durch Reiben seiner Hände an <strong>der</strong>en Arme etwas Wärme zukommen zu lassen.<br />

„Ich hoffe, das Wetter dauert nicht zu lange“, sagte Wolfgang nach einiger Zeit. „Es wäre<br />

schön, wenn man heute Nachmittag noch etwas unternehmen könnte.“<br />

„Was willst Du denn noch machen, Wolfgang?“ fragte Heike ihren Freund und sah ihn<br />

ernst und nachdenklich an.<br />

„Mir wird schon noch etwas einfallen“, erwi<strong>der</strong>te dieser und sah auf seine Armbanduhr.<br />

Vor <strong>der</strong> Passage regnete es noch sehr heftig. Zu hageln hatte es nach kurzer Zeit zum<br />

Glück aufgehört und die Hagelkörner schmolzen schnell auf dem warmen Boden dahin. Doch<br />

waren einige Gullys durch sie verstopft, was zur Folge hatte, dass an einigen Stellen das Regenwasser<br />

nur sehr schlecht abfließen konnte. Große Pfützen bildeten sich. Sie garantierten<br />

nasse Füße, wenn man mit offenen Sommerschuhen durch sie hindurch musste. Doch im<br />

Moment war es noch nicht so weit. Nicht nur Wolfgang, Heike und ihre Eltern, son<strong>der</strong>n auch<br />

die meisten an<strong>der</strong>en Leute, die sich frierend in <strong>der</strong> Passage aufhielten, harrten aus und warteten<br />

ab, bis <strong>der</strong> Regen soweit nachließ, dass man auch ohne Schirm weitergehen konnte, ohne<br />

nach ein paar Metern durchnässt zu sein.<br />

„Und was stellen wir jetzt an diesem verregneten Nachmittag an, Elke.“ Heinz blickte seine<br />

immer noch frierende Frau von <strong>der</strong> Seite an und lächelte ihr zu.<br />

„Das fragst Du eine Hausfrau?“ Elke versuchte so vorwurfsvoll dreinzublicken wie es nur<br />

ging. „Ich habe daheim genügend Arbeit herumliegen.“<br />

„Also gut“, willigte Heinz ein, denn er erriet den Wunsch seiner Frau, „dann fahren wir<br />

heim.“<br />

123


„Na, so war das auch nicht gemeint“, entgegnete Elke. „<strong>Die</strong> Arbeit daheim läuft mir<br />

schließlich nicht davon.“<br />

„Da hast Du auch wie<strong>der</strong> recht, Elke.“ Heinz war überrascht von <strong>der</strong> Antwort seiner Frau.<br />

„Dann geh’n wir doch ins Museum!“ schlug er vor.<br />

„Doch nicht jetzt!“ Elke hatte keine Lust auf ein Museum. Sie war immer noch etwas ärgerlich,<br />

dass ihnen ein Unwetter den sonnigen Aufenthalt im Biergarten an <strong>der</strong> Pegnitz verdorben<br />

hatte. „Geh’n wir doch noch ein wenig bummeln und anschließend in ein Café!“<br />

„Da bin ich sofort dabei.“ Heinz war begeistert über den Vorschlag seiner Frau. „Geht Ihr<br />

auch mit?“ fragte er zu Heike und Wolfgang gerichtet. <strong>Die</strong> beiden sahen sich an und ihre<br />

Miene verriet ihm, dass sie nicht so begeistert nach einem Stadtbummel waren.<br />

„Sei uns nicht böse“, begann Heike. „Aber Ihr könnt bestimmt verstehen, dass wir jetzt<br />

gerne noch ein wenig allein sein wollen.“<br />

„Du meinst allein zu zweit.“ Heinz hatte verstanden und lächelte seine Tochter an. <strong>Die</strong><br />

beiden sagten nichts, son<strong>der</strong>n lächelten still zurück.<br />

„Also dann auf Wie<strong>der</strong>sehen, ihr beiden“, verabschiedete sich Heinz und wollte gehen,<br />

doch seine Frau hielt ihn zurück.<br />

„Nicht so schnell, Heinz“, entgegnete Elke. „Noch regnet es genug da draußen, um nach<br />

spätestens fünf Minuten ohne Schirm durchnässt zu sein.“<br />

„Also gut“, sagte Heinz ungeduldig. „Warten wir noch, bis wir Wurzeln geschlagen haben.“<br />

„Du bist und bleibst ein alter Kindskopf, Heinz“, hielt Elke ihrem Mann vor. „Auf die paar<br />

Minuten, in denen wir hier noch stehen bleiben, kommt es nun wirklich nicht mehr an.<br />

Schließlich haben wir noch Ferien.“<br />

Heinz sagte nichts, son<strong>der</strong>n drehte sich in Richtung des Passageneingangs und ging die<br />

wenigen Schritte dorthin, um die Regenlage besser beurteilen zu können.<br />

Nach ein, zwei Minuten kam er wie<strong>der</strong> zurück und verkündete freudestrahlend: „Es hat zu<br />

regnen aufgehört!“<br />

Alle waren erleichtert, denn es wurde schon langsam unangenehm, nur herum zu stehen<br />

und zu warten, bis das Unwetter abzog. Bewegung tat Not, um die Glie<strong>der</strong> und Muskeln wie<strong>der</strong><br />

durch Bewegung warm zu machen. So waren alle froh, als sie den selbsterwählten Unterstand<br />

verlassen und durch die noch tropfnasse Fußgängerzone weitergehen konnten. Nach<br />

einigen Minuten, in denen Elke und Heinz auf <strong>der</strong> einen und Heike und Wolfgang auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite paarweise zusammen gingen, trennte man sich. Heikes Eltern wollten ins Café<br />

gehen. Heike und Wolfgang waren sich noch unschlüssig, was sie den Rest des Nachmittags<br />

unternehmen wollten.<br />

„Und was machen wir jetzt?“ Heike schaute Wolfgang fragend an.<br />

Wolfgang blieb stehen und überlegte einen Moment. „Wie wär’s denn, wenn wir das nachholten,<br />

was wir gestern Nachmittag nicht getan haben.“<br />

Heike errötete, fasste sich aber gleich wie<strong>der</strong>. Sie musste an die letzte Nacht bei Brigitte<br />

denken und verspürte wie<strong>der</strong> die Sehnsucht, die sie ergriffen hatte, als sie sich von ihr verabschiedet<br />

hatte und dabei sehr intensiv an Wolfgang denken musste. Sie sagte zu nächst nichts,<br />

blieb aber plötzlich stehen, umarmte Wolfgang und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.<br />

<strong>Die</strong>ser war Antwort genug.<br />

Stumm gingen sie Arm in Arm zu Wolfgangs Wagen, <strong>der</strong> in einem Parkhaus stand. An den<br />

Autos, die dem Unwetter ausgesetzt waren, verrieten kleine Dellen im Blech, dass die Wucht<br />

<strong>der</strong> Hagelkörner nicht unerheblich gewesen war.<br />

Dr. Brenner saß zusammen in seinem Büro und diktierte Frau Beck aus den <strong>Wachstuchhefte</strong>n<br />

<strong>der</strong> Elfriede Seiffert, die später Wagner hieß. Zwei Hefte waren bereits transkribiert und<br />

man hatte sich heute Nachmittag vorgenommen, das dritte in Angriff zu nehmen. Draußen<br />

war es trüb. Der bevorstehende Herbst kündigte sich bereits durch Frühnebel an und man<br />

124


konnte gerade noch seine Zeit an sonnigen Nachmittagen, wenn die Sonne ihren noch immer<br />

großen Bogen in Richtung Südwesten senkte, bei angenehmen Temperaturen, die etwas über<br />

zwanzig Grad lagen, im Freien verbringen.<br />

Um halb fünf Uhr nachmittags, war es geschafft: Dr. Brenner und Frau Beck hielten in ihrer<br />

Arbeit inne.<br />

„Da haben wir heute doch ein schönes Stück Arbeit geschafft“, sagte Gabi Beck, lehnte<br />

sich zurück und streckte beide Arme nach oben aus, um ihren Rücken ein wenig Entspannung<br />

zu verschaffen.<br />

„Sie haben recht, Frau Beck“, entgegnete Dr. Brenner. „<strong>Die</strong> letzten Seiten des zweiten<br />

Heftes waren wirklich anstrengend, vor allem beim Lesen. Elfriedes Schrift ist schlechter geworden.<br />

Warum wohl, frage ich mich.“<br />

„Das kann viele Ursachen haben, Herr Doktor.“ Gabi Beck faltete ihre ausgestreckten<br />

Hände über ihrem Kopf und drehte die Handinnenflächen nach oben. Es war eine Entspannungsübung,<br />

die sie fast unbewusst immer durchführte, wenn sie merkte, dass ihre Finger<br />

klamm vom Tippen wurden.<br />

„Das ist gut möglich.“ Dr. Brenner kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr und sah noch<br />

mal auf den Bildschirm. „Ich kann nur keinen Grund finden, warum die an sich schöne Schrift<br />

in den letzten beiden Tagebucheinträgen plötzlich so fahrig, ja fast unleserlich wird.“<br />

„Machen wir eine Kaffeepause!“ Schlag Gabi Beck vor. „O<strong>der</strong> wollen wir für heute aufhören?“<br />

„Beides, Frau Beck!“ antwortete Dr. Brenner spontan. „Wir trinken noch einen Kaffee in<br />

unserem Aufenthaltsraum und machen Schluss für heute. Schließlich geht es schon gegen<br />

fünf und ich wollte heute in <strong>der</strong> Stadt noch ein Buch abholen, das ich gestern in <strong>der</strong> Buchhandlung<br />

bestellt habe.“<br />

„Das nenne ich ein Wort, Herr Doktor“, entgegnete Gabi Beck. „Ich verschicke noch den<br />

Text an Heike Markert und dann soll mir die Kiste für heute gestohlen bleiben.“<br />

„Tun Sie das, Frau Beck“, ermunterte Dr. Brenner seine Mitarbeiterin. „Ich räume <strong>der</strong>weil<br />

hier noch etwas auf.“<br />

Gabi Beck tat wie sie versprochen hatte und versandte den heute geschriebenen Text über<br />

eine e-Mail an Heike. Dann ging sie zusammen mit Dr. Brenner in den Aufenthaltsraum, um<br />

sich vor dem Heimgehen noch mit einer kleinen Tasse Cappuccino aus dem Automaten zu<br />

stärken.<br />

„Hallo Gabi!“ Harald Grattler schien erstaunt zu sein, als die Assistentin von Dr. Brenner<br />

in den Aufenthaltsraum, trat, <strong>der</strong> sich am Ende des Hauptflurs in <strong>der</strong> zweiten Etage des Instituts<br />

befand.<br />

„Hallo Harald!“ Gabis Blick heiterte sich schlagartig auf, als sie Harald an dem einen langen<br />

Tisch sitzen sah, an dem sich fast alle Mitglie<strong>der</strong> des Instituts in den Pausen traf. Doch<br />

jetzt saß er allein dort, trank einen Kaffee und rauchte eine von seinen selbstgedrehten Zigaretten,<br />

bei denen <strong>der</strong> Papieranteil fast höher war als <strong>der</strong> des schwarzen Tabaks.<br />

Harald Grattler stand schnell auf und eilte Gabi entgegen. Sie umarmten sich.<br />

Dr. Brenner, <strong>der</strong> einige Schritte hinter Gabi Beck den Raum betreten hatte, wun<strong>der</strong>te sich<br />

über so viel Vertrautheit, sagte aber nichts , son<strong>der</strong>n ging zur Kaffeemaschine und or<strong>der</strong>te bei<br />

dieser Kaffee für seine Tasse, die er aus seinem Büro mitgebracht hatte. <strong>Die</strong> Maschine entließ<br />

ein schwarzes, dampfendes Getränk röchelnd über zwei Röhrchen in Dr. Brenners Kaffeehumpen.<br />

Er beachtete seine Assistentin und den Kollegen Grattler nicht weiter, son<strong>der</strong>n ging<br />

mit seinem Trinkgefäß in <strong>der</strong> rechten Hand an das eine <strong>der</strong> beiden Fenster des Raumes, durch<br />

das man das Treiben auf <strong>der</strong> Straße vor dem Institut beobachten konnte. Ganz im Hintergrund<br />

nahm er die beiden an<strong>der</strong>en Anwesenden war, die sich angeregt zu unterhalten schienen.<br />

„Ich möchte nur wissen, warum Du Dich so sehr für Dr. Brenners Arbeit interessierst, Harald?“<br />

Gabi sah ihren Freund fragend an.<br />

125


„Mich interessiert nur was in den Tagebüchern steht, die ihr abschreibt.“ Harald Grattler<br />

war alles an<strong>der</strong>e als ein Mensch, <strong>der</strong> seine Wünsche und Leidenschaften für sich behielt.<br />

„Das geht Dich doch nichts an!“ zischte Gabi Harald an.<br />

„Und ob mich das was angeht!“ fauchte Harald Grattler zurück.<br />

„Das verstehe ich nicht“, gab Gabi heftig zurück. „Ich bin verpflichtet, nicht darüber zu reden.<br />

Das habe ich Dr. Brenner versprechen müssen.“<br />

Harald Grattler verzog sein Gesicht. Gabi erschrak, als sie Haralds finstere Miene sah.<br />

„Ich werde wohl etwas weiter ausholen müssen“, begann Harald nach einer Weile. „Habe<br />

ich Dir schon erzählt, dass ich ein wenig Familienforschung betreíbe?“ fragte er mit einem<br />

betont aufgesetztem Lächeln.<br />

„Und was hat das mit den Tagebüchern zu tun, die Dr. Brenner und ich abschreiben.?“ Gabis<br />

verständnisloses Gesicht trieb Harald das Blut in den Kopf.<br />

„Sehr viel, Gabi. Ich habe eine Ururgrossmutter, die in Fürth geboren sein soll. Doch das<br />

ist ja das Problem: Ich kann sie nicht als in Fürth geboren finden.“ Harald Grattler senkte seinen<br />

Blick.<br />

„Dann wird sie wohl auch nicht dort geboren worden sein“, entgegnete Gabi kühl.<br />

„Das glaube ich nicht“, behauptete Harald Grattler fest. „Aber sie heißt Elfriede Wagner.<br />

Na, fällt <strong>der</strong> Groschen jetzt bei Dir?“<br />

„<strong>Die</strong> Frau, <strong>der</strong>en Tagebücher wir abschreiben heißt Elfriede Seiffert“, gab Gabi betont entschlossen<br />

zurück.<br />

„Ja, ja, mit Mädchennamen“, drängte Harald Grattler. „Es könnte meine Elfriede Wagner<br />

sein.“<br />

„Aber das ist doch eine reine Vermutung, Harald!“ entrüstete sich Gabi. „Wie viele Elfriedes<br />

werden wohl in Fürth geboren worden sein?“<br />

„Aber in <strong>der</strong> Zeit könnte es hinkommen!“ Harald Grattler gab nicht auf, Gabi von seiner<br />

Vermutung zu überzeugen. „Wenn die beiden identisch sind, dann habe ich diesen toten<br />

Punkt überwunden.“<br />

„Welchen toten Punkt meinst Du, Harald?“ Gabis Frage brachte Harald in Rage.<br />

„Na, meinen toten Punkt in meiner Familienforschung. Verstehst Du jetzt?!“ schrie Harald<br />

seine Freundin an. Obwohl Dr. Brenner in tausend Gedanken versunken war, so hörte er jetzt<br />

zwei Worte in sein Bewusstsein dringen. Und diese waren „toter Punkt“ und „Familienforschung.<br />

Dr. Brenner drehte sich so hastig um, dass er benahe seinen Kaffee ausgeschüttet hätte.<br />

„Sie betreiben auch Familienforschung, Herr Grattler?“ fragte Dr. Brenner erstaunt mit fester<br />

Stimme quer durch den Raum.<br />

Harald Grattler fühlte sich wie ein entdeckter <strong>Die</strong>b und war verunsichert. Eigentlich wollte<br />

er sein Hobby hier geheim halten, aber nun wusste es zumindest außer Gabi Beck auch Dr.<br />

Brenner.<br />

„Na, ja, so ein bisschen“ Harald Grattlers Stimme zitterte ein wenig und klang kleinlaut.<br />

„Aber das ist doch nichts Schlimmes, Herr Kollege.“ Dr. Brenner ging auf die beiden zu,<br />

die an dem langen Tisch Platz genommen hatte und setzte sich zu ihnen.<br />

„Ich möchte nicht weiter darüber sprechen“, entgegnete Harald. Seine Stimme hatte sich<br />

erstaunlich schnell gefestigt.<br />

Dr. Brenner stand sofort wie<strong>der</strong> auf, trank im Stehen einen kräftigen Schluck Kaffe und<br />

ging wie<strong>der</strong> ans Fenster zurück, aus dem er wie<strong>der</strong> gedankenverloren hinaussah. Er hörte<br />

noch, wie sich seine Assistentin von ihm verabschiedete. Doch als es dies erwi<strong>der</strong>n wollte und<br />

sich umdrehte, waren die beiden schon schnell aus dem Raum verschwunden.<br />

Wolfgangs Vater war etwas erstaunt über das Gebaren des Kollegen Grattler, doch er war<br />

viel zu tief in seinen Gedanken versunken, als dass er darüber weiter nachdenken wollte. Er<br />

überlegte sich, wie er die Tagebucheinträge <strong>der</strong> Elfriede für seine Studie nutzen konnte, kam<br />

aber für den Moment zu keinem Ergebnis und beschloss, für heute seine Arbeit am Institut zu<br />

126


eenden. Er trank seinen Kaffee rasch aus, reinigte die Tasse und ging wie<strong>der</strong> in sein Büro<br />

zurück.<br />

Auf seinem Schreibtisch lagen noch drei <strong>der</strong> sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>. <strong>Die</strong> restlichen standen<br />

abgeschlossen in einem Stahlschrank, in dem Dr. Brenner die Dokumente aufbewahrte, die<br />

ihm beson<strong>der</strong>s wichtig erschienen. Er stellte die ersten drei Tagebücher zu den an<strong>der</strong>en und<br />

verschloss den Schrank wie<strong>der</strong>. Danach ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, verschränkte<br />

seine Arme hinter dem Kopf und atmete mehrere Male tief durch, nachdem er zuvor<br />

das Fenster geöffnet hatte, um ein wenig frische Luft in sein viel zu kleines Büro einströmen<br />

zu lassen.<br />

‚Ich möchte nur wissen’, dachte er bei sich, ‚warum die Schrift von Elfriede Seiffert in den<br />

letzten Einträgen des zweiten Tagebuches plötzlich so an<strong>der</strong>s, so eilig hingeschrieben wirkt.<br />

Aber die Lösung werde ich jetzt und heute nicht finden. Deshalb soll’s für heute genug sein!’<br />

Dr. Brenner stand auf, räumte noch ein paar Sachen auf und machte sich fertig zum Gehen,<br />

da klingelte das Telefon. Er überlegte einen Moment, ob er abnehmen solle, ließ es noch<br />

zweimal klingeln und hob dann doch ab.<br />

„Brenner?!“ meldete sich Wolfgangs Vater auf seine betont freundliche Art, doch es<br />

knackte nur in <strong>der</strong> Leitung, als habe jemand in diesem Moment aufgelegt.<br />

‚Na ja, dann eben nicht!’, dachte Dr. Brenner bei sich und legte den Hörer vorsichtig wie<strong>der</strong><br />

auf die Gabel.<br />

‚Hast du alles mitgenommen?’, war die letzte Frage, die sich Dr. Brenner stellte, als er sein<br />

Büro abschloss. ;Nein, du dürftest alles in die Aktentasche getan haben.’<br />

Er eilte den Gang entlang zum Treppenhaus, hastete geschwind die Stufen hinunter und<br />

verlies kurz vor fünf Uhr nachmittags das Institut.<br />

Dr. Brenner ging schnurstracks zu <strong>der</strong> Buchhandlung, in <strong>der</strong> er ein bestelltes Buch abholen<br />

wollte. Dabei achtete er nicht rechts und links, son<strong>der</strong>n schritt gedankenversunken voran, bis<br />

er sein Ziel erreicht hatte. Lei<strong>der</strong> hatte er sich umsonst bemüht. Das bestellte Buch war noch<br />

nicht eingetroffen. Ein wenig enttäuscht trat er den Rückweg zum Parkplatz des Instituts an.<br />

Er sah kurz zur zweiten Etage hinauf. Da gewahr er einen Lichtschein hinter einem <strong>der</strong> unbeleuchteten<br />

Fenster. O<strong>der</strong> hatte er sich getäuscht? Er rechnete die soeben bemerkte Erscheinung<br />

seinem etwas überreizten Geist zu, stieg in seinen Wagen und fuhr durch den dichten<br />

Verkehr nach Hause.<br />

Heike wachte auf und fühlte sich glücklich. Neben ihr lag Wolfgang und schlief. Sie lächelte<br />

und drehte sich auf die linke Seite, Wolfgang zugewandt. Einige Minuten beobachtete<br />

sie ihn. Seine regelmäßigen Atemzüge hatten auf sie eine so beruhigende Wirkung, dass auch<br />

Heike bald wie<strong>der</strong> einschlief. Ein Traum gesellte sich zu ihr ...<br />

Sie sah eine junges Mädchen in einem halbdunklen Raum an einem Tisch sitzen. Neben ihr<br />

spendete eine Kerze ein Licht, das sich matt über den Tisch ausbreitete. Das Gesicht des<br />

Mädchens war nicht erkennen, son<strong>der</strong>n eingehüllt in einen undurchdringlichen Schleier von<br />

Schatten, <strong>der</strong> unnatürlich wirkte. Sie konnte auch nicht sehen, was das junge, weibliche Wesen<br />

am Tisch tat. Lange betrachte Heike das Traumwesen. Sie schien sich nicht zu bewegen.<br />

Nichts schien sich zu bewegen, nichts ereignete sich. Heike sah immer nur den Schein <strong>der</strong><br />

Kerze, <strong>der</strong> das Gesicht des Mädchens nicht erhellen konnte. Welches Geheimnis verbarg sich<br />

in dem Schatten des Gesichts? Heike wollte näher treten, aber sie konnte sich nicht von <strong>der</strong><br />

Stelle bewegen. Kaum vernehmbar ging die Türe des Raumes auf und ein Schatten trat in das<br />

Zimmer. <strong>Die</strong> Traumgestalt blickte zu ihm auf, sagte aber nichts. <strong>Die</strong> Stimme <strong>der</strong> Gestalt, die<br />

den Raum gerade betreten hatte, sagte etwas, aber Heike konnte es nicht verstehen. <strong>Die</strong> Worte<br />

27<br />

127


klangen hohl und dumpf, als wenn sie sich die Ohren mit den Händen zuhielte. Das Mädchen<br />

antwortete, aber auch diese Worte konnte Heike nicht verstehen. Ihre Neugier wuchs und<br />

wuchs, doch sie konnte sie nicht stillen. Verzweifelt versuchte Heike, weiter in das Traumbild<br />

hineinzutreten, doch sie konnte ihre Beine nicht bewegen. Sie war dazu verdammt, dort zu<br />

sein, wo sie sich jetzt befand, konnte nicht mehr sehen als schemenhafte Umrisse in einem<br />

diffusen Licht, konnte nicht mehr hören als dumpf klingende Worte, <strong>der</strong>en Sinn ihr verschlossen<br />

blieb. Plötzlich klingelte etwas. <strong>Die</strong> Traumfiguren reagierten nicht darauf. Wie konnten<br />

sie es auch hören, denn die Wirklichkeit verdrängte langsam den Traum, weckte Heike sanft<br />

auf ...<br />

Es war das Telefon, das klingelte. Heike sah auf den Radiowecker, <strong>der</strong> links vom Bett auf<br />

einem Bücherbord stand. <strong>Die</strong> Uhr zeigte halb neun.<br />

‚Wer kann das zu so früher Stunde schon sein?’ fragte sich Heike schlaftrunken. Wolfgang<br />

legte sich auf den Rücken und seufzte. Das Telefon läutete weiter.<br />

Heike huschte aus dem Bett und eilte ans Telefon.<br />

„Markert!?“, meldete sie sich schlaftrunken. Sie hörte nur noch ein Knacken, als wenn jemand<br />

hastig auflegte.<br />

Wütend warf Heike den Hörer auf die Gabel. „Da kann man in den Semesterferien einmal<br />

etwas länger schlafen,“ polterte sie, „schon verwählt sich irgendein Trottel o<strong>der</strong> eine Tussi<br />

und entschuldigt sich nicht einmal dafür. Und das alles um halb neun früh!“<br />

Wolfgang räkelte sich im Bett und gähnte. „Was ist denn los?“ fragte er und blickte sich<br />

um. Jetzt erst wurde ihm gewahr, dass er nicht zu Hause in seinem Bett lag. Doch er erkannte<br />

schnell, wo er sich befand, lächelte müde und schloss wie<strong>der</strong> seine Augen.<br />

Heike ging zurück zum Bett und legte sich wie<strong>der</strong> hin. Beide hatten es sich verdient, heute<br />

ein wenig länger zu schlafen.<br />

„Wer hat denn gerade angerufen?“ Wolfgang blinzelte zu Heike hinüber, die schmollend in<br />

ihrem Bett lag.<br />

„Irgendjemand hat sich verwählt“, knurrte diese. „Lass uns noch ein wenig schlafen,<br />

Wolfgang! O<strong>der</strong> hast Du heute etwas beson<strong>der</strong>s vor?“<br />

„Lass uns schlafen! <strong>Die</strong> Nacht war zu schön.“ Wolfgang drehte sich zu Heike um. „Ich habe<br />

nichts vor, außer ...“ Wolfgang unterbrach sich selbst. Er gähnte, streckte seine linke Hand<br />

nach Heike aus und streichelte sie zärtlich an <strong>der</strong> Schulter.<br />

Heike ließ ihn gewähren. Doch sie merkte, dass sich Wolfgangs Hand langsam wie<strong>der</strong> von<br />

ihr zurückzog. Wolfgang seufzte noch einmal tief. Seine regelmäßigen Atemzüge verrieten<br />

ihr, dass er schon wie<strong>der</strong> in dem Reich war, das allen Lebewesen Kraft für den neuen Tag<br />

geben sollte. Sie war zu müde, um weiter zu reden, zog ihre Decke zu sich heran und entschlummerte.<br />

<strong>Die</strong> milde Augustsonne stand schon hoch am Himmel, als Heike und Wolfgang fast<br />

gleichzeitig erwachten.<br />

„Hast Du gut geschlafen, Heike?“ Wolfgang schob die Decke zurück und richtete sich auf.<br />

Heike rieb sich die Augen und antworte nicht sofort. „O ja, ich habe wirklich sehr gut geschlafen,<br />

Wolfgang. Nur dieser blöde Telefonanruf hat mich geärgert.“<br />

„Ärgere Dich doch nicht! So was kann immer vorkommen. Man sollte überhaupt nicht ans<br />

Telefon gehen, wenn man im Bett liegt.“<br />

„Das werde ich das nächste Mal auch machen.“ Heikes Stimme klang entschlossen. „Da<br />

kann anrufen wer will, ich gehe nicht mehr ans Telefon, wenn ich im Bett liege.“<br />

„Gut, dann mache ich uns Kaffee.“ Wolfgang stand auf und ging durch das Zimmer zu <strong>der</strong><br />

kleinen Kochnische, in <strong>der</strong> die Kaffeemaschine stand. Heike hörte, wie er sich daran zu schaffen<br />

machte, aber sie wollte noch nicht aufstehen. Ein fast grenzenloses Glücksgefühl nahm sie<br />

in Besitz. Es war die erste Nacht mit Wolfgang, <strong>der</strong> erste Morgen, das erste Aufstehen. Sie<br />

streckte sich noch einmal und drehte sich im Bett um.<br />

128


„Ich stelle den Kaffee hin, ziehe mich an und hole ein paar Brötchen“, rief Wolfgang einen<br />

Moment später. Er wartete nicht auf eine Antwort, son<strong>der</strong>n kam in Heikes Studier- und<br />

Schlafzimmer zurück, um sich anzuziehen.<br />

„Es ist schön, dass Du Frühstück machst, Wolfgang.“ Heike konnte sich endlich entschließen,<br />

sich zumindest im Bett aufzusetzen, während Wolfgang sich rasch anzog. Sie sah ihm<br />

dabei zu, gedankenverloren zunächst, doch plötzlich war sie wie<strong>der</strong> da, die Erinnerung an<br />

Brigitte, mit <strong>der</strong> sie erst vorgestern zusammen war, so eng zusammen war, wie man es nur<br />

sein konnte. Ein unangenehmes Gefühl kroch in ihr hoch. Über vieles hatten sie gestern und<br />

die halbe Nacht durch geredet, aber ihr Erlebnis mit Brigitte blieb im Moment ihr Geheimnis.<br />

„Wo ist eigentlich die nächste Bäckerei in dieser Gegend?“ Wolfgang stand in <strong>der</strong> Tür und<br />

schaute Heike fragend an. Sie zuckte kurz zusammen, denn sie war immer noch in ihren Gedanken<br />

versunken und hatte nicht mit Wolfgangs Rückkehr gerechnet.<br />

„Wenn Du aus dem Haus gehst, dann ist rechts die Straße hinunter nach etwa zweihun<strong>der</strong>tfünfzig<br />

Metern eine Filiale einer Bäckerei.“ Heike antwortete mit teilnahmsloser Stimme.<br />

Wolfgang merkte dies nicht. Viel zu intensiv war das leere Gefühl in seiner Magengegend. Er<br />

hatte einen mächtigen Hunger und wollte so schnell es ging frühstücken.<br />

„Danke, Heike!!“ Wolfgang verschwand aus <strong>der</strong> Tür. Heike hörte noch die Appartementtüre<br />

ins Schloss fallen, dann kamen sie wie<strong>der</strong>, die Gedanken an Brigitte.<br />

Heike drehte sich schnell im Bett um und vergrub ihr Gesicht in die Decke. Wenig später<br />

merkte sie, wie eine Träne ihr rechtes Auge verließ und vom Stoff <strong>der</strong> Zudecke gierig aufgesogen<br />

wurde.<br />

‚Warum heulst du jetzt, du alte Zicke!’ Heikes Gedanken begannen immer schneller in ihrem<br />

Kopf zu kreisen. Sie wollte nicht an das denken, was ihr nicht aus dem Sinn wollte. Ihre<br />

Freundin fraß sich in ihren Gedanken fest. ‚Soll ich Wolfgang von Brigitte erzählen?’ fragte<br />

sie sich. ‚Soll ich ihm nur einen Teil von vorgestern erzählen? Ich habe Angst, er könne mich<br />

missverstehen, ja eifersüchtig auf Brigitte werden und ...’<br />

Tausende von Gedanken schienen in Heikes Gehirn ein bacchanalisches Fest zu feiern,<br />

tanzend, singend, tobend bis zum Kopfschmerz, <strong>der</strong> in einer leichten Form Heike jetzt überkam.<br />

‚Es nützt nichts! Du musst jetzt aufstehen und auf an<strong>der</strong>e Gedanken kommen.’ Heike richtete<br />

sich im Bett auf und schaute zum Fenster. Der Tag draußen versprach ein mil<strong>der</strong> und<br />

sonniger Spätsommertag zu werden. <strong>Die</strong> Sonne stand so hoch, dass sie nicht mehr durchs<br />

Fenster schien, son<strong>der</strong>n schon kurze Schatten <strong>der</strong> umliegenden Häuser warf<br />

Wolfgang verließ mit schnellen Schritten das Haus mit den Studentenappartements und<br />

wandte sich nach rechts. Sein ausgeprägter Orientierungssinn führte ihn auf seinem Weg. Er<br />

fand die kleine Bäckereiverkaufsstelle mit ihren zwei Stehtischchen schnell.<br />

„Was darf’s sein?“ <strong>Die</strong> junge Verkäuferin lächelte ihn an.<br />

„Geben Sie mir bitte vier Kaisersemmeln und vier Hörnchen.“<br />

<strong>Die</strong> Verkäuferin war flink. Kaum hatte Wolfgang seine Kaufwünsche geäußert, schon legte<br />

sie eine große Papiertüte auf die Oberkante <strong>der</strong> Verkaufstheke. Wolfgang sah sie mit einem<br />

noch immer etwas verschlafenen Blick an. Sie nannte den Preis und Wolfgang bezahlte. In<br />

ihrem Gesicht meinte er ein hintergründiges Lächeln aufblitzen zu sehen. Aber erkonnte sich<br />

auch getäuscht haben.<br />

Wolfgang verließ rasch den Laden. Der angenehm frische Duft des Frühstücksgebäcks, <strong>der</strong><br />

aus <strong>der</strong> Tüte unaufhaltsam an seine Nase drang, beschleunigte seine Schritte. Nach wenigen<br />

Minuten stand er wie<strong>der</strong> vor Heikes Appartementtüre und klingelte.<br />

„Ich mach’ gleich auf!“ hörte er Heike innen rufen. „Ich muss mir bloß schnell etwas anziehen.“<br />

Wolfgang lächelte. <strong>Die</strong> Erinnerung an die letzte Nacht kam zurück.<br />

Es dauerte keine Minute, dann öffnete Heike die Türe. Sie sah noch sehr verschlafen aus<br />

und stand barfuss, nur mit einer alten Jeans und einem T-Shirt bekleidet vor ihm. Er wollte<br />

gerade eintreten, da fiel sie ihm um den Hals.<br />

129


„Es war lieb von Dir, das Frühstück einzukaufen, Wolfgang“, sagte sie ihm leise ins Ohr.<br />

Wolfgang erwi<strong>der</strong>te den Kuss und drängte Heike von <strong>der</strong> Türe nach innen.<br />

„Müssen alle Leute sehen, dass wir uns lieben?“<br />

„Nein“, hauchte Heike. „Jetzt wird erst ganz gemütlich gefrühstückt!“<br />

Wolfgang ließ von ihr ab und sah ihr in die Augen, als er bemerkte, dass Heikes rechtes<br />

Auge etwas rot war.<br />

„Du hast doch nicht etwa geweint?“<br />

„Geweint habe ich schon“, antwortete Heike und lächelte Wolfgang zärtlich an, „aber nur<br />

vor Glück.“<br />

„Das will ich meinen“, gab er kurz zurück und drückte die Bäckereitüte seiner Freundin in<br />

die Hand. „Ich hoffe, das reicht für unseren Appetit.“<br />

Heike nahm die Tüte, öffnete sie und sah hinein. „Das hoffe ich auch. Und wenn’s nicht<br />

reicht, dann habe ich immer noch Knäckebrot da.“<br />

„Wer isst schon Knäckebrot zum Frühstück?“ Wolfgang war <strong>der</strong> Gedanke daran fremd. Er<br />

aß so gut wie kein Knäckebrot und schon gar nicht zum Frühstück.<br />

„Lach’ nicht“, sagte Heike. „Wenn ich früh eine Vorlesung o<strong>der</strong> ein Seminar habe, esse ich<br />

immer Knäckebrot und Streichkäse zum Frühstück. Das ist gesund und hält länger nach als<br />

Du denkst.“<br />

„Denk’ jetzt nicht ans Studium! Erstens sind Semesterferien und zweiten habe ich einen<br />

Riesenhunger.“<br />

Heike lächelte und auch bei ihr meinte Wolfgang ein schalkhaftes, hintergründiges Lächeln<br />

aufblitzen zu sehen.<br />

Heike und Wolfgang ließen sich Zeit zum Frühstück. <strong>Die</strong> Uhr zeigte schon einige Minuten<br />

nach Zehn Uhr am Vormittag, als Heike den kleinen Tisch in <strong>der</strong> Kochnische, dem Vorraum<br />

zu ihrem Zimmer, abräumte. Das leere Gefühl auf <strong>der</strong> linken Bauchhälfte war einem angenehm<br />

warmen Gefühl des Sattseins gewichen.<br />

„Und was stellen wir heute an?“ Heike hob ihre Augenbrauen.<br />

„Bei diesem Wetter könnten wir doch ins Rötelheimbad gehen“, schlug Wolfgang vor,<br />

stieß jedoch bei Heike auf wenig Gegenliebe.<br />

„Sollen wir uns da hineinquetschen. Nein, ich weiß etwas Besseres!“ Heike wollte mit<br />

Wolfgang alleine zu sein und dachte daran, irgendwo hinzugehen, wo sie dies auch sein konnten.<br />

Man beschloss, in <strong>der</strong> Milde dieses Spätsommertages in <strong>der</strong> waldigen Umgebung spazieren<br />

zu gehen, vielleicht in irgendeiner Dorfgaststätte eines umliegenden Ortes einzukehren, um<br />

sich für den Rest des Tages zu stärken. Heike erinnerte sich dabei an die kleinen Erzählungen<br />

ihres Vaters, <strong>der</strong> mit seinen Eltern noch an den Wochenenden in den Reichswald gezogen und<br />

mit Beuteln voll Kiefernzapfen zurückgekehrt war, die dann am Badetag in dem kupfernen<br />

Badeofen zum Aufheizen des Badewassers verbrannt wurden. Doch diese Zeit schien weit<br />

zurück in <strong>der</strong> Vergangenheit, einer Zeit, in <strong>der</strong> sich ihre Eltern noch lange nicht begegnet waren.<br />

„Also, wo gehen wir hin, Heike?“ Wolfgangs Frage kam für Heike nicht überraschend,<br />

nachdem sie das Frühstücksgeschirr in die kleine Spüle geräumt und abgespült hatte.<br />

„Ich dachte, wir wan<strong>der</strong>n im Reichswald, machen irgendwo zu Mittag Rast und kommen<br />

nachmittags zurück.“ Heike blickte Wolfgang erstaunt an.<br />

„Ja, aber wohin genau?“ Wolfgang erwi<strong>der</strong>te den fragenden Blick seiner Freundin, die sich<br />

wie<strong>der</strong> an den Tisch setzte. „Hast Du ein genaues Ziel?“<br />

„Nein, sonst würde ich ja nicht fragen“, gab Heike zurück<br />

Wolfgang überlegte eine Weile, dann stand er auf und ging in Heikes Zimmer, kam aber,<br />

bevor Heike ihn fragen konnte, was er dort tue, wie<strong>der</strong> zurück und setzte sich wie<strong>der</strong>.<br />

„Was war jetzt das?“ Heike musste fast lachen, als sie Wolfgangs grüblerischen Gesichtsausdruck<br />

sah. „Hast Du in meinem Zimmer etwas gesucht?“<br />

130


„Mir kommen im Gehen meistens gute Einfälle“, sagte Wolfgang nachdenklich und strich<br />

sich mit seiner rechten Hand übers Kinn. „Aber heute scheint dies nicht zu funktionieren.“<br />

Jetzt konnte Heike nicht an<strong>der</strong>s. Sie musste lachen und dieses helle, fröhliche Lachen war<br />

so ansteckend, dass nach kurzer Zeit auch Wolfgang mitlachen musste.<br />

„Ich glaube, es wird das Beste sein, wir fahren zunächst einmal <strong>der</strong> Nase nach aus Erlangen<br />

hinaus. Vielleicht fällt uns dann etwas ein.“ Heikes Vorschlag klang für Wolfgang vernünftig<br />

und er beugte sich zu Heike.<br />

„Fahren wir erst einmal hinaus in die Natur. Im Reichswald gibt es genügend Parkplätze,<br />

von denen man aus weit wan<strong>der</strong>n kann.“ Wolfgang gab Heike einen Kuss auf die Wange und<br />

lächelte sie an.<br />

„Fahren wir“, sagte Heike entschlossen, „sonst ist <strong>der</strong> Tag vorbei und wir grübeln immer<br />

noch wohin.“<br />

Der Vormittag ging schnell vorüber. Heike und Wolfgang hatten den Wagen auf einem<br />

Wan<strong>der</strong>parkplatz abgestellt und waren losgewan<strong>der</strong>t. Sie folgten einem markierten Weg, <strong>der</strong><br />

zu jenen Ort führte, <strong>der</strong> schon auf einen Aquarell von Albrecht Dürer abgebildet war, doch<br />

dieses Bild kannten Heike und Wolfgang nicht.<br />

Nur knappe fünfzehn Kilometer Luftlinie von diesem Ort entfernt, saß Dr. Brenner in seinem<br />

Büro im Institut und brütete über seiner Studie, die er so bald wie möglich fertig stellen<br />

wollte. Aber es kamen immer Arbeiten dazwischen, administrative Tätigkeiten, die seinen<br />

Geist von seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit ablenkten. Er empfand dies als<br />

schreckliches Übel. Aber auch diese Pflichten mussten erfüllt werden. Dabei konnte sich Dr.<br />

Brenner nicht auf seine Assistentin Gabi Beck stützen, die ihm sonst viele kleine Tätigkeiten<br />

abnehmen konnte.<br />

„Es ist schrecklich heute“, stöhnte Dr. Brenner und sein Blick fiel auf einen Stapel von<br />

Briefen, die auf einem <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> lagen. „Wenn’s nur die Briefe wären, aber dazu<br />

kommen noch die E-Mails, die ich auch noch beantworten muss.“ Dr. Brenner redete mit sich<br />

selbst. <strong>Die</strong>s kam öfters vor, wenn niemand in seinem Büro war.<br />

Missmutig griff er zu einem Brief, <strong>der</strong> zu oberst auf dem Stapel lag und las ihn. Es war eine<br />

Anfrage einer jungen Studentin aus <strong>der</strong> Umgebung, die sich um einen Praktikumsplatz<br />

bemühte. Er nahm sein Diktiergerät und schaltete es an. Dann kam <strong>der</strong> nächste Brief an die<br />

Reihe. Es dauerte den ganzen Vormittag, bis Dr. Brenner seine „Fanpost“ , wie er die Institutsbriefe<br />

immer nannte, bearbeitet hatte. Danach sah er auf seinem Rechner nach neuen, eingegangenen<br />

elektronischen Nachrichten. <strong>Die</strong> letzte, die er las, beunruhigte ihn ein wenig,<br />

denn da stand:<br />

Hallo, Herr Kollege,<br />

wie weit sind denn Ihre Studien mit den Tagebüchern gediehen? Ich würde ihre Transkriptionen<br />

gerne einmal lesen.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Harald Grattler<br />

‚<strong>Die</strong>ser Filou!’, dachte Dr. Brenner bei sich. ‚Jetzt kommt er auf die freundliche und kollegiale<br />

Tour. Aber die Tagebücher gehen ihn nichts an. Außerdem gibt es darin keinen Hinweis<br />

auf seine Großmutter. Nach <strong>der</strong> soll er doch an<strong>der</strong>weitig forschen, wenn er Lust dazu hat.’<br />

Trotzig griff Dr. Brenner in die Tasten und antwortete seinem Kollegen Grattler ebenfalls<br />

elektronisch:<br />

Werter Herr Kollege,<br />

wie Sie wissen, gehören die Tagebücher <strong>der</strong> Familie Markert. Wenn Sie Texte daraus lesen<br />

wollen, wenden Sie sich bitte an die Eigentümer dieser Aufzeichnungen.<br />

MfG<br />

131


Dr. Brenner<br />

Als er die Nachricht abgeschickt hatte, sah Dr. Brenner auf seine Armband Uhr: 11:23 –<br />

‚Da bleibt noch ein wenig Zeit für die Tagebücher’, dachte er und seine Gedanken schwenkten<br />

wie<strong>der</strong> um in die Welt <strong>der</strong> Elfriede Seiffert, in die er immer wie<strong>der</strong> eintauchte, wenn er<br />

eine <strong>der</strong> alten <strong>Wachstuchhefte</strong> in die Hand nahm.<br />

Dr. Brenner befasste sich mit dem ältesten Heft, dass er bis auf ein paar wenige Beiträge<br />

schon fast transkribiert hatte. Ein Buchzeichen, welches aus einem einfachen, etwa drei Zentimeter<br />

breiten Papierstreifen bestand, zeigte ihm an, wo er mit seiner Arbeit fortfahren musste.<br />

Er schlug das Wachstuchheft auf und begann zu lesen ...<br />

Montag, <strong>der</strong> 13te August AD 1914<br />

Alles scheint mir plötzlich verän<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Menschen und die Zeit. Selbst Vati redet ständig<br />

über den Krieg, obwohl er doch früher das Wort so gut wie nicht in den Mund nahm. Jetzt<br />

marschieren sie aber. Und mein Vater will unbedingt auch eine dieser fürchterlichen Uniformen<br />

anziehen. Er will in den Krieg. Meine Mutter und ich machen uns große Sorgen um ihn.<br />

Nur ein Gutes hat dieses Hurrageschrei: Mein Vater trinkt fast kein Bier mehr. Den Schnaps<br />

hat ihm sein Arzt Dr. Herrmann schon vor längerem verboten.<br />

Ich kann dieses Gerede vom Sterben zur Ehre des Vaterlandes nicht mehr hören. Ich will<br />

leben; ich will mich vergnügen. Erst gestern abend ist mir so heiß geworden, daß ich mich<br />

berühren mußte, wo ich mich bisher noch nie berührte.<br />

Nachdem er den Tageseintrag gelesen hatte, legte er das Heft vorsichtig links neben seinen<br />

Rechner und öffnete die Datei, in die er schreiben wollte. Er tippte den Tagebucheintrag in<br />

den Rechner und überlegte ...<br />

‚Das ist ja interessant’, dachte er bei sich. ‚<strong>Die</strong>s ist <strong>der</strong> erste Tagebucheintrag, in dem es<br />

einen Hinweis auf die geschlechtlichen Gefühle <strong>der</strong> Elfriede gibt. Sie kommt jetzt in eine<br />

schwierige Phase. Das Verlangen ist da, aber ...’<br />

Dr. Brenner suchte nach seinem Notizbuch, in das er sich kurze Anmerkungen über seine<br />

Arbeit an den <strong>Wachstuchhefte</strong>n machte. Es war in gewisser Weise ein Tagebuch über die Arbeit<br />

an einem Tagebuch. Er fand es nach einer Weile und schrieb hinein:<br />

Tagebuch 03.08.1914: Ihr Ekel über den gerade ausgebrochenen Ersten Weltkrieg wird<br />

überlagert von ihrem sexuellen Verlangen. Vermutlich hat sie am Sonntagabend des 02. August<br />

1914 zum ersten Mal in ihrem Leben masturbiert. Tagebucheintrag abgeschrieben am ...<br />

Dr. Brenner lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte seine beiden Arme hinter<br />

dem Kopf. So saß er meistens da, wenn er sich nachdenkend etwas bei <strong>der</strong> Arbeit entspannen<br />

wollte.<br />

Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als das Schlagen <strong>der</strong> Kirchturmuhr zu<br />

ihm hereindrang. Dr. Brenner zählte die Schläge ..., elf, zwölf. ‚<strong>Die</strong> Zeit vergeht wie im Flug’,<br />

dachte er. ‚Kaum hat man einen kleinen Tagebucheintrag abgeschrieben, schon ist wie<strong>der</strong><br />

eine halbe Stunde vorbei.<br />

Dr. Brenner legte den Papierstreifen zwischen die beiden Seiten, die er als nächstes abschreiben<br />

wollte und klappte das Wachstuchheft wie<strong>der</strong> vorsichtig zu. Behutsam legte er es<br />

auf den Stapel zurück, von dem er es genommen hatte. Dann wandte er sich wie<strong>der</strong> dem<br />

Rechner zu, sicherte die Datei, in die er geschrieben hatte, und sperrte mit dem Bildschirmschoner<br />

den Zugriff auf das Gerät. Dann stand er auf und blickte sich im Büro um.<br />

132


‚Wo habe ich nur meine an<strong>der</strong>en Notizen hingelegt.’ Dr. Brenner begann zu suchen.<br />

Es dauerte fast zehn Minuten, bis er die Notizen gefunden hatte, die er sich an jenem<br />

Abend auf einen Zettel im Postkartenformat notierte, an dem er Heikes Eltern zum ersten Mal<br />

im „Guldenstern“ getroffen hatte. Ganz unbewusst suchte er nach Etwas, von dem er hoffte,<br />

dass es seine Überlegungen und Gedanken weiterbringen könnte.<br />

Er sah auf den Zettel und war enttäuscht. Nein, das was hier stand, brachte ihn nicht weiter.<br />

Enttäuscht legte er die Notizen auf das oberste Wachstuchheft und sah aus dem Fenster.<br />

Draußen hasteten die Menschen in ihrer Mittagspause vorbei.<br />

‚Du solltest jetzt erst einmal eine Tasse Kaffee trinken’, sagte er zu sich und holte seine<br />

Schlüssel hervor.<br />

Dr. Brenner schloss sein Büro ab und ging zu dem Raum, in dem sich die meisten Mitarbeiter<br />

des Institutes zu ihren Kaffeepausen trafen. Zu seinem Erstaunen war <strong>der</strong> Aufenthaltsraum<br />

leer, obwohl es Mittagszeit war und die Urlaubszeit schon mehr als zwei Monate zurücklag.<br />

Dr. Brenner dachte nicht an Urlaub. Er war so in seine Forschung vertieft, dass er keinen<br />

Gedanken an Freizeit verschwendete. Er wollte weiterkommen, weiterkommen mit seiner<br />

Studie über die Entwicklung <strong>der</strong> Familie im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t und auch die Transkription <strong>der</strong><br />

Tagebuchhefte abschließen. Aber es ging alles so zäh voran, zu langsam nach seinem Gefühl.<br />

Wolfgangs Vater sah sich im Raum um, dessen Fenster zur Straßenseite gekippt waren. Es<br />

roch nach kaltem Rauch. Dr. Brenner störte sich daran nicht, erinnerte <strong>der</strong> Geruch ihn doch an<br />

seine Zeit, in <strong>der</strong> er noch dem Laster des Rauchens frönte. Doch sein Verlangen richtete sich<br />

jetzt mehr nach einer Tasse Kaffee. Er sah auf die beiden Kaffeemaschinen, die auf <strong>der</strong> kleinen<br />

Einbauküche in <strong>der</strong> Ecke standen. Beide Kannen waren leer.<br />

‚Also muss ich mir erst ein paar Tassen aufbrühen.’ Dr. Brenner ging entschlossen zu einem<br />

<strong>der</strong> Hängeschränke über den Kaffeemaschinen und entlockte ihnen zielstrebig eine Dose<br />

mit Kaffeemehl und einem Filter aus braunem, aromaschützendem Papier. Einige Minuten<br />

später wurde <strong>der</strong> dumpfe Geruch nach kaltem Rauch zunächst überlagert und schließlich verdrängt<br />

durch den des frischgebrühten Kaffees, den sich Dr. Brenner in seine Tasse einschenkte.<br />

Er empfand keinerlei Hungergefühl, nur ein heißes Verlangen nach Kaffee, den er Schluck<br />

für Schluck genießerisch zu sich nahm.<br />

Er setzte sich an einen Tisch und stellte die Kaffeetasse vor sich hin. Nachdenklich drehte<br />

er sich zum Fenster um und sah hinaus. <strong>Die</strong> Fensterfront des gegenüberliegenden Hauses war<br />

ihm seit mehr als fünf Jahren vertraut geworden. Sie war die einzige Konstante, die er im<br />

Moment sah. Aber keine Bewegung war an ihr, kein Mensch sah zu einem <strong>der</strong> Fenster hinaus.<br />

Das kühle Wetter war auch nicht gerade dazu angetan, seine Mittagspause aus dem Fenster<br />

sehend zu verbringen.<br />

Dr. Brenner hatte seine Tasse Kaffee ausgetrunken und war gerade dabei, sich eine zweite<br />

einzuschenken, als die Türe des Aufenthaltsraumes aufging. Gabi Beck erschien. Sie blickte<br />

sich rasch um.<br />

„Ah, das sind sie ja“, rief sie überrascht aus. „Ich habe Sie schon im ganzen Haus gesucht.“<br />

„Gibt es denn etwas Dringendes?“ Dr. Brenners Frage überraschte Gabi Beck nicht.<br />

„Nein, nein, Herr Dr. Brenner! Ich wollte Sie nur fragen, ob wir heute wie<strong>der</strong> weiterarbeiten<br />

an ...“<br />

„Sie meinen an den Tagebüchern?“<br />

„Genau!“<br />

„Nun ja“, sagte Dr. Brenner nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, „ich wollte<br />

heute Nachmittag schon weiterarbeiten, aber ...“ Er unterbrach sich selbst und sah seine wissenschaftliche<br />

Hilfskraft weiter nachdenklich an.<br />

Gabi Beck war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Ihr kam Dr. Brenner heute eigenartig<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit entrückt vor. Was bedrückte ihn, welche Sorgen ließen in seiner Stirne Fal-<br />

133


ten entstehen? Sie zögerte, wollte dann etwas sagen, aber sie atmete nur tief aus. Dr. Brenner<br />

bemerkte, dass sie etwas sagen wollte.<br />

„Ich bin heute gesundheitlich nicht ganz auf <strong>der</strong> Höhe“, begann Dr. Brenner nach einer<br />

Weile und sah auf seine Kaffeetasse. „Ich bekomme sonst um diese Zeit immer Hunger, aber<br />

heute genügen mir zwei Tassen Kaffee in meiner Mittagspause. Das ist nicht normal, meine<br />

ich sagen zu können.“<br />

„Vielleicht sollten Sie einmal eine Woche ausspannen und irgendwo hinfahren, um ein<br />

wenig Abstand zur Arbeit zu gewinnen.“ Frau Becks Vorschlag klang eindringlich an das Ohr<br />

ihres Gegenüber, doch Dr. Brenner hörte ihn kaum.<br />

„Ja, ja, Sie haben schon recht. Aber ich wollte schon längst einige Sachen abgeschlossen<br />

haben. Stattdessen stapeln sich die Arbeiten auf meinem Schreibtisch, die ich schon gestern<br />

hätte erledigen müssen.“ Dr. Brenner runzelte die Stirn und zog seine Augenbrauen hoch.<br />

„Jetzt trinken Sie erst in Ruhe Ihren Kaffee aus. Ich will nur kurz noch etwas in <strong>der</strong> Stadt<br />

besorgen, dann komme ich zu Ihnen ins Büro.“ Gabi Becks warme, fürsorgliche Stimme verfehlte<br />

ihre Wirkung nicht. Dr. Brenner blickte lächelnd zu ihr auf, die immer noch neben ihm<br />

stand.<br />

„Kann ich Ihnen etwas mitbringen?“<br />

Dr. Brenner überlegte kurz und sagte dann entschlossen: „Bringen Sie mir bitte ein Baguette<br />

mit Schinken mit, wenn Sie eines bekommen.“<br />

„Das mache ich doch gerne Herr Doktor“, sagte Gabi Beck lächelnd und wollte den Raum<br />

gerade verlassen, als die Türe des Aufenthaltsraumes erneut aufging.<br />

Frau Ludwig, die Sekretärin des Institutsvorstandes Prof. Pre<strong>der</strong>sen trat herein und wedelte<br />

aufgeregt mit einem Zettel, den sie in ihrer linken Hand hielt.<br />

„Da sind Sie ja, Herr Dr. Brenner! Ich habe Sie schon im ganzen Hause gesucht“, sprudelte<br />

es aus ihr heraus. „Da hat eine Frau Markert aus Nürnberg angerufen und wollte Sie dringend<br />

sprechen.“<br />

Dr. Brenner fuhr kurz hoch, setzte sich dann aber wie<strong>der</strong> ruhig hin. <strong>Die</strong> Aufregung <strong>der</strong><br />

Sekretärin hatte ihn zunächst erschreckt. „Danke, Frau Ludwig! Ich werde zurückrufen“, sagte<br />

er ruhig. „Das hat keine Eile.“<br />

„Dann bin ich ja beruhigt, Herr Dr. Brenner.“ Ein Aufatmen ging durch die aparte Gestalt<br />

<strong>der</strong> Sekretärin. Sie gab Dr. Brenner hastig den Zettel und verschwand so schnell wie sie gekommen<br />

war.<br />

Gabi Beck sah ihn fragend an. „Also ich gehe dann, Herr Doktor, und bringe Ihnen Ihr<br />

Mittagessen mit.<br />

„Lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten, Frau Beck“, sagte Dr. Brenner, während er<br />

nachdenklich auf den Zettel sah, <strong>der</strong> ihm gerade gereicht worden war. Dort stand nur. Fr.<br />

Markert rief aus Nürnberg an und fragt nach den Tagebüchern.<br />

‚Nun weiß es die Sekretärin auch’, dachte Dr. Brenner und schob den Zettel unter seine<br />

Kaffeetasse, damit er nicht davonflog, denn bei geöffneter Tür und gekippten Fenstern strich<br />

ein Windzug durch den Raum, <strong>der</strong> stark genug war, kleine Papierstücke vom Tisch zu blasen.<br />

„Ich bin gegen ein Uhr wie<strong>der</strong> zurück“, hörte er Frau Beck noch sagen. Sie hatte den Türgriff<br />

schon in <strong>der</strong> Hand und wollte den Raum verlassen. Dann schloss sich die Türe. Dr.<br />

Brenner war wie<strong>der</strong> allein im Raum. Aber er war in Wirklichkeit nicht alleine, denn viele Gedanken<br />

schwirrten ihm in diesem Moment durch den Kopf. Einige von ihnen wollte er sich<br />

kurz notieren. Er nahm den Zettel von Frau Ludwig und aus seiner Hand flossen einige Stichpunkte<br />

auf das kleine Stück Papier, dass gerade groß genug war, um mit seiner kleinen Schrift<br />

einige Worte aufzunehmen.<br />

Nachdenklich betrachtete Dr. Brenner das, was er auf den quadratischen Notizzettel von<br />

Frau Ludwig geschrieben hatte. Dann trank er seinen Kaffee aus und ging wie<strong>der</strong> in sein Büro.<br />

134


Er hatte seine Gedanken während <strong>der</strong> Kaffeepause ein wenig ordnen können. Aber sein<br />

Geist arbeitete unermüdlich weiter. Er musste sich jetzt konzentrieren, wollte er heute das zu<br />

Ende bringen, was er sich vorgenommen hatte.<br />

Dr. Brenner setzte sich sofort an seinen Rechner, nachdem er sein Büro wie<strong>der</strong> erreicht<br />

hatte, das auf <strong>der</strong> gleichen Etage wie <strong>der</strong> Aufenthaltsraum lag. Er gab sein Passwort zur Entriegelung<br />

des Bildschirmes ein und öffnete wie<strong>der</strong> die Datei, in die er den Text des ersten<br />

<strong>Wachstuchhefte</strong>s bisher fast vollständig eingegeben hatte. Es fehlten nur noch wenige Seiten,<br />

dann war das erste von den sechs Heften transkribiert. Doch es kostete ihn einige Überwindung<br />

zu <strong>der</strong> Kladde zu greifen und Elfriedes Tagebuch aufzuschlagen.<br />

Er wollte gerade die Seiten des Tagebuches aufschlagen, in die er den Papierstreifen als<br />

Markierung gelegt hatte, als das Telefon läutete. Dr. Brenner hob den Hörer missmutig ab,<br />

unterbrach doch das Klingeln gerade seinen nicht gerade ausgeprägten Tatendrang.<br />

„Brenner!“ meldete er sich knurrend.<br />

„Entschuldigen Sie Herr Dr. Brenner, dass ich Sie in Ihrer Mittagspause störe!“ <strong>Die</strong> Stimme<br />

am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung verän<strong>der</strong>te schlagartig Dr. Brenners Laune, hatte er doch<br />

einen Anruf eines Kollegen erwartet, <strong>der</strong> ihn in letzter Zeit mit seiner steigenden Aufdringlichkeit<br />

mehr und mehr auf die Nerven ging.<br />

„Ah, Sie sind’s, Frau Markert!“ Seine Stimme hob sich und nahm jenen freundlichen Ton<br />

an, den Heikes Mutter an ihm als erstes bemerkte, als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte.<br />

„Sie stören mich nicht in meiner Mittagspause. <strong>Die</strong> beginnt erst später.“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt, Herr Dr. Brenner.“ Elke Markert war erschrocken gewesen,<br />

als sie zunächst Dr. Brenners mürrische Stimme vernommen hatte. „Ich wollte mich wie<strong>der</strong><br />

einmal bei Ihnen melden und Sie fragen, wie weit sie denn mit <strong>der</strong> Arbeit sind, die Sie für uns<br />

freundlicherweise übernommen haben.“<br />

„Lei<strong>der</strong> noch nicht so weit wie ich es mir ursprünglich vorgenommen hatte, Frau M:“ Ein<br />

Ton des aufrichtigen Bedauerns war nicht zu verkennen. „Aber ich werde heute mit dem ersten<br />

Heft Ihrer Großmutter fertig werden.“<br />

„Das ist ja toll“, gab Elke Markert begeistert zurück. „Es kommt doch nicht auf den einen<br />

Monat an, an dem sie früher o<strong>der</strong> später mit dem Abschreiben fertig werden, Herr Dr. Brenner.<br />

<strong>Die</strong> Tagebücher haben so lange bei meiner Mutter gelegen, das die Zeit, bis die Texte<br />

übertragen sind, schon fast keine Rolle mehr spielt. Meinen Sie nicht auch?“<br />

Dr. Brenner wusste im Moment nicht, was er antworten sollte, zu sehr schmeichelte ihm<br />

das Verständnis <strong>der</strong> Frau, welche die Mutter <strong>der</strong> Freundin seines Sohnes war, und die er, versteckt<br />

o<strong>der</strong> nicht, insgeheim bewun<strong>der</strong>te.<br />

„Sie haben ja recht, Fr. Markert“, gab er schließlich zurück. „Aber trotzdem möchte ich<br />

nicht unnötig lange zu <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Tagebücher brauchen, denn ich will sie ja noch<br />

für meine Studie auswerten, was ich zum Teil schon parallel zur Übertragung mache.“<br />

„Ich will Ihnen da überhaupt nichts hineinreden, Herr Dr. Brenner.“ Elkes Stimme nahm<br />

einen noch wärmeren, freundlicheren Ton an als sie schon vorher hatte. „Wir haben nur über<br />

einen Monat nichts mehr von Ihnen gehört und habe uns schon Sorgen gemacht, zumal Heike<br />

bei uns auch nicht mehr vorbeigeschaut hat.“<br />

„Hat Sie das nicht?“ Dr. Brenners Frage war ehrlich gemeint und nicht gespielt. „Ich habe<br />

doch Heike immer wie<strong>der</strong> den neuesten Stand <strong>der</strong> Datei zugeschickt, in <strong>der</strong> ich die Texte abtippe<br />

o<strong>der</strong> abtippen lasse.“<br />

„Nein, wir haben seit Ende August nichts mehr von ihr gehört.“<br />

„Das wun<strong>der</strong>t mich ein wenig. Heike hat mich erst vorige Woche angerufen, weil irgendwas<br />

mit <strong>der</strong> E-Mail nicht geklappt hatte. Unsere Spezialisten haben da nämlich an dem Institutsserver<br />

herumgebastelt und danach klappt meist irgendwas nicht mehr so richtig.“ Dr.<br />

Brenner war jetzt mit dem Reden in Fahrt gekommen. Er hatte einen Gesprächspartner gebraucht,<br />

was ihm jetzt erst so richtig bewusst wurde.<br />

135


„Na, dann werde ich wohl Heike anrufen müssen, Herr Dr. Brenner.“ Elkes Stimme klang<br />

jetzt ein wenig sorgenvoll. „Auf jeden Fall möchte ich mich heute schon einmal bedanken,<br />

dass Sie sich so große Mühe machen.“<br />

„Aber das mache ich doch aus reinem Eigennutz“, entgegnete Dr. Brenner und lachte. <strong>Die</strong>ses<br />

Lachen befreite ihn jetzt aus seinem Gefängnis <strong>der</strong> großen Nachdenklichkeit, in dem er<br />

sich schon seit Beginn des Tages befunden hatte. „Sie wissen doch: Ich schreibe an einer Studie<br />

über die Entwicklung <strong>der</strong> Familie. Da kommen mir die Tagebücher Ihrer Großmutter als<br />

zusätzliche Quelle gerade recht.“<br />

„Jetzt stapeln sie aber ein bisschen tief, Herr Dr. Brenner“, wandte Elke ein und musste<br />

jetzt auch lachen. „Es ist doch eine nicht unerhebliche zusätzlich Belastung, <strong>der</strong> Sie sich aussetzen.“<br />

„Das ist mein Berufsrisiko, Frau Markert.“ Dr. Brenners Stimmung stieg von Sekunde zu<br />

Sekunde.<br />

„Jedenfalls jetzt schon vielen, vielen Dank, dass Sie die Texte übertragen. Wir würden dazu<br />

bestimmt Jahre brauchen bei unseren Kenntnissen <strong>der</strong> alten Deutschen Schrift.“ Elke Markert<br />

wollte das Gespräch beenden, fand aber nicht den eleganten Ausstieg und wartete jetzt<br />

darauf, was ihr Gesprächspartner sagen würde.<br />

„Haben Sie sonst noch eine Frage, Fr. Markert?“ Dr. Brenner wollte auch das Telefongespräch<br />

beenden, denn die Arbeit wartete bereits neben und in seinem Rechner.<br />

„Nein, Herr Dr. Brenner.“<br />

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Markert Ich melde mich wie<strong>der</strong><br />

bei Ihnen. Heute Nachmittag will ich auf jeden Fall das erste Heft abschließen.<br />

„Tun Sie das! Auf wie<strong>der</strong>hören, Herr Dr. Brenner!“<br />

Auf wie<strong>der</strong>hören, Frau Markert!“ Dr. Brenner legte den Hörer auf und schmunzelte. Auch<br />

sein Sohn hatte sich seit über einen Monat nicht mehr bei ihm gemeldet. Was mochten die<br />

Beiden wohl in <strong>der</strong> Zwischenzeit so alles gemacht und erlebt haben?<br />

Er wollte sich gerade wie<strong>der</strong> an seinen Rechner setzen und seine Arbeit an dem ersten<br />

Wachstuchheft fortsetzen, als es an <strong>der</strong> Türe klopfte, die er ausnahmsweise einmal geschlossen<br />

hatte.<br />

„Herein!?“ Dr. Brenners Stimme hob sich. Er konnte sich schon denken, wer Einlass begehrte.<br />

„Hallo“, rief Gabi Beck und eilte ins Zimmer. „Ich hab’ Ihnen wie versprochen ein Schinkenbaguette<br />

mitgebracht, Herr Doktor.“ Sie nahm eine Papiertüte aus ihrer Tasche und gab<br />

sie Dr. Brenner, <strong>der</strong> sich zur Türe umgedreht hatte. „Ich wünsche Ihnen einen gute Appetit“,<br />

fügte sie lächelnd hinzu. „Ich komme gegen eins zu Ihnen. Dann können wir weitermachen.<br />

Ist es Ihnen recht so?“<br />

„Aber natürlich, Frau Beck. Vielen Dank, dass Sie mir das Baguette besorgt haben.“<br />

„Das war doch selbstverständlich, Herr Doktor. Ich wollte doch sowieso in <strong>der</strong> Stadt etwas<br />

besorgen.“<br />

Dr. Brenner packte das Baguette aus und biss hinein. Sein Magen sagte ihm, dass es Zeit<br />

war, etwas zu essen, schließlich wollte er ohne dessen Knurren weiter an <strong>der</strong> Transkription<br />

arbeiten.<br />

Frau Beck kam wie versprochen gegen ein Uhr in das Büro von Dr. Brenner zurück. <strong>Die</strong>ser<br />

hatte in <strong>der</strong> Zwischenzeit im Aufenthaltsraum für den Nachmittag noch eine Warmhaltekanne<br />

voll Kaffee gebrüht und zwei Tassen besorgt.<br />

„So, jetzt kann’s losgehen!“ sagte er entschlossen, nach dem Gabi Beck am Rechner Platz<br />

genommen hatte. Dr. Brenner griff nach dem Wachstuchheft, das oben auf dem Stapel lag,<br />

und schlug die beiden Seiten auf, zwischen denen er den Papierstreifen gelegt hatte. Er las<br />

zunächst still für sich und begann nach einigen Augenblicken Frau Beck direkt in den Rechner<br />

zu diktieren:<br />

136


Sonntag, <strong>der</strong> 01. November 1914<br />

Mein Wachstuchheft wird langsam voll. Es geht zu Ende, aber <strong>der</strong> Krieg geht weiter. Viel habe<br />

ich geweint, seitdem Vater im Feld ist. Mutter versucht uns zu trösten, doch ich habe sie<br />

nachts weinen gehört.<br />

<strong>Die</strong>nstag, <strong>der</strong> 03. November 1914<br />

Ich hasse diesen verdammten Krieg und fürchte, wir werden Vati nie wie<strong>der</strong>sehen. Seit einem<br />

Monat haben wir keine Nachricht mehr von ihm.<br />

Dr. Brenner unterbrach sich und schaute Frau Beck betreten an. <strong>Die</strong>se sagte mit einer mitleidsvollen<br />

Geste: „Mir gehen diese Worte auch sehr ans Herz, Herr Doktor. Das können sie<br />

mir glauben.“<br />

„Ich glaube es Ihnen.“ Dr. Brenner senkte wie<strong>der</strong> seinen Blick auf das Wachstuchheft und<br />

las einen Moment still weiter. Dann diktierte er Frau Beck weiter. Sie hatte Mühe mit dem<br />

Eintippen mitzukommen, denn Dr. Brenner diktierte an diesem Nachmittag beson<strong>der</strong>s schnell.<br />

Sie bremste ihn jedoch nicht und hackte unverdrossen und äußerst konzentriert die Sätze in<br />

den Rechner.<br />

Kurz nach zwei Uhr begann es draußen zu regnen. Es wurde so dunkel, dass Dr. Brenner<br />

das Licht im Büro einschalten musste. Eine knappe halbe Stunde später war es geschafft. Der<br />

Text des ersten von sechs und damit auch das älteste <strong>der</strong> Tagbücher war im Rechner gespeichert.<br />

„So, das wäre vollbracht“, stöhnte Dr. Brenner, nachdem er Gabi Beck den letzten Satz<br />

diktiert hatte. „Jetzt haben wir uns ein kleines Päuschen verdient.“<br />

Gabi Beck tippte den Satz zu Ende und sah zu Dr. Brenner hinüber, <strong>der</strong> noch ganz im Gedanken<br />

versunken an seinem Schreibtisch saß und noch ganz <strong>der</strong> Wirklichkeit entrückt auf<br />

das Wachstuchheft blickte. „Ich mache uns eine Tasse Kaffee“, sagte sie und stand auf.<br />

„Das brauchen Sie gar nicht mehr tun. Ich habe vorhin schon eine ganze Kanne davon gebrüht“<br />

Dr. Brenner sah noch immer auf die letzte Seite des Tagebuches, so, als wollte er noch<br />

mehr daraus lesen. Aber <strong>der</strong> Text endete auf <strong>der</strong> letzten Seite ganz unten. Es war kein Platz<br />

mehr, den Elfriede Seiffert hätte beschreiben können, außer vielleicht die Innenseite des Heftrückens.<br />

Doch dazu hätte sie an<strong>der</strong>es Schreibgerät benutzen müssen, einen Kugelschreiber<br />

vielleicht, denn auf den wasserabweisenden Heftdeckel konnte man mit Fe<strong>der</strong> und Tinte nicht<br />

schreiben. Doch die mehr o<strong>der</strong> weniger segensreiche Erfindung des Kugelschreibers kam erst<br />

viel später in die Welt, zu einer Zeit, an die Elfriede noch nicht zu denken wagte, als sie den<br />

letzten Satz in ihr erstes Wachstuchheft schrieb.<br />

Elke und Heinz Markert saßen im Café. <strong>Die</strong> milde Septembersonne hatte sie nach dem<br />

Mittagessen aus dem Haus getrieben. Sie wollten in <strong>der</strong> Innenstadt ein wenig bummeln gehen.<br />

Als sie am Josephsplatz vorbei kamen, verspürten beide plötzlich einen so intensiven Durst<br />

auf eine Tasse Kaffee, <strong>der</strong> sie daran hin<strong>der</strong>te, einen Bogen um das Café Pinguin zu machen,<br />

um sich weiter die Schaufenster <strong>der</strong> vielen Geschäfte anzusehen. Sie hatten an einem <strong>der</strong> silbrig<br />

glänzenden Tischchen Platz genommen und sich jenes schwarze Getränk bestellt, das sie<br />

durch Zusatz von Kondensmilch goldbraun aufhellten.<br />

28<br />

137


„Heike könnte sich auch wie<strong>der</strong> einmal melden“, sagte Elke plötzlich zu Heinz, nachdem<br />

sie eine Weile schweigend dasaßen und dem Treiben auf dem Platz zusahen.<br />

„Das finde ich auch, Elke“, entgegnete Heinz und sah seine Frau mit einem etwas besorgten<br />

Blick an. „Ich weiß,“ fuhr er fort, „Heike ist kein kleines Kind mehr. Sie ist Studentin und<br />

hat einen Freund, aber ...“ Er zögerte.<br />

„Was aber, Heinz?“ Elke wandte sich ihrem Mann zu.<br />

„... aber deswegen könnte sie sich doch wenigstens alle vierzehn Tage kurz melden.“<br />

Heinz blickte etwas betreten zu Boden.<br />

Elke schwieg. Auch ihr war nicht ganz wohl. Seit über drei Wochen hatten sie von ihrer<br />

Tochter nichts mehr gehört. Es war nicht Heikes Art, sich länger als höchstens zwei Wochen<br />

nicht bei ihren Eltern zu melden. War sie mit Wolfgang unterwegs? Was trieben die beiden?<br />

Tausend Gedanken gingen Elke und Heinz durch den Kopf. Sie dachten beide dasselbe, aber<br />

keiner von ihnen wollte darüber sprechen. Je<strong>der</strong> hing für sich seinen Gedanken nach. <strong>Die</strong>s<br />

ging noch einige Minuten so, bis Heinz plötzlich zwei Fragen in den Raum warf: „Was ist<br />

eigentlich mit Dr. Brenner? Wie weit ist er mit dem Eintippen <strong>der</strong> Texte?“<br />

„Zu viele Fragen“, seufzte Elke und atmete tief durch.<br />

„Wenn man uns so sieht, dann könnte ein Außenstehen<strong>der</strong> durchaus zu <strong>der</strong> Auffassung<br />

kommen, wir hätten uns nichts mehr zu sagen.“<br />

„Was soll das, Heinz!“ Elkes Miene verfinsterte sich. „Müssen wir denn ständig über irgendwas<br />

quasseln?“<br />

Dann trat wie<strong>der</strong> eine Stille ein, eine Stille, die beiden fast unheimlich war. Wo war die<br />

fröhliche Entspanntheit hingeflogen, die sich während ihres Urlaubs eingestellt hatte? Keiner<br />

von beiden wollte eine Antwort auf diese Frage.<br />

Elke und Heinz saßen einige Minuten schweigend an dem kleinen Bistrotischchen. Je<strong>der</strong><br />

hing seinen Gedanken nach. Und je<strong>der</strong> von ihnen dachte an etwas an<strong>der</strong>es.<br />

Gegen halb vier verdunkelte eine aus Südwesten aufziehende Wolke die Sonne. Heinz hob<br />

den Kopf und sah über den Platz nach Westen. „Ob es wohl heute noch regnet?“<br />

„Eine Wolke macht noch keinen Regen, Heinz!“<br />

„Du hast recht, Elke,“ gab Heinz zu und nippte an seinem Cappuccino. „Manchmal sehe<br />

ich alles zu pessimistisch.“<br />

„Du solltest nur noch positiv denken, Heinz.“<br />

„Das ist leicht gesagt, Elke. Aber wenn ich so alles bedenke ...“<br />

„... hast Du keinen einzigen Grund, auch nur einen Augenblick lang schwarz zu sehen“,<br />

unterbrach Elke ihren Angetrauten. „Denk’ doch einmal an unseren großen Fund. Ich empfinde<br />

es als einen Glücksfall, dass wir die Aufzeichnungen meiner Großmutter gefunden haben.<br />

Wie viele Menschen haben das Glück, alte Tagebücher ihrer Vorfahren lesen zu können. Na,<br />

ja, fast lesen zu können, wenn ich ehrlich bin.“<br />

„Du hast ja recht, du hast ja so recht, Elke. Wir dürfen uns glücklich schätzen, so einen<br />

Fund gemacht zu haben. Aber än<strong>der</strong>t er auch etwas an unserer Situation?“ Heinz setzte sich<br />

aufrecht in seinen Stuhl und beobachtete seine Frau aufmerksam. Er meinte ein mattes Leuchten<br />

in Elkes Augen gesehen zu haben.<br />

„Wir än<strong>der</strong>n uns ständig, Heinz. Da ist es gleichgültig, ob o<strong>der</strong> was wir lesen, schreiben<br />

o<strong>der</strong> auch finden. Es wäre ja schlimm, wenn dies nicht so wäre. Stillstand ist Rückschritt und<br />

zwar auf allen Gebieten.“<br />

„Ich meinte unsere jetzige Lebenssituation, Elke.“<br />

„Na und! Uns geht es doch gut, Heinz“, entgegnete Elke entrüstet. „Wir sind gesund, haben<br />

eine gesunde Tochter, die in Erlangen, einer angesehenen Universität, aus freien Stücken,<br />

ganz ohne elterlichen Zwang, Informatik studiert und dazu noch gute Freunde und Verwandte.<br />

Was willst Du noch mehr, Heinz? Bist Du mit dem, was wir haben, nicht zufrieden?“<br />

„Das, was Du gerade gesagt hast, meinte ich nicht. Ich habe mehr an meinen Beruf gedacht.<br />

<strong>Die</strong> Geschäfte sind schon einmal besser gelaufen.“<br />

138


„Ach das meinst Du!“ Elke tat, als sei sie überrascht. „Du hast in den letzten Jahren doch<br />

sehr gut verdient und wir haben uns doch auch Einiges beiseite gelegt. Was soll’s, wenn einmal<br />

die Geschäfte etwas schlechter gehen. So große Anschaffungen haben wir in nächster<br />

Zeit doch auch nicht vor. Und für zwei Urlaubsreisen reicht es allemal. Meinst Du nicht?“<br />

Heinz hatte keine Zeit darauf zu antworten, denn er sah ein junges Paar über den Platz auf<br />

das Café zu kommen. „Das nenne ich eine Überraschung! Da kommt unser Sprössling!“<br />

Elke drehte sich in die Richtung, in die ihr Mann schaute und ihr Gesicht strahlte. „Tatsächlich!<br />

Heike und Wolfgang kommen!“<br />

<strong>Die</strong>se hatten sich bis auf Rufweite dem Tisch genähert und auch Heike hatte ihre Eltern im<br />

Café erkannt. „Sie da, Wolfgang! Meine Erzeuger sitzen im Café Pinguin und lassen sich’s<br />

gut gehen“, rief sie erstaunt aus und eilte Wolfgang davon.<br />

Elke stand auf und ging ihrer Tochter einige Schritte entgegen. Zwei Sekunden später lagen<br />

sich Mutter und Tochter in den Armen.<br />

„Grüß Dich Gott, Heike.“ Elke war überglücklich und gab ihrer Tochter einen herzlichen<br />

Kuss auf die linke Wange.<br />

„Gerade haben wir von euch gesprochen, Mutti.“ Heike erwi<strong>der</strong>te den Kuss ihrer Mutter.<br />

„Setzt Euch zu uns!“ for<strong>der</strong>te Heinz die beiden auf, sprang auf, holte vom nicht besetzten<br />

Tisch nebenan einen vierten Stuhl und stellte ihn an das Cafétischchen. Es wurde mit vier<br />

Leuten eng an ihm, aber man arrangierte sich.<br />

„Was hast Du denn die ganze Zeit gemacht, Heike?“ Elkes besorgte Frage erheiterte ihre<br />

Tochter. „Warum hast Du Dich denn nicht gemeldet?“<br />

Auch Wolfgang musste über Heikes Mutter lachen. „Heike war in den letzten beiden Wochen<br />

sehr fleißig, Frau Markert. Und das in den Semesterferien!“<br />

„Übertreib’ nicht so, Wolfgang.“ Heike wurde fast ein wenig verlegen. „Ich habe die alte<br />

deutsche Schrift im Selbstkurs schreiben gelernt.“<br />

„Das ist ja toll!“ Elke strahlte übers Gesicht. „Dann kannst Du ja selbst die Tagebücher lesen.“<br />

„Nicht nur die Tagebücher, Mutti, auch die Briefe! Du kannst Dich doch noch erinnern ...“<br />

„Ja, ja, Heike, <strong>Die</strong> Briefe.“ Elke wurde nachdenklich. „Wo sind die denn, Heinz.“<br />

Elkes Mann überlegte. „Ich glaube, die Briefe müssten noch bei uns sein.“<br />

„Bist Du sicher, Heinz.“<br />

„Na ja, so ganz sicher ...“ Heinz überlegte weiter.<br />

„Also ich habe die Briefe nicht“, fiel Heike ihrem Vater ins Wort.<br />

„Wir werden zu Hause nachsehen. Jetzt lasst uns von etwas An<strong>der</strong>em reden!“ Elke brauchte<br />

an einem so warmen Frühherbsttag die Anwesenden kein zweites Mal auffor<strong>der</strong>n.<br />

„Und wie geht das Lesen?“, wollte Heinz nach einer Weile von seiner Tochter wissen.<br />

„Es ist für mich noch schwierig, aber weitere Übung wird mir helfen. Doch dazu brauche<br />

ich Material.“<br />

„Das kannst Du bekommen“, sagte Heinz stolz. „Jetzt zahlt sich aus, dass ich die Tagebücher<br />

kopiert habe.“ Sein Blick ging triumphierend zu seiner Frau. Elke rümpfte nur die Nase.<br />

Sie wusste genau, dass Heinz damals recht behalten sollte.<br />

„Das ist ja prima, Papa.“ Heike war begeistert. „Da könnte ich ja gleich morgen ...“<br />

„Aber vernachlässige Dein Studium nicht!“ Elke unterbrach ihre Tochter mit dem Ton einer<br />

strengen Lehrerin und sah ihre Tochter an.<br />

„Aber Mutti! Du müsstest mich doch langsam kennen.“, wiegelte Heike ab. „Das Studium<br />

lässt mir genügend Zeit, um mich mindestens eine Stunde am Tag den Tagebüchern und Briefen<br />

zu widmen.“<br />

„Na dann ist’s ja gut.“ Elke Markert schien nicht sehr überzeugt, aber sie vertraute ihrer<br />

Tochter, hatte sie doch bisher keinen Grund gehabt, Heike wegen Trödelei o<strong>der</strong> sonstiger<br />

Verzögerungen beim Studium zu ermahnen. Ihre Tochter war schon in <strong>der</strong> Schule fast zu<br />

139


strebsam gewesen und ging damals mehr mit ihren Freundinnen aus als mit dem an<strong>der</strong>en Geschlecht.<br />

„Ich werde selbstverständlich Heike unterstützen“, mischte sich jetzt Wolfgang in das Gespräch<br />

ein. „Und meinen Vater werde ich gleich heute Abend noch anrufen und ihn fragen,<br />

wie weit er mit dem Abschreiben ist.“<br />

„Tu das, Wolfgang!“ Elke wandte sich Heikes Freund zu und lächelte. Ihr Mutterherz fühlte<br />

es, das die <strong>der</strong>zeitige Beziehung ihrer Tochter zu Wolfgang keine flüchtige mehr war.<br />

„Was wollt ihr trinken? Ich lade Euch beide ein.“ Heinz sah die kleine, zierliche Bedienung<br />

auf den Tisch zukommen.<br />

Heike und Wolfgang überlegten kurz. „Einen Cappuccino!“ Es entfuhr ihnen wie aus einem<br />

Munde. Sie mussten beide lachen. <strong>Die</strong> Bedienung hatte die Bestellung verstanden, drehte<br />

sich um und ging noch an einen weiteren Tisch, an dem sich gerade neue Gäste gesetzt hatten.<br />

„Das scheint ja Euer Lieblingsgetränk zu sein.“ Elke sah Wolfgang an, <strong>der</strong> darauf etwas<br />

verlegen wirkte. Auch er spürte in seinem Innersten, das er seine große Liebe gefunden hatte.<br />

„Tagsüber ja!“ Wolfgang wandte seinen Blick wie<strong>der</strong> Heike zu.<br />

„Und abends?“ Elke konnte ihre Neugier nicht unterdrücken.<br />

„Aber Mama!“ rief Heike entsetzt. „Vielleicht fragst Du Wolfgang noch, welche Unterhosengröße<br />

er hat.“<br />

Jetzt wurde Heikes Mutter ein wenig verlegen. Sie spürte, dass ihre verständliche mütterliche<br />

Neugier ihr die Worte in den Mund gelegt hatte.<br />

Wolfgang hatte die Frage ernst aufgefasst und wollte gerade etwas sagen, als er in etwa<br />

vierzig bis fünfzig Meter Entfernung eine hagere Gestalt über den Platz gehen sah, die er mit<br />

seinem Blick fixierend verfolgte. Elke war dies nicht entgangen. Auch sie verfolgte jetzt die<br />

Richtung, in die ihr Gegenüber sah. Doch dazu musste sie sich umdrehen. Dabei stieß sie mit<br />

ihrem rechten Fuß etwas ungelenk an den Fuß des kleinen Bistrotischchens. <strong>Die</strong>ser kam leicht<br />

in Wackeln und beinahe wäre ihre noch ziemlich volle Tasse Kaffee übergeschwappt, hätte<br />

nicht Heinz geistesgegenwärtig diese ergriffen und kurz hochgehoben.<br />

„Wer interessiert Dich denn da?“ Heinz sah seine Frau fragend an, die sich erschreckt umwandte.<br />

„Ach nichts!“ Aber ihre Neugier war größer als ihre Beherrschung. „Ist gerade ein Bekannter<br />

vorübergegangen?“ fragte sie und wandte sich wie<strong>der</strong> Wolfgang zu.<br />

„Ich dachte“, entgegnete dieser nachdenklich, „ich haben den Typen schon einmal im Institut<br />

meines Vaters gesehen. O<strong>der</strong> war das auf <strong>der</strong> Straße, als Du einmal bei uns zu Besuch<br />

warst, Heike?“<br />

„Welchen Typen meinst Du?“ Heike blickte jetzt auch in die Richtung, die ihr Freund noch<br />

immer konzentriert fixierte.<br />

„Der mit <strong>der</strong> dunklen Jacke da hinten.“<br />

„Ach den meinst Du. Ja, den habe ich schon in Fürth gesehen, als ich die Geburtsurkunde<br />

von Elfriede ...“<br />

„Pst! Nicht so laut!“ Wolfgang unterbrach Heike barsch, was sonst eigentlich nicht seine<br />

Art war.<br />

„Hast Du Angst vor irgendwas?“ Heike sah Wolfgang mit verständnisloser Miene an.<br />

„Angst ist es nicht“, antwortete Wolfgang, indem er jedes Wort betonte. „Aber ich habe da<br />

im Bauch so ein ungutes Gefühl ...“<br />

Wolfgang sah Heike durchdringend an. Er blickte ihr tief in ihre blauen Augen und ließ<br />

nicht von ihr. ‚Heike muss die Liebe meines Lebens sein’, dachte er, aber er hatte keine Zeit,<br />

den Gedanken weiter zu spinnen, denn er konzentrierte sich weiter auf die hagere Gestalt, die<br />

schlen<strong>der</strong>nd in <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong> Leute verschwand.<br />

„Irgendwie kann ich Dich verstehen, aber irgendwie verstehe ich Dich jetzt auch wie<strong>der</strong><br />

nicht.“ Heike blickte Wolfgang an und ihr Blick zeugte immer noch von einer Miene, die<br />

zwischen Hoffen und Bangen zu schweben schien.<br />

140


„Wenn ich nur genau wüsste, ob das wirklich <strong>der</strong>selbe Typ war, den ich schon im Institut<br />

...“<br />

„Wird schon nicht so wichtig sein“, warf Heikes Mutter ein und wandte sich ihrem Mann<br />

zu. „Hast Du was gesagt, Heinz?“<br />

„Nein, ich nicht“,<br />

„Dann muss ich mir das nur eingebildet haben.“<br />

„Lasst uns doch mal von was an<strong>der</strong>em reden!“ Heinz versuchte die etwas zerfahrene Gesprächssituation<br />

wie<strong>der</strong> zu wenden.<br />

Heike sah Wolfgang noch einige Momente an und ließ dann ihre Blicke über den Platz<br />

schweifen. Sie wollte jetzt nicht weiter bohren, obwohl sie nur zu gerne gewusst hätte, was<br />

ihren Freund so nachdenklich gemacht hatte. Nichts Ungewöhnliches konnte sie an den Menschen<br />

entdecken, die über den Platz gingen. Manche hatten Einkaufstaschen bei sich, an<strong>der</strong>e<br />

schlen<strong>der</strong>ten in sichtlicher Ruhe an dem großen Brunnen vorbei, <strong>der</strong> sich nahe dem Turm befand,<br />

<strong>der</strong> einer darunter liegenden U-Bahnstation den Namen gab. Es waren auch einige Touristen<br />

unter den vielen Menschen, die alle die warme Herbstsonne genießen konnten, die milde<br />

auf die Stadt herabschien.<br />

Heike versank in ihren Gedanken und bemerke das Gespräch, welches sich zwischen<br />

Wolfgang und ihren Eltern entwickelte, nur ganz am Rande. Viel ging ihr durch den Kopf. Zu<br />

aller erst waren da die Tagebücher ihrer Urgroßmutter, die sie jetzt, über zwei Monate nach<br />

ihrer Entdeckung endlich lesen konnte, mühsam zwar, aber immerhin. Und da war natürlich<br />

Wolfgang, zu dem sie sich immer mehr hingezogen fühlte. Doch wenn sie an Wolfgang dachte,<br />

dann musste sie auch unwillkürlich an Brigitte denken. Und dabei bekam sie immer einen<br />

Anfall von innerer Not, denn sie hatte Wolfgang noch nicht über ihr Erlebnis in Erlangen erzählt.<br />

Sollte sie noch weiter warten o<strong>der</strong> es ihm besser möglichst schnell erzählen? – Sie<br />

wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, ihre kleine Verfehlung zu beichten.<br />

Wolfgang hatte sich innerlich wie<strong>der</strong> beruhigt, obwohl ihm noch immer nicht eingefallen<br />

war, woher er die hagere Gestalt kannte, die längst in <strong>der</strong> Menschenmenge untergetaucht und<br />

in eine <strong>der</strong> Straßen gegangen war, die vom Platz aus in alle Richtungen verliefen.<br />

„Also ich kann Ihnen versichern, dass ihre Tochter in den letzten beiden Wochen sehr fleißig<br />

war.“ Wolfgangs Augen leuchteten, als er zu Heikes Mutter gewandt dies sagte. Darauf<br />

sah er Heike an, doch diese bemerke seinen Blick nicht. Sie war noch immer in ihren Gedanken<br />

versunken.<br />

„Na, da bin ich aber froh, wenn Sie das sagen.“ Elke atmete erleichtert auf.<br />

„Heike hat viel geübt und gelernt. Wir haben uns in den letzten beiden Wochen nur insgesamt<br />

drei Mal gesehen, öfter nicht.“ Wolfgangs Augen leuchteten zu Heikes Mutter hinüber,<br />

in <strong>der</strong> ein wenig Stolz auf ihre Tochter aufkam. „Ich glaube, Heike kann jetzt die alte Deutsche<br />

Schrift ein wenig schreiben und auch lesen.“<br />

„Das finde ich sehr gut“, mischte sich jetzt Heinz in das Gespräch ein. „Dann brauchen wir<br />

ja bald die Unterstützung Ihres Vater nicht mehr.“ Dabei klopfte er Heike anerkennend auf die<br />

Schulter. <strong>Die</strong>s war das Ende ihres Gedankenversunkenseins, denn sie schreckte hoch.<br />

„Was hast Du gesagt, Vati?“<br />

„Ich finde es sehr gut, dass Du jetzt die alte Sütterlinschrift lesen kannst“, wie<strong>der</strong> holte<br />

Heinz.<br />

„Erwarte von mir nicht zu viel“, wiegelte Heike ab. „Ich bin noch ganz am Anfang und das<br />

Lesen geht noch sehr holprig.“<br />

„Heike untertreibt wie<strong>der</strong> einmal.“ Wolfgang schenkte Heike einen verliebten Blick und<br />

zwinkerte ihr abwechselnd mit beiden Augen zu. Heikes Mutter, die ihre Tochter wohlwollend<br />

ansah, lächelte.<br />

„Das macht doch nichts, Heike. Hauptsache ist, ein Anfang ist getan“, munterte Heinz seine<br />

Tochter auf. „Und mit <strong>der</strong> Übung kommt auch die Erfahrung, die bekanntlich eine <strong>der</strong> Voraussetzungen<br />

für die Perfektion ist.“<br />

141


„Aber Papa!“ warf Heike ein. „Müssen wir denn immer alle perfekt werden? Neigen wir<br />

Deutsche nicht immer wie<strong>der</strong> zum Perfektionismus? Wenn alle danach streben, müssen doch<br />

die meisten Menschen irgendwann einmal von sich enttäuscht sein, weil sie die viel zu hochgelegte<br />

Messlatte nie erreichen, geschweige denn überspringen können.“<br />

Elke nahm die Worte ihrer Tochter mit sichtlicher Freude und Genugtuung auf. „Das ist es<br />

gerade, was ich Dir manchmal vorwerfe, Heinz. Wir streben viel zu viele und viel zu hochgesteckte<br />

Ziele an und wun<strong>der</strong>n uns dann, warum wir sie nicht erreichen. Wir können sie nicht<br />

erreichen.<br />

„Jetzt wird mir es zu philosophisch“, entgegnete Heinz, <strong>der</strong> sich von seinen beiden Damen<br />

in seiner Meinung angegriffen fühlte. „Es gibt so viele schöne Themen, über die man trefflich<br />

streiten kann. Und wir reden über das.“<br />

Wolfgang wollte gerade etwas zu <strong>der</strong> Diskussion beitragen, als er die zierliche Bedienung<br />

sah, die auf einem großen Tablett eine Reihe von Getränken aus dem Café heraustrug.<br />

„Ich glaube, da kommt unser Cappuccino“, sagte er schmunzelnd. „Man kann auch über<br />

diesen philosophieren. O<strong>der</strong> vielleicht sogar über die Telefonschnur.“<br />

Heinz wollte antworten, sagte aber nichts, son<strong>der</strong>n beobachtete die Bedienung, an <strong>der</strong> er<br />

einen gewissen Gefallen gefunden hatte. Seiner Frau war dies nicht entgangen. Elke schmunzelte,<br />

während sie ihren Mann betrachtete, <strong>der</strong> überhaupt nicht merkte, dass seine nicht unauffällige<br />

Fixierung auf die hübsche Bedienung genauestens registriert wurde.<br />

„Gefällt Sie Dir?“ Elkes Frage klang ein wenig bewusst provokativ.<br />

Heinz schreckte aus seinem Sinnen hoch. „Wer? Was?“, stotterte er.<br />

„Na die Bedienung!“ Heike wollte ihren Vater auf die Sprünge helfen.<br />

„Ach die! Ich war wo ganz an<strong>der</strong>s.“<br />

„Soso!“ Heike lächelte ihren Vater süffisant an. Auch bei ihr war die auffällige Beobachtung<br />

<strong>der</strong> Bedienung durch ihren Vater nicht unbemerkt geblieben. „Ich finde sie sehr hübsch“,<br />

fügte sie hinzu. „Aber ich glaube, die steht mehr auf jüngere Männer.“<br />

Ein leichte Röte stieg Heinz jetzt ins Gesicht. Er fühlte sich beobachtet und dabei noch<br />

richtig interpretiert. Jetzt war es besser, nichts mehr dazu zu sagen.<br />

„Zwei Cappuccino, bitte sehr!“ <strong>Die</strong> Bedienung stellte die beiden Cappuccinos auf den<br />

Tisch. Heinz musterte sie sehr intensiv. Heike und Elke beobachteten ihn und konnten ein<br />

Lachen kaum zurückhalten. Wolfgang verfolgte die Szene und musste ebenfalls schmunzeln,<br />

sagte jedoch nichts.<br />

„Es freut mich, dass ihr alle so guter Laune seid.“ Heinz wollte das Thema wechseln. Aber<br />

Elke, Heike und auch Wolfgang konnten sich nicht mehr zurückhalten und prusteten aus sich<br />

heraus. Ihr Lachen war ansteckend. Auch Heinz musste jetzt lachen.<br />

„Fünf Mal gut am Tag gelacht soll das Leben ungeheuer verlängern,“ sagte Elke nach einer<br />

Weile mit einem deutlich spöttischen Unterton.<br />

„Das habe ich auch gelesen, Frau Markert“, pflichtete Wolfgang Heikes Mutter bei.<br />

„Der Cappuccino schmeckt mir hier von allen Cafés in Nürnberg am besten“, stellte Heike<br />

fest, nachdem sie den ersten Schluck aus <strong>der</strong> breit ausladenden Tasse getrunken hatte.<br />

„Dem kann ich nur zustimmen.“ Wolfgang stellte seine Tasse langsam wie<strong>der</strong> auf den Teller<br />

zurück und fuhr mit seiner Zunge genussvoll über seine Oberlippe. „Ich weiß nicht was die<br />

hier machen, aber <strong>der</strong> Cappuccino schmeckt hier gerade richtig, nicht zu stark und nicht zu<br />

schwach.“<br />

Heinz blickte zunächst seine Tochter und danach Wolfgang an. „Es freut mich, dass es<br />

Euch hier auch so gut gefällt. <strong>Die</strong> Preise sind hier nicht gerade niedrig, aber man bekommt<br />

etwas für sein Geld. Auch <strong>der</strong> Kaffee ist hier nicht zu verachten.“ Heinz schenkte sich aus<br />

dem kleinen, silbrig glänzenden Kännchen die zweite Tasse ein. „Ich bleibe lieber beim Kaffee“,<br />

fügte er hinzu. „Aber über Geschmack kann man ja gar trefflich streiten.“<br />

„Über Geschmack wird bei uns nicht gestritten.“ Heikes Mutter klang entschlossen. Doch<br />

sie hatte es nicht so gemeint und schmunzelte ihrem Mann zu.<br />

142


„Wie wäre es denn“, begann Heinz nach einer Weile und trank einen Schluck Kaffee. „Wie<br />

wäre es denn, wenn Heike uns ein klein wenig von Ihrer neuangeeigneten Kunst zeigen würde.“<br />

„Welche Kunst meinst Du denn, Heinz?“ Elke blickte ihren Gatten fragend an.<br />

„Ich meine das Lesen <strong>der</strong> alten Deutschen Schrift, das Lesen ...<br />

„... in den Tagebüchern von Elfriede Seiffert“, unterbrach Heike ihren Vater. Ihr Gesicht<br />

nahm eine leicht rötliche Farbe an. „Ich kann noch nicht so flüssig lesen wie vielleicht Wolfgangs<br />

Vater. Und ob sich Tagebücher zum Vorlesen so gut eignen ...“ Heike unterbrach sich<br />

selbst und sah ihren Vater skeptisch an.<br />

Heinz hob seine Augenbrauen. „Na ja, Heike! Es muss ja nicht hier und heute sein.“<br />

„Das meine ich auch“, mischte sich Wolfgang in die Unterhaltung ein. „Heike soll erst<br />

einmal die Handschrift genauer studieren, dann fällt es ihr auch hinterher leichter sie abzuschreiben.“<br />

„Das ist wirklich eine gute Idee, Wolfgang.“ <strong>Die</strong> lobenden Worte nahm Heikes Freund mit<br />

einem wohlwollenden Lächeln auf.<br />

„Rom ist auch nicht an einem Tag gebaut worden.“ Heinz zwinkerte Wolfgang zu, doch<br />

dieser sah es nicht.<br />

12:05<br />

Der Nachmittag verging schnell. Heike und Wolfgang verabschiedeten sich gegen halb<br />

fünf Uhr wie<strong>der</strong> von Heikes Eltern. Sie wollten das sonnige Wetter ausnutzen und noch ein<br />

wenig durch die Stadt bummeln. Elke und Heike blieben noch ein wenig im Café Pinguin.<br />

Ihnen gefiel es dort immer besser. Vor allem konnte man die Leute so schön beobachten und<br />

seinen Gedanken nachhängen. <strong>Die</strong>s liebte Heinz, während Elke wie<strong>der</strong> einmal ihr Wachstuchheft<br />

aus <strong>der</strong> Handtasche zog und schrieb ...<br />

Harald Grattler stand an diesem Morgen auf und es war ihm nicht wohl in seiner Haut. Der<br />

gestrige Tag hatte ihn schlapp gemacht. ‚Vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich ins<br />

Freibad gehe, nicht mehr so viele Bier trinken’, dachte er bei sich und quälte sich aus seinem<br />

Bett, das in dem Zimmer stand, in welchem er schon als Student auf seine Examina gebüffelt<br />

hatte, wenn er nicht damals schon ins Freibad gegangen war, wo ihm das Lernen aber noch<br />

schwerer von <strong>der</strong> Hand ging als in seiner stickigen Studentenbude. Aber er konnte sich von<br />

dieser kleinen Wohnung nicht trennen. Sie war alles was er besaß, wenn er von seiner Arbeit<br />

im Institut für neuere Geschichte einmal absah. Doch diese Arbeit füllte ihn nicht so richtig<br />

aus. Er wollte forschen, neue Tatsachen und Zusammenhänge erkennen und beleuchten ...<br />

So war er vor einigen Jahren auf eine Art <strong>der</strong> Forschung gestoßen, die ihm damals sofort<br />

gepackt und fasziniert hatte. <strong>Die</strong>ses Fach <strong>der</strong> sogenannten historischen Hilfswissenschaften<br />

betrieb er seit einem Jahr so intensiv, wie es ihm seine freie Zeit erlaubte. Immer weiter zurück<br />

war er in <strong>der</strong> Vergangenheit seiner Vorfahren gedrungen. Doch eine seiner Urgroßmütter<br />

machte ihm großes Kopfzerbrechen. Er kannte nur ihren Vornamen, Elfriede, und wusste,<br />

dass sie das uneheliche Kind einer .... Wagner war und in Fürth geboren sein sollte. Doch<br />

Nachforschungen beim Standesamt <strong>der</strong> Stadt waren bisher erfolglos geblieben.<br />

Harald Grattler ging ins Bad und schaute in den Spiegel. ‚Du siehst heute wie<strong>der</strong> mindestens<br />

zehn Jahre älter aus als Du eigentlich bist’, dachte er bei sich und drehte das kalte Wasser<br />

auf. Es dauerte eine Weile bis die lauwarme Abgestandenheit des Wassers in den Rohren des<br />

aufgeheizten Hauses einer angenehmen Frische wich. Erst danach schöpfte er mit beiden<br />

Händen das kühle Nass und schleu<strong>der</strong>te es in sein Gesicht.<br />

29<br />

143


‚Gott sei Dank, dass ich heute nicht ins Institut muss’, ging es ihm durch den Kopf. Wenn<br />

mich Gabi so sehen würde ...’ Nachdem er sein Gesicht erfrischt hatte, setzte er in <strong>der</strong> kleinen<br />

Küche, die mit zwei Personen schon als überfüllt gelten musste, Kaffee auf und sah sich im<br />

Kühlschrank nach etwas Essbarem um.<br />

„Ach du liebe Neune“, murmelte Harald Grattler vor sich hin, als er in den leeren Kühlschrank<br />

sah, in dem nur eine halbleere, angebrochene Flasche Sekt stand und ein Jogurt, dessen<br />

Verfallsdatum um mehr als einen Monat überschritten war. ‚Da wird Dir nichts an<strong>der</strong>s<br />

übrigbleiben, als einkaufen zu gehen’, dacht er weiter und ein innerlicher Groll stieg in ihm<br />

auf. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er sich nicht mit Lebensmitteln eingedeckt hatte.<br />

Wütend warf Harald Grattler die Kühlschranktüre zu und ging zurück in seinen Schlafraum,<br />

<strong>der</strong> gleichzeitig Studier- und Ankleidezimmer war. Er öffnete seinen Klei<strong>der</strong>schrank<br />

und zwei alte Jeans flogen ihn entgegen.<br />

„Jetzt habe ich aber die Faxen dicke“, schrie Harald Grattler und warf sich auf sein aufgewühltes<br />

Bett. Er ärgerte sich maßlos über sich selber, weil er die Ordnung in seinem Appartement<br />

so sträflich vernachlässigt hatte. Doch er war kein Kind von Selbstmitleid, raufte sich<br />

zusammen und stand nach wenigen Augenblicke wie<strong>der</strong> auf, um seine beiden Hosen ordentlich<br />

im noch offenstehenden Wäscheschrank zu verstauen. Danach zog er sich an und ging<br />

zur Bäckerei um die Ecke, um sich an diesem Samstag frische Brötchen zum Frühstück zu<br />

kaufen. Ein angebrochenes Glas Marmelade hatte er zuvor noch in seiner Kochnische gefunden.<br />

„Warum schauen Sie mich so durchdringend an?“ fragte die junge Verkäuferin in <strong>der</strong> Bäckerei.<br />

Harald Grattler antwortete nicht sofort. „O, entschuldigen Sie“, entgegnete er einen Moment<br />

später. „Ich war ganz in Gedanken.“<br />

<strong>Die</strong> Miene <strong>der</strong> Verkäuferin entspannte sich. Sie besann sich wie<strong>der</strong> auf ihre Tätigkeit.<br />

„Das macht zwei fünfundzwanzig“, sagte sie und gab ihren schlanken Gegenüber eine Papiertüte,<br />

in die sie zuvor das gewünschte Gebäck verstaut hatte.<br />

Harald Grattler kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld, das er in je<strong>der</strong> seiner wenigen<br />

Hosen meist in <strong>der</strong> Linken Tasche sammelte. Noch immer schlaftrunken und noch mehr<br />

hungrig gab er <strong>der</strong> Verkäuferin den Gegenwert für seine beiden Brötchen und sein Kleingebäck<br />

passend. Er hatte keinen Cent zu verschenken.<br />

Noch immer in seinen Gedanken versunken, verließ Harald Grattler die Bäckerei und eilte<br />

in sein Appartement zurück. Der Hunger trieb ihn an und beschleunigte seine Schritte. Dabei<br />

achtete er nicht auf das, was um ihn geschah. Er nahm auch nicht die wärmenden Strahlen<br />

<strong>der</strong> Sonne wahr, die bereits halbhoch am südöstlichen Himmel stand, <strong>der</strong> sich an diesem<br />

Samstagvormittag von seiner heitersten Seite zeigte.<br />

Harald Grattler warf die Schlüssel auf seinen Schreibtisch und ging drei Schritte zurück<br />

in die Kochnische, wo auch die kleine Kaffeemaschine stand, mit <strong>der</strong> man nur vier Tassen<br />

brühen konnte. Was er aber sah, brachte ihn erneut in Rage. In <strong>der</strong> kleinen Kaffeekanne stand<br />

eine wasserhelle, klare Flüssigkeit und nicht jenes dunkelbraune, duftende Gebräu.<br />

„Verdammt noch mal!“ Harald Grattler schlug mit seiner rechten Faust auf den kleinen<br />

Tisch, an dem nur zwei Stühle Platz fanden. „Jetzt habe ich noch vergessen, das Kaffeemehl<br />

in den Filter zu tun. Geht denn heute alles schief?“<br />

Er schaute nach und tatsächlich hatte er vergessen, die vier Löffel Kaffee in die Filtertüte<br />

zu tun, die jetzt leer und nass an den Wänden des Filters hing. Ohne die Maschine abzuschalten,<br />

packte Harald Grattler die Kaffeekanne mit dem klaren, warmen Wasser und schüttete<br />

den Inhalt in einem Guss wie<strong>der</strong> in den Wasserschacht. <strong>Die</strong> Maschine quittierte dies zischend,<br />

denn die ersten Tropfen Wasser verdampften schlagartig an <strong>der</strong> noch heißen Heizspirale im<br />

Innern <strong>der</strong> Kaffeemaschine.<br />

‚Heute ist mir alles egal’, dachte Harald Grattler bei sich und ging zu dem Einbauschrank,<br />

in dem eine halbleere Dose mit gemahlenem Kaffee stand. Er machte sie auf und<br />

144


ging an die Kaffeemaschine zurück, um vier gehäufte Teelöffel Kaffeepulver in den klatschnassen<br />

Papierfilter fallen zu lassen und die Maschine neu zu starten.<br />

Als er sich dem Tisch zuwenden wollte, klingelte das Telefon. Harald Grattler hob den<br />

Hörer nicht ab. ‚Jetzt wird erst einmal gefrühstückt’, sagte er zu sich selbst und legte die<br />

Brötchen auf einen <strong>der</strong> wenigen sauberen Teller, die er in <strong>der</strong> Kochnische fand. Das Telefon<br />

hörte nicht auf zu klingeln, doch dies störte ihn nicht. Er konnte stur sein und äußerst verbissen,<br />

wenn es darauf ankam. Einen Moment später verstummte endlich das Telefon. Harald<br />

Grattler suchte nach dem Marmeladenglas und fand es. Er schraubte den Deckel ab und es<br />

begann ihm zu ekeln. Auf <strong>der</strong> Oberseite des zuckerigen Inhalts waren feine weiße Fäden zu<br />

sehen. Sie waren gewachsen und gewachsen und hatten schließlich ein feines Pilzgeflecht<br />

gebildet, denn Harald Grattler aß nicht sehr oft Marmelade zum Frühstück, wenn er überhaupt<br />

frühstückte.<br />

„Igitt!“, entfuhr es Harald Grattler. Er zog die Nase hoch, schraubte das Marmeladenglas<br />

schnell zu und warf es in hohem Bogen in den Abfallkorb. Klirrend zersprang es. Sein Inhalt<br />

kroch in die Zwischenräume, die von Papieren und andrem Unrat gebildet wurde, welche sich<br />

schon seit geraumer Zeit in dem blechernen, schmutzig-grauen Eimer befanden. Er achtete<br />

nicht auf sie. Sein Hunger war stärker und hastig biss er in eines <strong>der</strong> Hörnchen, die er sich von<br />

<strong>der</strong> Bäckerei mitgebracht hatte. Den Genuss eines Marmeladenbrötchens musste Harald<br />

Grattler im Moment verschieben. Aber das war ihm auch egal. Doch das Hörnchen war für<br />

seinen Geschmack heute zu trocken. Er drehte sich zur Kaffeemaschine um und erschrak.<br />

„Ja, Himmel, Arsch und Wolkenbruch!“ Harald Grattler fluchte. „Warum geht jetzt die<br />

Kaffeemaschine nicht? Da kann doch nicht wahr sein! Ich habe sie doch eingeschaltet.“<br />

Doch da irrte er, denn er hatte sie nämlich nicht eingeschaltet.<br />

‚Ich glaube, heute darf ich nichts anfassen’, dachte er bei sich, ‚sonst geht alles schief.’<br />

Harald Grattler war <strong>der</strong> Verzweiflung nahe. Sein Blut begann in seinem Kopf zu pochen. Er<br />

merkte, dass ihm schwindlig wurde. ‚Nur mit <strong>der</strong> Ruhe’, dachte er und setzte sich langsam auf<br />

den Stuhl. Er atmete lang und tief durch. Seine Züge entspannten sich und langsam wich das<br />

heftige Pochen.<br />

Er sah zur Kaffeemaschine, bei <strong>der</strong> die ersten Tropfen des dunkelbraunen Aufgusses in<br />

die kleine Kanne liefen. Tropfen für Tropfen vermehrte sich die Flüssigkeit, von <strong>der</strong> er sich<br />

Lin<strong>der</strong>ung seines Zustandes erhoffte. Vor ihm lag das angebissene halbe Hörnchen. Er nahm<br />

es und aß es auf, ohne auf den Kaffee zu warten, <strong>der</strong> ihm das trocken erscheinende Gebäck<br />

angenehmer zu schlucken verhieß.<br />

‚Was ist es nur, was mich heute so neben <strong>der</strong> Rolle laufen lässt?’ <strong>Die</strong>se Frage ging Harald<br />

Grattler jetzt wie<strong>der</strong> im Kopf herum. Seine Erinnerung an den vergangenen Abend war lückenhaft.<br />

Er wusste nur noch, dass er sich mit Gabi getroffen hatte. Aber wo ...? Er schloss<br />

die Augen und seine Vorstellung kam ganz langsam wie<strong>der</strong> ...<br />

„Hey Gerda, schenk mir noch ein Pils ein!“ Harald Grattlers Stimme klang dominant. <strong>Die</strong><br />

etwas rundliche Frau hinter <strong>der</strong> Theke hatte ihn verstanden. „Ist er immer so gut gelaunt?“<br />

fragte sie und wandte ihren Blick Gabi Beck zu, die schweigend im Dunst <strong>der</strong> Kneipe neben<br />

Harald auf einem Barhocker an <strong>der</strong> Theke saß.<br />

Gabi blickte die Bedienung hinter dem Tresen mit einem milden Lächeln an. „Man muss<br />

Harald so nehmen, wie er ist, Gerda“, sagte sie schließlich und blickte neben sich nach links,<br />

wo ihr Freund saß und erwartungsvoll Gerda anstarrte, die einen Moment später ein sauberes<br />

Pilsglas aus dem Glasregal hinter ihr nahm und damit zum Zapfhahn ging.<br />

„Was bedrückt Dich denn, Harry?“, fragte sie zu Gabis Begleiter gewandt, während sie<br />

vorsichtig den messingglänzenden Hahn öffnete.<br />

Harald Grattler antwortete nicht, son<strong>der</strong>n starrte nur auf sein leeres Glas, das er mit seiner<br />

rechten Hand festhielt.<br />

145


„Harald!“ Gabi stieß ihn mit ihrem linken Ellenbogen leicht in die Seite. „Gerda hat Dich<br />

’was gefragt!“<br />

„Was hat sie denn gefragt?“ <strong>Die</strong> Gegenfrage kam etwas zögerlich über seine schon etwas<br />

schweren Lippen. „Hast Du mich etwas gefragt, Gabi?“ Harald Grattler wandte sich seiner<br />

Freundin zu.<br />

„Ich nicht! Aber Gerda hat Dich was gefragt.“<br />

„Was bedrückt Dich denn, Harry?“ Gerda wie<strong>der</strong>holte ihre Frage, als sie sah, dass Gabis<br />

Freund langsam reagierte.<br />

„Frag’ mich nicht! Ich weiß es auch nicht. Aber irgendwas ärgert mich.“<br />

„Was ärgert Dich denn, Harry?“ Gerda lächelte zu Harald hinüber, behielt aber immer<br />

das Pilsglas im Auge, welches sich langsam mit jener goldgelb funkelnden Flüssigkeit füllte,<br />

die Harald Grattler beson<strong>der</strong>s abends gerne trank.<br />

„Es ist doch eine Gemeinheit“, polterte er plötzlich los. „Da forsche ich jahrelang nach<br />

einer meiner Ururgrossmütter und komme bei einer absolut nicht weiter und an<strong>der</strong>e finden<br />

gleich einen Sack voll Tagebücher von ihren Altvor<strong>der</strong>en. Wenn das nicht ungerecht ist ...“<br />

„Aber Harald“, versuchte ihn Gabi zu beschwichtigen, „so ist es nun einmal in <strong>der</strong> Forschung.<br />

Dem einen fällt’s einfach so zu und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ackert und arbeitet und kommt nicht<br />

weiter.“<br />

„Ja, ja, Du hast schon recht, Gabi.“ Harald nickte mit dem Kopf. „Lust und Frust liegen<br />

immer nahe beieinan<strong>der</strong>, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Forschung. Aber trotzdem finde ich es ungerecht,<br />

wie manchem Zeitgenossen nicht nur das Glück in den Schoß fällt, son<strong>der</strong>n auch noch ungemein<br />

interessante Unterlagen.“<br />

Gerda nahm Haralds leeres Glas und stellte ihm ein frisches auf das Bierfilzchen, das mit<br />

einem weiteren Kreuz versehen wurde. Es waren schon einige Pils getrunken. „Jetzt lass’<br />

doch den Kopf nicht hängen, Harry! Es geht schon wie<strong>der</strong> weiter mit Deiner Familienforschung.<br />

Es gibt doch noch so vieles Unbekannte zwischen Himmel und Erde.“<br />

„Auf das es weiter geht! Prost!“ Harald Grattler nahm das Glas und setzte es an seinen<br />

Mund. Er trank einige kräftige Schlücke. „Prost, dass die Gurgel nicht verrost’!“ Nach einem<br />

tiefen Atemzug stellte er das Glas wie<strong>der</strong> auf den Tresen. „Ich werde schon noch eine Möglichkeit<br />

finden, um meinen toten Punkt bei meiner Ururgrossmutter namens Wagner zu überwinden.<br />

Fest steht, dass sie in Fürth geboren ist. Das weiß ich aus sicherer Quelle. Und wenn<br />

ich sichere Quelle sage, dann ist sie sicher!“ Haralds Stimme steigerte sich fast bis zum<br />

Schrei.<br />

„Jetzt sei doch nicht so laut!“, ermahnte ihn Gabi. „Ich habe gute Ohren und verstehe<br />

Dich gut, Harald!“ Auch Gabi wurde jetzt etwas lauter und ungehaltener.<br />

Einige Gäste <strong>der</strong> Bierkneipe drehten sich schon zu Harald Grattler um, doch dieser merkte<br />

dies nicht.<br />

„Ihr werdet schon sehen“, polterte er weiter, „ich werde mit meiner Familienforschung<br />

weiterkommen! Es wäre doch gelacht ...“<br />

„Jetzt hör’ aber auf!“, fuhr Gabi dazwischen und ihre Miene versteinerte sich. „Es brauchen<br />

doch nicht alle Leute hier erfahren, was Du in Deiner Freizeit machst.“<br />

Harald Grattler blickte Gabi an. Er verstand sie sofort, denn er war noch nicht betrunken,<br />

son<strong>der</strong>n nur ein wenig angesäuselt. „Ja, ja“, begann er mit wesentlich vermin<strong>der</strong>ter Lautstärke,<br />

„ich war ein wenig zu laut. Da hast Du schon recht, Gabi. Aber es ärgert mich trotzdem,<br />

dass ich das Geburtsdatum meiner Ururgrossmutter Elfriede Wagner noch immer nicht herausgefunden<br />

habe, obwohl ich schon fast zwei Jahr danach forsche.“<br />

„Dann such’ doch nach einer an<strong>der</strong>en Ururgrossmutter“, warf Gerda ein, die das Gespräch<br />

aus nächster Nähe hatte mithören müssen. „Es gibt schließlich bei jedem von uns<br />

gleich ...“ Sie überlegte kurz. „... acht davon.“<br />

146


„Und sieben habe ich schon erforscht“, erwi<strong>der</strong>te Harald Grattler. „Aber die achte ...“ Er<br />

hielt inne, denn plötzlich schoss ihm ein Gedanke in den Kopf. „Ach ja! Das könnte es doch<br />

sein ...“<br />

„Was könnte es doch sein?“ Gabi verstand ihren Freund im Moment nicht. <strong>Die</strong>ser wurde<br />

schlagartig ruhig und nachdenklich. Zärtlich legte er seinen Arm um Gabis Schulter.<br />

„Des Rätsels Lösung kann sehr einfach sein“, erklärte er. „Ich habe immer nach einer Elfriede<br />

Wagner in Fürth gesucht und keine gefunden. Elfriede Wagner ist nicht als Elfriede<br />

Wagner geboren.“<br />

„Wieso denn das?“ Gabi sah Harald verständnislos an.<br />

„Dafür habe ich im Moment auch noch keine Erklärung. Aber für eine Arbeitshypothese<br />

reicht’s. Nur: Wie hieß meine gute Elfriede wirklich mit Mädchenname?“ Harald zog seine<br />

Stirn nachdenklich in Falten. Als Gabi ihn so sah, musste sie unwillkürlich lachen.<br />

„Was gibt’s da zu lachen?“ Harald Grattler wurde wie<strong>der</strong> laut, denn er meinte, Gabi lache<br />

ihn aus.<br />

<strong>Die</strong>se fasste sich wie<strong>der</strong> und schmunzelte jetzt ihren Freund an. „Du siehst so komisch<br />

aus, wenn Du Deine Stirne so in Falten ziehst, Harry.“ Gabi lächelte ihn an und musste sich<br />

zusammennehmen, um nicht wie<strong>der</strong> in schallendes Lachen auszubrechen.<br />

„Ach so“, seufzte Harald. „Ich dachte schon, Du lachst mich aus.“<br />

„Aber nein, Harald! Ich bin nur erstaunt, wie plötzlich Dir diese Idee gekommen ist.“<br />

Gabi hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: „Mir ist diese Idee nämlich auch schon gekommen.“<br />

„So!“ Harald Grattler wurde ein wenig ärgerlich. „Und warum hast Du sie mir noch nicht<br />

gesagt?“<br />

„Weil ich im Moment einfach nicht daran gedacht hatte.“ Gabis Lächeln wurde hintergründig.<br />

„Ich habe an etwas ganz an<strong>der</strong>es gedacht“, fügte sie hinzu und fuhr, den Mund halb<br />

geöffnet, mit ihrer Zunge deutlich sichtbar über ihre Oberlippe.<br />

Jetzt musste Harald lachen. „An das habe ich wie<strong>der</strong>um im Moment nicht gedacht.“<br />

Harald und Gabi brachen beide in ein herzhaftes Lachen aus. <strong>Die</strong> Unstimmigkeit zwischen<br />

ihnen hatte sich schlagartig verflüchtigt.<br />

Harald Grattler schlug die Augen auf und fand sich am Frühstückstisch sitzend wie<strong>der</strong>.<br />

‚Hoffentlich habe ich zu Gabi gestern nichts Schlechtes gesagt’, dachte er und war sich<br />

nicht sicher wie und wann er nach Hause gekommen war. Das leichte Kopfweh, das er schon<br />

seit dem Aufstehen spürte, bohrte immer noch in seinem Kopf, nicht beson<strong>der</strong>s schmerzhaft,<br />

aber doch so penetrant, dass es mehr als lästig war.<br />

Harald Grattler räumte den kargen Frühstückstisch auf. Er müsse heute einmal gründlich<br />

sauber machen, meinte er bei sich und stellte das Besteck in die Spüle. Da entdeckte er in dem<br />

Regal in <strong>der</strong> Ecke ein weiteres Marmeladenglas. Vorsichtig nahm er es zur Hand und begutachtete<br />

es von allen Seiten. Es war noch verschlossen.<br />

‚Wer sagt’s denn!’ dachte er bei sich. ‚Jetzt gibt es doch noch ein Marmeladebrötchen<br />

zum Frühstück.’ Vorsichtig stellte es das Glas auf den Tisch, holte den Teller wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />

Spüle und die Margarine aus dem Kühlschrank. Er wollte gerade das erste <strong>der</strong> beiden eingekauften<br />

Brötchen durchschneiden, da klingelte das Telefon.<br />

„Jetzt nicht!“ schrie er wütend. „Jetzt will ich erst zu Ende frühstücken!“ Er ignorierte<br />

das Klingeln, das nicht aufhören wollte und breitete sich das ersehnte Marmeladenbrötchen in<br />

einer Weise zu, die für einen Außenstehenden etwas umständlich erscheinen musste. Aber er<br />

wollte es so.<br />

Nachdem Harald Grattler auch das zweite Brötchen verspeist hatte, musste er rülpsen. Er<br />

musste lachen und rezitierte einen Vierzeiler, den ihm ein Bekannter einmal nach einem ausgiebigen<br />

Abendessen zum besten gegeben hatte:<br />

147


„Es rülpst <strong>der</strong> Hund,<br />

es furzt das Schwein.<br />

So tun sie’s kund.<br />

Es schmeckte fein.“<br />

Er lachte und lachte, schüttelte sich vor Lachen. Da klingelte wie<strong>der</strong> das Telefon. Harald<br />

Grattler meldete sich.<br />

„Du bist ja doch daheim“, freute sich die weibliche Stimme an an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung.<br />

„Ich hab’ schon mindestens viermal angerufen und Du hast nicht abgenommen. Da bin ich<br />

mir fast unsicher geworden. Ich hab’ Dich doch heute Nacht heimgebracht.“<br />

„Du hast mich heimgebracht?“ <strong>Die</strong> Frage war Harald Grattler ein wenig peinlich.<br />

„Ja, ja, Du konntest ja kaum noch laufen, Harald.“ Gabi Beck lachte.<br />

„Ich war einkaufen“, knurrte Harald Grattler kurz angebunden. „Ist was?!“<br />

„Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Dir geht, Harald.“<br />

„Gut, das hörst Du hoffentlich.“<br />

„Aber guter Laune scheinst Du nicht zu sein. O<strong>der</strong>?“ Gabi hörte förmlich Haralds<br />

schlechte Laune.<br />

„Hm!“<br />

„Also geht es Dir gut, Harald.“<br />

„Ja, Gabi.“ Grattlers Stimme klang gequält. „Hast Du sonst noch was auf dem Herzen?“<br />

Gabi Beck schwieg einen Moment. Dann fasste sie sich wie<strong>der</strong>. „Hast Du heute schon<br />

etwas Beson<strong>der</strong>es vor, Harald?“ Ihre Frage war mehr eine Verlegenheitsfrage.<br />

Jetzt schwieg Harald Grattler. Alles drehte sich in seinem Kopf. Er versuchte sich an den<br />

gestrigen Abend zu erinnern, aber er konnte die Lücke in seinem Gedächtnis nicht schließen.<br />

„Was hast Du gefragt, Gabi?“<br />

„Ob Du heute schon etwas beson<strong>der</strong>es vorhast, Harald!“<br />

„Nein“, knurrte Harald, „ich habe heute noch nichts beson<strong>der</strong>es vor, Gabi!“<br />

„Das ist gut. Dann komme ich in einer halben Stunde bei Dir vorbei.“ Gabi Beck schien<br />

es plötzlich eilig zu haben und wollte das Gespräch schnell zu beenden.“<br />

„Aber ...“ Harald Grattler wollte weitersprechen, aber Gabi Beck hatte schon die<br />

Auflegtaste auf ihren Mobiltelefon gedrückt.<br />

‚Na, dann kommst Du eben’, dachte er bei sich und legte kopfschüttelnd den Hörer auf.<br />

‚Da soll einer die Frauen verstehen! Ich nicht!’<br />

Es dauerte länger als eine halbe Stunde, bis es an <strong>der</strong> Appartementtüre läutete.<br />

„Ich komme gleich!“ schrie Harald Grattler in Richtung Türe. Er war gerade mit dem<br />

Abwasch beschäftigt und musste erst seine Hände abtrocknen, bevor er die Türe zu seinem<br />

Appartement öffnen konnte.<br />

Harald Grattler sah nicht durch den Spion, son<strong>der</strong>n öffnete die Türe zu seinem Appartement.<br />

Gabi Beck stand vor <strong>der</strong> Türe und lächelte ihn an. Neben ihr stand eine nicht weniger<br />

attraktive junge Frau.<br />

„Hallo, Harald! Ich habe noch jemand mitgebracht.“<br />

„Hallo, Gabi!“ Harald Grattler zwang sich zu einem Lächeln. „Und wen darf ich noch<br />

begrüßen?“<br />

„Das ist Brigitte, eine Bekannte von mir“, stellte Gabi die unbekannte junge Frau vor.<br />

„Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen ...“ Sie unterbrach sich selbst und lächelte Harald<br />

an, als wollte sie fragen: „Darf sie auch mit hereinkommen?“<br />

Harald Grattler zögerte einen Moment. „Na dann kommt rein. Ihr müsst Euch noch ein<br />

wenig gedulden. Ich bin gerade beim Abwasch.“<br />

<strong>Die</strong> beiden Damen folgten ihm ins Appartement. Gabi sah mit freudig erstaunter Miene<br />

zur Spüle in <strong>der</strong> Kochnische hinüber, neben <strong>der</strong> sich das frisch gespülte Geschirr türmte. „Na,<br />

da ist es aber Zeit geworden“, sagte sie leise und ihre Begleiterin musste lächeln.<br />

148


Harald Grattler nahm dies nicht wahr, son<strong>der</strong>n bot seinem Besuch einen Platz an. „Setzt<br />

Euch! Ich bin gleich fertig.“ Dabei ging er wie<strong>der</strong> zur Spüle und entnahm dem Wasser noch<br />

zwei Tassen, die er sorgsam zu den bereits gespülten Sachen stellte.<br />

Gabi und Brigitte setzten sich an den niedrigen Tisch, auf dem nur ein vor Zigarettenkippen<br />

fast überquellen<strong>der</strong> Aschenbecher stand.<br />

Es dauerte nicht lange, dann kam Harald Grattler von <strong>der</strong> Spüle zurück.<br />

„Trocknest Du Dein Geschirr nicht ab?“ Gabi entfuhr diese Frage ganz spontan, als sie<br />

merkte, dass ihr Freund sich allzu schnell von seinem Abwasch entfernte.<br />

„Das überlasse ich im Moment <strong>der</strong> Luft“, entgegnete er mit einem jovialem Grinsen,<br />

nahm sich einen kleinen Hocker und setzte sich an den niedrigen Tisch zu den beiden Damen,<br />

die sich kurz ansahen und diesem Moment nach seiner Bemerkung wohl dasselbe dachten.<br />

„Hast Du abgespült, weil ich mich angekündigt habe?“ Gabi Beck lächelte zuerst Harald,<br />

dann ihre Freundin Brigitte an.<br />

„Nein, nein!“ Harald Grattler schüttelte den Kopf. „Ich musste abspülen, ...“<br />

„... denn Du hattest vermutlich keine saubere Tasse mehr“, fiel ihm Gabi ins Wort.<br />

Harald Grattler sah sie mit einem Blick an, <strong>der</strong> einerseits Zustimmung andeutete, an<strong>der</strong>erseits<br />

seine Missbilligung über diese Bemerkung zum Ausdruck brachte. Er sagte nichts,<br />

überlegte nicht, son<strong>der</strong>n auf seinem Gesicht zog ein verlegenes Grinsen auf. Gabi spürte, dass<br />

ihr Freund etwas sagen wollte, was aber die Anwesenheit von Brigitte zu verhin<strong>der</strong>n schien.<br />

Ein Moment verging, in dem eine eigenartige Stille im Raum entstand. Brigitte durchbrach<br />

sie, denn auch sie spürte, das in dieser Stille etwas Unerträgliches lastete. „Habt Ihr beiden<br />

Hübschen keine an<strong>der</strong>e Themen?“ fragte sie plötzlich. „An einem so schönen Tag sollte man<br />

sich nicht mit solchen Dingen wie Abwasch o<strong>der</strong> Hausputz abgeben.“<br />

„Da hast Du mehr als recht“, pflichtete Harald Grattler seinem Besuch bei. „Was machen<br />

wir nun mit diesem angebrochenen Tag?“<br />

„Gute Frage, keine Antwort!“ Gabi Beck war sich unschlüssig, was sie vorschlagen sollte.<br />

Sie war sich überhaupt nicht im Klaren, warum sie eigentlich Harald besuchen wollte. Und<br />

dazu noch mit Brigitte, die sie zufällig in <strong>der</strong> Innenstadt von Erlangen getroffen und dazu<br />

überredet hatte, mit ihr zu Harald zu gehen.<br />

„Ich glaube, mir täte etwas frische Luft gut.“ Harald Grattler sprang von seinem Hocker<br />

auf und schien plötzlich sehr unternehmungslustig. „Lasst uns doch ein wenig spazieren gehen.<br />

Vielleicht kommen wir dann noch auf eine gute Idee, wie wir den Tag weiter verbringen<br />

könnten.“<br />

„Gut, gehen wir, nachdem wir erst gekommen sind!“ Gabi schien von Haralds Vorschlag<br />

nicht viel zu halten, denn ihr taten von dem langsamen Laufen beim Stadtbummel noch ein<br />

wenig ihre Füße weh. „Ich bin heute zwar schon genug gegangen, wie ich meine, aber ich<br />

kann Dich gut verstehen, Harald, dass Du nach <strong>der</strong> fast durchzechten Nacht jetzt etwas frische<br />

Luft brauchst.“<br />

Gabi lächelte Brigitte an und diese nickte.<br />

Harald beobachtete die beiden sehr genau. „Du hast wohl Brigitte schon von gestern<br />

Abend erzählt?“ Haralds Frage klang etwas ungehalten.<br />

„Ich habe nur erzählt, dass ich mit Dir gestern Abend weg war. Weiter nichts!“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Harald atmete auf. ‚Irgendetwas musste doch gestern<br />

Abend noch gewesen sein’, dachte er bei sich, aber er konnte und konnte sich nicht daran erinnern.<br />

Und in Anwesenheit einer Freundin wollte er Gabi auch nicht danach fragen, ohne<br />

sich vor ihr eine gewisse Blöße zu geben.<br />

<strong>Die</strong> Sonne stand an ihrem höchsten Punkt an diesem warmen Herbsttag, als Harald, Gabi<br />

und Brigitte das Appartement verließen und ihre Schritte durch die Straßen von Erlangen<br />

lenkten. Sie gingen ohne Ziel, zunächst stumm nebeneinan<strong>der</strong> her, dann entspann sich langsam<br />

eine Unterhaltung.<br />

149


„Und wie geht es Dir jetzt, Harald?“ Gabi sah zu ihm hinüber und hinauf, denn er war gut<br />

einen Kopf größer als sie.<br />

„Es geht schon wie<strong>der</strong>. Langsam wird mein Kopf wie<strong>der</strong> klar.“<br />

„Frische Luft tut immer gut.“ Brigitte, die bisher stumm zwischen Gabi und Harald gegangen<br />

war, blickte ebenfalls zu Harald auf. <strong>Die</strong>ser genoss es, gleich zwei Begleiterinnen ums<br />

sich zu haben.<br />

„Man sollte eben abends nicht zu viele Bierchen in sich hineinschütten.“ Gabi Beck lachte<br />

und musste wie<strong>der</strong> an den letzten Abend denken. „Aber eines ist mir gestern klar geworden:<br />

Du hast einen sogenannten „toten Punkt“ in Deiner Familienforschung.“<br />

„Tu’ mir einen Gefallen, Gabi.“ Harald verzog sein Gesicht. „Bitte frage mich heute nicht<br />

nach meiner Ururgroßmutter.“<br />

Brigitte stutzte. Das Wort Familienforschung hatte sie aufhorchen lassen.<br />

„Moment mal!“ meldete sie sich zu Wort. „Habe ich da das Wort „Familienforschung<br />

gehört?“<br />

„Sehr richtig!“ Gabi Beck nickte ihrer Freundin zu.<br />

„Jetzt hört doch bitte schön auf mit diesem Thema!“ Harald Grattler war sehr ungehalten.<br />

„Ich will jetzt nichts mehr davon hören.“<br />

„Also gut“, versuchte Gabi ihn zu beruhigen. „Wir sprechen über ein an<strong>der</strong>es Thema.<br />

Trotzdem würde es mich interessieren, warum Du so aggressiv reagierst.“<br />

Harald Grattler warf Gabi einen missbilligenden Blick zu und atmete tief ein, wollte<br />

schon etwas sagen, als sich Brigitte zu Wort meldete.<br />

„Ich will ja dieses Thema nicht weiter vertiefen. Dafür verstehe ich zu wenig davon.“<br />

Brigitte lächelte Harald zu. Er sah es und seine Miene hellte sich merklich auf. „Ich wollte nur<br />

sagen, dass meine Freundin Heike seit etwa einem Monat auch ihre Vorfahren erforscht. Ihre<br />

Mutter hat nämlich ...“<br />

„... ein Tagebuch ihrer Großmutter gefunden“, unterbrach sie Harald. „Das weiß ich. Und<br />

ich vermute ...“ Er unterbrach sich.<br />

„Was vermutest Du, Harald?“ Gabi wurde neugierig und nicht nur Gabi.<br />

„Ich vermute, dass meine Ururgroßmutter Elfriede Wagner mit <strong>der</strong> Urgroßmutter von<br />

Deiner Freundin Heike identisch ist. Und deswegen möchte ich brennend gerne diese Tagebücher<br />

lesen.“<br />

„Jetzt verstehe ich deinen Vortag von gestern Abend erst.“ Gabi Beck ging ein Licht auf.<br />

„Du meinst, weil die beiden Elfriede heißen müssten sie ein und dieselbe Person sein. Das ist<br />

doch lächerlich.“ Gabi brach in schallendes Gelächter aus. Sie riss Brigitte mit ihrem Lachen<br />

mit. Beide schaukelten sich in ihrer Heiterkeit hoch. Harald Grattler blieb stehen und seine<br />

Miene verfinsterte sich bedrohlich.<br />

„Ich habe meine Gründe für diese Annahme“, schrie er. Seine beiden Begleiterinnen, die<br />

ebenfalls stehen geblieben waren, zuckten zusammen. Gabi konnte im ersten Moment nichts<br />

erwi<strong>der</strong>n. Wie angewurzelt stand sie auf dem Gehsteig <strong>der</strong> Straße, die ins Stadtzentrum führte.<br />

Brigitte wollte sich in die Auseinan<strong>der</strong>setzung nicht einmischen, doch ihr Innerstes sagte<br />

ihr, sie solle umgehend versuchen, Harald Grattler zu beruhigen. So platzte es spontan aus ihr<br />

heraus.<br />

„Jetzt regt Euch doch nicht so auf. Es wird sich schon zeigen!“<br />

Haralds Miene hellte sich langsam auf. Es wurde im schlagartig peinlich, dass er sich auf<br />

offener Straße so gewaltig von seinen Gefühlen hatte mitschleifen lassen. „Entschuldigt! Bei<br />

mir ist wie<strong>der</strong> einmal mein Temperament durchgegangen.“<br />

„Akzeptiert!“ Gabi versuchte zu lächeln. „Brigitte hat schon recht. Es gibt Hun<strong>der</strong>ttausende<br />

von Themen und wir müssen uns gerade um ein für Harald unangenehmes streiten.“<br />

„Unangenehm ist das Thema für mich nicht“, erwi<strong>der</strong>te Harald. „Aber ich möchte heute<br />

nicht davon sprechen.“<br />

150


„Nochmals akzeptiert!“ Gabi konnte jetzt wie<strong>der</strong> lächeln. Ihr Heiterkeit kam langsam in<br />

ihr zurück.<br />

Brigitte schwieg. Sie war über sich selbst erstaunt, wie sie mit so wenigen Worten Harald<br />

hatte beruhigen können.<br />

<strong>Die</strong> drei gingen eine Weile schweigsam weiter. Harald hatte sich wie<strong>der</strong> beruhigt, aber in<br />

seinem Innersten brodelte es weiter. Doch dies konnte er selbst bei sich nicht wahrnehmen.<br />

„Ein Waffelröllchen! Köstlich, köstlich!“ Dr. Brenner war hoch erfreut, als ihm Gabi<br />

Beck eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch stellte, auf <strong>der</strong>en Untertasse sie ein Stück dieses<br />

Gebäcks gelegt hatte. „Womit habe ich das heute verdient?“ Er sah seine Assistentin lachend<br />

an.<br />

Gabi Beck schlug etwas schüchtern und verlegen die Augen nie<strong>der</strong>. „Ich dachte, ein<br />

Tässchen Kaffee tät Ihnen jetzt gut, Herr Doktor. Es ist immerhin schon fast sechs Uhr<br />

abends.“<br />

Dr. Brenner blickte erschrocken auf seine Armbanduhr. „<strong>Die</strong> Arbeit frisst die Zeit auf“,<br />

sagte er nachdenklich. „Man verliert jedes Zeitgefühl, wenn man sich in den Text vertieft.“<br />

„Arbeiten Sie noch an den Tagebüchern?“ Gabi fixierte Dr. Brenner mit ihren Augen genau.<br />

Sie wollte an seinem Mienenspiel ihre Schlüsse ziehen, doch <strong>der</strong> Blick ihres Gegenüber<br />

war konzentriert auf das Blatt Papier gerichtet, das er gerade in seinen Händen hielt.<br />

„Nein, nein“, antwortete er geistig abwesend. „Ich habe die Arbeit an fünf von sechs Heften<br />

beendet. Doch ich muss mich jetzt verstärkt meiner Studie widmen.“<br />

Gabi Beck war über die Auskunft sehr zufrieden, sie tat aber ein wenig naiv und enttäuscht.<br />

„Aber Sie haben mir die letzten beiden Wochen überhaupt nichts diktiert.“ Gabi hatte<br />

sich schon darüber gewun<strong>der</strong>t, warum Dr. Brenner sie nicht mehr zu sich gerufen hatte.<br />

„Ich habe den Text selbst eingegeben“, erklärte er. „Es war so spannend zu lesen und ich<br />

brauchte den Text als Zitat für meine Studie.“<br />

„Ach so!“ Gabi Beck versuchte, nicht überrascht zu wirken.<br />

„Sie sind mir doch nicht böse, dass ich Ihnen in <strong>der</strong> letzten Zeit aus den Heften nichts<br />

diktiert habe.“ Dr. Brenner sah zu Gabi Beck auf und meinte, einen Hauch Enttäuschung in<br />

ihrer Miene zu sehen.<br />

„Aber nein, Herr Doktor!“ Sie gab sich betont zufrieden. „Ich bin auch so mit genügend<br />

Arbeit eingedeckt.“<br />

„Das dachte ich mir auch.“ Dr. Brenner lächelte und richtete seinen Blick wie<strong>der</strong> auf das<br />

Blatt Papier, das er immer noch in beiden Händen hielt. „Es war schon ein großes Stück Arbeit,<br />

aber jetzt habe ich gut 80 Prozent des ersten Tagebuchheftes eingegeben. Und ich habe<br />

es nicht bereut. <strong>Die</strong> Markerts werden Augen machen, wenn sie es lesen.“ Dr. Brenner<br />

schmunzelte kurz und legte das Blatt Papier beiseite. Seine rechte Hand ergriff die Tasse Kaffee,<br />

die ihm seine Assistentin hingestellt hatte.<br />

In Gabi begann es zu brodeln. ‚Was in aller Welt kann so spannend sein in einem Tagebuch?’,<br />

fragte sie sich. ‚Mit meinen täglichen Erlebnissen könnte ich kein Tagebuch schreiben.<br />

Alles läuft doch immer wie<strong>der</strong> gleichförmig ab.’<br />

Dr. Brenner schien die Gedanken Gabis zu erahnen. Er sah sie nachdenklich an. „Sicherlich<br />

fragen Sie sich, was so interessant ist an den Aufzeichnungen einer Frau, welche die<br />

schrecklichsten Phasen unserer Geschichte erleben und durchleiden musste. Aber ich kann<br />

Ihnen versichern, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dies hier ...“ und dabei deutete er<br />

auf seinen Rechner „... teilweise spannen<strong>der</strong> zu lesen ist als irgendein konstruierter Krimi.“<br />

30<br />

151


„Kann ich denn Ihre Transskription auch einmal lesen?“ platze Gabi mit <strong>der</strong> Frage heraus.<br />

Ihr kam erst danach in den Sinn, sich doch lieber damit zurück zu halten und lieber den<br />

Äußerungen von Dr. Brenner zu lauschen.<br />

<strong>Die</strong>ser lachte. „Sicherlich können Sie einen Teil <strong>der</strong> Tagebuchauszüge lesen, wenn Sie<br />

meine Studie über die Geschichte <strong>der</strong> bürgerlichen Familie in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

lesen. Ich werde einiges zitieren.“<br />

„Das ist ...“, wollte Gabi sagen, doch jetzt hielt sie sich zurück.<br />

„Was wollten Sie sagen?“<br />

„Ach nichts!“ gab Gabi etwas kleinlaut zu.<br />

„Na, dann ist’s ja gut.“ Dr. Brenner lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Kaffee.<br />

„Das nächste Heft werde ich Ihnen wie<strong>der</strong> diktieren“, fuhr er fort. „Es betrifft die frühen<br />

Erwachsenenjahre <strong>der</strong> Elfriede Wagner, geborene Seiffert.“<br />

Gabi zuckte zusammen. Hatte Sie gerade den Namen Wagner gehört?<br />

„Was erstaunt Sie so?“ Dr. Brenner erkannte an Gabis Gesicht, das in ihr etwas vorging.<br />

„Elfriede Seiffert hat geheiratet. Daran ist doch nichts Ungewöhnliches?“<br />

„Nein, nein“, gab seine Assistentin zurück. „Ich dachte gerade an einen Bekannten, <strong>der</strong><br />

einmal den Namen Wagner erwähnt hat.“<br />

„<strong>Die</strong>ser Name kommt doch sehr häufig vor. Ich kenne allein drei Wagners, die verwandtschaftlich<br />

nichts miteinan<strong>der</strong> zu tun haben.“<br />

Gabi Beck beruhigte sich wie<strong>der</strong>. Dr. Brenner schien auf ihre Reaktionen hin keinen Verdacht<br />

geschöpft zu haben. Aber in ihr kam eine Idee hoch. Sie dachte an Harald und an eine<br />

seiner Freizeitbeschäftigungen. Und mit diesem Gedanken erspross auch ein Plan in ihrem<br />

Kopf, <strong>der</strong> sie noch länger beschäftigen sollte.<br />

Es entstand eine Stille im Arbeitszimmer, die umso erdrücken<strong>der</strong> schien, je länger sie<br />

dauerte. Dr. Brenner unterbrach endlich dieses Schweigen. „So und für heute ist es genug. Ich<br />

werde meine Sachen packen, die ich mit nach Hause nehmen will und dann ist Feierabend für<br />

heute.<br />

Gabi stand wie erstarrt. Sie beobachtete Dr. Brenner genau. <strong>Die</strong>ser trank seinen Kaffee<br />

aus, erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und ging an den Rechner. Dort drückte er den<br />

Auswurfknopf des Diskettenlaufwerkes, zog den Datenträger aus dem Schlitz des Laufwerkes<br />

an seinem Rechner und steckte die Diskette in ein Etui, welches er in seinen schwarzen Koffer<br />

legte. Dann kramte er einige Papiere von seinem Schreibtisch zusammen und drehte sich<br />

zur Türe um.<br />

„Sie sind ja immer noch hier“, rief er erstaunt und wollte gerade fortfahren ...<br />

„Ich bin schon verschwunden“, unterbrach Gabi leise und drehte sich um. „Schönen<br />

Abend, Herr Doktor!“, rief sie hinterher und war durch die Türe in den Gang verschwunden.<br />

Der Brenner schüttelte den Kopf. ‚Komisch’, dachte er, ‚Frau Beck benimmt sich in letzter<br />

Zeit ein wenig seltsam, nicht gerade unhöflich, aber eigenartig.’ Er klappte seinen schwarzen<br />

Koffer zu und ging zum Rechner. Das Ausloggen aus dem Netzwerk ging um vieles<br />

schneller als das Anmelden. Er schaltete Bildschirm und Rechner ab und lenkte seine Schritte<br />

zu dem fahrbaren Aktenbock, auf dem sein Koffer lag. ‚Habe ich etwas vergessen?’ <strong>Die</strong>se<br />

Frage stellte er sich immer, bevor er sein Büro verließ, um nach Hause zu streben. ‚Nein, ich<br />

habe alles eingepackt, meine Unterlagen und die Sicherungsdiskette. Okay, dann auf nach<br />

Hause! Zeit wird’s!’<br />

<strong>Die</strong> Kirchturmuhr in <strong>der</strong> Nähe des Institutes schlug einmal, als Dr. Brenner zu seinem<br />

Wagen auf dem institutseigenen Parkplatz ging. Er bemerkte nicht, das sich noch jemand im<br />

Hause befand, jemand, <strong>der</strong> seine Schritte sehr genau verfolgte.<br />

Harald Grattler drehte sich zu Gabi um. „Und Du bist Dir wirklich sicher, dass er den<br />

Namen Wagner genannt hat?“<br />

„Hun<strong>der</strong>tprozentig, Harald!“<br />

152


„Hm!“ Er überlegte. „Es könnte natürlich sein, dass ...“<br />

„Was könnte sein?“ Gabi wurde neugierig.<br />

„Es könnte natürlich sein“, begann Harald von neuem, „dass meine Ururgrossmutter mit<br />

jener Elfriede identisch ist. Aber ich habe keine Beweise. Darum muss ich an die Aufzeichnungen<br />

heran. Vielleicht geben diese einen Aufschluss ...“ Er unterbrach sich selbst und setzte<br />

sich wie<strong>der</strong> auf den Stuhl, <strong>der</strong> vor seinem Rechner stand. Nachdenklich blickte er auf den<br />

schwarzen Bildschirm, den er wenige Minuten vorher ausgeschaltet hatte.<br />

„Und wie willst Du an die restlichen Aufzeichnungen in den Tagebüchern herankommen?“<br />

Gabi sah Harald fragend und auch ein wenig ängstlich an. „Ich habe Dir alles gegeben,<br />

was Dr. Brenner mir diktiert hat. Reicht Dir das nicht.“<br />

„Nein, das reicht mir nicht“, brauste Harald Grattler auf. „Ich brauche die Einträge ab <strong>der</strong><br />

Zeit, in <strong>der</strong> sich Elfriede in den einen verliebt hatte, also ab dem zweiten Heft. <strong>Die</strong> davor sind<br />

nur ihre Jugendeinträge. Ich muss wissen, wie <strong>der</strong>jenige, mit dem sie zuerst ging, hieß, denn<br />

das müsste <strong>der</strong> Vater eines meiner Urgroßväter sein.“<br />

„Und wie willst Du an die restlichen Aufzeichnungen gelangen?“ fragte Gabi noch einmal<br />

nach. „Willst Du Dr. Brenner ganz einfach fragen?“<br />

„Nein!“ <strong>Die</strong> Antwort war kurz und erschreckte Gabi. „Du wirst es schon noch erfahren,<br />

wie ich an die Aufzeichnungen gekommen bin, wenn ich sie habe.“<br />

<strong>Die</strong> Heftigkeit, wie Harald dies gesagt hatte, ließ Gabi zusammenzucken. Ihr ahnte nichts<br />

Gutes.<br />

„Mach’ keinen Unfug, Harald!“ Gabi sah ihn streng an. Doch Harald blickte an Gabi<br />

vorbei hinaus zum Fenster. Er war wie<strong>der</strong> in seinen Gedanken versunken und wollte jetzt<br />

nicht weiter über das Thema reden.<br />

Es entstand eine quälend lange Pause. Gabi wollte das Gespräch fortsetzen, hob schon zu<br />

einer Frage an, besann sich aber an<strong>der</strong>s und fragte nicht. Zu gerne hätte sie erfahren, wie er es<br />

anstellen wollte, an den Text <strong>der</strong> Tagebücher zu gelangen. Aber machte sie sich dabei nicht<br />

mitschuldig, wenn sie es wusste?<br />

Gabi und Harald schwiegen eine Weile, die ihnen länger vorkam als die Zeit, die sie<br />

wirklich dauerte. Draußen strebten schon die Menschen nach Hause. Es ging gegen sieben<br />

Uhr abends und <strong>der</strong> Himmel versprach einen milden Herbstabend, denn die Sonne hatte die<br />

warme Luft aus Südwest am Tag noch kräftig erwärmt.<br />

„Ich werde wohl noch ein wenig hier arbeiten“, sagte Harald Grattler, nachdem er zum<br />

Fenster gegangen war und die Leute beobachtete. „Dr. Brenner ist um viertel sieben gegangen.<br />

Ich habe ihn gesehen, als er in seinen Wagen stieg.“<br />

„Und was hast Du jetzt hier noch vor?“ Gabi Beck blickte Harald wie<strong>der</strong> scharf an.<br />

„Frag’ mich nicht! Ich weiß es nicht.“ Haralds Antwort war diesmal nicht ganz so heftig<br />

wie vorhin, aber immer noch hart genug, um Gabi zusammen zucken zu lassen.<br />

„Sei’ doch vernünftig, Harald!“ Gabi flehte Harald regelrecht an. „Es gibt doch so viele<br />

Möglichkeiten, an Informationen über deinen Urgroßvater zu kommen. Denk’ doch mal<br />

scharf nach!“<br />

„Was meinst Du, was ich die ganze Zeit tue.“ Harald warf Gabi einen verächtlichen Blick<br />

zu.<br />

„Ist ja gut, Harald!“ Gabi versuchte ihn zu beschwichtigen. „Aber grübeln bringt auch<br />

nichts. Dir fällt schon noch was ein. Und wahrscheinlich dann, wenn Du an was ganz An<strong>der</strong>es<br />

denkst.“<br />

Haralds Gesichtszüge entspannten sich. Er sah Gabi an und lächelte. „Mir ist schon etwas<br />

eingefallen. Doch jetzt, glaube ich, sollten wir unseren Feierabend genießen.“<br />

„Ich dachte, Du wolltest noch arbeiten.“<br />

„Arbeiten?“ Harald Grattler lachte. „Nein, arbeiten tue ich heute nicht mehr.“<br />

„Aber du sagtest doch ...“<br />

153


„Ich habe meine Meinung geän<strong>der</strong>t“, fiel ihr Harald ins Wort. „Ich möchte den schönen<br />

Abend mit Dir verbringen und nicht mehr an meine Vorfahren o<strong>der</strong> an die Arbeit denken.“<br />

„Na schön!“ Gabi Becks Gesichtszüge entspannten sich ebenfalls. „Und was machen wir<br />

heute Abend?“<br />

Harald Grattler überlegte kurz. „Wann waren wir das letzte Mal griechisch essen?“<br />

Gabi dachte über diese Frage nach, aber sie konnte sie nicht sofort beantworten.<br />

„Also gehen wir griechisch essen?“ Harald lächelte Gabi an.<br />

„Abgemacht! Gehen wir zum Griechen, bei dem Wetter aber nur in den Garten.“ Gabis<br />

Stimme klang überraschend ein wenig herrisch für Harald. So hatte er Gabi noch nie reden<br />

hören. Und sie waren doch schon einige Monate miteinan<strong>der</strong> befreundet.<br />

Der Abend war mild, fast lauschig. Das Thermometer zeigte für diesen Septembertag gegen<br />

acht Uhr abends immerhin noch angenehme 24°C. Im Garten des Restaurants „Mykonos“<br />

herrschte Hochbetrieb. Wollten drei o<strong>der</strong> vier Leute sich gemeinsam an einem Tisch setzen,<br />

so mussten sie warten, bis einer frei wurde. <strong>Die</strong> Plätze konnten nicht kalt werden.<br />

Unter einer von vielen Rankpflanzen umwucherten Laube saß ein Pärchen, sie knappe<br />

1,70 m groß, etwas pummelig, er, gute 1,90 m groß, hoch wie die nordischen Nachbarn sagen,<br />

hager, fast dürr mit Dreitagebart, an dem sich die junge Dame jedoch nicht störte. Sie war das<br />

Kratzende in seinem Gesicht gewöhnt. So auch jetzt, nachdem sich die beiden eine Fisch-<br />

bzw. Fleischplatte bestellt hatten, aber ihr Hunger verschaffte sich schon durch ein unüberhörbares<br />

Knurren Gehör.<br />

„Ach, Harald“, wisperte sie ihm ins Ohr, „du glaubst gar nicht wie ich an Dir hänge. Ich<br />

brauche Dich heute, ganz tief.“<br />

Der Angebetete schwieg zunächst. Dann knurrte wie<strong>der</strong> sein Magen. Es war ihm fast<br />

peinlich. „Aber zuerst essen wir gemütlich. Ein leerer Magen mag vielleicht gut studieren,<br />

aber lieben, das kann er weniger.“<br />

„Also gut, Harald! Essen wir erst, bevor Dein Magen noch mehr verrückt spielt.“ Gabi<br />

rückte von Harald ab. „Hast Du heute überhaupt schon was gegessen?“<br />

„Ja, heute früh“, entgegnete Harald, „Aber es war nur ein mageres Frühstück, dass ...<br />

„..., dass Du in Dich hineingeschlungen hast“, fiel ihm Gabi ins Wort und sah ihn mit<br />

verliebten Augen an. „Vielleicht brauchst Du eine Frau, die Dich schon beim Frühstück verwöhnt.<br />

Harald musste lachen. Er dachte nicht an Frühstück, son<strong>der</strong>n stellte sich Gabi vor wie sie<br />

Ihn ... Er versuchte seine Gedanken auf an<strong>der</strong>e Dinge zu lenken, als wie<strong>der</strong> sein Magen knurrte.<br />

„Ich hoffe doch, dass meine Mykonosplatte bald kommt. Ich sterbe vor Hunger.“<br />

„Und ich sterbe vor Liebe ...“ Gabi konnte nicht weiter sprechen, denn <strong>der</strong> etwas untersetzte,<br />

aber dennoch äußerst flinke Kellner kam mit zwei großen Tellern auf dem rechten Arm<br />

geschwind auf den Tisch <strong>der</strong> beiden zu.<br />

„Einmal Mykonosplatte und einmal Korfuplatte“, sagte er in leicht gebrochenem Deutsch<br />

und sah dabei Harald und Gabi fragend an, denn er hatte sich nicht gemerkt, wer von ihnen<br />

was bestellt hatte.<br />

„Geben Sie dem Herrn mir gegenüber die große Fleischplatte. Er stirbt sonst vor Hunger.“<br />

Gabi lächelte dem Kellner spitzbübisch zu und deutete auf Harald.<br />

„Bei uns ist noch niemals einer wegen Hunger gestorben“, erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Untersetzte<br />

schlagfertig. „Dann ist die Fischplatte für die hübsche, junge Dame?“<br />

Gabi errötete und nickte. Der Kellner stellte die großen Teller elegant vor den beiden auf<br />

den Tisch. „Ich wünsche guten Appetit“, sagte er lächelnd und drehte sich schnell wie<strong>der</strong> um,<br />

denn sein Kollege hatte ihm signalisiert, das Gäste zahlen wollten.<br />

154


„Sieh’ doch mal, wie <strong>der</strong> da hinten isst!“ Annette Schwadler stupste ihre Freundin Gunhild<br />

an, die neben ihr saß und gerade dabei war, sich mit einer Portion Kalamari zu stärken.<br />

„Dem kann man ja nicht beim Essen zusehen.“<br />

„Ah, ich sterbe für Tintenfische!“ Gunhild Henkert-Shakespeare schmatzte und sah von<br />

ihrem Teller auf. „Was hast Du gerade gesagt, Annette?“<br />

„Das dieser Kerl da hinten in <strong>der</strong> Laube frisst, als hätte er wochenlang nichts Gescheites<br />

mehr zwischen den Zähnen gehabt.“<br />

„Na, na, na, Annette! Zügle Dich!“ Gunhild tat entrüstet. „Der Mensch isst und ...“<br />

„... <strong>der</strong> da hinten isst schweinisch“, fiel ihr Annette ins Wort. „Das kann man nicht mehr<br />

„essen“ nennen.“<br />

„Lass’ ihn doch!“ Gunhild hatte sich wie<strong>der</strong> den frittierten Tintenfischen zugewandt.<br />

„Wie heißt es denn so schön: Jedem Tierchen sein Pläsierchen!“<br />

„Aber ich kann dem Typen nicht länger zuschauen“, beharrte Annette und hielt sich die<br />

rechte Hand vor ihrem Mund. „Ich glaube, ich muss mal auf die Toilette.“<br />

„Dann geh’, mein Schatz, dann geh’“, sang Gunhild und zerschnitt die Tentakeln eines<br />

kleinen Tintenfisches. „Euch esse ich am liebsten.“<br />

„Ich versteh Dich nicht, Gunhild. Wie Du bei diesem Anblick noch ruhig weiteressen<br />

kannst.“ Annette stand auf und strebte hastig dem Inneren des Lokales zu.<br />

Gunhild sah auf und schräg nach hinten in die Laube. ‚Was hat Annette nur’, dachte sie.<br />

‚So schlimm ist das nicht, wie <strong>der</strong> Dreitagebart in sich hineinwürgt. Er hat Hunger, <strong>der</strong> Junge.<br />

Aber mein Typ ist er auch nicht.’ Danach wandte sie sich wie<strong>der</strong> ihrer Portion Kalamari zu,<br />

die ihr heute beson<strong>der</strong>s gut schmeckte.<br />

Es dauerte eine Weile, bis ihre Freundin Annette zurückkam und sich wie<strong>der</strong> neben sie<br />

hinsetzte. Sie hatte schon gegessen, eine Kleinigkeit, denn sie kämpfte ständig, damit sie ihre<br />

zierliche Figur beibehielt.<br />

„Ah, das hat mir heute wie<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s gut geschmeckt“, stöhnte Gunhild, als sie mit<br />

dem Essen fertig war. Sie stellte den kleinen Salatteller auf den großen und legte ihr Besteck<br />

darauf. „Es hat sich wie<strong>der</strong> gelohnt, dass wir uns zum Essen getroffen haben. Allein schon des<br />

Essens wegen. Was meinst Du, Annette?“<br />

<strong>Die</strong> Angesprochene nippte geistesabwesend an ihrem Glas mit rotem Demestica und<br />

antwortete nicht. Gunhild sah sie von <strong>der</strong> Seite an. „Träumst Du o<strong>der</strong> wachst Du?“<br />

„Nein, nein! Was ist los?“ Annette schreckte aus ihren Tagträumen hoch.<br />

„Ich hoffe doch, es hat Dir heute auch geschmeckt, Annette.“ Gunhild griff zu ihrem Glas<br />

Spezi und nahm einen kräftigen Schluck. „Also mir hat es heute wie<strong>der</strong> sehr gemundet.“<br />

„Ja, ja, mir hat mein Bauernsalat auch geschmeckt.“ Annette blickte zu Gunhild. <strong>Die</strong>se<br />

lächelte sie an. Es lag schon fast ein wenig Mitleid in ihren Gesichtszügen.<br />

„Aber wenn ich mir den Typen da hinten ...“ Annette wollte sich gerade weiter brüskieren,<br />

doch Gunhild fiel ihr ins Wort.<br />

„Jetzt schau’ doch nicht immer zu dem Dreitagebart da hinten. Es gibt doch noch an<strong>der</strong>e<br />

schöne Jungs.“<br />

„Ha, ha“, lachte Annette gequält. „<strong>Die</strong> meisten sind doch schon vergeben und in festen<br />

Händen.“<br />

„Lass’ doch den Kopf nicht hängen“, versuchte Gunhild sie zu trösten. „Wir sind wie wir<br />

sind. Und im Zweifelsfall machen wir’s uns selbst. Hihihi!“<br />

„Na, du hast heute ein sonniges Gemüt!“ Gunhilds gute Laune wollte nicht auf Annette<br />

überspringen. „Du hast leicht reden, Gunhild. Du warst wohl noch nie verliebt?“<br />

Gunhild über legte kurz. „Doch, doch“, gab sie mit ihrer hohen, hellen Stimme zu, die so<br />

gar nicht zu ihrer Walkürenhaften Erscheinung passen wollte. „Doch, doch, ich war schon<br />

verliebt. Aber das ist schon eine ganze Weile her.“<br />

„Das hätte mich auch sehr gewun<strong>der</strong>t.“ Annettes Miene hellte sich ein ganz klein wenig<br />

auf, aber es reichte noch nicht zu einem Lächeln.<br />

155


„Du scheinst zurzeit solo zu sein“, stellte Gunhild trocken fest. „Aber wie ich Dich kenne<br />

wird das nicht lange anhalten.“<br />

„Da kennst Du mich aber schlecht“, konterte Annette. „In letzter Zeit war mir das Liebesglück<br />

partout nicht hold. Man kann das Glück eben nicht zwingen“ Annette schwieg danach<br />

wie<strong>der</strong>. Es entstand eine kleine Pause.<br />

Gunhild Henkert-Shakespeare schien zu überlegen. „Und seine Gedanken kann man auch<br />

nicht zwingen“, sagte sie nach einer Weile nachdenklich und ihr Blick wandte sich wie<strong>der</strong><br />

Annette zu, die sie mit einem seltsamen Blick anzusehen schien.<br />

‚Was denkt Sie wohl jetzt.’ Annette erschrak ein wenig über diesen merkwürdig sinnlichen<br />

Blick ihrer Freundin. Sie musste jetzt unbedingt das Thema wechseln. „Und was liest Du<br />

im Moment?“ fragte sie und schaute gespannt auf die Gesichtszüge von Gunhild. <strong>Die</strong>se<br />

schreckte auf.<br />

„Was hast Du eben gefragt, Annette?“ Gunhild wachte von ihren Tagträumen auf.<br />

„Was liest Du im Moment?“<br />

„Ich widme mich zurzeit wie<strong>der</strong> den Sonetten von Shakespeare. Nomen est Omen. Das<br />

bin ich meinem Vorfahren schuldig.“ Gunhild zwinkerte mit den Augen und schwellte ihre<br />

Brust. Ob da ein wenig Stolz mitschwang?<br />

„Ach ja, das habe ich fast vergessen“, entgegnete Annette fast entschuldigend. „Du hast<br />

ja einen berühmten Vorfahren.“<br />

„Übertreib nicht so spöttisch!“ Gunhild entrüstete sich. „Ich habe den Doppelnamen von<br />

meiner Mutter. Und die hat ihren zweiten Namen von ihrem Vater, <strong>der</strong> ihre Mutter sitzen<br />

ließ.“<br />

„Na so genau wollte ich es jetzt auch nicht wissen.“<br />

„Aber jetzt weißt Du es.“ Gunhilds Stimme nahm einen dominanten, ja fast herrischen<br />

Ton an. Doch Annette wusste, dass Gunhild im Moment nur ein wenig Überlegenheit spielte,<br />

schließlich kannte sie ihre Freundin schon ein paar Jahre und konnte daher deutlich unterscheiden,<br />

wann es Gunhild mit ihrer Rede ernst meinte und wann nicht. „Für mich sind die<br />

Sonette das Höchste“, fuhr Gunhild fort. „Aber nur in Englisch. Es gibt keine guten deutschen<br />

Übersetzungen. Wenigstens kenn ich keine. Und ich habe einige zu Hause stehen.“<br />

„Also ich kann mit dieser Art von Literatur nichts anfangen“, gab Annette zu. „Ich lese<br />

lieber Romane, scharfe Romane, wenn Du weißt, was ich meine.“<br />

„Hihihi“, lachte Gunhild, „so eine bist Du: Aussehen, als ob man kein Wässerchen trüben<br />

könne und dabei hat man es faustdick hinter den Ohren. Hihihi!“<br />

„Lach’ nicht! Ich meine es ernst“, entgegnete Annette, doch ihre ernste Miene erheiterte<br />

Gunhild umso mehr.<br />

„Hihihi! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du „<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> O“ liest, ohne<br />

furchtbar rot zu werden.“ Gunhild bog sich fast vor Lachen.<br />

„Na und! Daheim sieht’s doch keiner.“ Annette schien sich nicht von ihrer Freundin beeindrucken<br />

zu lassen, doch sie hatte jetzt Mühe, ihre ernste Miene bei zu behalten, denn Gunhilds<br />

helles Lachen war durchaus ansteckend. „Außerdem ist es meiner Meinung nach eine<br />

große Kunst, erotische Literatur zu schreiben“, fügte sie trocken hinzu.<br />

Gunhild wurde wie<strong>der</strong> ernsthaft. „Du hast schon recht, Annette. Es ist wirklich eine<br />

Kunst, knisternde Erotik in Worte zu fassen, ohne dass es pornographisch wirkt.“<br />

Jetzt konnte sich Annette nicht mehr halten und musste lauthals lachen, so heftig, dass<br />

sogar einige Leute ihre Blicke auf sie lenkten.<br />

„<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> O habe ich vor einigen Jahren gelesen“, sagte Annette, nachdem sie<br />

sich wie<strong>der</strong> beruhigt hatte. „Aber mir war das etwas zu viel starker Tobak und außerdem etwas<br />

über <strong>der</strong> Grenze des guten Geschmackes, meines guten Geschmackes.“<br />

„Gewiss, gewiss“, lenkte Gunhild ein, „es gibt bessere Literatur als diese Geschichte.<br />

Aber irgendwie hat mich das Buch doch beeindruckt.“<br />

„Jetzt sag bloß ...“ Annette blickte ihre Freundin etwas entsetzt an.<br />

156


„Doch, doch!“ Mehr sagte Gunhild Henkert-Shakespeare nicht, denn <strong>der</strong> etwas untersetzte<br />

Kellner kam an ihren Tisch.<br />

„Hat es den jungen Damen geschmeckt?“ Beide nickten nur. Der Grieche räumte das Geschirr<br />

ab und lächelte sie dabei an.<br />

„Alter Charmeur!“ knurrte Gunhild leise. „Junge Damen hat er zu uns gesagt, wo wir<br />

beide schon über sechzig sind, zusammengezählt meine ich.“<br />

„Hahaha, Deinen Humor möchte’ ich haben, Gunhild.“ Anette lachte gepresst. Sie war<br />

heute nicht in <strong>der</strong> Stimmung, auf Gunhilds Späßchen einzugehen. Ihr schwirrten ganz an<strong>der</strong>e,<br />

sehnsuchtsvollere Gedanken durch den Kopf. Sie dachte wie<strong>der</strong> an Werner, mit dem sie einige<br />

Jahre zusammen gelebt hatte. Doch die Erinnerung an ihn verblasste immer mehr. „Das<br />

Vergessen wächst mit <strong>der</strong> Zeit. Und die Zeit lässt alles irgendwann einmal vergessen.“ Annette<br />

wurde es kaum bewusst, als sie die beiden Sätze in die laue Septemberluft entließ.<br />

„Du bist heute so nachdenklich, Annette“, stellte Gunhild gleich darauf fest. „Ist irgendwas<br />

mit Dir?“<br />

„Ach nichts! Ich habe nur laut nachgedacht.“<br />

„Das habe ich gehört.“ Gunhild sah Annette an. „Aber mit einem hast Du Unrecht.“<br />

„Mit was?“<br />

„Na ja, mit dem, dass die Zeit alles vergessen lässt.“<br />

„Wieso?“<br />

„Weil dies nicht stimmt; vor allem dann, wenn über jemand geschrieben wird“, dozierte<br />

Gunhild und sah Annette mit einem skeptischen Blick an. „Wer schreibt, <strong>der</strong> bleibt, sagt<br />

schon das Sprichwort. Und da ist was Wahres dran.“<br />

„Das mag schon sein, Gunhild.“ Annette war aus ihrer nachdenklichen Haltung aufgewacht.<br />

Sie setzte sich gerade hin und wollte etwas sagen, doch Gunhild war schneller. <strong>Die</strong><br />

Neugier war <strong>der</strong> Motor für ihre Frage. „Hast Du wie<strong>der</strong> einmal was geschrieben, Annette?“<br />

<strong>Die</strong> Angeredete schüttelte den Kopf. „Ich bin zurzeit beruflich furchtbar unter Druck. Es<br />

sind einige Kolleginnen krank geworden. Da müssen wir Extraschichten schieben.“ Annette<br />

machte mit ihren Armen eine fast entschuldigende Bewegung.<br />

„Du Arme! Wie bedauerlich!“<br />

„Sei bitte heute nicht so spöttisch. Ich bin heute nicht in <strong>der</strong> Laune ...“ Annette unterbrach<br />

sich selbst und sah wie<strong>der</strong> zur Laube. „Jetzt knutschen die schon wie<strong>der</strong>. Und das während<br />

des Essens!“<br />

„Was die können, das können wir auch“, sagte Gunhild entschlossen, ergriff Annettes<br />

Schultern, zog sie zu sich und gab ihr spontan einen Kuss auf die Stirne.<br />

Annette war so überrascht, dass sie Gunhild gewähren ließ. <strong>Die</strong> Anerkennung, die ihr zu<br />

Teil wurde, tat ihr vielmehr gut, suchte sie doch die menschliche Nähe, wenn auch nicht gerade<br />

so eng und zu Gunhild.<br />

„Sieh doch mal da dieses ungleiche Pärchen da vorne.“ Harald Grattler schob sich ein<br />

großes Stück Bifteki in den Mund. „Ob die wohl miteinan<strong>der</strong> ...“<br />

„Du musst wohl auch beim Essen immer nur an das eine denken“, unterbrach ihn Gabi<br />

Beck und warf Harald einen verächtlichen Blick zu. „Lass’ doch die beiden! Von mir aus soll<br />

je<strong>der</strong> nach seiner Facon glücklich werden.“<br />

Harald kaute und schluckte das wohlschmeckende, gegrillte Hackfleisch hinunter. „Aber<br />

das muss doch nicht so auffällig in <strong>der</strong> Öffentlichkeit geschehen.“<br />

„Und Du knutscht wohl nicht in <strong>der</strong> Öffentlichkeit“, setzte Gabi hinzu und warf wütend<br />

ihre Gabel auf den halb leer gegessenen Teller, sodass eine gegrillte Garnele auf den Tisch<br />

fiel. „Bei Dir ist das wohl was An<strong>der</strong>es!“ fügte sie laut und deutlich hinzu.<br />

„Psst! Nicht so laut, Gabi!“ Harald wollte sie beruhigen. Doch jetzt steigerte sich Gabi<br />

erst recht in ihre Wut.<br />

157


„Du darfst wohl alles machen, die An<strong>der</strong>n aber nicht! Jetzt habe ich aber die Faxen dicke“,<br />

schrie sie und sprang vom Tisch auf. Doch bevor Harald etwas sagen konnte, hatte sie<br />

sich wie<strong>der</strong> gefasst und setzte sich mit gerötetem Kopf wie<strong>der</strong> auf ihren Platz.<br />

„Mir ist jetzt <strong>der</strong> Appetit vergangen.“ Leise, fast klagend klang eine große Enttäuschung<br />

in Gabis Stimme mit. Sie legte Messer und Gabel auf den halbleeren Teller und schob ihn<br />

beiseite.<br />

„Wenn Du Deine Fischplatte nicht mehr essen willst“, mampfte Harald, „dann werde ich<br />

sie eben aufessen.“<br />

Gabi sah Harald von <strong>der</strong> Seite an. Es war ein missachten<strong>der</strong> Blick, in dem aber auch eine<br />

gewisse Bewun<strong>der</strong>ung mitschwang. „Du bist und bleibst ein Vielfrass“, sagte sie schließlich<br />

und wandte ihren Blick von Harald ab.<br />

„Also diese Garnelen, die lachen mich so an. <strong>Die</strong> kann ich nicht liegen lassen.“ Harald<br />

Grattler aß in aller Ruhe weiter. Er ließ sich beim Essen durch nichts stören. Und beson<strong>der</strong>s<br />

dann nicht, wenn er großen Hunger hatte.<br />

„Dann iss’ bis Du platzt!“ Gabis Temperament ging wie<strong>der</strong> mit ihr durch. Kurz entschlossen<br />

und ohne auf ihren Freund weiter zu achten stand sie auf und strebte eilig dem Inneren<br />

des Restaurants zu. Harald blickte ihr verdutzt nach.<br />

„Was haben die denn nur?“ Annette Schwadler deutete in Richtung Laube.<br />

„Vermutlich haben sich die beiden Hübschen dort hinten verkracht“, stellte Gunhild<br />

Henkert-Shakespeare trocken fest.<br />

„Hast Du das auch gesehen, Gunhild?“<br />

„Er speist immer noch, aber ihr scheint <strong>der</strong> Appetit vergangen zu sein.“ Gunhild hob ihr<br />

Glas und trank.<br />

„Ach ja, die Liebe ist schon ein äußerst seltsames Wesen“, begann Annette und mit ihrer<br />

Stimme klang ihre Melancholie mit. „Kaum meint man, sie habe einen endlich erreicht, schon<br />

verflüchtigt sie sich wie<strong>der</strong>. Und die Menschen trennen sich plötzlich ...“ Annette unterbrach<br />

sich selbst, denn sie merkte, wie eine Träne aus ihrem linken Auge hervorquoll. Sie kramte in<br />

ihrer Tasche nach einem Stofftaschentuch, fand auch eines und wischte sich ein wenig verstohlen<br />

die Träne ab. „Zum Glück trage ich kein Makeup“, fügte sie leise hinzu, „sonst wäre<br />

es schon zerflossen.“<br />

„Sei nicht unzufrieden. Genieße den lauen Abend!“ Gunhild versuchte Annette wie<strong>der</strong><br />

Mut zu machen. Sie hatte ihre Freundin aus den Augenwinkeln heraus beobachtet, während<br />

sie die Szene in <strong>der</strong> Laube verfolgte. „Es gibt Schlimmeres als eine Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen<br />

zwei Menschen ansehen zu müssen.“ Gunhild stutzte. „Ah, da kommt die Hübsche ja<br />

schon wie<strong>der</strong>. Vielleicht hat sie nur kurz für kleine Mädchen gemusst.“<br />

„Das glaube ich nicht.“ Annette schüttelte den Kopf. „So, wie die aufgesprungen ist, hat<br />

sie sich mächtig über ihren Dreitagebart geärgert. Ich möchte ja keinen Typen mit so einem<br />

Gekratze.“<br />

„Du stehst wohl mehr auf reifere Herrn mit Rauschebärten. Hihi.“ In Gunhilds Gesicht<br />

lugte schon wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schalk hervor. Sie hatte es noch nicht aufgegeben, Annettes gedrückte<br />

Stimmung etwas aufzuhellen.<br />

„Was gibt’s denn da zu lachen“, entrüstete sich Annette. „Ein gepflegter Bart schaut<br />

manchmal viel besser aus als so ein glattarschiges Gesicht. Aber Dreitagebärte mag ich<br />

nicht.“<br />

Gunhild konnte sich nicht halten. Sie lachte schallend im Sopran. „Hahaha, jetzt bist Du<br />

schon wesentlich besser drauf als vorhin. So gefällst Du mir! So kenne ich Dich.“<br />

„Soll ich jetzt Deinen Teller wirklich noch aufessen?“ Harald Grattler blickte Gabi fragend<br />

an, als diese nach einigen Minuten zurückkam und sich wie<strong>der</strong> hinsetzte. Sie warf ihm<br />

einen missbilligenden Blick zu.<br />

158


„Wenn Du willst, kannst Du die Fischplatte aufessen. Mein Appetit ist mir jedenfalls<br />

vergangen.“ Gabi Beck schob ihren halbleeren Teller zu Harald hinüber.<br />

„Jetzt sei doch nicht so nachtragend, Gabi!“ Haralds auffor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Blick machte Gabi nur<br />

noch wüten<strong>der</strong>.<br />

„Ich habe mir den Abend ein wenig an<strong>der</strong>s vorgestellt“, sagte sie schmollend und wandte<br />

ihren Blick von ihrem Gegenüber ab.<br />

„Was Hast Du denn, Gabi?“ Harald Grattler gab sich versöhnlich. „Ist Dir nicht gut?“<br />

„Ich hasse es, wenn ich mitten unter dem Essen auf die Toilette muss.“ Gabi nahm ihr<br />

Glas und trank einen kräftigen Schluck. „Und weißt Du warum ich dorthin musste?“<br />

„Keine Ahnung. Ist dir schlecht geworden?“ Harald setzte ein sorgenvolles Gesicht auf,<br />

aber Gabi spürte, dass er es nicht ehrlich meinte. Sie sah ihm jetzt tief in die Augen.<br />

„Sei ehrlich, Harald! Meinst Du nicht auch, dass Du Dich auffällig benimmst?“<br />

<strong>Die</strong>se Frage verschlug Harald die Sprache und brachte ihn völlig aus seinem Konzept. Er<br />

hatte alles Mögliche von Gabi erwartet, aber keine Kritik an seinem Verhalten, denn ihm war<br />

noch nicht aufgefallen, dass schon einige Gäste nicht gerade positiv auf ihn aufmerksam geworden<br />

waren. Er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.<br />

„Also, äh äh,“ stotterte Harald. Mehr brachte er an Worten nicht aus seinem Munde heraus.<br />

„Siehst Du, jetzt bist Du platt“, triumphierte Gabi. „Ich bin nicht die Einzige, die Dein<br />

Verhalten missbilligt. Den beiden Damen da vorne bist Du auch schon aufgefallen. Und sie<br />

sind nicht die einzigen hier, die Dich beobachten und über Dich reden. Ich habe das selbst<br />

gehört, als ich gerade an den Tisch zurückgegangen bin.“<br />

Harald Grattler schwieg betreten und legte sein Besteck auf den großen Teller. Gabis Angebot<br />

nahm er nicht an. Sein Hunger war längst gestillt.<br />

Es entstand eine peinlich-stille Situation an ihrem Tisch. Keiner wollte etwas sagen und<br />

je<strong>der</strong> schwieg betreten. Den an<strong>der</strong>en Gästen fiel dies nicht auf, sie waren wie<strong>der</strong> viel zu sehr<br />

mit sich selbst beschäftigt. Sie achteten nicht darauf, dass sich zwei junge Menschen im Moment<br />

nichts mehr zu sagen hatten. O<strong>der</strong> hatten Gabi und Harald doch noch zwei Beobachter,<br />

die sie nur nicht bemerkten?<br />

„Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“ Der untersetzte Kellner blickte Gabi fragend an.<br />

„Danke, danke! Mir war es zuviel.“ Gabi hielt beide Hände auf ihren Bauch und lächelte<br />

den Griechen an. Harald blickte verlegen zur Seite und sagte nichts. Der Kellner nahm elegant<br />

die beiden Teller vom Tisch. Er glaubte Gabi, die jedoch leicht errötete.<br />

„Grollst Du immer noch?“ Harald sah Gabi ganz sanft an. <strong>Die</strong>se rang sich ein Lächeln ab.<br />

„Jetzt setzt Du wie<strong>der</strong> Deinen treuherzigen Blick auf“, stellte Gabi fest. „Aber <strong>der</strong> Schalk<br />

sitzt Dir ganz gewaltig im Nacken. Das sehe ich Dir ganz deutlich an. Irgendwas hast Du vor.<br />

Aber was?“<br />

„Heute Abend habe ich nichts mehr vor, außer vielleicht ...“ Harald Grattler lächelte Gabi<br />

an und erwartete eine Reaktion in ihrem Gesicht, doch Gabi verzog keine Miene.<br />

„So, so“, sprudelte es aus ihr heraus, „Du hast also nichts mehr vor außer vielleicht was?“<br />

„Das wird jetzt noch nicht verraten.“ Harald lächelte schelmisch. „Erst einmal brauche<br />

ich noch ein Pils. Nach dem Hunger kommt bei mir meistens noch <strong>der</strong> Durst.“<br />

„Na, dann will ich nur hoffen, dass Du heute nicht zu viele von den Pilschen erwischst.“<br />

Gabi kannte ihren Freund nur zu gut, wenn er einen über den Durst trank.<br />

„Nur keine Sorge, Gabi“, entgegnete Harald. „Ich muss morgen fit sein. Morgen will ich<br />

nämlich ...“ Er unterbrach sich selbst. Beinahe hätte er Gabi verraten, was er am nächsten Tag<br />

vor hatte.<br />

31<br />

159


Dr. Brenner wachte gegen sechs Uhr morgens auf. Er fühlte sich wie zerschlagen. ‚Wenn<br />

ich gestern viel getrunken hätte’, dachte er, ‚dann könnte ich ja verstehen, dass es mir jetzt<br />

nicht gut geht, aber ich weiß, dass ich nichts getrunken habe.’<br />

Er versuchte aufzustehen, doch ein ungeheuerer Schwindel warf ihn sogleich wie<strong>der</strong> auf<br />

das Bett zurück. ‚So kann ich nicht ins Büro gehen. Ich werde heute wohl einen Tag Auszeit<br />

einlegen müssen.’ Er legte sich noch ein paar Minuten hin und setzte sich dann ganz langsam<br />

im Bett auf. Dr. Brenner verspürte wie<strong>der</strong> den Schwindel, drehte sich aber langsam zur Bettkante<br />

und stellte beide Füße auf den weichen, dunkelbraunen Teppichboden.<br />

‚Nur mit <strong>der</strong> Ruhe!’, sagte er sich und stand ganz langsam und vorsichtig auf. ‚Heute<br />

musst du alles etwas langsamer angehen, sonst wirft dich dein Körper schlichtweg um.’ Sachte<br />

setzte er Schritt für Schritt und ging zehn nach sechs Uhr gemächlich ins Bad, das dem geräumigen<br />

Schlafgemach benachbart war.<br />

Zehn Minuten später legte sich Dr. Brenner wie<strong>der</strong> ins Bett. Tausend Gedanken rasten<br />

durch seinen Kopf, aber er fühlte sich schlecht. Der Schwindel hatte wohl etwas nachgelassen,<br />

aber er fühlte sich schlapp. Sein Körper brauchte Schlaf, viel Schlaf. Ob das wohl das<br />

gefürchtete Burnout-Sydrom ist, fragte er sich und bekam ein schlechtes Gewissen, hatte er<br />

doch in letzter Zeit viel zu viel und vor allem viel zu tief in die Nacht hinein gearbeitet.<br />

‚Jetzt rächt sich mein Körper’, dachte er und schlummerte ein.<br />

Als er erwachte war es bereits nach acht Uhr. Dr. Brenner setzte sich langsam im Bett<br />

auf. Sein Schwindel schien verschwunden, doch jetzt regte sich sein Magen.<br />

‚Zuerst muss ich im Institutssekretariat anrufen’, fuhr es ihm durch den Kopf und er stand<br />

langsam auf und ging vorsichtig in sein geräumiges Arbeitszimmer.<br />

Dr. Brenner setzte sich zum Telefonieren auf seinen Schreibtischstuhl und wählte die<br />

Nummer von Frau Ludwig , <strong>der</strong> Sekretärin von Prof. Pre<strong>der</strong>sen.<br />

„Guten Morgen, Frau Ludwig“, sagte er leise.<br />

„Guten Morgen, Dr. Brenner. Sie klingen heute nicht beson<strong>der</strong>s.“<br />

„Mir geht es auch nicht gut, Frau Ludwig. Ich werde wohl heute zu Hause bleiben. Mir<br />

ist nicht gut.“ Dr. Brenners Stimme zitterte. Ihm wurde ganz schwummrig vor den Augen.<br />

„Dann wünsche ich Ihnen gute Besserung, Herr Dr. Brenner.“ <strong>Die</strong> Stimme <strong>der</strong> Sekretärin<br />

des Institutsvorstands klang aufrichtig.<br />

„Danke, Frau Ludwig. Auf Wie<strong>der</strong>hören!“ Dr. Brenner legte den Hörer auf. Seine rechte<br />

Hand zitterte. Ihm wurde unheimlich. Schweiß trat auf seine Stirn. Schnell wählte er die<br />

Nummer seines Arztes Dr. An<strong>der</strong>s.<br />

Es dauerte bis zum frühen Nachmittag, als Dr. Brenners Arzt ihn in seiner Villa aufsuchte<br />

und ihn medizinisch unter die Lupe nahm.<br />

„<strong>Die</strong> werden wohl ein paar Tage auf Sie verzichten müssen.“ Dr. An<strong>der</strong>s packte sein Stethoskop<br />

wie<strong>der</strong> in seine Arzttasche. „Außer einer kleinen Erkältung kann ich eigentlich nichts<br />

bei Ihnen feststellen. Trotzdem sollten sie sich ein paar Tage ausruhen und ...“ Er blickte seinen<br />

Patienten streng an. „ ... und nichts arbeiten.“<br />

Dr. Brenner nickte und legte sich wie<strong>der</strong> auf sein Sofa, das gegenüber dem Schreibtisch<br />

stand, auf dem sich eine Menge Papiere und Bücher türmten.<br />

„Sie haben das klassische Burnout-Syndrom“, fuhr Dr. An<strong>der</strong>s fort. „Wann haben Sie<br />

denn das letzte Mal Urlaub gemacht?“<br />

Dr. Brenner überlegte kurz. „Also dieses Jahr war ich noch nicht im Urlaub. Meine Arbeit<br />

...“<br />

Dr. An<strong>der</strong>s schüttelte heftig den Kopf. „Ihre Arbeit muss unbedingt für eine Woche ruhen.<br />

Und in dieser arbeiten sie nichts, son<strong>der</strong>n ruhen sich aus, sonst macht Ihr Kreislauf das<br />

nicht mehr mit. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.“<br />

160


„Sie haben ja recht“, gab Dr. Brenner zu und zog die Wolldecke über sich bis zu seiner<br />

Schulter. „Seit dem Tod meiner Frau habe ich eigentlich keinen richtigen Urlaub mehr gemacht.<br />

Aber nur arbeiten ...“<br />

„... macht ihren Körper früher o<strong>der</strong> später zunichte“, unterbrach ihn Dr. An<strong>der</strong>s. „Also ich<br />

sehe morgen wie<strong>der</strong> nach Ihnen. Und wenn ich sie am Schreibtisch arbeitend vorfinde, schicke<br />

ich sie auf <strong>der</strong> Stelle in eine Kur. Das Rezept gebe ich für Sie in <strong>der</strong> Apotheke ab. <strong>Die</strong><br />

schicken jemanden vorbei, <strong>der</strong> Ihnen die Medikamente bringt, die ich Ihnen verschrieben habe,.“<br />

Dr. Brenner nickte und sein Arzt lächelte ihn sanft an. „Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Herr Dr. Brenner!<br />

Bis morgen! Bemühen Sie sich nicht, ich finde den Weg schon nach außen.“<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Herr Dr. An<strong>der</strong>s!“ Dr. Brenner schloss seine Augen und atmete tief<br />

durch. Er spürte den Einstich <strong>der</strong> Kanüle in seiner rechte Ellenbogenbeuge, über die ihm Dr.<br />

An<strong>der</strong>s Blut abgezapft hatte. Er fühlte sich jetzt, nachdem ihn Dr. An<strong>der</strong>s untersucht hatte,<br />

schon ein bisschen besser, aber so richtig wohl war ihm immer noch nicht. Er sah auf die Decke<br />

seines Arbeitszimmers. Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er konnte sie nicht<br />

abschütteln. Sie bedrängten ihn immer wie<strong>der</strong>. Aber Dr. Brenner war müde, immer noch hundemüde.<br />

Er hörte noch, wie Dr. An<strong>der</strong>s das Haus verließ und die schwere Haustüre ins<br />

Schloss fiel, aber kurz danach schlief er fest ein.<br />

Es klingelte an <strong>der</strong> Haustüre, einmal – zweimal –dreimal. Dr. Brenner hörte es ganz tief,<br />

ganz weit hinten. Er schlug die Augen auf und sah an die Decke seines Schlafzimmers. ‚Das<br />

wird wohl jemand aus <strong>der</strong> Apotheke sein, <strong>der</strong> mir meine Medikamente bringt’, dachte er im<br />

ersten Moment und richtete sich vorsichtig auf. Sein Schwindel war einem leeren Gefühl in<br />

seinem Kopfe gewichen.<br />

Es klingelte noch einmal. Dr. Brenner stand ganz langsam auf und ging langsam zur<br />

Haustüre.<br />

„Ich bringe Ihnen die Medikamente, die Ihnen Dr. An<strong>der</strong>s verschrieben hat.“ Ein junger<br />

Mann lächelte Dr. Brenner an, nachdem er die Türe vorsichtig eine Spalt geöffnet hatte.<br />

„Vielen Dank!“ Dr. Brenners Stimme klang brüchig. „Wegen <strong>der</strong> Bezahlung ...“<br />

„... brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, unterbrach ihn <strong>der</strong> freundlich lächelnde<br />

junge Mann. „Bei meiner Chefin haben Sie Kredit. Hier sind Ihre Medikamente.“ Er gab Dr.<br />

Brenner eine kleine Papiertüte.<br />

„Da bin ich aber erleichtert. Vielen Dank fürs Vorbeibringen!“, Dr. Brenner nahm seine<br />

Medikamente. Sein Lächeln wirkte mühsam.<br />

„Gute Besserung, Herr Dr. Brenner! Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ Der junge Mann hatte es eilig<br />

und wandte sich zum Gehen, kaum dass er sich verabschiedet hatte.<br />

„Nochmals vielen Dank! Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ rief ihm Dr. Brenner nach und schloss die<br />

Haustüre. Er war wie<strong>der</strong> allein, mit sich alleine. Aber irgendwie war er erleichtert, als er drei<br />

kleine Schachteln aus <strong>der</strong> Papiertüte mit <strong>der</strong> Aufschrift Rosen-Apotheke holte.<br />

Dr. Brenner schlürfte in die Küche. Er verspürte ein leichtes Hungergefühl. ‚Ich bin nur<br />

froh, dass ich immer ein paar Konserven im Hause habe’, dachte er und ging an den großen<br />

Vorratsschrank, um nachzusehen, was er vorrätig hatte. Er brauchte nicht lange zu suchen.<br />

‚Das könnte mir schmecken’, dachte er weiter, holte eine Dose mit Ravioli hervor, öffnete sie<br />

vorsichtig und leerte den Inhalt in ein kleines Töpfchen. Den Rest in <strong>der</strong> Dose spülte er mit<br />

wenig Wasser heraus.<br />

Während er sein Konservenessen erwärmte las er die Beipackzettel <strong>der</strong> drei Tablettenpackungen,<br />

die ihm Dr. An<strong>der</strong>s verschrieben hatte. Er war viel zu wenig Pharmazeut, aber den<br />

Beschreibungen nach enthielten die Medikamente keine beson<strong>der</strong>s gefährliche Inhaltsstoffe,<br />

was ihn sehr beruhigte.<br />

161


Nach dem Essen nahm er seine Arzneien ein und legte sich wie<strong>der</strong> hin. <strong>Die</strong>smal aber auf<br />

sein Sofa in seinem Arbeitszimmer. ‚So schwer krank bin ich nun auch wie<strong>der</strong> nicht, dass ich<br />

mich ins Bett legen müsste’, meinte er in Gedanken.<br />

Dr. Brenner schlief nur wenige Minuten, nachdem er sich hingelegt hatte, ein. Sein Körper<br />

verlangte nach <strong>der</strong> Ruhe, aber sein Geist war unentwegt beschäftigt, so sehr beschäftigt,<br />

dass er Dr. Brenner in das Reich <strong>der</strong> Träume entließ. So hörte er auch das Telefon nicht, das<br />

am frühen Nachmittag klingelte. Er schlief so fest, dass es bereits zu dämmern begann, als er<br />

vom Schlaf erfrischt aufwachte. So konnte er auch nicht wissen, wer ihn anrufen wollte. Für<br />

ihn war viel mehr wichtig, dass er sich wesentlich besser fühlte als am Morgen.<br />

„Guten morgen, Gabi.“ Harald Grattler war sichtlich ausgezeichneter Laune an diesem<br />

trüben Tag. „Das Essen gestern ist mir ausgezeichnet bekommen. Und Dir?“<br />

Gabi Beck schaute ihn mit verschlafenen Augen an und sagte zunächst nichts. Sie sah<br />

Harald nur an und zwang sich zu einem gequälten Lächeln. „Guten morgen, Harald“, sagte sie<br />

schließlich und drehte sich zu ihrem Computer um, an dem sie schon über eine halbe Stunde<br />

gearbeitet hatte. „Sei mir nicht böse, aber ich habe viel zu tun. Der Chef hat mir etwas zum<br />

Schreiben gegeben. Das will er heute bis zehn sehen, hat er gesagt.“<br />

„Na, wenn’s <strong>der</strong> Chef sagt, dann muss es ja was sehr Wichtiges sein.“ Ein gewisser ironischer<br />

Unterton schwang in Harald Grattlers Stimme mit. „Dann will ich Dich nicht länger<br />

aufhalten und gehe in mein Büro.“<br />

„Tu das, Harald, tu das!“ <strong>Die</strong> Auffor<strong>der</strong>ung war durchaus ernst gemeint.<br />

Harald machte kehrt und schlürfte in sein Büro, das er sich mit einem weiteren Mitarbeiter<br />

des Institutes teilte. Doch <strong>der</strong> Mitstreiter war zurzeit auf Urlaubsreise, sodass Harald ungestört<br />

schalten und walten konnte. Und das wollte er heute ausnützen ...<br />

Er schaltete seinen Rechner an und wartete. Es dauerte eine Weile, bis er sich ins Institutsnetz<br />

einloggen konnte.<br />

‚Ich will doch mal sehen, ob ich nicht als Dr. Brenner ins Netz komme.’ Er lachte hämisch<br />

und gab als Benutzer „drb“ ein, Dr. Brenners Kurzzeichen. ‚Was könnte er für ein<br />

Passwort genommen haben?’ Harald kratzte sich am Kinn. Der Cursor blinkte geduldig.<br />

‚Versuchen wir’s doch mal mit dem Vornamen seiner verstorbenen Frau’, dachte Harald<br />

bei sich und tippte „Christina“ ein. Der Rechner verweigerte den Zugriff.<br />

‚Was könnte er sonst genommen haben?’ überlegte Harald Grattler weiter. ‚Den Vornamen<br />

seines Sohnes vielleicht. Doch wie heißt <strong>der</strong> noch mal?’ Er kam ins Grübeln und wollte<br />

schon nach dem Telefonhörer greifen, legte diesen jedoch gleich wie<strong>der</strong> auf die Gabel. ‚Gabi<br />

kann ich nicht fragen’, dachte er. ‚Sie könnte Verdacht schöpfen.’ Er überlegte weiter.<br />

Plötzlich kam es ihm siedheiß in den Sinn. ‚Ja, Wolfgang hat er ihn am Telefon einmal<br />

genannt.’ Harald tippte den Namen ein und <strong>der</strong> Rechner begann mit <strong>der</strong> Einloggzeremonie.<br />

‚Ha, ha!’, lachte Harald innerlich. ‚Dr. Brenner kennt die Grundregel für Passwörter nicht.<br />

Das ist ja interessant!’<br />

‚Da wollen wir doch mal sehen, was Dr. Brenner so alles gespeichert hat’, dachte er bei<br />

sich und öffnete das Programm, mit dem man alle Ordner und <strong>der</strong>en Dateien sehen konnte. Es<br />

waren sehr viele. Harald Grattler suchte und suchte, aber er fand keine Datei, von <strong>der</strong>en Namen<br />

man vielleicht auf einen tagebuchähnlichen Inhalt hätte schließen können.<br />

‚Du warst ja ganz schön fleißig, Dr. Brenner.’ Harald Grattler grinste. ‚Aber es gibt ja<br />

auch noch eine Suchroutine, mit <strong>der</strong> ich nach dem Wort ‚Tagebuch’ suchen kann.’ Und dies<br />

tat er auch.<br />

Es dauerte eine ganze Weile, bis das Suchprogramm alle Festplatten, alle Speicher<br />

durchkämmt hatte. Und <strong>der</strong> Erfolg blieb nicht aus.<br />

„Ha!“, stieß Harald erfreut aus. „Da bist Du ja.“<br />

„Ja, da bin ich“, sprach ihn von hinten eine ihm sehr bekannte Stimme an. Er drehte sich<br />

erschrocken um.<br />

162


„Gabi?! Woher kommst Du so plötzlich?“<br />

„Ganz einfach durch die Türe.“ Gabi Beck tat ein wenig erstaunt. „Hast Du mich nicht<br />

bemerkt?“<br />

„So, wie Du hereingeschlichen bist!“ Plötzlich fiel ihm wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rechner ein. Schnell<br />

schloss er das Suchprogramm, das ihn zu einer Datei „TB1900“ geführt hatte, in <strong>der</strong> sein eingegebenes<br />

Suchwort vorkam.<br />

„Tu nicht so erschreckt, Harald! Du hast mich doch erwartet.“ Gabi lächelte Harald süffisant<br />

an.<br />

„Nein, ich habe Dich, ehrlich gesagt, jetzt nicht erwartet“, entgegnete Harald entschlossen.<br />

„Ich dachte, Du hättest noch länger zu tun, Gabi.“<br />

„Noch länger zu tun?! Schau mal auf die Uhr.“<br />

Er tat, wie ihm geheißen und erschrak. „Was schon wie<strong>der</strong> zehn Uhr!“<br />

„Ja, ja, die Zeit vergeht schnell“, konterte Gabi. „Gerade habe ich dem Chef meine Arbeit<br />

geschickt. Ich bin geradeso fertig geworden. Gehst Du mit, einen Kaffee trinken?“<br />

Harald Grattler, <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong> dem Bildschirm zugewandt hatte, fuhr zum zweiten Mal<br />

herum. Aber er zögerte kurz, als er in das milde lächelnde Gesicht Gabis blickte, die ihn ganz<br />

unschuldig ansah.<br />

„Willst Du heute keinen Kaffee trinken, Harald?“ Gabis Frage schien ihm ganz eindringlich<br />

gestellt.<br />

„Doch, doch! Aber warte einen Moment, ich muss noch etwas speichern“, log er und<br />

drehte sich wie<strong>der</strong> zum Bildschirm um.<br />

Gabi schritt zu Harald hin, <strong>der</strong> plötzlich nervös mit <strong>der</strong> Maus auf dem Schirm herumfuhr.<br />

Er meinte zu spüren, wie sie ihm über die Schulter sah, aber Gabi war noch zu weit entfernt,<br />

um sehen zu können, was er gerade am Rechner machte. Sie schöpfte auch keinen Verdacht,<br />

wusste sich doch, dass Harald meist sehr intensiv am Rechner arbeitete.<br />

Er schloss schnell die Suchroutine, damit Gabi nicht sehen konnte, wonach er gesucht<br />

hatte. „So, jetzt bin ich fertig“, sagte Harald Grattler danach mit hörbarer Erleichterung. „Jetzt<br />

können wir im Aufenthaltsraum einen Kaffee trinken.“<br />

„Das ging aber jetzt schnell“, entfuhr es Gabi und sie merkte nicht, wie er einen leichten<br />

Stoßseufzer ausstieß.<br />

Beide gingen in den Aufenthaltsraum des Institutes, wo sich die Mitarbeiter zu ihren vom<br />

Institutsleiter geduldeten Denkpausen trafen.<br />

Harald Grattler trank nachdenklich seinen Kaffee. Er sagte nichts, son<strong>der</strong>n starrte nur<br />

zum Fenster hinaus, das ihm einen schönen sonnigen Herbsttag zeigte. Einzelne kleine,<br />

schneeweiße Wölkchen zogen langsam am blauen Himmel über die Stadt dahin. Doch er sah<br />

sie nicht, blickte über sie hinweg, durch sie hindurch. Seine Gedanken waren nur bei <strong>der</strong> einen<br />

Datei, die er bei Dr. Brenner gefunden hatte. Er wollte, er musste sie haben, und es ging<br />

ihm gar nicht schnell genug, seine Institutstasse mit dem immer noch verdammt heißen Kaffee<br />

auszutrinken.<br />

„Woran denkst Du, Harald?“ fragte ihn Gabi schließlich, die ihn schon eine Weile von<br />

<strong>der</strong> Seite her beobachtet hatte.<br />

Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und blickte Gabi ebenfalls von <strong>der</strong> Seite aus träumend<br />

an. „Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, Gabi. Sie alle aufzuzählen, wäre in Stunden<br />

nicht möglich.“<br />

„So, so!“ Gabi schmunzelte. „So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht, Harald.<br />

Du bist heute ganz und gar geistig abwesend, das habe ich schon vorhin gemerkt, als ich dich<br />

so am Computer arbeiten sah.“<br />

Harald Grattler zuckte zusammen, als er das Wort Computer aus Gabis Mund hörte. Sie<br />

schien es beson<strong>der</strong>s zu betonen. O<strong>der</strong> etwa doch nicht?<br />

„Du bist aber auch nervös heute“, stellte Gabi fest, die ihn noch immer genau von <strong>der</strong><br />

Seite beobachtete. „Hast Du heute Nacht etwa schlecht geschlafen?“<br />

163


„Nein, nein, Gabi!“ Harald sprach langsam und bedächtig. „Ich habe ausgezeichnet geschlafen.“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Gabi trank einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse, konnte<br />

also einen Moment lang Harald nicht beobachten, sonst wäre es ihr nicht entgangen, wie er<br />

plötzlich zu grinsen begann, sich aber sofort dessen bewusst wurde und wie<strong>der</strong> seine geistesabwesende<br />

Unschuldsmiene aufsetzte.<br />

<strong>Die</strong> Minuten zogen sich dahin. Gabi und Harald waren alleine im Aufenthaltsraum, denn<br />

sie waren erst nach <strong>der</strong> Zeit dorthin gegangen, nachdem die meisten Institutsmitarbeiter ihre<br />

Frühstückspause im großen Pulk beendet hatten. Es wollte einfach kein Gespräch zwischen<br />

ihnen zustande kommen. Harald war zu geistesabwesend. Er dachte nur an eines. Seine Gedanken<br />

waren nur auf jene Datei fixiert, die er eben öffnen wollte, als ihn Gabi dabei störte.<br />

<strong>Die</strong>ser fiel seine gedankliche Abwesendheit sofort auf, aber sie dachte sich nichts Böses dabei.<br />

Harald war schön öfters mit seinen Gedanken an ganz an<strong>der</strong>en Orten gewesen, wenn sie<br />

beide zusammen waren.<br />

Zehn vor halb elf trank Harald Grattler seinen letzten Schluck aus <strong>der</strong> Tasse. „So, ich<br />

werde es wie<strong>der</strong> packen“, sagte er entschlossen und stellte seine Henkeltasse in die Spüle.<br />

„Mein Bedarf an Kaffee ist im Moment gedeckt. Also, dann bis nachher.“<br />

Bevor Gabi etwas sagen konnte, war Harald schon aus dem Aufenthaltsraum verschwunden.<br />

‚Was hat er heute nur?’, fragte sie sich und trank ebenfalls ihre Tasse aus.<br />

Harald Grattler ging eiligen Schrittes zurück in sein Büro, sich immer wie<strong>der</strong> umdrehend<br />

und umschauend, ob ihm jemand folgte. Doch es folgte ihm niemand, auch nicht Gabi, die<br />

mit ihrer leeren Kaffeetasse in <strong>der</strong> Hand noch nachdenklich im Aufenthaltsraum saß und zu<br />

den Wolken hinaufstarrte, die langsam über das Land schwebten.<br />

‚So, jetzt werde ich es bald wissen!’ Zuversichtlich setzte sich Harald wie<strong>der</strong> vor seinen<br />

Bildschirm und öffnete die Suchroutine, die er bei Gabis Eintritt schnell zu einem Knopf auf<br />

<strong>der</strong> Symbolleiste verkleinert hatte. <strong>Die</strong> Datei, in <strong>der</strong> sich die Ergebnisse von Dr. Brenners Arbeit<br />

an den Tagebüchern befanden, war schnell wie<strong>der</strong> gefunden. Vorsichtig schob er den<br />

Mauszeiger über das Symbol und öffnete durch Doppelklick das Schreibprogramm. Sein Puls<br />

raste, <strong>der</strong> Mund wurde schlagartig trocken. Harald schluckte und starrte gebannt auf den Bildschirm.<br />

Was auf diesem erschien, überraschte ihn nicht ...<br />

„Gut, gut, Dr. Brenner“, murmelte er vor sich hin. „Du gehst sicher, indem du deine Datei<br />

mit einem Passwort sicherst. Aber ich werde auch dieses herausfinden.“<br />

Er tippte wie<strong>der</strong> den Vornamen von Dr. Brenners Sohn ein, doch das Schreibprogramm<br />

meldete sich mit: „Falsches Kennwort. <strong>Die</strong> Datei kann nicht geöffnet werden“.<br />

„Na, dann nehmen wir eben ein an<strong>der</strong>es ...“ Harald Grattler versuchte es mit einem an<strong>der</strong>en<br />

Passwort, aber es kam wie<strong>der</strong> dieselbe Meldung auf den Bildschirm.“<br />

„Verdammt!“ Er fluchte. Beim nächsten Versuch musste es klappen, die Datei zu öffnen,<br />

sonst würde ihn das Schreibprogramm schlichtweg hinauswerfen. Er konnte nicht beliebig oft<br />

mit beliebigen Kennwörtern versuchen, die Textdatei zu öffnen.<br />

„Verdammt noch mal!“ Haralds geballte rechte Faust sauste auf den Computertisch nie<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> dadurch in kurze Schwingungen geriet. Damit hatte er nicht gerechnet. <strong>Die</strong> Datei<br />

musste also Dr. Brenner so wichtig sein, dass er sie mit einem nicht leicht heraus zu findenden<br />

Kennwort versehen hatte. Aber welches könnte dieses sein? Er überlegte ...<br />

... und überlegte, kam ins Grübeln. Auf seiner Stirne bildeten sich kleine Schweißperlen.<br />

Es war kalter Schweiß, <strong>der</strong> sich kondensierte.<br />

Doch nach einigen Minuten, die ihm wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, erinnerte er sich<br />

an den Vornamen von Dr. Brenners verstorbener Frau, den dieser einmal erwähnt hatte. „Das<br />

könnte er sein“, murmelte er, während er das Wort in den Rechner tippte. Nach <strong>der</strong> Bestätigung<br />

erschien aber wie<strong>der</strong> nur die Meldung, dass das Kennwort falsch sei. <strong>Die</strong>ses Mal jedoch<br />

mit dem Hinweis, dass das Programm geschlossen werden müsse. Harald hatte keine an<strong>der</strong>e<br />

Wahl. Wütend drückte er mit dem Mauszeiger auf den einzigen, auf den Bestätigungsknopf.<br />

164


<strong>Die</strong> Trockenheit in Harald Grattlers Mund reizte ihn. Er musste husten, heftig husten. Panikartig<br />

stand er auf und drehte sich um. Im selben Augenblick kam Gabi ins Büro.<br />

Als sie Harald sah, erschrak sie. „Wie siehst denn Du aus? Du bist ja weiß wie die<br />

Wand!“<br />

Harald Grattler konnte Gabi nicht antworten. Er musste weiter husten. Gabi eilte zu ihm<br />

und streckte tröstend ihre Hände aus, doch er zeigte mit einer abwendenden Bewegung, dass<br />

er Gabis Berührung jetzt nicht spüren wollte.<br />

„Keine Sorge, Gabi“, krächzte er, als <strong>der</strong> Hustenreiz ihm Zeit zum Luftholen ließ. „Es<br />

muss die trockene Luft hier sein, die mich zum Husten reizt.“<br />

„So, so, die trockene Luft.“ Gabi glaubte Harald nicht, waren doch noch bei <strong>der</strong> Kaffeepause<br />

keinerlei Anzeichen irgendeiner Hustenreizung bei ihm zu bemerken gewesen. „Du<br />

hast doch was, Harald! Willst Du mit mir darüber nicht reden?“<br />

Er konnte nicht antworten, denn wegen <strong>der</strong> noch immer in seinem Mund herrschenden<br />

extremen Trockenheit musste er wie<strong>der</strong> heftig Husten. Mit fahrigen Händen griff Harald dabei<br />

in seine rechte Hosentasche und fingerte einen kleinen, in durchsichtiges Plastik gehüllten<br />

Bonbon hervor, den er eiligst entwickelte und in seinem Mund schob. Es dauerte nur wenige<br />

Augenblicke, bis <strong>der</strong> Salbeiextrakt mit Hilfe des Speichels seine Wirkung entfalten konnte.<br />

<strong>Die</strong> Trockenheit in Haralds Mund verflog. Er konnte wie<strong>der</strong> normal reden.<br />

„Ich weiß nicht, woran es gerade lag, doch plötzlich bekam ich einen furchtbar trockenen<br />

Mund und darauf einen fürchterlichen Hustenanfall.“ Harald versuchte die Situation in Griff<br />

zu bekommen. „Und dann warst Du plötzlich da.“<br />

„Deinen Hustenabfall habe ich durch die geschlossene Tür draußen auf den Flur ganz<br />

deutlich hören können.“ Gabi machte ein sorgenvolles Gesicht, vermied es aber, sich Harald<br />

zu nähern. „Trotzdem fühle ich, dass Du irgend etwas hast.“<br />

„Quatsch mit Soße!“ Harald machte eine abwehrende Bewegung mit seinen Händen. „Ich<br />

habe nichts. Der Hustenanfall ist vorbei und die Arbeit wartet.“<br />

Gabi merkte, das er sie im Moment nur ungern im Büro sah. Trotzdem blieb sie zwei<br />

Schritte vor ihm stehen und sah ihn mit großen, fragenden Augen an.<br />

Harald wandte sich wie<strong>der</strong> seinem Computer zu, lies Gabi einfach im Zimmer stehen,<br />

kümmerte sich nicht um sie. <strong>Die</strong>se kam sich verloren vor, wie sie so dastand, nicht einmal<br />

geduldet. Sie nahm tief Luft, wollte etwas sagen. Doch sie überlegte es sich an<strong>der</strong>s und ging<br />

wortlos aus dem Büro.<br />

‚Irgend etwas hat Harald und er will nicht mit mir darüber reden. Wie kann ich ihn nur<br />

dazu bringen, sich mir zu öffnen?’ Der Gedanke ging Gabi immer wie<strong>der</strong> durch den Kopf, als<br />

sie nachdenklich zu ihren Büro ging, das sich eine Etage höher befand. Er ließ Gabi Beck<br />

nicht wie<strong>der</strong> los. Irgend etwas musste Harald sehr stark beschäftigen, sonst wäre er nicht so<br />

abweisend zu ihr, denn es war nicht seine Art, sie einfach im Zimmer stehen zu lassen. Er<br />

hatte es zum ersten Mal getan. Aber Gabi war im nicht böse; sie machte sich viel mehr große<br />

Sorgen um ihn.<br />

‚Hoffentlich macht er nichts Unüberlegtes’, dachte sie, als sie sich wie<strong>der</strong> an den Rechner<br />

setzte, um ihre Arbeit fortzusetzen.<br />

Harald Grattler begann zu schwitzen, obwohl es an diesem sonnigen Herbsttag in seinem<br />

Büro nicht beson<strong>der</strong>s warm war, obwohl es auf <strong>der</strong> Ostseite des Gebäudes lag. Er war wie<strong>der</strong><br />

allein und äußerst intensiv mit seinen Gedanken beschäftigt.<br />

‚Wie komme ich an die Dateien mit den transkribierten Tagebüchern <strong>der</strong> Elfriede Wagner<br />

heran.’ Er grübelte und grübelte, kam aber zu keinem Ergebnis. Aufgeregt stand er auf und<br />

ging im Büro auf und ab, die Zähne zusammen gebissen. ‚Ich bin mir sicher, dass diese Wagner<br />

mit meiner Großmutter identisch ist. Ich kenne zwar <strong>der</strong>en Namen nicht, doch sie müsste<br />

zur selben Zeit wie die Tagebuchschreiberin in Fürth geboren sein. Da bin ich mir hun<strong>der</strong>tfünfundzwanzigprozentig<br />

sicher ...’<br />

165


Er setzte sich wie<strong>der</strong> an den Rechner und sah weiter die Dateien von Dr. Brenner durch,<br />

doch es fand sich kein weiterer Hinweis auf die Texte <strong>der</strong> Tagebücher.<br />

Es mag vielleicht eine halbe o<strong>der</strong> dreiviertel Stunde vergangen sein, als das Telefon klingelte.<br />

Es schellte einmal, zweimal, dreimal, doch Harald Grattler hob nicht ab. Geistesabwesend<br />

starrte er immer noch auf den Bildschirm, sah die Dateien vorüber ziehen, <strong>der</strong>en Namen<br />

oftmals nur aus Buchstaben- und Zahlenkombinationen bestanden.<br />

Irgendwann hörte das Telefon auf zu klingeln. Er hatte es nicht gehört, er war völlig in<br />

seinen Gedanken versunken, die immer wil<strong>der</strong> in seinem Kopf zu tanzen schienen. Und darüber<br />

verging die Zeit.<br />

<strong>Die</strong> Sonne hatte fast ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht, als es deutlich hörbar an<br />

<strong>der</strong> Türe klopfte, die geschlossen war, denn er wollte nicht, dass je<strong>der</strong>mann schon vom Flur<br />

aus sehen konnte, was er tat.<br />

Harald Grattler fuhr hoch. Er hatte im Gegensatz zum Telefon das Klopfen gehört, ganz<br />

weit hinten in seinem Bewusstsein, aber er hatte es deutlich gehört.<br />

„Herein, wenn’s kein Frem<strong>der</strong> ist!“, rief er und drehte sich zur Türe um, die sich langsam<br />

öffnete. Ein ihm unbekannter junger und gutaussehen<strong>der</strong> Mann stand in <strong>der</strong> Türe.<br />

„Entschuldigen Sie! Ich suche das Büro von Dr. Brenner.“<br />

„Dr. Brenners Büro kann ich Ihnen zeigen, doch er ist heute nicht da. Ich habe da etwas<br />

gehört, er habe sich krank gemeldet.“<br />

„Das ist aber schade“, sagte <strong>der</strong> junge Mann und ging langsam ins Büro auf Harald<br />

Grattler zu. „Ich wollte dem Herrn Doktor nur etwas vorbei bringen.“<br />

Harald Grattler fuhr aus seinem Stuhl hoch. Erst jetzt erkannte er das kleine Päckchen,<br />

das <strong>der</strong> Unbekannte fast ein wenig lässig mit seiner rechten Hand hielt. Ihm kamen blitzschnell<br />

wie<strong>der</strong> die Tagebücher in den Sinn. „Sie können auch mir das Päckchen geben. Ich<br />

bin ein Mitarbeiter von ...“<br />

„... Dr. Brenner. Ich weiß“, unterbrach ihn <strong>der</strong> fremde junge Mann. „Aber ich habe den<br />

Auftrag, es Dr. Brenner eigenhändig zu überreichen.“<br />

Harald Grattlers Mut sank ebenso schnell wie er gestiegen war. „Dann müssten Sie ihn in<br />

seiner Wohnung aufsuchen.“ Seine Stimme klang hart und kalt.<br />

„Wissen Sie seine Privatadresse?“<br />

„Kleinen Moment! Ich suche sie Ihnen heraus.“ Harald Grattler tat so, als suche er am<br />

Rechner die Anschrift von Dr. Brenner und öffnete das Programm, in dem alle elektronischen<br />

Nachrichten gespeichert waren. Da standen sie plötzlich vor ihm: Alle Nachrichten, die Dr.<br />

Brenner die letzte Zeit erhalten hatte. Warum hatte er bisher hier noch nicht gesucht? Doch<br />

das konnte er ja immer noch nachholen.<br />

Nach einer Weile drehte sich Harald wie<strong>der</strong> zu dem Fremden um. Er musste jetzt antworten,<br />

sonst konnte <strong>der</strong> Besucher misstrauisch werden. <strong>Die</strong> Zeit, die er bisher zum Nachdenken<br />

hatte, reichte jedoch aus, die gewünschte Auskunft zu geben „Dr. Brenner wohnt im ...weg in<br />

Nürnberg“, sagte er schließlich und lächelte den Besucher betont freundlich an.<br />

„Vielen Dank Herr ...“<br />

„ ... Grattler. Harald Grattler ist mein Name.“ Er nickte dem Fremden zu, aber in seinem<br />

Innersten grollte er ihm, weil er das Päckchen nur Dr. Brenner persönlich abgeben wollte.<br />

„Nochmals vielen Dank, Herr Grattler. Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“<br />

„Auf Wie<strong>der</strong>sehen!“ Der junge Mann lächelte Harald Grattler freundlich an, machte kehrt<br />

und ging schnell aus dem Büro.“<br />

‚Es wird ja immer geheimnisvoller.’ Haralds Gedanken drehten sich immer schneller in<br />

seinem Kopf. ‚Was könnte in dem Päckchen gewesen sein, das <strong>der</strong> Jüngling unbedingt persönlich<br />

abgeben wollte? Hatte es mit den Tagebüchern zu tun? Tausend Fragen, aber keine<br />

einzige Antwort. Ich steige bald nicht mehr durch, was hier gespielt wird.’<br />

166


Er stand auf, denn ein Durstgefühl kam in ihm auf. Schließlich waren seit dem verspäteten<br />

Kaffeetrinken im Aufenthaltsraum schon wie<strong>der</strong> eine gute Stunde vergangen. O<strong>der</strong> waren<br />

es schon zwei?<br />

<strong>Die</strong> Glocke an <strong>der</strong> Haustüre wollte nicht aufhören zu klingeln. Dr. Brenner hörte das Läuten,<br />

weit hinten in seinem Bewusstsein, aber er erwachte durch diese Störung. Ganz langsam<br />

setzte er sich auf. ‚Wer läutet denn so penetrant an <strong>der</strong> Haustüre?’ Er sah zum Fenster. Draußen<br />

war es schon dunkel. ‚Es muss schon spät sein’, dachte er und sah auf seine Armbanduhr.<br />

‚Zehn Uhr!’ Dr. Brenner schreckte hoch. ‚Meine Güte! Ich habe aber lange geschlafen. Es<br />

wird Zeit, dass ich aufstehe.’<br />

Es klingelte und klingelte. Der Mensch auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Haustüre musste wissen,<br />

dass er zu Hause war. Vorsichtig stand Dr. Brenner auf. Er fühlte sich von Anfang an<br />

sicher auf seinen Beinen. Ruhig ging er zur Haustüre.<br />

„Ja, ja, ich komme ja schon“, rief er in Richtung <strong>der</strong> Haustüre. Schlagartig hörte das<br />

Klingeln auf. Der Mensch vor <strong>der</strong> Türe musste ihn wohl gehört haben.<br />

Dr. Brenner öffnete die Haustüre und sah einen jungen Herren mit einem Päckchen unter<br />

dem Arm.<br />

„Dr. Brenner?“<br />

„Ja, <strong>der</strong> bin ich.“<br />

„Ich soll Ihnen persönlich dieses Päckchen geben“, sagte <strong>der</strong> junge Mann und überreichte<br />

ihm das Päckchen, das etwa die Größe einer zusammengefalteten Zeitung besaß.<br />

Dr. Brenner war verdutzt. „Von wem ist das Päckchen? Ich erwarte eigentlich nichts.“<br />

„Eine gewisse Frau ...“ Der junge Mann zog einen Zettel aus seiner Tasche und schaute<br />

kurz auf ihn. „... Markert hat mir den Auftrag gegeben, Ihnen, Herr Dr. Brenner, das Päckchen<br />

persönlich zu übergeben. Sie wollte es nicht <strong>der</strong> Post anvertrauen, warum auch immer.“<br />

„Ach du liebe Güte! Das hatte ich ja ganz vergessen!“ Dr. Brenner war es etwas peinlich,<br />

eine allzu menschliche Eigenschaft zuzugeben. „Frau Markert wollte mir doch die ...“ Dr.<br />

Brenner unterbrach sich selbst. „Geben Sie nur her!“<br />

Wortlos übergab <strong>der</strong> junge, gutaussehende Mann Dr. Brenner das Päckchen, welches in<br />

einer etwas altertümlichen Manier mit Packpapier und einer Schnur gepackt war, und drehte<br />

sich im selben Moment um.<br />

„Warten Sie einen Moment!“<br />

Der junge Mann drehte sich blitzschnell wie<strong>der</strong> zu Dr. Brenner hin.<br />

„Sie haben doch dieses Kuriergut von Frau Markert persönlich bekommen?“<br />

„Ja, warum?“<br />

„Hat Sie Ihnen noch eine Nachricht mit auf den Weg gegeben?“<br />

„O, entschuldigen Sie!“ Der junge Mann wurde sichtlich verlegen. „Jetzt habe ich etwas<br />

vergessen. Einen kleinen Moment bitte!“ Er fingerte in seiner Jackentasche und zog ein Kuvert<br />

hervor, das er Dr. Brenner überreichte. „<strong>Die</strong>sen Brief soll ich Ihnen von Fr. Markert mit<br />

dem Päckchen geben. Entschuldigen Sie noch mal. Ich hätte ihn doch fast vergessen, wenn<br />

Sie nicht danach gefragt hätten.“<br />

„Vergessen ist genauso menschlich wie Irren.“ Dr. Brenner lächelte den jungen Mann an,<br />

<strong>der</strong> im Gesicht leicht errötete.<br />

Dr. Brenner nickte verständnisvoll, doch dies sah <strong>der</strong> junge Mann nicht mehr, <strong>der</strong> es sehr<br />

eilig und sich wie<strong>der</strong> von ihm abgewendet hatte.<br />

„Wie<strong>der</strong>seh’n!“ rief ihm Dr. Brenner nach<br />

„Wie<strong>der</strong>seh’n!“ hallte es vom Vorgarten her, den <strong>der</strong> junge Mann eilenden Schrittes<br />

schon fast hinter sich gelassen hatte, die Hand schon ausgestreckt, um das Gartentor zu öffnen.<br />

Dr. Brenner ging ins Haus, setzte sich in die Küche, öffnete das Kuvert und las, was mit<br />

eiliger Schrift in dem Brief geschrieben stand:<br />

167


Verehrter Herr Dr. Brenner,<br />

ich wollte es Ihnen eigentlich telefonisch ankündigen, doch ich erreichte Sie nicht. Mit<br />

dem Paket schicke ich Ihnen noch ein paar Briefe, die wir mit den Tagebüchern im Nachlass<br />

meiner Großmutter gefunden haben. Vielleicht stellen diese für Sie eine weitere Quelle für<br />

Ihre Studie dar. Heike hat sich Kopien gemacht und versucht sie abzuschreiben und chronologisch<br />

zu ordnen.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Elke Markert<br />

„Das ist ja höchst interessant“, murmelte Dr. Brenner und ließ das hastig zusammengefaltete<br />

Briefblatt auf den Küchentisch sinken. Er betrachtete nachdenklich das Päckchen und<br />

wollte es schon aufschnüren, da meldete sich eine innere Stimme in ihm: „Hör’ auf das, was<br />

Dr. An<strong>der</strong>s dir gesagt hat! Du musst Dich schonen und darfst nicht arbeiten, auch nicht ein<br />

klein wenig! O<strong>der</strong> willst Du von dieser irdischen Welt abtreten?“<br />

Dr. Brenner erschrak über sich selbst. Nein, er wollte sich schonen. Ganz leicht merkte er<br />

noch die Abgespanntheit, die ihn am Morgen daran hin<strong>der</strong>te, in sein Büro zu fahren. Sein<br />

Körper hatte ihm ein nicht zu übersehendes Warnzeichen gegeben.<br />

Er ließ das Päckchen von Elke auf dem Küchentisch liegen, ging in sein Arbeitszimmer<br />

und starrte auf die Papierberge, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. ‚Nein, du arbeitest<br />

nicht’, sagte er zu sich selbst. ‚Du schonst dich, bis Dr. An<strong>der</strong>s dich wie<strong>der</strong> arbeiten lässt.’<br />

„Ihr Papiere werdet wohl noch ein Weilchen hier warten müssen.“ Dr. Brenner sah wehmütig<br />

auf seinen Schreibtisch. Wie gerne hätte er sich jetzt hingesetzt und begonnen, seine<br />

Studie über die Entwicklung <strong>der</strong> Familie in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts weiter zu<br />

entwickeln, doch er folgte dem Rat von Dr. An<strong>der</strong>s und auch seiner inneren Stimme, ging ins<br />

Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Dann setzte er sich auf das Sofa und verfolgte<br />

das Geschehen auf <strong>der</strong> Mattscheibe, eine Wie<strong>der</strong>holung eines alten Krimis. Und so verging<br />

für Dr. Brenner <strong>der</strong> Abend. Es war trotz Fernseher ein einsamer, wie schon viele vorher.<br />

Heike Markert saß in ihrem Studentenappartement an ihrem Schreibtisch und betrachtete<br />

die Fotokopien <strong>der</strong> Briefe, die sie am Vortag von ihrer Mutter in Nürnberg erhalten hatte. <strong>Die</strong><br />

Originale wolle sie Dr. Brenner am Montag persönlich geben, damit dieser sie für seine Studie<br />

auswerten könne, hatte Elke ihrer Tochter gesagt. Heike hörte noch ihre Mutter, wie sie<br />

im Flur <strong>der</strong> Wohnung gesagt hatte: „Vielleicht ist es für Dich eine gute Übung zum Lesen <strong>der</strong><br />

Deutschen Schrift, wenn Du versuchst den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Brief abzuschreiben, in den<br />

Rechner meinte ich.“<br />

„Ich probiere es, Mutti.“ Heike lächelte ihre Mutter an<br />

„Na dann viel Spaß!“ Elke gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirne.<br />

„Tschüß Mutti!“<br />

„Tschüß Heike!“<br />

Und dann war sie wie<strong>der</strong> nach Erlangen zu ihrer Studentenbude gefahren, hatte sich eingeschlossen<br />

und versucht, die zierliche Schrift ihrer Großmutter zu entziffern.<br />

Heike blickte kurz aus dem Fenster. <strong>Die</strong> Sonne stand schon im Süden und wärmte das<br />

Land mit <strong>der</strong> Kraft, die jetzt im Spätsommer noch reichlich in ihr vorhanden war. ‚Wie schön<br />

32<br />

168


wäre es, jetzt einen kleinen Spaziergang mit Wolfgang zu machen’, dachte sie sehnsüchtig.<br />

Doch Wolfgang war für sie im Moment nicht greifbar. Er war zu einem Freund nach Hamburg<br />

gefahren. ‚Warum muss er ausgerechnet einen Freund im hohen Norden haben, mehr als<br />

600 Kilometer entfernt?’ Heikes Gedanken waren fast ständig bei ihrem Freund. Ihre Sehnsucht<br />

nach ihm ließ ihren Blick nicht vom Fenster weichen, obwohl sie sich doch fest vorgenommen<br />

hatte, heute die Briefe durchzusehen. Sie konnte sich nicht losreißen, den Himmel<br />

anzustarren, über den einige kleine, weiße Wolkchen langsam dahintrieben.<br />

Heike schaute fast eine Viertelstunde zum Fenster hinaus. Ihr kam die Zeit nur wie einige<br />

Sekunden vor. Für Verliebte scheint die Zeit manchmal fast still zu stehen. Doch dann kamen<br />

ihr wie<strong>der</strong> die Kopien in den Sinn. ‚Eigentlich wolltest du ja nicht zum Fenster hinaus glotzen’,<br />

dachte sie bei sich und wandte ihren Blick wie<strong>der</strong> dem Blatt zu, das zu oberst auf dem<br />

Stapel lag. Nur mühsam versuchte sie weiter, die Schrift ihrer Großmutter zu entziffern, was<br />

für Heike ein schwieriges Unterfangen war, denn sie hatte sich erst in den letzten beiden Wochen<br />

ganz langsam mit <strong>der</strong> Sütterlinschrift vertraut gemacht, hatte Schreiben und Lesen nach<br />

einem Buch geübt, welches sie sich nach Dr. Brenners Empfehlung besorgt hatte.<br />

Heike holte sich ihren alten Schulfüller und begann, einen Übungstext aus dem Buch<br />

über die alte deutsche Schrift abzuschreiben. Sie schrieb ganz langsam, versuchte die Buchstaben<br />

getreu <strong>der</strong> Vorlage möglichst genau abzuschreiben. Es war fast ein Abmalen, so langsam<br />

schrieb sie.<br />

Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Wort, das sie faszinierte:<br />

�����������<br />

Sie hatte das Wort schon in deutscher Schrift gelesen. Doch wo war das gewesen. Heike<br />

überlegte. Es konnte nur in einem <strong>der</strong> Briefe von Elfriede gewesen sein. Sie kramte in den<br />

Fotokopien. Wo hatte sie nur dieses Wort gelesen.<br />

‚Warum habe ich mir nicht gleich Notizen gemacht, als ich die Briefe zuerst durchsah.’<br />

Heike machte sich selbst Vorwürfe wegen dieses Versäumnisses. Sie betrachtete jedes <strong>der</strong><br />

vielen Blätter, aber sie fand das Wort in <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Wörter nicht mehr, die ihre Urgroßmutter<br />

vor über hun<strong>der</strong>t Jahren geschrieben hatte, zum großen Teil in <strong>der</strong> Kaiserzeit vor dem<br />

großen Krieg, <strong>der</strong> als erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte, aber auch danach, als<br />

dieser Krieg verloren war und das Land im Innern weiterkämpfte.<br />

Heike verzweifelte fast. Aber warum um alles in <strong>der</strong> Welt suchte sie nach dem Wort Einsamkeit?<br />

Sie hatte keine Erklärung dafür. ‚Manchmal hängt man an einem Wort’, dachte sie<br />

bei sich, ‚wo es doch so viele Worte gibt. Aber ich gebe nicht auf!’<br />

Sie blätterte weiter in den Kopien. Jede Seite überflog sie. <strong>Die</strong>jenigen, die sie schon<br />

durchgesehen hatte, legte sie auf einen Stapel halblinks vor ihr auf den Schreibtisch. <strong>Die</strong>ser<br />

Stapel wurde immer größer, <strong>der</strong>jenige mit den noch nicht durchgesehenen Kopien halbrechts<br />

vor ihr immer kleiner. Wo hatte sie dieses Wort nur gesehen.<br />

Heike seufzte tief, als sie das vorletzte Blatt in die Hand nahm. Wie<strong>der</strong> überflog sie die<br />

Zeilen und da, endlich tauchte das gesuchte Wort auf:<br />

Fürth, den 19. September 1920<br />

Liebe Mutter,<br />

seit ich von Dir weg bin, scheint meine Einsamkeit immer größer zu werden, obwohl wir<br />

ja zu zweit sind, das Kind in mir und ich. Aber ich vermisse Herrmann so. Heute am Sonntag<br />

ist es beson<strong>der</strong>s schlimm. Warum hat er mir das angetan. Zuerst schien er voll zu dem Kind<br />

zu stehen, doch dann hat er mich verlassen. Warum? Gewiss, die Zeiten sind schlecht. Aber er<br />

hat doch Arbeit und das Geld reicht auch für drei ...<br />

169


Heike stockte. Ihr schoss es heiß in den Kopf. „Was für Informationen!“, rief sie aus,<br />

doch es hörte sie keiner. Niemand konnte jetzt neugierig fragen, was sie denn Schreckliches<br />

gelesen hatte, denn keiner war im Raum, im Appartement. „Meine Großmutter hatte ein uneheliches<br />

Kind und wusste, wer <strong>der</strong> Vater war!“ Heike sprang von ihrem Stuhl hoch und warf<br />

dabei die Kopie auf ihren Schreibtisch. „Was für neue Erkenntnisse!“ Sie konnte sich nicht<br />

beruhigen und ging im Zimmer auf und ab. Tausend Gedanken fuhren ihr in den Kopf und<br />

waren im nächsten Moment wie<strong>der</strong> aus diesem verschwunden.<br />

„Was für neue Erkenntnisse!“, rief sie noch mal. „Das muss ich unbedingt Mutti mitteilen!“<br />

Schnell lief sie zum Telefon und tippte die Nummer, die sie in letzter Zeit wohl am häufigsten<br />

anrief.<br />

Das Telefon läutete in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le, aber es war niemand da, <strong>der</strong> es abnehmen konnte. Es<br />

läutete und läutete, zehnmal, elfmal, zwölfmal ...<br />

Heike warf den Hörer missmutig auf die Gabel. Sie konnte ihr Mitteilungsbedürfnis nicht<br />

befriedigen. ‚Wer könnte nur dieser Herrmann sein?’ <strong>Die</strong>se Frage spukte ihr ständig im Kopf<br />

herum. ‚Ist er wirklich <strong>der</strong> Vater des noch ungeborenen Kindes von Elfriede? O<strong>der</strong> ist er ihre<br />

wahre Liebe und es gibt noch einen an<strong>der</strong>en ...?’ Sie nahm wie<strong>der</strong> die Kopie des Briefes zur<br />

Hand und las weiter:<br />

Aber er hat doch Arbeit und das Geld reicht auch für drei. Hat er plötzlich Angst bekommen,<br />

sich zu früh zu binden? Da ist Wilhelm ganz an<strong>der</strong>s gewesen. Aber das ist ja schon<br />

so lange her. Ich weiß nicht was ich tun soll, ich muss doch wie<strong>der</strong> zu Dir kommen.<br />

Viele Grüße unter Thränen<br />

Deine Dich liebende<br />

Elfriede<br />

Heike ließ wie<strong>der</strong> das Blatt auf den Schreibtisch sinken und dachte nach, ...<br />

... aber sie kam zu keinem klaren Gedanken. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Sie konnte<br />

durch den Brief in eine längst vergangene Zeit zurück blicken, aber sie konnte keine Zusammenhänge<br />

erkennen. ‚Ich blicke einfach nicht durch’, dachte sie, legte schließlich die Fotokopie<br />

wie<strong>der</strong> auf den Schreibtisch zurück, stand kurzentschlossen auf und ging zum Fenster, das<br />

einen Spalt offen stand. Sie öffnete es vollständig. <strong>Die</strong> milde Luft den Spätsommertages<br />

machte sich langsam im Raum breit. Heike nahm sie kaum wahr; eine Weile stand sie gedankenversunken<br />

am Fenster und blickt geistesabwesend hinaus. Sie sah aus <strong>der</strong> Entfernung die<br />

Leute, die durch die Straßen gingen, sah die kleinen, weißen Wölkchen, die langsam am blauen<br />

Himmel dahin zogen, aber sie sah durch alles hindurch. Für Heike war im Moment die reale<br />

Welt so fern, wie <strong>der</strong> Horizont, den sie hinter den Häusern nur erahnen konnte.<br />

Plötzlich brach in Heike ein Gedanke durch: Wenn Elfriede ein uneheliches Kind hatte,<br />

dann sollte dies doch auch in ihren Tagebüchern auftauchen. Sie überlegte, bei wem sie in den<br />

Tagebüchern nachsehen sollte. Dr. Brenner hatte die Originale, ihr Vater die Fotokopien.<br />

Doch ihre Eltern schienen nicht zu Hause zu sein. Also ging sie kurzentschlossen zum Telefon<br />

und wählte Dr. Brenners Nummer im Institut für Neuere Geschichte.<br />

Wie<strong>der</strong> klingelte das Telefon. Sie hörte den Ton. Doch niemand hob ab. ‚Um diese Zeit<br />

müsste Wolfgangs Vater doch noch im Institut zu erreichen sein’, dachte sie bei sich und ließ<br />

es weiter klingeln, doch es meldete sich niemand.<br />

‚Komisch ist das schon, aber es gibt vielleicht eine einfache Erklärung: Dr. Brenner ist im<br />

Institut unterwegs.’ Heike legte den Hörer wie<strong>der</strong> auf die Gabel. ‚Dann versuche ich es eben<br />

in ein paar Minuten noch einmal.’<br />

Heike ging wie<strong>der</strong> an ihren Schreibtisch, ließ aber das Fenster offen. Sie wollte sich gerade<br />

wie<strong>der</strong> setzen, als die Türe zu ihrem Zimmer aufschnappte. Ein Windstoß fegte durch<br />

das Zimmer, verfing sich in den beiden Stapeln <strong>der</strong> Fotokopien und fegte sie vom Schreib-<br />

170


tisch. Heike erkannte blitzschnell die Situation, sprang geistesgegenwärtig zur Türe und konnte<br />

diese gerade noch schließen, bevor <strong>der</strong> Windstoß die Kopien in den kurzen Korridor wehen<br />

konnte.<br />

Heike atmete tief. ‚Das ist ja noch einmal gut gegangen’, dachte sie bei sich. ‚Aber jetzt<br />

kann ich die Papiere wie<strong>der</strong> sortieren. Aber muss ich sie überhaupt noch sortieren? Ich habe<br />

doch schon gefunden, was ich suchte.’<br />

Sie hob die Fotokopien, die <strong>der</strong> Wind auf den Boden verstreut hatte, auf und legte sie<br />

wie<strong>der</strong> sorgsam auf den Schreibtisch. Dabei überflog sie das oberste Blatt. Es enthielt jenen<br />

Brief, den sie gerade gelesen hatte. ‚Wenn das kein Zufall ist, dann ist es ein Wink des<br />

Schicksals. Du musst den Brief unbedingt noch einmal ganz genau lesen.’ Heike legte die<br />

Kopien bis auf das letzte Blatt sorgsam auf einen Stapel und beschwerte diesen mit einem<br />

alten Briefbeschwerer, <strong>der</strong> immer auf ihrem Schreibtisch lag. Dann setzte sie sich wie<strong>der</strong> und<br />

las den Brief, den Elfriede an ihre Mutter geschrieben hatte noch einmal sorgsam durch.<br />

Als sie ihn gelesen hatte, holte sie sich ein leeres Blatt Papier und begann, sich auf ihm<br />

Notizen zu machen. Dabei sprach sie leise vor sich hin.<br />

„Also im Frühjahr 1920 war Elfriede Seiffert dreiundzwanzig Jahre alt und von einem<br />

gewissen Herrmann schwanger, <strong>der</strong> aber nicht <strong>der</strong> erste Mann in ihrem Leben war. Vorher<br />

kannte sie einen gewissen Wilhelm. Da ich im Moment die Geburt ihre Kindes nicht weiß,<br />

vermute ich jetzt einmal, dass Elfriede 1919 Herrmann kennen gelernt hatte und im Winter<br />

1919/20 von ihm schwanger wurde. <strong>Die</strong>ser Wilhelm könnte ihr erster o<strong>der</strong> auch ein Jugendfreund<br />

gewesen sein, einer von <strong>der</strong> Sorte, mit dem sie sexuell noch nichts hatte ... Hm, es ist<br />

schwer. Mir fehlen einfach noch zu viele Puzzlesteine, um das Gesamtbild erkennen zu können.<br />

Ich muss systematisch vorgehen. Doch zuerst muss ich es noch Wolfgangs Vater mitteilen<br />

...“<br />

Heike ging wie<strong>der</strong> ans Telefon und wählte erneut die Nummer von Dr. Brenners Büro im<br />

Institut. Sie hörte es tuten. Einmal, zweimal, dreimal ...<br />

‚Geh’ doch endlich ran!’, dachte sie aufgeregt, als sich am an<strong>der</strong>en Ende eine ihr fremde<br />

Stimme meldete.<br />

„Ja!“<br />

„Wer spricht dort?“ Heike hörte sofort, dass jemand an<strong>der</strong>er als Dr. Brenner abgenommen<br />

hatte, dachte sich aber nichts Böses dabei.<br />

„Apparat Dr. Brenner, Grattler.“<br />

„Ist Dr. Brenner nicht da?“<br />

„Soweit ich weiß, hat er sich gestern krank gemeldet.“<br />

„Was hat er denn?“<br />

„Das weiß ich nicht.“<br />

„Na schön, dann rufe ich bei ihm zu Hause an. Vielen Dank! Tschüß!“<br />

„Tschüß!“ Noch bevor Heike den Hörer wie<strong>der</strong> auf die Gabel legte, knackte es in <strong>der</strong> Leitung.<br />

Harald Grattler hatte bereits aufgelegt.<br />

Was war denn das für ein komischer Vogel, fragte sich Heike, nachdem sie an ihren<br />

Schreibtisch zurückgekehrt war. ‚Und was macht er in Dr. Brenners Büro, wenn dieser sich<br />

...’ Heike unterbrach ihren Gedanken. Ihr schwirrten jetzt ganz an<strong>der</strong>e Probleme durch den<br />

Kopf als die Antwort auf völlig nebensächlichen Fragen. ‚Ich muss die Kopien <strong>der</strong> Briefe<br />

chronologisch ordnen und dann versuchen, sie <strong>der</strong> zeitlichen Reihenfolge nach zu lesen. Ich<br />

bin mir sicher, dann wird sich Einiges aufklären.’<br />

Heike nahm das Notizblatt wie<strong>der</strong> in die Hand und legte sich die Kopie des gelesenen<br />

Briefes halblinks vor sich auf den Schreibtisch. Von neuem begann sie ihn zu lesen, das dritte<br />

Mal an diesem Tag. Dabei vergas sie ganz, Dr. Brenner anzurufen, son<strong>der</strong>n vertiefte sich in<br />

die Schrift ihrer Großmutter.<br />

Der Vormittag verging, ohne dass sich bei Heike weitere, gewichtige Erkenntnisse eingefunden<br />

hätten. Sie sortierte die Kopien <strong>der</strong> Briefe chronologisch und begann sie <strong>der</strong> Reihe<br />

171


nach zu lesen, was für sie jedoch ein äußerst mühsames Unterfangen war. Heike hatte zu wenig<br />

Übung im Lesen <strong>der</strong> alten Schrift. Immer wie<strong>der</strong> musste sie einzelne Buchstaben in ihrem<br />

Anleitbuch nachsehen. Schließlich sah sie ein, dass ihr <strong>der</strong>zeitiges Studium für sie nichts<br />

brachte und mehr o<strong>der</strong> weniger vertane Zeit war. Etwas frustriert packte sie schließlich den<br />

Kopienstapel und legte ihn in eine Mappe, immer darauf bedacht, nichts chronologisch durcheinan<strong>der</strong><br />

zu bringen.<br />

Gegen halb ein Uhr machte sich in Heike ein nicht zu überhörendes Hungergefühl breit.<br />

‚O je’, dachte sich Heike, nachdem sie zweimal ein dumpfes Knurren vernommen hatte, ‚<strong>der</strong><br />

Hunger holt mich ein. Und ein leerer Bauch studiert nicht gerne. Aber ich habe jetzt keine<br />

Lust, mich in die Kochnische zu stellen und mir etwas zu Essen zu kochen. Da hole ich mir<br />

doch etwas. Doch wo?’<br />

Sie überlegte, was sie essen könne, und entschloss sich nach einer Weile, heute Fisch zu<br />

essen. Doch dazu musste sie in Richtung Innenstadt gehen, wo sich die Filiale einer bekannten<br />

Fischverkaufskette befand, in <strong>der</strong> man sich auch hinsetzen und sein Fastfoodfischfilet essen<br />

konnte. Doch dann kamen wie<strong>der</strong> Zweifel in ihr auf. ‚Soll ich wirklich erst eine Viertelstunde<br />

gehen, um etwas zu essen? Aber in dieser Gegend gibt es kein billiges Fischfilet. Und<br />

ins Restaurant zu gehen, habe ich alleine schon gar keine Lust.’ Doch <strong>der</strong> Hunger nach Fisch<br />

trieb sie hinaus und lenkte ihre Schritte in die Innenstadt. Dort setzte sie sich jedoch nicht in<br />

das Fischgeschäft mit angeschlossenen Schnellimbiss, son<strong>der</strong>n ging in das Café, in das sie mit<br />

Wolfgang bei jenem Gewitter geflüchtet war, welches die beiden Verliebten im Schlossgarten<br />

überrascht hatte.<br />

Heike bestellte sich einen Cappuccino und da ihr Hunger groß war eine Gulaschsuppe<br />

sowie ein Hawaiitoast. Es dauerte eine Weile, bis ihr Essen kam, das nicht gerade billig war,<br />

aber das sie sehr schmackhaft fand. Danach bestellte sie sich noch einen Cappuccino und sah<br />

auf ihre Armbanduhr.<br />

‚Was! Es ist ja schon nach ein Uhr mittags.’ In Heikes Kopf begann es zu brummen. Ihre<br />

Gedanken überschlugen sich. ‚Beinahe hätte ich ganz vergessen! Ich wollte doch noch Dr.<br />

Brenner zu Hause anrufen!’<br />

Sie winkte <strong>der</strong> kleinen, molligen Bedienung und zahlte, trank rasch ihren Cappuccino aus<br />

und eilte hinaus auf den Schlossplatz. Ihr Blick streifte um her. Sie suchte eines jener Telefonhäuschen,<br />

doch aus diesen früheren umschlossenen Zellen waren offene Telefonstände<br />

geworden mit gerade noch so viel Dach über den Kopf, das man bei einem leichten, senkrecht<br />

einfallenden Regen gerade noch nicht nass wurde.<br />

Heike ging auf die wenigen Marktbuden zu, die auf dem weitläufigen Platz standen, da<br />

entdeckte sie auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Straßenseite eine Möglichkeit, endlich Dr. Brenner<br />

zu sprechen. Eilig schritt sie in Richtung des Telefonstandes, doch plötzlich vernahm sie hinter<br />

sich eine bekannte Stimme.<br />

„Hallo Heike, wie geht’s Dir?“<br />

Heike blieb abrupt stehen und drehte sich um. Brigitte stand hinter ihr und lächelte sie an.<br />

Heike durchfuhr es zunächst ganz heiß, doch einen winzigen Augenblick später hatte sie das<br />

Gefühl, in eiskaltes Wasser gesprungen zu sein.<br />

„Danke, Brigitte! Gut!“ Heike erschrak über ihre wenigen Worte und sich selbst.<br />

„Bist Du in Eile?“ Brigittes Blick traf Heike und im gleichen Augenblick wurde es ihr<br />

wie<strong>der</strong> heiß.<br />

„Eigentlich nicht. Ich wollte nur jemanden anrufen, aber das kann warten.“<br />

„Das ist schön, dass Du Zeit hast.“ Brigitte ging einen Schritt auf Heike zu. Sie standen<br />

jetzt dicht beieinan<strong>der</strong>. Wäre es kälter gewesen, jede hätte den Atem <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en gespürt.<br />

Heike sah Brigitte in ihre dunkelbraunen Augen und diese erwi<strong>der</strong>te ihren durchdringenden<br />

Blick. Einen kurzen Moment lang war es noch still, dann fielen sie sich in die Arme und<br />

küssten sich.<br />

172


Brigittes Zunge suchte den Spalt zwischen Heikes Lippen, um zunächst zaghaft, dann aber<br />

immer for<strong>der</strong>n<strong>der</strong> in ihren Mund einzudringen. Heike konnte sich nicht wehren, zu sehr war<br />

sie überrascht von Brigittes Tun.<br />

Sie merkte plötzlich, wie sehr sie Brigitte vermisst hatte. Sie umarmte ihre Freundin,<br />

fühlte ihren schlanken, warmen Körper in ihren Händen. Ihr schien die Umarmung eine kleine<br />

Ewigkeit lang, bis sie sich beide wie<strong>der</strong> von einan<strong>der</strong> lösten.<br />

Brigitte blickte Heike in die Augen. „Hast Du etwas Beson<strong>der</strong>s vor?“<br />

„Nein, Brigitte. Aber ich wollte gerade Wolfgangs Vater anrufen.“ Heike merkte, wie<br />

sich Brigittes Blick ein wenig verfinsterte. Aber diese sagte nichts.<br />

„Aber sicher doch!“ Brigitte hatte sich im nächsten Moment wie<strong>der</strong> gefangen, wenn sie<br />

denn je etwas eifersüchtig geworden war. „Dich beschäftigen wohl immer noch die Tagebücher?“<br />

„Ich muss unbedingt Wolfgangs Vater anrufen, denn ich komme einfach nicht weiter.“<br />

„Dann tu das!“<br />

Heike und Brigitte strebten einem Telefonstand zu, <strong>der</strong> sich nur wenige Schritte von ihnen<br />

entfernt am Rande des Schlossplatze befand.<br />

Heike schob die Telefonkarte in den Schlitz und wählte Dr. Brenners Privatnummer. Brigitte<br />

stand etwas abseits, aber noch nahe genug, um hören zu können, was Heike sagen wollte.<br />

Dr. Brenner saß in <strong>der</strong> Küche. Er hatte sich eine Tasse Kaffee gebrüht und schaute gelangweilt<br />

zum Fenster hinaus. Er war es nicht gewohnt, nichts zu tun. Aber Dr. An<strong>der</strong>s hatte<br />

ihm auch heute, als er noch mal nach ihm geschaut hatte, strickt verboten, irgendeines seiner<br />

zahlreich herumliegenden Papiere anzufassen und an o<strong>der</strong> mit ihnen zu arbeiten.<br />

„Ich appelliere noch einmal an Sie, Dr. Brenner: Und wenn Sie die Arbeit noch so lieben,<br />

ich verbiete Ihnen bis auf Weiteres zu arbeiten. Sie brauchen Ruhe, Ruhe und nochmals<br />

Ruhe. Am besten wäre es, wenn Sie sich von <strong>der</strong> Arbeit ganz entfernten und fortfahren würden.“<br />

„Ich und fortfahren?“ Dr. Brenner tat überrascht.<br />

„Ganz genau!“ Dr. An<strong>der</strong>s blickte ihn streng an. „Sie sollten eine Erholungskur machen.<br />

Ich werde eine solche jedenfalls wärmstens befürworten.“<br />

„Erholungskur?! Und was wird mit meiner Arbeit?“ Dr. Brenner atmete tief durch hob<br />

fragend seine Augenbrauen.<br />

„<strong>Die</strong> Arbeit wird warten müssen!“<br />

Der Satz hallte in Wolfgangs Vater nach, als er seinen Blick auf die Uhr richtete, die über<br />

<strong>der</strong> Türe in <strong>der</strong> Küche hing. Ihre Zeiger bewegten sich heute beson<strong>der</strong>s langsam, wie Dr.<br />

Brenner seit dem Aufstehen immer wie<strong>der</strong> feststellen musste. Der durchdringliche Summer<br />

des Telefons ließ Dr. Brenner aus seinen Gedanken hochschrecken.<br />

„Brenner!?“<br />

„Ich bin’s, Heike.“<br />

„Grüß’ Dich, Heike.“<br />

„Wie geht’s Ihnen, Herr Dr. Brenner?“<br />

„Lei<strong>der</strong> nicht so gut, wie ich möchte.“<br />

„Wieso? Was haben Sie denn?“ Heikes Stimme nahm einen sorgenvollen Ton an.<br />

„Dr. Brenner beantwortete Heikes Frage nicht. „Mir hat <strong>der</strong> Arzt verboten zu arbeiten.“<br />

Heike dachte an einen Scherz und lachte. „Nein, ganz im Ernst! Ich darf nicht arbeiten.“<br />

Heike schwieg. Eine Zwangspause entstand. Sie überlegte, was sie sagen sollte.<br />

Dr. Brenner aber ahnte, was Heike fragen wollte.<br />

„Ja, lei<strong>der</strong>“, fuhr Dr. Brenner fort. „Ich kann im Moment nicht weiter an <strong>der</strong> Transkription<br />

<strong>der</strong> Tagebücher arbeiten. Und an den Briefen, die mir Deine Mutter im Original geschickt<br />

173


hat, natürlich auch nicht. Mein Arzt meint, ich bräuchte Ruhe und nichts als Ruhe. Er will<br />

mich sogar auf eine Kur schicken.“<br />

„Dann geht es Ihnen wirklich nicht so gut.“ Heike sprach dies mit <strong>der</strong> tiefen Überzeugung,<br />

dass ein Arzt seinen Patienten nicht leichtfertig einfach so auf eine Kur schicken würde.<br />

„Und was haben Sie, wenn ich fragen darf? Ist es etwas Ernsthaftes, Herr Dr. Brenner?“<br />

„Na ja, akut lebensbedrohend wird es nicht sein, mein Burnout-Syndrom, aber schonen<br />

muss ich mich unbedingt, meint zumindest mein Arzt, denn sonst würde er mich ja nicht auf<br />

eine Erholungskur schicken wollen.“<br />

„Da haben Sie nur allzu recht.“<br />

„Ja, so ist es, Heike. Ich kann Dir lei<strong>der</strong> nichts Positiveres sagen.“<br />

„Das macht doch nichts, Herr Dr. Brenner. Das Wichtigste ist jetzt auf jeden Fall, dass<br />

sie wie<strong>der</strong> gesund werden.“<br />

Es entstand eine kleine Pause in dem Gespräch. Je<strong>der</strong> dachte einen kurzen Moment nach.<br />

Heike war die Erste, die den Gesprächsfaden wie<strong>der</strong> aufgriff.<br />

„Eine ganz kleine Bitte hätte ich dennoch an Sie.“<br />

„Und die wäre?“<br />

„Könnten Sie Wolfgang verständigen, wenn er von seinem Freund zurückkommt, damit<br />

er mir die letzten transkribierten Texte zusendet?“<br />

„So viel traue ich mir noch zu, Heike.“ Dr. Brenners Stimme klang plötzlich sehr bestimmt.<br />

„Ich habe alle Texte bei mir hier zu Hause gesichert. Und ich fühle mich jetzt nicht<br />

mehr zu schwach, um kurz an den Rechner zu gehen.“<br />

„Das wäre aber sehr lieb von Ihnen, Herr Dr. Brenner.“ Heikes Gesicht hellte sich auf.<br />

Sie wandte sich Brigitte zu und lächelte sie an. „Ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten und<br />

danke Ihnen im voraus.“<br />

„Das tue ich doch gerne für Dich, Heike:“ Auch Dr. Brenner lächelte, doch dies konnte<br />

Heike lei<strong>der</strong> nicht sehen. Stattdessen blickte sie Brigitte an, die sie seltsam fixierte. Heike<br />

verabschiedete sich am Telefon von Dr. Brenner und hängte ein.<br />

„Geht’s Ihm nicht gut?“ Brigittes Frage klang ein wenig hart in Heikes Ohren.<br />

„Der Arzt hat Dr. Brenner das Arbeiten verboten“, erklärte Heike. „Das ist schlimm für<br />

so ein Arbeitstier, wie er eines ist.“<br />

Brigitte schwieg. Sie sah zu Boden und schien zu überlegen.<br />

„Wohin gehen wir jetzt, Brigitte?“<br />

Heikes Frage riss Brigitte aus ihren Gedanken, die sich im Moment nur um Heike drehten.<br />

„Ich weiß nicht.“<br />

„Also ich möchte gerne wie<strong>der</strong> zu mir heimgehen“, kündigte Heike ihren Wunsch an.<br />

„Ich habe so das Gefühl ...“<br />

„Welches Gefühl hast Du, Heike?“ In Brigitte flammte wie<strong>der</strong> die Erinnerung an ihren<br />

gemeinsamen Abend auf.<br />

„Ich habe so das Gefühl, dass ich heute noch auf neue Erkenntnisse in den Briefen stoße.“<br />

„Meinst Du?“ Brigitte versuchte ihre kleine Enttäuschung zu überspielen, die nach Heikes<br />

Antwort in ihr jetzt hochkam.<br />

„Ich meine ja, Brigitte.“ Auch in Heike entbrannte jetzt wie<strong>der</strong> eine Leidenschaft, wenn<br />

auch eine ganz an<strong>der</strong>e als in Brigitte. „Ich spüre es instinktiv.“<br />

„Dein Forschergeist ist wie<strong>der</strong> voll entfacht.“ Brigitte konnte Heike verstehen. Sie waren<br />

nicht umsonst Freundinnen. „Und ich möchte mir diese ominösen Briefe auch einmal ansehen,<br />

wenn Du nichts dagegen hast, Heike.“<br />

„Wenn Du willst, ja.“ Heike war überrascht über die Aussage ihrer Freundin.<br />

„Also gut, dann gehen wir!“ Unternehmungslustig hakte sich Brigitte bei Heike unter und<br />

beide schwenkten in die Richtung, in <strong>der</strong> das Studentenappartement lag.<br />

174


Eine gute Viertelstunde gingen die beiden Freundinnen schweigend neben einan<strong>der</strong> her,<br />

dann bogen sie in die Straße ein, in <strong>der</strong> Heikes Studentenrefugium lag.<br />

„Sag’ mal“, fragte Brigitte plötzlich, „wie bist Du eigentlich an dieses Appartement gekommen?“<br />

„Ganz einfach: übers Studentenwerk!“<br />

„So einfach geht das?“<br />

„Ja, so einfach geht das, Brigitte“<br />

„Hm!“ Brigitte zuckte mit ihren Achseln. Ein gewisser Neid schwang in ihrer Stimme<br />

mit.<br />

<strong>Die</strong> beiden gingen zielstrebig in Heikes Appartement.<br />

„So, da liegen die ominösen Briefe, Brigitte:“ Heike zeigte auf ihren Schreibtisch und<br />

warf ihre Schlüssel gekonnt auf das kleine Schränkchen, auf das sie auch ihre Tasche stellte.<br />

„Ich habe versucht, sie chronologisch zu ordnen, Brigitte.“<br />

<strong>Die</strong> Angeredete ging zum Schreibtisch, nahm die Kopien und setzte sich auf Heikes<br />

Schreibtischstuhl. Konzentriert blätterte sie in den Kopien. Heike beobachtete sie gespannt<br />

und erwartungsvoll. Plötzlich begann Brigitte zu lesen:<br />

Liebe Elfriede,<br />

vielen Dank für Deinen Brief vom 22. dieses Monats. Lei<strong>der</strong> muss ich Dir mitteilen, dass<br />

ich Dein gut gemeintes Angebot ...<br />

„Moment mal!“ Heike unterbrach ihre Freundin mit einem Ausdruck äußersten Erstaunens<br />

im Gesicht. „Du kannst die alte deutsche Schrift lesen?“<br />

„Ja, warum?“<br />

„Du hast doch das nicht in <strong>der</strong> Schule gelernt?“<br />

„In <strong>der</strong> Schule nicht. Aber meine Mutter kann sie lesen und hat mir das beigebracht. Das<br />

ist schon ein paar Jahre her. Nur schreiben kann ich sie schlecht. Das Lesen geht aber noch<br />

immer ganz gut, vorausgesetzt, die Schrift ist einigermaßen leserlich. Und die hier ist sehr gut<br />

zu lesen.“<br />

„Jetzt bin ich platt!“ Heike ließ sich auf das Sofa fallen, das gerade noch an die Wand ihres<br />

Arbeitszimmers passte. „Da mache ich alle möglichen Klimmzüge, setze Tod und Teufel<br />

in Bewegung und meine alte Freundin kann ...“<br />

„Du hast mich ja nicht danach gefragt“, unterbrach sie Brigitte und legte die Kopien wie<strong>der</strong><br />

auf den Schreibtisch.<br />

„Ich halte es nicht aus!“ Heike schüttelte den Kopf und stand wie<strong>der</strong> auf. „Meine alte<br />

Freundin Brigitte ...“<br />

„.. kann die alte Schrift ein wenig lesen“, unterbrach Brigitte.<br />

„Ein wenig, sagt sie bescheiden. Du kannst sie sehr gut lesen.“ Heike ging zum Schreibtisch<br />

und umarmte Brigitte. <strong>Die</strong>se war völlig überrascht davon. Jetzt konnte sie sich nicht<br />

wehren. „Wir könnten doch gemeinsam die Briefe selbst transkribieren und Dr. Brenner kann<br />

ruhig zur Kur fahren.“<br />

„Natürlich können wir das. Zeit haben wir schließlich genug in den Semesterferien. O<strong>der</strong><br />

etwa nicht, Heike?“ Brigitte lachte. Heike war ihr immer noch ganz nah. Sie sagte es ihr leise<br />

fast ins Ohr. „Und am Abend gönnen wir uns ein gutes Essen und ...“<br />

„... und vielleicht noch etwas sehr Schönes?“ Jetzt mussten beide lachen.<br />

„Doch zunächst mache ich mir eine chronologische Übersicht über alle Briefe. Ich muss<br />

jetzt systematisch vorgehen. Meinst Du nicht auch, Brigitte?“ Heike sah ihre Freundin fragend<br />

an.<br />

„Genau!“ Auch in Brigitte war jetzt <strong>der</strong> Forschergeist erwacht. „Man muss sich zunächst<br />

erst einmal einen Überblick verschaffen. Vielleicht lässt sich aus diesem schon irgend etwas<br />

erkennen.“<br />

175


„Also an die Arbeit!“ Heike tat so als ob sie die Ärmel hochkrempeln wollte.<br />

„An die Arbeit, Heike!“ Gib’ mir mal den Stoß mit den Briefkopien her.“ Brigittes<br />

Wunsch wurde prompt erfüllt. Sie sah die Briefe konzentriert durch und diktierte Heike etwas<br />

später Schreiber, Adressat und die Tage, an denen die Briefe geschrieben worden waren. Heike<br />

hatte unterdessen ihren Rechner eingeschaltet und ihr Datenbankprogramm geladen, mit<br />

dem sie sich gut auskannte.<br />

<strong>Die</strong> meisten waren Briefe, die Elfriede von jenem Herrmann erhalten hatte, von dem in<br />

dem bereits gelesenen Brief an ihre Mutter die Rede war, aber es waren auch einige von ihr<br />

selbst an ihre Mutter darunter, die Elfriede wohl von ihr zurück bekommen hatte.<br />

„Nicht so schnell. Brigitte. Ich komme mit dem Schreiben nicht mehr mit.“ Heike tippte<br />

so schnell sie konnte, doch sie hatte nie gelernt, mit zehn Fingern blind zu schreiben, son<strong>der</strong>n<br />

benutzte ihr Dreieinhalbfingersystem, das sie sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit selbst angeeignet hatte,<br />

und mit dem sie nicht gerade langsam schrieb.<br />

„Ist ja gut, Heike!“ Brigitte unterbrach ihren Diktierfluss. „30. September 1920 – Brief<br />

von Herrmann Schmidt an Elfriede Wagner. Hast Du das?“<br />

„Gleich“, gab Heike gepresst zurück und tippte die Daten in ihre kleine, vierfeldrige Datenbank.<br />

„3. Oktober 1920 – Brief an ihre Mutter ...“<br />

„Warte einen Moment!“ Heike unterbrach ihre Freundin. „Was hast Du vorher gesagt?“<br />

„30. September 1920 – Brief von Herrmann Schmidt an Elfriede Wagner“, wie<strong>der</strong>holte<br />

Brigitte.<br />

„Also Herrmann Schmidt hieß <strong>der</strong> Typ, <strong>der</strong> meiner Großmutter das Kind gemacht und sie<br />

dann sitzen gelassen hat. Das ist ja eine ganz neue Erkenntnis. Wo steht <strong>der</strong> Name?“<br />

„Sieh her! Dort oben auf dem Briefkopf!“ Brigitte brauchte ihre Freundin kein zweites<br />

Mal auffor<strong>der</strong>n, schon sprang Heike von ihrem Platz vorm Computer auf, eilte zu ihrer<br />

Freundin und beugte sich über das Blatt, das Brigitte gerade in <strong>der</strong> rechten Hand hielt.<br />

„Das muss ich völlig übersehen haben, als ich die Kopien das erste Mal durchgesehen<br />

habe“, sprach Heike bedächtig und redete dabei immer langsamer. Links oben war in Frakturschrift<br />

<strong>der</strong> Briefkopf aufgedruckt. „<strong>Die</strong>ser Herrmann hatte also Briefpapier mit gedrucktem<br />

Briefkopf ...“<br />

„Was willst Du damit sagen, Heike?“ Brigitte war neugierig geworden<br />

„Na, überleg’ doch mal, Brigitte!“ Heike sah ihre Freundin mit einem fast triumphalen<br />

Lächeln an. „Wer konnte sich 1920, zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und mitten in einer<br />

daraus entstandenen Wirtschaftskrise, Briefpapier mit gedrucktem Briefkopf leisten?“<br />

„Nur jemand, <strong>der</strong> Geld hatte.“<br />

„Genau! <strong>Die</strong>ser Herrmann Schmidt war ein Gutbetuchter, vielleicht sogar schon mehrfacher<br />

Familienvater, <strong>der</strong> mit dem jungen, unerfahrenen Ding eine flüchtige Affäre hatte. Jetzt<br />

erklärt sich auch, warum dieser Herrmann nichts mehr mit Elfriede zu tun haben wollte und<br />

sie eiskalt sitzen ließ.“ Heike zwinkerte mit ihren Augen Brigitte zu.<br />

„Jetzt kapier ich!“ Bei Brigitte war jetzt auch jener berühmte Groschen gefallen, den es<br />

allerdings schon einige Zeit nicht mehr als solchen gab. „Aber woher weißt Du, dass dieser<br />

Herrmann Schmidt die Elfriede sitzen gelassen hat?“<br />

„Das ist im Moment noch reine Vermutung, Brigitte. Aber ich habe so das Gefühl ...“<br />

Heike unterbrach sich selbst und setzte sich wie<strong>der</strong> vor ihren Rechner. “Machen wir weiter!<br />

Wo waren wir stehen geblieben?“<br />

„3. Oktober 1920 – Brief an ihre Mutter“, wie<strong>der</strong> holte Brigitte und Heike tippte.<br />

<strong>Die</strong> beiden Freundinnen arbeiteten fast zwei Stunden sehr konzentriert weiter, danach<br />

hatten sie alle Briefe, ihre Absen<strong>der</strong> und Empfänger erfasst.<br />

„Na, das ist ja eine ganz beachtliche Liste geworden“, sagte Heike, als sie zwei engbedruckte<br />

Blätter aus dem Auswurfschacht ihres Drucker genommen hatte. „Schauen wir sie<br />

doch noch einmal in aller Ruhe genau an ...“<br />

176


Sie stand auf und ging langsam zu Brigitte hinüber, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht<br />

hatte.<br />

Harald Grattler wurde es in seinem Büro fast zu warm. Das auf <strong>der</strong> Ostseite des Institutsgebäudes<br />

gelegene kleine Zimmer wurde um diese Jahrezeit schon sehr früh am Morgen dauerhaft<br />

bis zum Mittag von <strong>der</strong> schnell wan<strong>der</strong>nden Sonne beschienen. Er musste das Fenster<br />

öffnen, um die Raumtemperatur zumindest durch ein wenig kühlere Luft von außen auf ein<br />

erträglicheres Niveau fallen zu lassen. Doch mit dem offenen Fenster drang auch <strong>der</strong> Straßenlärm<br />

nach innen, welcher sich eher störend als gedankenanregend ausnahm. Harald Grattler<br />

störte dies heute nicht. Er war heute mit seinen Gedanken überhaupt nicht anwesend, die sich<br />

ständig nur um die Frage drehten: Wie komme ich an die Tagebücher, die in Dr. Brenners<br />

Büro liegen mussten. Doch wie kam er in den Raum, <strong>der</strong> nur wenige Schritte über den Gang<br />

von seinem Büro entfernt lag.<br />

Plötzlich pfiff Harald Grattler durch seine Zähne. „Ich hab’s!“ Er musste sich in seiner<br />

Lautstärke zurückhalten, damit sein Kollege nichts merkte, <strong>der</strong> ihm gegenüber an jenem<br />

Schreibtisch saß, <strong>der</strong> nach seiner Meinung <strong>der</strong>jenige war, <strong>der</strong> zu viel im Zimmer stand.<br />

„Was ist Harald?“ Günther Heinkel blickte von einem Stapel bedruckter Blätter auf, die<br />

er sich in den letzten Minuten durchgelesen hatte.<br />

„Nichts, Günther! Ich habe nur laut gedacht“, erwi<strong>der</strong>te Harald Grattler schlagfertig.<br />

„So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Hast Du immer solche Anwandlungen,<br />

Harald?“<br />

„Ach nichts! Lass’ Dich durch mich nicht stören. Ich muss mal kurz ins Sekretariat und<br />

mir den Hauptschlüssel holen.“<br />

„Für was brauchst Du den Hauptschlüssel. Der sperrt beim Chef sowieso nicht.“<br />

„Quatsch keine Opern! Ich will nur Dr. Brenners Pflanzen gießen.“<br />

„Ach so!“ Günther Heinkel schien fast ein wenig enttäuscht und wandte sich wie<strong>der</strong> seiner<br />

Arbeit zu.<br />

Harald Grattler stand entschlossen auf und enteilte dem Zimmer in Richtung Treppenhaus,<br />

über das er ein Stockwerk höher zu Frau Ludwig gehen wollte, die rechte und manchmal<br />

auch die linke Hand von Prof. Pre<strong>der</strong>sen, dem Institutsvorstand.<br />

Fünf Minuten später Stand Harald Grattler mit zitternden Händen vor Dr. Brenners Büro,<br />

welches zu dieser Tagezeit noch auf <strong>der</strong> sonnenabgewandten Seite des Gebäudes lag, sperrte<br />

die Türe auf, ging schnell hinein und schloss lautlos die Türe wie<strong>der</strong> hinter sich. <strong>Die</strong> abgestandene,<br />

dumpfe Luft spürte er kaum. Er hatte nur eines im Sinn und strebte dem Schreibtisch<br />

zu, <strong>der</strong> zu seinem großen Erstaunen völlig aufgeräumt aussah.<br />

‚Das sieht ihm wie<strong>der</strong> ähnlich’, dachte Harald Grattler. ‚Sonst sieh es immer wild aus<br />

hier und jetzt ist alles aufgeräumt. Das macht die Sache nicht gerade leichter.’ Er suchte mit<br />

den Augen nur nach etwas Schwarzglänzendem, welches er auf dem Schreibtisch vermutete.<br />

Doch dort lagen nur einige wenige Fotokopien von irgendwelchen Artikel.<br />

‚Wo könnte er ... Ach ja, sehr wahrscheinlich im Schrank. Aber dieser wird sicherlich abgeschlossen<br />

sein. Doch wer nicht probiert, <strong>der</strong> ...’ Harald Grattler konnte diesen Gedanken<br />

nicht einmal mehr zu Ende denken, schon war er an den Stahlschrank gegangen, hatte den<br />

Griff gedreht und – O, was für ein Wun<strong>der</strong>! – <strong>der</strong> Schrank öffnete sich. Aber so sehr er auch<br />

in ihm suchte, er fand keine Spur von den schwarz glänzenden <strong>Wachstuchhefte</strong>n, die er so<br />

sehr begehrte.<br />

‚Verdammt! Der Kerl hat die Dinger mit nach Hause genommen!’ Harald Grattler ballte<br />

seine linke Faust, denn die rechte Hand suchte noch im Schrank. Ihm kam nicht <strong>der</strong> Gedanke,<br />

33<br />

177


in den beiden Rollcontainern nachzusehen, die unter Dr. Brenners Schreibtisch standen. Doch<br />

diese waren verschlossen.<br />

Harald Grattler ging langsam rückwärts zur Türe, immer noch den Stahlschrank in den<br />

Augen, <strong>der</strong> ihn magisch anzog. Sein Blick konnte sich von ihm nur schwer losreißen und<br />

schweifte nach links zum Schreibtisch. Er schüttelte wie<strong>der</strong> seinen Kopf. ‚Ich hätte schwören<br />

können, dass er die <strong>Wachstuchhefte</strong> in den Stahlschrank gelegt hat.’ Seine Gedanken rasten<br />

durch seinen Kopf. Instinktiv wischte er sich mit <strong>der</strong> rechten Hand über die Stirne und merkte<br />

dabei, dass sie feucht war. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. ‚Nein, es hat keinen Sinn, hier<br />

jetzt weiter zu suchen. <strong>Die</strong> Tagebücher sind bei ihm zu Hause. Ich muss Jimmy anrufen und<br />

ihn fragen, was man da machen kann!’<br />

Ruckartig wandte er sich um und verließ hastig das Zimmer. Unbeobachtet trat er in den<br />

Gang und eilte zurück in sein Büro.<br />

Bohrend lange quälte er sich durch den Rest des Tages. <strong>Die</strong> Stunden wollten und wollten<br />

nicht vergehen. Er hing mehr in seinem Büro herum als er arbeitete, denn seine Gedanken<br />

kreisten immer nur um ein Thema.<br />

Endlich rückten die Zeiger seiner Uhr auf vier Uhr nachmittags vor. Harald Grattler<br />

schaltete seinen Rechner ab und machte sich zum Gehen fertig. Da klingelte das Telefon.<br />

„Grattler!“ Ungeduldig meldete er sich.<br />

„Gut, dass ich sie noch erwische, Herr Grattler.“ Prof. Pre<strong>der</strong>sens Stimme klang fest, fast<br />

ein wenig energisch. „Ich habe da noch einen kleinen Auftrag, den sie aber auch noch morgen<br />

erledigen können.“<br />

Harald Grattler atmete erleichtert auf und lauschte den Instruktionen seines Chefs. Fünf<br />

Minuten später konnte er endlich gehen.<br />

Es war schon dunkel, als es bei Dr. Brenner an <strong>der</strong> Haustüre klingelte. Etwas mühsam erhob<br />

er sich und ging zur Türe. Langsam öffnete er sie.<br />

„Guten Abend, Herr Dr. Brenner!“ Harald Grattler lächelte.<br />

„Guten Abend, Herr Grattler! Ich bin überrascht über Ihren Besuch. Was wünschen sie?“<br />

„Können wir das innen besprechen?“ Harald Grattlers Lächeln hatte sich in ein leichtes<br />

Grinsen verwandelt.<br />

„Gut, wenn Sie wollen. Kommen Sie rein.“ Dr. Brenner machte eine einladende Geste<br />

und drehte sich um. Plötzlich merkte er, wie er von hinten angefallen wurde. Gewaltsam<br />

drückte man ihm ein Tuch auf Nase und Mund. Er verspürte noch ganz kurz, wie ein süßlicher<br />

Duft ihn umnebelte, dann aber wurde es tiefe, finstere Nacht um ihn. Das Chloroform<br />

hatte seine Wirkung nicht verfehlt.<br />

„Hast Du das gesehen, Louisa?“ Christina Brenner stupste ihre Freundin und blieb plötzlich<br />

stehen.<br />

„Was denn, Christina?! Louisa sah fragend zu ihrer Freundin hinüber.<br />

„Na dort drüben bei <strong>der</strong> Villa!“ Christina fasste nach dem Arm von Louisa Seiffert, die<br />

weiter gehen wollte. „<strong>Die</strong> beiden jungen Männer sind aber schnell in dem Haus verschwunden.<br />

Der kleinere von ihnen ist ja wie ein Tiger regelrecht ins Haus gesprungen.“<br />

„Tut mir leid, Christina, aber ich habe nicht dort hinüber gesehen.“ Louisa sah ihre<br />

Freundin verständnislos an. „Was interessiert Dich denn das Haus dort drüben?“<br />

„Ach ja, das kannst Du ja nicht wissen. Dort drüben wohnt mein Onkel Herbert.“ Christina<br />

sah zu Louisa zurück, die einen Schritt zurückgetreten war.<br />

„Dein Onkel?“<br />

„Ja, es ist <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong> meines Vaters.“<br />

„Aha!“ Louisa Seiffert hatte verstanden, aber ihr schien die Beobachtung ihrer Freundin<br />

völlig belanglos. „Und was ist jetzt?“<br />

„Also mir gefällt das irgendwie nicht. Ich habe da so ein komisches Gefühl.“<br />

178


„Was soll denn nicht in Ordnung sein mit den beiden Männern, die schnell in das Haus<br />

Deines Onkels gegangen sind?“<br />

„Ich kann es Dir nicht sagen, aber mir gefällt das nicht, was da gerade dort drüben geschehen<br />

ist.“ Christina Brenner runzelte die Stirn. „Vielleicht sollten wir mal bei meinem Onkel<br />

läuten und ...“<br />

„... und Deinen Onkel durch unseren Besuch stören“, unterbrach Louisa ihre Freundin.<br />

„Das ist mir egal. Ich gehe jetzt hinüber zu meinem Onkel.“ Entschlossen blickte Christina<br />

erst links, dann rechts die Straße hinunter, sah, dass sie die Straße gefahrlos überqueren<br />

konnte, und marschierte los. Louisa konnte nicht an<strong>der</strong>s und folgte eilig ihrer Freundin, nicht,<br />

ohne auch auf ein mögliches Verkehrsgefährt zu achten, doch die Straße lag still da.<br />

Zwei Minuten später standen die beiden Mädchen vor <strong>der</strong> Haustüre von Dr. Brenners Villa.<br />

Von innen drang kein Laut nach außen. Matt schimmerte das Licht in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le durch das<br />

schmale gelbe Glas <strong>der</strong> Haustüre.<br />

„Sollen wir wirklich bei Deinem Onkel läuten?“ Louisa stand einen Schritt hinter Christina<br />

und sah sie ängstlich an.<br />

„Sei kein Frosch, Louisa! Mehr als böse kann uns mein Onkel nicht sein.“ Entschlossen<br />

drückte Christina den Klingelknopf rechts neben <strong>der</strong> Türe. Der schrille Ton <strong>der</strong> Klingel drang<br />

nach außen, doch drinnen rührte sich nichts. Christina drückte noch einmal auf den Knopf und<br />

zuckte wie<strong>der</strong> zusammen, als sie die Klingel hörte.<br />

Einen Moment lang war es still, doch plötzlich hörten die beiden Mädchen innen Stimmen,<br />

die dumpf in ihren Ohren Eingang fanden ...<br />

„Verflucht noch mal, Harry! Da steht irgend jemand draußen! Mir wird es jetzt zu heiß.<br />

Hauen wir ab! Hast Du alles?“<br />

„Ja, Jimmy. Aber wir müssen durch die Hintertür.“<br />

„Blitzmerker!“<br />

Kurz darauf schlug eine Tür zu.<br />

<strong>Die</strong> beiden Mädchen sahen sich erschrocken an.<br />

„Da stimmt wirklich etwas nicht, Christina“ Louisa war die Erste, die ihre Sprache wie<strong>der</strong><br />

fand, trat zwei Schritte vor und fasste an den Türgriff. Sie drückte kräftig dagegen. Für sie<br />

völlig unerwartet gab die Türe nach und öffnete sich.<br />

„<strong>Die</strong> haben in <strong>der</strong> Eile ganz vergessen, die Türe zu schließen.“ Christina sah ihre Freundin<br />

erstaunt an. „Gehen wir rein und sehen nach!“<br />

„Gehen wir rein!“ Louisa trat einen Schritt zurück und überließ es Christina, als Erste in<br />

die Villa ihres Onkel zu gehen.<br />

Christina stürmte nach innen, blieb etwa in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> langen <strong>Die</strong>le stehen und sah sich<br />

um. Das Licht brannte noch, aber kein Laut war zu hören. „Onkel Herbert?! Hier ist Christina.<br />

Bist Du da?“<br />

<strong>Die</strong> Frage verhallte ungehört in <strong>der</strong> langen <strong>Die</strong>le.<br />

„Was machen wir jetzt?“<br />

„Nachsehen, wo mein Onkel ist.“<br />

„Wo könnte Dein Onkel sein?“<br />

„Hier in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le ist er jedenfalls nicht. Sehen wir in den Zimmern nach!“ Entschlossen<br />

ging Christina auf die Türe zu, die ihr am nächsten lag, drückte den Türgriff und öffnete die<br />

Türe. Es war das Arbeitszimmer, das aber im Dunkeln lag. Schnell ging sie zurück in die <strong>Die</strong>le.<br />

„Also im Arbeitszimmer brennt kein Licht.“ Christina hob ihre Augenbrauen.<br />

„Dort vorne brennt Licht, Christina.“<br />

„Ich glaube, das ist die Küche, Louisa. Sehen wir dort nach.“<br />

<strong>Die</strong> beiden Mädchen eilten an das Ende <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le zu <strong>der</strong> Türe, die einen Spalt offen war.<br />

Durch diesen drang ein schmaler, aber heller Streifen Licht.<br />

179


„Das ist aber komisch“, sagte Christina enttäuscht, als sich die beiden in <strong>der</strong> leeren Küche<br />

umgesehen hatten.<br />

„Wo könnte er sonst noch sein?“ Louisa Seiffert überlegte.<br />

„Gehen wir ganz systematisch vor!“<br />

Der Vorschlag von Dr. Brenners Nichte wurde sofort in die Tat umgesetzt, doch jedes<br />

Zimmer, in das die beiden Mädchen gingen, war leer. Keine Spur von Dr. Herbert Brenner.<br />

„Das kann nicht sein. Irgendwo muss mein Onkel sein. Ich kann mir nicht vorstellen,<br />

dass er außer Haus geht und in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le und <strong>der</strong> Küche das Licht brennen lässt.“ In Christina<br />

machte sich langsam Ratlosigkeit breit. Louisa ging es nicht an<strong>der</strong>s.<br />

Als sie wie<strong>der</strong> zurück zur <strong>Die</strong>le gingen, sagte plötzlich Louisa: „Irgend woher kommt ein<br />

leichter Luftzug, Christina. Hast Du ihn nicht bemerkt?“<br />

„Du hast recht, Louisa. Irgend woher zieht es hier leicht in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>le. Hast Du die Haustüre<br />

zugemacht, Louisa?“<br />

<strong>Die</strong> Angeredete eilte zur Haustüre, doch diese war zu. „Es kommt irgendwo von dort hinten<br />

her“, sagte sie und deutete auf den Durchgang neben <strong>der</strong> Küche, <strong>der</strong> die Treppe zum Keller<br />

freigab. <strong>Die</strong> beiden eilten wie<strong>der</strong> zurück in Richtung <strong>der</strong> Kellertreppe.<br />

„Richtig. Von dort unten kommt kühle Luft. <strong>Die</strong> Kellertüre scheint offen. Sehen wir<br />

nach!“<br />

Vorsichtig stiegen die beiden Mädchen die Kellertreppe hinab, nachdem Christina neben<br />

<strong>der</strong> Kellertüre einen Lichtschalter gefunden und Licht eingeschaltet hatte. Je tiefer sie die Stufen<br />

hinunter stiegen, desto feuchter und modriger roch es.<br />

„Also, wenn mein Onkel hier unten ist“, begann Dr. Brenners Nichte, „dann ist er nicht<br />

freiwillig hier, sonst hätte er doch das Licht brennen lassen.“<br />

„Mir kommt ein furchtbarer Verdacht.“ Louisa sah ihre Freundin mit weit aufgerissenen<br />

Augen an. „<strong>Die</strong> beiden Typen, die anscheinend durch einen zweiten Ausgang geflüchtet sind,<br />

haben mit Deinem Onkel irgend etwas Fürchterliches angestellt.“<br />

„Jetzt mal’ doch nicht gleich den Teufel an die Wand, Louisa!“ Christina war an <strong>der</strong> letzten<br />

Treppenstufe angelangt. Vor ihr lag ein kurzer, schmaler Gang, <strong>der</strong> in einen geräumigen<br />

Keller mündete. Eine trüb brennende Lampe etwa in <strong>der</strong> Mitte des Ganges spendete nur wenig<br />

Licht.<br />

Louisa folgte ihrer Freundin dicht auf. „Siehst Du etwas, Christina?“<br />

„Ich versuch’ es, Louisa. Dort irgendwo muss doch ein Lichtschalter sein.“ Dr. Brenners<br />

Nichte suchte nach einem Schalter, als sie unvermittelt einen dumpfen Laut vernahm.<br />

„Hmm!“<br />

„Hast Du das gehört, Louisa?“<br />

„Ja, wo kam das her?“<br />

<strong>Die</strong> beiden Mädchen lauschten gespannt in das Halbdunkel des vor ihnen liegenden Kellers.<br />

„Hmm!“<br />

„Da, schon wie<strong>der</strong>, Christina!“ Louisas Herz klopfte ihr bis zum Hals.<br />

„Es kommt von dort hinten.“ Christina deutete mit ihrem rechten Arm in den Keller hinein<br />

„Ja, genau! Gehen wir hin?“<br />

„Ja.“ Christinas Stimme zitterte. Eine beklemmende Angst ließ ihren Mund schlagartig<br />

trocken werden. Sie hustete.<br />

„Hmm! Hmmmm!“ Gedämpft klangen die Laute an ihr Ohr.<br />

Louisa und Christina tasteten sich vorwärts. Immer dunkler wurde es. Louisa griff nach<br />

rechts und bekam einen rauen Gegenstand zu fassen, <strong>der</strong> sich wie Holz anfühlte. Ihre Hände<br />

stießen weiter nach vorne vor. „Bleib’ stehen, Christina! Ich habe einen Lichtschalter gefunden!“<br />

180


Christina blieb abrupt stehen. Dann wurde es schlagartig hell. Im ersten Moment sah sie<br />

nichts, war durch das Licht geblendet. Doch was sie dann sah, ließ ihr fast das Blut in den<br />

A<strong>der</strong>n gefrieren. Vor ihr lag auf einen alten, verstaubten Sofa ein verschnürtes Etwas, das versuchte,<br />

sich zu bewegen.<br />

„Hmm! Hmm!“ Das verschürte Etwas begann, sich heftiger zu bewegen. Es musste gemerkt<br />

haben, dass sich jemand genähert hatte.<br />

„Onkel Herbert!!“, schrie Christina laut und stürzte zu dem alten Sofa, das nahe <strong>der</strong><br />

Wand stand, die den geräumigen Keller zur Straße abgewandten Seite hin begrenzte.<br />

Dr. Brenner konnte sich kaum bewegen und auch nicht schreien, denn sein Mund war mit<br />

mehreren Plastikstreifen kreuzartig zugeklebt. Louisa entfernte diese vorsichtig, während<br />

Christina begann, das Seil zu entknoten, mit dem man Dr. Brenner gefesselt hatte.<br />

„Gott sei Dank, dass ihr gekommen seid.“ Dr. Brenners erste Worte waren eine Erleichterung<br />

für ihn, <strong>der</strong> so noch nie vorher empfunden hatte. „Ich dachte schon, ich müsse hier elendig<br />

verrecken.“<br />

„Was ist passiert?“ Christina begann, ihren Onkel von seinen Fesseln zu befreien. Louisa<br />

half ihr dabei.<br />

„Ich weiß nur noch, das Harald Grattler geläutet hat. Ich machte ihn auf und dann wurde<br />

es dunkel um mich.“<br />

„Ich habe aber gesehen, dass zwei junge Männer bei Dir klingelten, Onkel Herbert.“<br />

Christina und Louisa hatten es fast geschafft, Dr. Brenner soweit zu befreien, dass er den Rest<br />

des Seiles selbst abstreifen konnte.<br />

Dr. Brenner richtete sich mühsam auf und langte sich an den Kopf. „Oh je, oh je! Mein<br />

Schädel brummt wie ein Bienenschwarm. Mir ist schlecht!“<br />

„Ich glaube, wir holen jetzt lieber einen Arzt, bevor wir herausfinden, was passiert ist.“<br />

Christina wandte sich Louisa zu. „Könntest Du das erledigen, Louisa?“<br />

„Ja, selbstverständlich!“ Louisa Seiffert drehte sich um und stürmte die Kellertreppe hinauf.<br />

„Und ruf’ auch die Polizei an“, rief ihr Christina hinterher.<br />

„Okay!“ Louisa hatte schon fast oben die Kellertüre erreicht.<br />

„Bleib’ ganz ruhig sitzen, Onkel Herbert! Bald kommt <strong>der</strong> Notarzt.“<br />

„Es geht schon wie<strong>der</strong>“, presste Dr. Brenner hervor und wollte aufstehen. „Es war nur im<br />

ersten Moment ...“<br />

„Jetzt bleib’ sitzen!“ Christinas Stimme klang etwas barsch, aber sie meinte es ja gut mit<br />

ihrem Onkel. „O<strong>der</strong> leg’ Dich besser wie<strong>der</strong> hin, bevor du uns noch umkippst!“<br />

„Es geht schon wie<strong>der</strong>“, wie<strong>der</strong>holte Dr. Brenner. „Wenn nur das Kopfweh nicht wäre ...“<br />

„Was riecht denn hier so süßlich?“ Christinas Nase verlangte nun nach einer Antwort.<br />

„ich habe so einen Geruch überhaupt noch nicht gerochen.“<br />

„Weil Du vermutlich nie etwas mit Chloroform zu tun hattest.“ Dr. Brenner hatte jetzt<br />

den Geruch erkannt. „Ich habe das schon einmal im Institut für Organische Chemie gerochen,<br />

als ich einmal einen Klassenkameraden besuchte, <strong>der</strong> Chemie studierte.“<br />

„<strong>Die</strong>se Gauner!“ Christina begann zu schimpfen. „Das sind doch Kriminelle. Warum haben<br />

die Dich überfallen, betäubt und verschnürt wie ein Postpaket?“<br />

„<strong>Die</strong>ser Grattler ist mir in letzter Zeit schon immer etwas komisch vorgekommen.“ Dr.<br />

Brenner begann zu grübeln. „Ich meine, <strong>der</strong> wollte etwas von mir ...“<br />

„Ich kann mir nicht denken, was.“ Christina konnte es nicht wissen, hatte sie doch ihren<br />

Onkel schon einige Zeit nicht mehr besucht.<br />

„Aber ich!“ Dr. Brenner dämmerte es. „Schaut doch mal im Arbeitszimmer nach, ob da<br />

nicht etwas fehlt!“<br />

„Was sollte denn fehlen, Onkel Herbert?“<br />

Dr. Brenner erzählte seiner Nicht von den Tagebüchern, die er für die Eltern <strong>der</strong> Freundin<br />

seines Sohnes transkribiert hatte.<br />

181


„Das ist ja ein Ding!“ Christina war völlig verdattert. „Und für diese Tagebücher wirst<br />

Du überfallen. <strong>Die</strong> müssen ja furchtbare Geheimnisse in sich bergen.“<br />

„Soweit ich mit <strong>der</strong> Abschrift gekommen bin, habe ich noch keine großen Geheimnisse<br />

entdecken können. Und ich habe immerhin in <strong>der</strong> kurzen Zeit fast drei Hefte transkribiert.“<br />

Dr. Brenner ging es sichtbar besser. Langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.<br />

„Ich werde später schon noch im Arbeitszimmer nachsehen, Onkel Herbert. Doch zunächst<br />

warten wir lieber auf den Arzt.“<br />

„Ist schon in Ordnung.“ Dr. Brenner langte sich an den Kopf. „Das Schädelbrummen<br />

lässt auch langsam schon nach.“<br />

„Im Arbeitszimmer war vorhin aber kein Licht an, als wir in das Haus stürmten, weil uns<br />

die beiden Typen verdächtig erschienen.“ In Christinas Vorstellung liefen noch einmal die<br />

Ereignisse <strong>der</strong> letzten Viertelstunde ab.<br />

„Das ist aber komisch. Ich könnte schwören, das im Arbeitszimmer das Licht noch<br />

brannte, als es an <strong>der</strong> Türe klingelte.“ Dr. Brenner schüttelte den Kopf.<br />

„Dann haben die beiden Burschen das Licht noch ausgeschaltet, bevor sie das Haus verlassen<br />

haben.“ <strong>Die</strong> Gedanken in Christinas Kopf überschlugen sich. Sie brannte darauf, zu<br />

wissen, was sich im Haus ihres Onkels alles abgespielt hatte. „Wie sind sie überhaupt entwischt?“<br />

„Durch die Hintertür im Haus“, erklärte Dr. Brenner. „Neben <strong>der</strong> Küche geht eine Türe<br />

hinaus auf die Terrasse.“<br />

„Jetzt wird mir einiges klar.“ Christina atmete tief durch. Da vernahm sie plötzlich Stimmen,<br />

die sich dem Keller zu nähern schienen. „Ah, das wird <strong>der</strong> Arzt sein.“ Sie sprang auf<br />

und eilte durch den Keller auf den schmalen Gang zu, als ein hochgewachsener Mann in<br />

Warnkleidung und mit großen Aluminiumkoffer oben an <strong>der</strong> Kellertreppe erschien. Sie drehte<br />

sich sofort um und ging zu ihrem Onkel zurück. „Hilfe kommt!“<br />

„Brauche ich überhaupt Hilfe?“ <strong>Die</strong> Frage kam etwas gepresst über die Lippen von Dr.<br />

Brenner. Der Notarzt musste sie aber gehört haben. Er war die Treppe herunter geeilt und<br />

rannte auf Dr. Brenner zu.<br />

„Mit Chloroform soll man nicht spaßen. Vor ein paar Wochen hat sich erst ein Mädchen<br />

damit über den Jordan gebracht, weil sie zu viel davon erwischt hat“, sagte er und stellte seinen<br />

Koffer auf den Boden. In <strong>der</strong> nächsten Sekunde hatte er ihn geöffnet und ein Stethoskop<br />

daraus entnommen.<br />

„Wie geht es Ihnen?“ <strong>Die</strong> Frage war an Dr. Brenner gerichtet, dessen Augen er sorgfältig<br />

beobachtete.<br />

„Nicht schlecht“, antwortete Dr. Brenner, „nur <strong>der</strong> Kopf tut mir weh.“<br />

„Das wird schnell vergehen. Ich sehe schon, Sie haben nur wenig Chloroform erwischt.“<br />

Der Notarzt begann Dr. Brenner zu untersuchen.<br />

Unterdessen näherten sich noch weitere Personen <strong>der</strong> Kellertreppe. Eine aufgeregte<br />

Stimme erzählte etwas zwei Herren in grüner Uniform.<br />

„ ... und dort unten haben wir ihn dann gefunden. Ich habe mich ja gefürchtet, in den Keller<br />

zu gehen, denn ich fürchte mich vor Kellern. Man kann ja sehen, was da alles passieren<br />

kann ...“<br />

„Immer mit <strong>der</strong> Ruhe, Fräulein Louisa. Wir werden später ein Protokoll machen. Da können<br />

Sie uns alles noch einmal erzählen, von Anfang an und in aller Ruhe. Jetzt müssen wir<br />

uns aber erst den Tatort ansehen.“ Der junge Polizeibeamte versuchte Louisa Seiffert zu beruhigen<br />

und dabei seinen Aufgaben nachzukommen.<br />

Wenige Augenblicke später betraten Louisa und die beiden Polizisten den geräumigen<br />

Keller unter Dr. Brenners Haus. Sie störten den Notarzt nicht, <strong>der</strong> Dr. Brenner vorsorglich in<br />

eine Klinik mitnahm, son<strong>der</strong>n inspizierten zu nächst den Keller. Dann gingen sie mit den beiden<br />

Mädchen nach oben.<br />

182


„Mein Onkel hat gesagt, wir sollten uns doch im Arbeitszimmer umsehen.“ Christina sah<br />

den einen <strong>der</strong> beiden Polizisten gespannt an.<br />

„Und wo ist das Arbeitszimmer?“<br />

„Dort vorne!“ Louisa deutete mit ihrem rechten Arm den Flur nach vorne in Richtung<br />

Hauseingang.<br />

„Also gut! Gehen wir ins Arbeitszimmer!“ Der zweite Polizist zückte sein Notizbuch und<br />

schritt voran.<br />

„Also, was soll vermisst werden?“ Der erste Polizist blickte Christina fragend an, als sie<br />

die Türe des Arbeitszimmer erreicht hatten.<br />

„Mein Onkel sprach von Tagebüchern.“ Christina hob ihre beiden Schultern. „Er hat sie<br />

abgeschrieben, sagte er.“<br />

Louisa schlug die Türe des Arbeitszimmers auf, die nur angelehnt war.<br />

„Tagebücher?! Abgeschrieben?! Kannst du dir darauf einen Reim machen, Heiner?“ Der<br />

erste Polizist sah seinen Kollegen ungläubig an.<br />

„Sehen wir uns erst mal um, Karl!“ Der zweite Polizist ging vorsichtig ins Zimmer,<br />

nachdem er das Licht eingeschaltet hatte.<br />

„O je“, rief Christina nach dem ersten Blick in das Zimmer. „<strong>Die</strong> haben ganz schön gesucht.“<br />

„Das kann man wohl sagen.“ Auch Louisa Seiffert war entsetzt, als sie die Unordnung im<br />

Zimmer erblickte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Onkel das Zimmer in diesem Zustand<br />

verlassen hat, Christina.“<br />

„Ich auch nicht!“ Dr. Brenners Nichte blickte ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen<br />

an. Sehen wir uns einmal um.“ Christina wollte schon ins Zimmer gehen, doch die<br />

Ordnungsmacht rief sie zurück.<br />

„Halt, meine Damen!“ Karl Huber stellte sich in die Türe des Arbeitszimmers. „Erst<br />

kommt immer die Spurensicherung!“<br />

„Genau!“ Heiner Lauer grinste seinen Kollegen an. „Wir müssen erst einmal untersuchen,<br />

ob und wenn ja, welche Spuren die Täter zurückgelassen haben.“<br />

Christa und Louisa sahen sich an. Sie waren ein wenig enttäuscht, aber die beiden Polizeibeamten<br />

hatten sie überzeugt.<br />

„Suchen wir zuerst einmal den Fußboden ab.“ Karl Huber betrat ebenso vorsichtig wie<br />

sein Kollege das Arbeitszimmer, blieb aber nach einem Schritt stehen, ging in die Knie und<br />

ließ seinen Blick über den Fußboden schweifen, auf dem einige Gegenstände lagen. Sein Kollege<br />

hatte sich schon bis zum Schreibtisch vorgetastet und betrachtete die Unordnung, die sich<br />

den Augen auf Dr. Brenners Heimarbeitsplatz bot.<br />

„Auf den ersten Blick sehe ich nichts, was Hinweise auf die Täter geben könnte, Karl.“<br />

Heiner Lauer drehte sich um und wollte zurück zur Tür gehen, als er neben einem Stapel Papieren,<br />

die augenscheinlich durchwühlt worden waren, einen schmalen schwarz glänzenden<br />

Streifen auf dem Tisch sah, <strong>der</strong> vor einem Sofa ziemlich genau in <strong>der</strong> Mitte des Raumes<br />

stand. „Und doch haben wir da etwas, das die Spurensicherung interessieren könnte.“<br />

„Was ist es denn, Heiner?“ Karl Huber war aus <strong>der</strong> Hocke wie<strong>der</strong> emporgekommen und<br />

sah seinen Kollegen fragend an.<br />

„Schaut aus wie ... Ich kann’s nicht sagen, Karl.“<br />

„Dann lassen wir besser die Spurensicherung ran und alles so liegen, wie es ist.“ Karl<br />

Huber ging entschlossen aus dem Raum, sein Kollege dicht hinter ihm.<br />

„Keiner fasst etwas an! Das gilt auch für Sie, meine beiden Damen.“ Heiner Lauer löschte<br />

das Licht und machte die Türe des Arbeitszimmers vorsichtig zu. Er steckte sein Notizbuch<br />

wie<strong>der</strong> in die linke Brusttasche seiner Uniformjacke.<br />

Christina und Louisa, die <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> beiden Streifenpolizisten vom Flur aus zugesehen<br />

hatten, kicherten über die Art, wie sie angeredet wurden.<br />

183


„Könnten wir den Streifen sehen, den sie auf dem Tisch gefunden haben?“ Christina sah<br />

Polizeimeister Huber fragend an.<br />

„Im Moment nicht! Erst wenn die Spurensicherung alles genau untersucht hat“, sagte<br />

Heiner Lauer und schüttelte den Kopf. „Ich funke gleich die Zentrale an.“<br />

„Tu das, Heiner!“ Karl Huber sah die beiden Mädchen lächelnd an. „<strong>Die</strong> beiden Mädels<br />

brennen schon vor Neugier. Doch die Sicherung <strong>der</strong> Spuren ist das A und O je<strong>der</strong> guten kriminalistischen<br />

Arbeit. Ihr müsst noch etwas warten.“<br />

Christina und Louisa nickten nur. Sie waren ein wenig enttäuscht, dass sie jetzt nicht in<br />

das Zimmer durften, doch sie waren alt und verständnisvoll genug, um <strong>der</strong> Anweisung <strong>der</strong><br />

beiden Polizisten Folge zu leisten.<br />

Es dauerte für Christina und Louisa eine halbe Ewigkeit, bis <strong>der</strong> Mann von <strong>der</strong> Spurensicherung<br />

mit einem riesigen Aluminiumkoffer eintraf, sich weiße Handschuhe anzog und mit<br />

seiner Arbeit begann. <strong>Die</strong> beiden Mädchen sahen ihm aus gebühren<strong>der</strong> Entfernung zu, was<br />

ihn nicht zu stören schien. Ruhig und bedächtig suchte er den Boden ab, hob hin und wie<strong>der</strong><br />

mit einer Pinzette Dinge auf, die sein geschultes Auge sah, darunter auch mehrere kleine,<br />

schwarzglänzende Fetzen, die er lange von allen Seiten ansah. Er schien sich nicht sicher,<br />

woher sie stammten.<br />

„Wir haben auch noch einen größeren von diesen merkwürdigen glänzenden länglichen<br />

Streifen entdeckt“, platzte Christina heraus, als sie sah, dass noch ähnliche kleinere gefunden<br />

waren. „Was könnte das sein?“<br />

„Das habe ich mich auch schon gefragt.“ Der Mann von <strong>der</strong> Spurensicherung ging von<br />

seiner gebückten Haltung in <strong>der</strong> Hocke in eine aufrechte über und stellte sich wie<strong>der</strong> hin. „Ich<br />

habe so etwas – ehrlich gesagt – noch nie gesehen“, bemerkte er brummelnd und besah sich<br />

den kleinen, schmalen Streifen, den er gerade in <strong>der</strong> Pinzette hatte. „Haben Sie, äh habt ihr<br />

etwas gesagt?“ Er drehte sich zu den beiden Mädchen um und sah sie fragend an.<br />

„Wir haben auch noch einen größeren von diesen merkwürdigen glänzenden länglichen<br />

Streifen entdeckt“, wie<strong>der</strong>holte Christina.<br />

„Wo ist er gelegen?“ <strong>Die</strong> Miene des Ermittlungsbeamten verfinsterte sich etwas.<br />

„Dort auf dem Tisch vor dem Sofa.“ Louisa deutete auf die Fundstelle. <strong>Die</strong>s beeindruckte<br />

den Spurensucher überhaupt nicht. Er kniff seine Augen zusammen. „Ist irgendwas hier verän<strong>der</strong>t<br />

worden seit <strong>der</strong> Tatzeit und meinem Eintreffen?“ Seine Frage klang hart und mürrisch<br />

„Aber nein, Herr Kommissar!“ Christina wollte weitersprechen, doch <strong>der</strong> Angesprochene<br />

hatte schon Luftgeholt.<br />

„Ich bin kein Kommissar. Dafür werde ich viel zu schlecht bezahlt.“<br />

„Entschuldigung!“ Christina senkte kleinlaut ihren Kopf. Louisa sah sie ängstlich an, sagte<br />

aber nichts zu ihr.<br />

Der Mann von <strong>der</strong> Spurensicherung setzte ohne ein weiteres Wort seine Arbeit fort. Er<br />

fand den schwarz glänzenden Streifen auf dem Tisch, hob ihn vorsichtig ins Licht und verglich<br />

ihn mit den an<strong>der</strong>en kleinen Schnipseln, die er vorher sorgsam in kleine Plastiktütchen<br />

verpackt hatte, nachdem er die Fundorte mit Nummern gekennzeichnet hatte. Von dem Arbeitszimmer<br />

machte er auch verschiedene Fotos, um die vorgefundene Situation zu dokumentieren.<br />

Christina und Louisa wurde es langsam zu langweilig, dem Spurensucher bei seiner Arbeit<br />

zuzusehen. Sie wollten sich gerade abwenden und beratschlagen, was sie nun tun wollten,<br />

als <strong>der</strong> Mann von <strong>der</strong> Spurensicherung ohne Vorankündigung plötzlich zu seinen Koffer ging<br />

und begann, seine Utensilien darin zu verstauen. „<strong>Die</strong> Täter haben kaum Spuren hinterlassen“,<br />

sagte er trocken. „Außer den wenigen schwarz glänzenden Schnipseln und ein paar<br />

schlechten Fingerabdrücken, die auch von dem Überfallenen stammen können, habe ich<br />

nichts weiter gefunden, was uns vielleicht weiter bringen könnte.“<br />

„Können wir ins Zimmer?“ Christina fragte ganz vorsichtig.<br />

184


„Ja“, brummte <strong>der</strong> Mann von <strong>der</strong> Spurensicherung, legte das letzte kleine Plastiktütchen<br />

in seinen großen Aluminiumkoffer und verschloss ihn.<br />

„Komm’ Louisa! Jetzt sehen wir einmal in den Sachen von Onkel Herbert nach.“ Christina<br />

winkte ihre Freundin und ging in das Arbeitszimmer.<br />

„Meinst Du, wir finden was?“ Louisa war skeptisch.<br />

„Umsehen kostet nichts“, entgegnete Dr. Brenners Nichte schlagfertig. „So o<strong>der</strong> so ähnlich<br />

lautet doch das Sprichwort. O<strong>der</strong>?“<br />

Louisa gab ihr keine Antwort, son<strong>der</strong>n trottete hinter ihrer Freundin in das Arbeitszimmer,<br />

in dem es noch so wüst aussah wie vorher.<br />

„Das sieht ja sehr durchwühlt aus.“ Louisa hob einige Blätter auf, die noch verstreut am<br />

Boden herumlagen und legte sie auf dem Tisch vor dem Sofa. „Ich werde das Gefühl nicht<br />

los, dass die Gauner das fanden, wonach sie gesucht haben.“<br />

„Das glaube ich langsam auch.“ Dr. Brenners Nichte schüttelte den Kopf. „Wenn ich nur<br />

wüsste, was mein Onkel mit diesen Tagebüchern gemeint haben könnte! Wie sehen Tagebücher<br />

eigentlich aus? Hast du schon so ein Tagebuch gesehen, Louisa?“<br />

Christinas Freundin lachte. „Was, du hast noch nie ein Tagebuch gesehen?“<br />

„Nein!“<br />

„Schreibst du denn nicht in ein Tagebuch?“<br />

„Ich habe noch nie in ein Tagebuch geschrieben.“ Christina schüttelte ihren Kopf. „Ich<br />

wüsste gar nicht, was ich in ein Tagebuch hinein schreiben sollte.“<br />

Louisa merkte sofort, dass ihre Freundin mit dem Thema „Tagebuch“ nicht viel anfangen<br />

konnte, und versuchte nun ihrer Freundin zu erklären, dass ein Tagebuch ganz unterschiedlich<br />

aussehen kann: klein, groß, ein dünnes Heftchen o<strong>der</strong> eine dicke Kladde.<br />

„Jetzt weiß ich alles und gar nichts“, unterbrach Christina schließlich den Redefluss ihrer<br />

Freundin. „Suchen wir nach den Tagebüchern, von denen wir nicht wissen, wie sie aussehen.“<br />

„Doch wir wissen, wie sie aussehen könnten.“ Louisa beugte sich zu Christina hinunter,<br />

die den Boden vor und unter dem Sofa nach herumliegenden Blättern absuchte.<br />

„Willst du mich auf den Arm nehmen, Louisa. Woher willst du wissen, wie die Tagebücher<br />

ausgesehen haben, die mein Onkel für die Familie Markert abschreiben wollte?“<br />

„Ganz einfach“, gab Louisa zurück. „<strong>Die</strong> schwarzen glänzenden Streifen ...“<br />

„Du meinst ...“<br />

„Genau. <strong>Die</strong> abgerissenen schwarz glänzenden Streifen stammen von den Tagebüchern.“<br />

Christina nickte ihrer Freundin anerkennend zu. „An dir ist ja ein kleiner Sherlock Holmes<br />

verloren gegangen.“<br />

„Wenn, dann schon eine Mrs. Sherlockia Holmes!“ Beide Mädchen mussten lachen.<br />

„Nach den Tagebüchern glaube ich brauchen wir nicht zu suchen. O<strong>der</strong> siehst du irgendwo<br />

schwarz glänzende Hefte o<strong>der</strong> so was Ähnliches, Christina?“<br />

„Nein, aber wir könnten die Papiere von meinem Onkel ein wenig aufräumen.“ Dr. Brenners<br />

Nichte fischte einige Blätter unter dem Sofa hervor, stand wie<strong>der</strong> auf und legte sie zu den<br />

an<strong>der</strong>en auf den Tisch.<br />

„Das ist vielleicht keine schlechte Idee“, entgegnete Louisa, „aber zerstören wir dadurch<br />

nicht diese kreative Unordnung <strong>der</strong> Papierchen deines Onkels?“<br />

„Mag sein, aber wenn er wie<strong>der</strong> zurück kommt muss er seine Papierchen eh wie<strong>der</strong> sortieren.<br />

Sie sind ja alle mit Sicherheit durcheinan<strong>der</strong> geraten, als die Gauner die Tagebücher<br />

suchten“<br />

„Da hast du auch wie<strong>der</strong> recht, Christina.“ Louisa Seiffert erhob sich jetzt ebenfalls, stand<br />

auf und half ihrer Freundin, die Unordnung, die im Zimmer herrschte zumindest nicht mehr<br />

ganz so schlimm aussehen zu lassen wie vorher.<br />

Nach etwa einer halben Stunde hatten die beiden Freundinnen die Unordnung im Arbeitszimmer<br />

von Dr. Brenner soweit beseitigt, dass man fast wie<strong>der</strong> von einer gewissen Ordnung<br />

reden konnte. <strong>Die</strong> Papierstapel lagen wie<strong>der</strong> so aufeinan<strong>der</strong>, damit keine Gefahr mehr<br />

185


estand, sie könnten jeden Moment umstürzen und die Mühe <strong>der</strong> beiden Mädchen zunichte<br />

machen. Christina und Louisa überlegten, was sie weiter machen sollten. Dabei übersahen sie<br />

ganz, dass draußen schon die Nacht herein gebrochen war.<br />

„Wie viel Uhr ist es eigentlich schon?“ Louisa sah ihre Freundin mit großen fragenden<br />

Augen an.<br />

„Das kann ich dir lei<strong>der</strong> nicht sagen“, entgegnete Dr. Brenners Nichte, „denn ich ziehe so<br />

gut wie nie eine Armbanduhr an. Doch ich glaube, ich habe in <strong>der</strong> Küche eine Uhr gesehen.<br />

Lass’ und doch dort nachsehen!“<br />

„Nicht nötig, Christina. Auf dem Schreibtisch drüben steht auch eine Uhr.“ Louisa Seiffert<br />

ging zum Schreibtisch und da stand auch ein kleiner, unscheinbarer Reisewecker. Christina.<br />

Folgte ihrer Freundin zum Schreibtisch und beide blickten gespannt auf die Uhr.<br />

„Du liebe Güte!“ entfuhr es Christina. „ Es ist ja schon fast halb elf! Wo ist denn die Zeit<br />

hingekommen?“<br />

„Wir müssen unbedingt zu Hause anrufen, sonst machen sich unsere Eltern Sorgen.“<br />

Louisa blickte ängstlich Christina an.<br />

„Mach’ dir keine Sorgen! Heute ist Samstag. Da werden wir doch einmal etwas länger<br />

fortbleiben können. Schließlich sind wir keine kleinen Mädchen mehr, son<strong>der</strong>n zusammen<br />

fast schon dreißig Jahre alt.“ Dr. Brenners Nichte ging mit schnellen Schritten zum Arbeitszimmer<br />

hinaus und eilte an das Telefon, das sie vorher schon in <strong>der</strong> Küche gesehen hatte.<br />

„Mach’s Licht im Arbeitszimmer aus“, rief sie Louisa vom Korridor her zu.<br />

„Okay!“ Louisa ging zur Tür, die auf den Gang hinaus führte, knipste das Licht aus und<br />

folgte ihrer Freundin in Richtung Küche, wo das Telefon stand.<br />

„Na, wie haben wir das wie<strong>der</strong> hinbekommen?“ Christina sah Louisa fragend an, während<br />

sie den halbdunklen Flur entlang gingen. „Es sieht doch wie<strong>der</strong> ganz passabel in Onkels<br />

Arbeitszimmer aus.“<br />

„Mag sein, aber sollten wir uns doch jetzt nicht lieber auf den Heimweg machen. Irgendwie<br />

merke ich, dass ich jetzt müde werde. Louisa Seiffert wollte gerade Luft holen, um weiter<br />

zu reden, da klingelte das Telefon.<br />

„Ich geh’ ran“, sagte Christina schnell und eilte zum Telefon, das auf einem kleinen<br />

Schränkchen stand. „Vielleicht ruft Onkel Herbert vom Krankenhaus aus an.“<br />

Louisa hob nur ihre Augenbrauen und sagte nichts. Sie ging gemächlich ihrer Freundin<br />

nach, die kurze Zeit später den Hörer abhob.<br />

„Bei Dr. Brenner“, meldete sich Christina korrekt.<br />

„Hallo Christina“, ertönte am an<strong>der</strong>en Ende eine ihr sehr vertraute Stimme. „Ich bin froh,<br />

dass ich dich noch erreiche.“<br />

„Was ist denn Mutti?“<br />

„Onkel Herbert hat mich gerade aus dem Krankenhaus angerufen. Er muss zur Beobachtung<br />

wahrscheinlich bis morgen drinnen bleiben. Er hat mir alles erzählt. Ich soll dir und<br />

Louisa noch einmal herzlich danken.“<br />

„Für was?“<br />

„Na, hör’ mal, Christina! Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ihr ihn nicht so<br />

schnell gefunden hättet.“<br />

„Ach so!“<br />

„Doch jetzt soll’s genug sein.“ <strong>Die</strong> Stimme von Christinas Mutter nahm einen recht sorgenvollen<br />

Ton an. „Ich komme gleich mit dem Auto vorbei und hole euch beide ab, denn ich<br />

will nicht, dass heute vielleicht noch ein Unglück geschieht.“<br />

„Du machst dir viel zu viele Sorgen, Mutti. Wir sind doch keine kleinen Kin<strong>der</strong> mehr.“<br />

„Ja eben drum. Wer weiß, was für überspannte Typen da draußen herumlaufen und nur<br />

auf zwei junge Mädchen warten, um sie ...“<br />

„Aber Mutti!“, fiel ihr Christina ins Wort.<br />

186


„Nein, nein, nein! Ihr bleibt jetzt, wo ihr seid. <strong>Macht</strong> alle Lichter aus und wartet vor dem<br />

Hauseingang! Ich bin in zehn Minuten bei euch.“<br />

„Also gut! Wir warten.“<br />

„Dann bis gleich! Tschüß!“<br />

Ehe Christina noch etwas sagen konnte, hatte ihre Mutter aufgelegt.<br />

„Ja, ja, unsere Muttis! <strong>Die</strong> machen sich immer zu viel Sorgen.“ Louisa schüttelte den<br />

Kopf. „Warten wir also auf deine Mutter.“<br />

„... und vergessen nicht, alle Lichter auszumachen“, ergänzte Christina und lächelte. Ihre<br />

Freundin konnte sich diesem auch nicht entziehen.<br />

<strong>Die</strong> beiden Freundinnen taten wie ihnen geheißen, löschten sämtliche Lichter im Haus<br />

und ließen die Haustüre ins Schloss fallen.<br />

„Meist du, die Tür ist zu?“ Louisa sah ihre Freundin fragend an.<br />

„Rüttle doch mal an ihr, Louisa!“<br />

Christinas Freundin ging einen Schritt zurück, ergriff den Türknauf und versuchte die<br />

schwere Türe zu öffnen. „<strong>Die</strong> Tür ist zu“, stellte sie trocken fest.<br />

„Na, dann wollen wir hoffen, dass Onkel Herbert einen Schlüssel einstecken hat.“ Christina<br />

lächelte Louisa an und sah über den Vorgarten hinaus auf die Straße, die still im Dunkeln<br />

lag. Es war ruhig geworden in dem Villenviertel, in dem Dr. Brenner wohnte.<br />

Es dauerte jedoch nicht lange, dann hielt ein Wagen vor Dr. Brenners Haus. Christinas<br />

Mutter war vorgefahren, stieg aus und winkte den beiden Mädchen, die rasch durch den Vorgarten<br />

hinaus auf den Gehsteig liefen.<br />

„Du bist aber schnell gekommen, Mutti“, rief Christina und umarmte ihre Mutter.<br />

„Na, ihr Abenteuerinnen, wohl auf?“<br />

„Ich erzähl’ dir alles später, Mutti. Kannst du Louisa mitnehmen?“ Dr. Brenners Nichte<br />

ließ von ihrer Mutter ab.<br />

„Aber selbstverständlich, Christina! Steigt ein!“<br />

<strong>Die</strong>se Auffor<strong>der</strong>ung musste Frau Brenner kein zweites Mal aussprechen. Schnell stiegen<br />

die beiden Mädchen in den Wagen. Sie wollten jetzt schnell weg von dem Ort des Geschehens,<br />

denn langsam wurde ihnen die ganze Tragweite <strong>der</strong> Ereignisse erst bewusst und es wurde<br />

ihnen doch unheimlich zu Mute, wenn sie daran dachten, was noch alles hätte geschehen<br />

können.<br />

Harald Grattler wachte auf und sah sich im Zimmer um, das ihm völlig fremd vorkam. Er<br />

konnte sich nicht erklären, wie er hierher gekommen war. Er wusste nur noch, dass er mit<br />

Jimmy letzte Nacht durch einige Kneipen gezogen war, fast ständig den Plastikbeutel haltend,<br />

in den er hektisch diese schwarz glänzenden Hefte gesteckt hatte. War er am Ziel seiner Wünsche<br />

angelangt? Hatte er endlich gefunden, was er in den Tagebüchern geschrieben vermutete?<br />

‚Verdammt, wo bin ich?’ Harald Grattlers Gedanken begannen zu rasen. Er blickte an die<br />

Decke und versuchte einen Laut in seinen Ohren zu erhaschen, doch es blieb still, mäuschenstill.<br />

Kein Laut drang an sein Ohr. ‚Wo ist Jimmy? Ich bin doch mit ihm ...’<br />

Er konnte den Gedanke nicht zu Ende denken, als er plötzlich ein Geräusch vernahm. <strong>Die</strong><br />

Türe des Zimmers wurde geöffnet.<br />

„Bist du nun endlich wach, du Schlafmütze!“<br />

Harald Grattler war die helle Stimme sofort vertraut.<br />

„Gabi!“ Er fuhr hoch.<br />

34<br />

187


„Guten Morgen, Harald.“ Gabi Beck ging auf das Sofa zu, auf dem ihr Freund jetzt aufrecht<br />

saß. „Du warst heute Nacht ganz schön zu, als dich Jimmy bei mir mehr tot als lebendig<br />

abgeladen hat.“<br />

„Abgeladen?“<br />

„Du konntest nicht mehr stehen. Jimmy hat dich aufs Sofa gelegt. <strong>Die</strong> Decke stammt von<br />

mir.“<br />

„Ach du lieber Himmel!“ Der Ausruf Haralds deutete an, dass seine Erinnerung langsam<br />

in ihn zurück fand. „Jetzt kommt’s mir wie<strong>der</strong>.“<br />

„Ja, ja, wohl einen kleinen Filmriss gehabt.“ Gabi stand jetzt mit verschränkten Armen<br />

vor ihm und grinste ihn an. Harald sah sie nicht, blickte mit glasigem Blick durch sie hindurch.<br />

Da begannen seine Gedanken wie<strong>der</strong> zu rasen. Er malte sich aus, wie Gabi und Jimmy<br />

... <strong>Die</strong> pure Eifersucht kochte in ihm hoch. „Habt ihr beide ...?“<br />

„Nichts haben wir. Jimmy konnte zwar noch stehen, aber er war nicht weniger fertig wie<br />

du. Wie kann man nur so viel saufen?“<br />

Harald Grattler entgegnete nichts. Er versuchte sich zu beruhigen. „Ja, Jimmy und ich<br />

haben ein paar Pils getrunken.“<br />

„Mir schienen es ein paar Dutzend Pils zu sein, so, wie du gestunken hast.“<br />

„Gestunken?!“<br />

„Ja, gestunken. Aber nicht nur nach Bier, son<strong>der</strong>n auch nach Schnaps.“ Gabi Beck wandte<br />

sich von Harald ab. „Wenn du nicht so zu gewesen wärst, hätte ich dich vor die Tür gesetzt.“<br />

Harald Grattler beschlich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er versuchte, sich an Einzelheiten<br />

des letzten Abends zu erinnern, aber im Moment ließ ihn sein Gedächtnis im Stich.<br />

„Wann bin ich denn gestern Abend gekommen?“ Seine stimme klang rau und belegt.<br />

„Gestern Abend!! Heute Nacht um drei habt ihr mich aus dem Bett geklingelt. Du bist ja<br />

regelrecht in die Wohnung herein geflogen, hast deine Plastiktüte in den Flur geworfen und<br />

...“<br />

Harald Grattler fuhr es siedheiß in den Kopf. „Hast du eben Plastikbeutel gesagt?“<br />

Gabi Beck hielt inne. Ihre innere Stimme meldete sich plötzlich zu Wort und sagte ihr,<br />

dass da etwas nicht in Ordnung war. „Ist irgendwas damit?“<br />

„Ach so, <strong>der</strong> Plastikbeutel.“ Harald Grattler tat, als könnte er kein Wässerchen trüben.<br />

„Er war mir zu schwer geworden.“<br />

„So, zu schwer nennt man das jetzt!“ Gabi Beck stemmte wie<strong>der</strong> ihre Arme in die Hüften.<br />

„Ich nenne deinen gestrigen Zustand Volltrunkenheit! Wenn du schwere Plastiksäcke durch<br />

die Gegend schleppst, dann kannst du nicht so viel saufen, sonst werden sie dir eben zu<br />

schwer. Was ist überhaupt da drinnen?“<br />

„Das geht Dich gar nichts an.“<br />

„Dann steh’ jetzt auf, zieh’ deine Klamotten an und geh’! Ich will dich hier mindestens<br />

zwei Tage nicht mehr sehen! Ich habe jetzt genug von deinen Sauftouren!“ Gabis Blick verfinsterte<br />

sich. Sie hatte es satt, sich auf ihre Frage hin dumm von <strong>der</strong> Seite anreden zu lassen.<br />

Gabi drehte sich blitzschnell um, ging mit schnellen Schritten aus dem Raum und knallte hinter<br />

sich die Türe zu. In Haralds Kopf dröhnte das laute Geräusch nach. Der Schmerz in seinem<br />

Schädel schwoll augenblicklich hämmernd an. Er konnte an nichts mehr denken, so<br />

überrascht war er von Gabis resolutem Auftreten.<br />

Harald Grattler wollte sich gerade mühsam erheben, als die Türe plötzlich wie<strong>der</strong> aufgestoßen<br />

wurde.<br />

„Und deinen Plastikbeutel nimmst du auch mit“, schrie Gabi und warf das Streitobjekt<br />

mit einem heftigen Schwung ins Zimmer, dass er vor Harald zu liegen kam. „Ich will gar<br />

nicht mehr wissen, was da drinnen ist.“ Sie drehte sich um und war im nächsten Moment wie<strong>der</strong><br />

aus dem Raum verschwunden. <strong>Die</strong>ses Mal aber ohne die Türe hinter sich zuzuwerfen.<br />

188


‚Irgendwas habe ich falsch gemacht’, dachte Harald und stand auf, um seine Hose anzuziehen,<br />

die neben dem Bett auf dem Boden lag. Hatte er sie in <strong>der</strong> Nacht ausgezogen?<br />

Harald Grattler überging diese Frage, hob den Plastikbeutel, dessen Inhalt trotz des heftigen<br />

Schwunges nicht herausgefallen war, vom Boden auf und zog sich an. Wortlos verließ er<br />

einige Minuten später Gabis Wohnung, ohne sie gesehen o<strong>der</strong> ein Wort des Abschieds gesprochen<br />

zu haben.<br />

„Da haben sie aber Glück gehabt, dass sie nicht zu viel von dem Chloroform abbekommen<br />

haben, Herr Kollege?“ Der diensthabende Arzt sah Dr. Brenner fragend an, nachdem er<br />

ihn gründlich untersucht hatte.<br />

„Ich habe zwar promoviert“, entgegnete Dr. Brenner sichtlich amüsiert und lächelte sein<br />

Gegenüber in weiß an, „aber ich bin kein Mediziner.“<br />

Der Arzt atmete sichtlich erleichtert auf. „So weit ich das jetzt überblicken kann, werden<br />

sie keinen bleibenden Schaden durch die Zwangsinhalation davon tragen. Trotzdem würde ich<br />

sie dringend bitten, in den nächsten Tagen einen Pneumologen aufzusuchen, <strong>der</strong> sie noch mal<br />

eingehen<strong>der</strong> untersuchen kann.“<br />

„Gut, das werde ich tun, Herr Doktor.“ Dr. Brenner betonte den Titel ein wenig, doch <strong>der</strong><br />

Arzt merkte die leichte Ironie nicht, die er damit ausdrücken wollte. „Kann ich jetzt nach<br />

Hause gehen?“<br />

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Noch nicht gleich. <strong>Die</strong> Notaufnahme braucht noch ihre<br />

persönlichen Angaben. Sie wissen schon ...“<br />

„Wenn’s weiter nichts ist. <strong>Die</strong> kann die Verwaltung haben.“ Dr. Brenner stand auf und<br />

ging zur Türe. Der Arzt konnte ihn gar nicht mehr verabschieden, denn er wurde bereits zum<br />

nächsten Notfall gerufen, <strong>der</strong> von zwei Sanitätern eilig hereingefahren wurde. „Schnell,<br />

schnell“, rief <strong>der</strong> eine. „Akuter Herzstillstand!“<br />

Dr. Brenner ging zwei Zimmer weiter und füllte den unvermeidlichen Bogen mit seinen<br />

persönlichen Angaben aus. Er war froh, sich mit eigener Kraft wie<strong>der</strong> aus dem Krankenhaus<br />

entfernen zu können, und strebte dem Taxistand zu, auf dem unweit <strong>der</strong> Klinik zu dieser späten<br />

Stunde nur zwei Wagen standen, <strong>der</strong>en Fahrer sich durch eine kleine Unterhaltung die<br />

Zeit vertrieben.<br />

Als <strong>der</strong> eine Fahrer Dr. Brenner heran kommen sah, brach er sofort das Gespräch ab, weil<br />

er instinktiv spürte, dass sein nächster Fahrgast nahte.<br />

„Wo soll’s hingehen?“ Der Taxifahrer öffnete die Beifahrertüre, nachdem Dr. Brenner<br />

langsamen Schrittes sein Fahrzeug fast erreicht hatte.<br />

„Nach Hause!“ Dr. Brenners Stimme klang müde und brüchig.<br />

„Das wollen wir alle“, entgegnete <strong>der</strong> Chauffeur schlagfertig.<br />

„Ach so ja!“ Dr. Brenner versuchte zu lachen, was ihn aber in seiner <strong>der</strong>zeitigen Situation<br />

sehr schwer fiel. „In den Lindenweg 18, bitte!“ Er stieg in das beigefarben lackierte Taxi.<br />

„Das ist konkret genug,. Herr Doktor“, bedankte sich <strong>der</strong> Taxifahrer, nach dem auch er<br />

eingestiegen war.<br />

„Woher wissen Sie, dass ich Doktor bin?“<br />

„Na, wenn jemand um diese Zeit ...“ Der Taxifahrer deutete auf die Digitalanzeige in <strong>der</strong><br />

Wagenkonsole. „... aus <strong>der</strong> Klinik kommt, dann kann es doch nur ein Doktor sein.“<br />

„Haben Sie sich da noch nie geirrt?“ Dr. Brenner blickte den dunkelhaarigen, jungen<br />

Mann skeptisch an. „Ich bin zwar Doktor, aber kein Mediziner.“<br />

„Na, so genau wollte ich es nun auch wie<strong>der</strong> nicht wissen.“ Der Taxifahrer startete den<br />

Motor.<br />

Während <strong>der</strong> Fahrt zu seiner Villa sprach Dr. Brenner nichts mehr mit dem Fahrer, <strong>der</strong><br />

schnell durch die nächtliche Stadt brauste.<br />

‚Seltsam’, dachte Dr. Brenner, ‚warum sprechen mich die Leute alle mit ‚Herr Doktor’<br />

an. Sie wissen doch nicht ...’ Er konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, da bog das<br />

189


Taxi in den Lindenweg ein und hielt kurze Zeit später von <strong>der</strong> Einfahrt zu Dr. Brenners Garage.<br />

„Sind wir richtig?“ Der Taxifahrer war sich nicht so ganz sicher. Ob er vor dem Haus<br />

Nummer 18 gehalten hatte.<br />

„Sie stehen genau von meiner Garageneinfahrt.“ Dr. Brenner öffnete den Gurt und fingerte<br />

seinen Geldbeutel aus seiner rechten Gesäßtasche. „Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“<br />

Der junge, dunkelhaarige Taxifahrer drückte einen Knopf auf <strong>der</strong> Konsole und <strong>der</strong> Fahrpreis<br />

erschien sogleich auf <strong>der</strong> digitalen Anzeige. „Sieben sechzig!“<br />

„Machen sie acht“, sagte Dr. Brenner und gab ihm einen Zehneuroschein.<br />

„Besten Dank, Herr Doktor.“ Der Taxifahrer gab ihm einen Zweier zurück. „Ich wünsche<br />

eine gute Nacht, Herr Doktor.“<br />

„<strong>Die</strong> werde ich wohl brauchen“, seufzte Dr. Brenner, ließ die Münze in seine Geldbörse<br />

fallen und steckte sie wie<strong>der</strong> ein. „Hoffentlich habe ich in <strong>der</strong> ganzen Aufregung meinen<br />

Schlüssel mitgenommen.“ Er suchte mit <strong>der</strong> linken Hand in seiner linken Gesäßtasche. „Gott<br />

sei Dank, ich habe meine Schlüssel mitgenommen.“<br />

„Na, dann ist ja alles in Ordnung.“ Der junge Taxifahrer hatte es plötzlich eilig, wie<strong>der</strong><br />

weiterzufahren, denn über Funk wurde nicht weit von seinem jetzigen Standort entfernt eine<br />

Taxe angefor<strong>der</strong>t.<br />

„Gute Nacht!“ Dr. Brenner stieg aus, schlug die Beifahrertüre mit Schwung zu und holte<br />

sein Schlüsseletui aus <strong>der</strong> Tasche. Zehn Sekunden später war <strong>der</strong> Taxifahrer schon davon gebraust.<br />

<strong>Die</strong> Straße, in die er fuhr, war für ihre Kneipen mehr berüchtigt als berühmt. Doch er<br />

konnte den Fahrauftrag nicht abschlagen, musste er sich doch durch seine nächtlichen Touren<br />

einen Teil seines Studiums finanzieren.<br />

Dr. Brenner öffnete das Gartentürchen und schritt langsam über den Weg zu den Stufen,<br />

die zu <strong>der</strong> Haustüre führten. Ein seltsames Gefühl <strong>der</strong> Wehmut überkam ihn plötzlich. Einerseits<br />

war er froh, noch einigermaßen gesund am Leben zu sein, an<strong>der</strong>erseits trauerte er. Warum?<br />

– In <strong>der</strong> Hektik <strong>der</strong> vergangenen Ereignisse musste er etwas nicht mitbekommen haben.<br />

Aber was?<br />

‚Irgendetwas fehlt mir’, dachte er, als die Haustüre erreicht war. ‚Ich möchte zu gerne<br />

wissen was?’ Dr. Brenner schloss die Haustüre auf. Still lag die Villa da. Der dunkle<br />

Hausgang, <strong>der</strong> sich vor ihm auftat, erschreckte ihn. ‚Ich muss unbedingt gleich in mein Arbeitszimmer<br />

sehen. Hoffentlich haben die Halunken nicht meinen kostbarsten Schatz mitgenommen,<br />

<strong>der</strong> mir nicht einmal gehört, son<strong>der</strong>n mir nur zu Studienzwecken vorläufig übergeben<br />

wurde.’<br />

Er erschrak, als er das Licht in seinem Arbeitszimmer angeschaltet hatte. Alles sah hier<br />

so an<strong>der</strong>s aus. Irgendwer musste das Zimmer aufgeräumt haben. Er konnte fast nichts mehr an<br />

seinem ursprünglichen Platz finden. Sofort ging er zum Schreibtisch und suchte die schwarzglänzenden<br />

<strong>Wachstuchhefte</strong>, aber er fand sie nicht. Sie waren in <strong>der</strong> Plastiktüte, die ein<br />

schwanken<strong>der</strong> Betrunkener mit sich führte, als er fast zur selben Zeit in das Taxi des jungen,<br />

dunkelhaarigen Studenten stieg.<br />

Dr. Brenner suchte und suchte nach seinem Notizbuch, das gewöhnlich auf seinen<br />

Schreibtisch im Arbeitszimmer lag. ‚Hoffentlich hat mir dieser Grattler und sein Konsorte<br />

wenigstens das da gelassen. Der kann sowieso etwas erleben. Und seinen Job ist er auch los.’<br />

<strong>Die</strong> blanke Wut stieg in Dr. Brenner hoch. Als er sich auf dem Tisch vor dem Sofa umsah und<br />

das Notizbuch zwischen den Papieren entdeckte, legte sich sein Zorn etwas. „Da ist es ja!“,<br />

stieß er erleichtert hervor, nahm es an sich und setzte sich tief durchatmend an seinen Schreibtisch.<br />

Er begann, in dem Büchlein in Postkartengröße zu blättern ...<br />

‚Wo habe ich nur die Notiz über die uneheliche Tochter gemacht?’ Dr. Brenner war trotz<br />

<strong>der</strong> zurückliegenden, aufregenden Ereignisse und <strong>der</strong> späten Stunde hellwach. ‚Ich muss diese<br />

Notiz finden und es den Markerts sagen, denn es könnte wichtig für sie sein.’ Während er dies<br />

190


dachte, schlug die Uhr <strong>der</strong> etwa einen Kilometer entfernten Kirche schon die erste volle Stunde<br />

dieses neuen Tages.<br />

Nach einigen Minuten fand er die Notiz, legte zufrieden einen Zettel in das Notizbuch<br />

und erhob sich. ‚So, jetzt wird es aber Zeit, ins Bett zu gehen’, dachte er und ging aus dem<br />

Arbeitszimmer hinaus in den Flur.<br />

„Nein! Nein!“, schrie Heike und wälzte sich im Bett auf die an<strong>der</strong>e Seite, erwachte aber<br />

nicht. Ihr Traum verfolgte sie weiter ...<br />

„Ich werde sie vernichten.“ Harald Grattler nahm das eine Wachstuchheft, das oben auf<br />

dem Stapel lag, und machte eine Bewegung als wolle er es zerreißen. „Was nützen sie mir,<br />

wenn ich sie nicht lesen kann.“ Doch er hielt inne und legte das schwarz glänzende Heft wie<strong>der</strong><br />

zu den an<strong>der</strong>en. „Ich werde an Dr. Brenners Unterlagen schon herankommen. Und wenn<br />

ich sie klauen muss.“<br />

„Tu das nicht!“ Heike wälzte sich wie<strong>der</strong> im Bett. Der Schweiß rann ihr über die Stirn.<br />

„Tu das nicht, Wolfgang!“ Ihr Schrei gellte durch das Appartement.<br />

Wolfgang Brenner erwachte. ‚Was ist los?’, fragt er sich verduzt, setzte sich im Bett auf<br />

und sah zu Heike hinüber, die sich gerade wie<strong>der</strong> auf die an<strong>der</strong>e Seite geworfen hatte.<br />

„Tu es nicht!“, schrie sie wie<strong>der</strong>.<br />

Wolfgang war mit einem Schlag hellwach. „Was soll ich denn nicht tun?“ Mit dieser<br />

Frage beugte er sich zu Heike hinüber. ‚Ich kann das nicht mit ansehen, wie sich Heike quält’,<br />

dachte er und sein Entschluss stand fest: Er musste sie so sanft wie nur möglich aufwecken.<br />

Heike wollte wie<strong>der</strong> schreien, doch in diesem Moment wachte sie auf.<br />

„Oh Gott! Was für ein Traum!“ Heikes Stimme klang rau. Tränen stiegen ihr in die Augen.<br />

Sie flüchtete sich ganz spontan in die Arme von Wolfgang.<br />

„Es ist alles gut, Heike.“ Wolfgang versuchte sie zu beruhigen. „Es war nur ein Traum.“<br />

„Und was für ein schrecklicher“, stöhnte sie. „Ich habe geträumt, das ein gewisser Harald<br />

die Tagebücher von deinem Vater gestohlen hat und sie vernichten wollte.“<br />

„Beruhige dich. Es war nur ein Traum, Heike.“ Wolfgang streichelte Heikes rechten<br />

Oberarm.<br />

„Es war trotzdem furchtbar, Wolfgang. Stell Dir vor, <strong>der</strong> Traum könnte Wirklichkeit<br />

werden.“<br />

„Das glaube ich nicht, Heike.“ Seine Stimme war ruhig und gefasst. „Du hast irgendeine<br />

Angst in Deinem Traum verarbeitet, die Angst, die Tagebücher könnten verloren gehen.“<br />

„Aber was hat dann ein gewisser Harald damit zu tun?“ Tausende von Gedanken schossen<br />

plötzlich in Heikes Kopf umher. Einer schien den an<strong>der</strong>en zu jagen. Ein Zustand <strong>der</strong> völligen<br />

Hilflosigkeit befiel Heike und sie kuschelte sich noch dichter an Wolfgang. „Kennst Du<br />

einen gewissen Harald?“<br />

„Ich kenne schon einen“, gab Wolfgang zu, „aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser<br />

irgendwie hinter den Tagebüchern her sein könnte. Ich sehe da keinen Zusammenhang.“<br />

„Und wer ist dieser Harald?“<br />

Wolfgang ging nicht auf Heikes frage ein. „Übrigens: Du hast im Traum geschrieen.“<br />

„Geschrieen? Das habe ich gar nicht bemerkt.“<br />

„Natürlich nicht, Heike.“ Wolfgang lachte kurz. „Das merkt man selber nicht.“<br />

Für Heike gab es in diesem Moment nur eine Frage. „Was habe ich denn geschrieen?“<br />

„Tu es nicht, Wolfgang!“<br />

„Habe ich wirklich Wolfgang geschrieen?“<br />

„Ja.“<br />

<strong>Die</strong> unbeantwortet gebliebene Frage tauchte wie<strong>der</strong> in Heikes Kopf auf. „Und wer ist den<br />

jetzt dieser Harald?“<br />

„Ein Mitarbeiter am Institut, in dem mein Vater arbeitet.“<br />

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„So, so, ein Mitarbeiter in <strong>der</strong> Nähe deines Vaters.“ Heike begann zu überlegen, doch sie<br />

beruhigte sich jetzt zusehends. „Am besten wird sein, wir fragen morgen deinen Vater.“<br />

„Wenn es Dich beruhigt ...“ Wolfgang küsste Heike auf ihre Schulter, die offen vor ihm<br />

lag. „Übrigens: Das Morgen ist schon das heute. Es ist schon fast sechs Uhr früh.“<br />

„Na, dann können wir ja noch zwei Stunden schlafen.“ Heike löste sich aus Wolfgangs<br />

zärtlicher Umarmung, legte sich auf die an<strong>der</strong>e Seite und streckte ihre Hände vor sich aus.<br />

„Ich bin plötzlich wie<strong>der</strong> so schrecklich müde.“<br />

Wolfgang sagte nichts, son<strong>der</strong>n legte sich langsam wie<strong>der</strong> hin und dachte nach. Dabei<br />

schlief er ein. Sein Unterbewusstsein hatte nichts Notwendigeres zu tun, als seine kleinen Ereignisse,<br />

die er gerade erlebt hatte, schleunigst zu verarbeiten. Er begann zu träumen. Wie<strong>der</strong><br />

tauchten die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> auf. Sie lagen auf einem Tisch, aber dieser war nicht <strong>der</strong><br />

Schreibtisch seines Vaters. Auch die Person, die sich in dem Raum befand war nicht sein Vater.<br />

Das spürte er genau. Aber er sah das Gesicht dieser Gestalt nicht. Sie blieb trotz all seiner<br />

Bemühungen, das Gesicht zu erkennen, eine Person ohne Antlitz.<br />

„Schmeiß’ sie doch ganz einfach weg.“ Jimmy blickte Harald mit einem verständnislosen<br />

Blick an. „Wenn du sie schon nicht lesen kannst, dann sind sie doch nutzlos für dich. Und<br />

nutzloses Zeug hebt man doch nicht auf!“<br />

„Das verstehst du nicht, Jimmy.“ Harald Grattler hob seinen Blick und sah seinen Freund<br />

an. „Vielleicht brauche ich sie doch noch. Ich könnte mir vorstellen, dass einige Leute ein<br />

wenig dafür zahlen.“<br />

„Spinner! Wer soll das sein? Wer zahlt etwas für diese ollen Hefte.“<br />

„Du bist kein Historiker, Jimmy.“<br />

„Richtig und ich bin froh darüber. Ich mache meine Mücken an<strong>der</strong>s.“<br />

„Ja eben drum.“<br />

„Ich verstehe dich nicht, Harry.“<br />

Harald Grattler wurde wütend. „Nenn’ mich nicht immer Harry. Mein Name ist Harald!<br />

Sag’ mir lieber, wo ich jetzt hin soll.“<br />

„Na, in deine Bude kannst du auf jeden Fall nicht gehen. Da warten sicher schon die Bullen<br />

davor.“<br />

„Und zu Gabi ...?“<br />

„Vergiss’ diese Pissnelke! <strong>Die</strong> hat dich doch raus geschmissen. Und du lässt dir das auch<br />

noch gefallen. Der hätte ich etwas ganz Andres gesagt. <strong>Die</strong> hätte ich ...“ Jimmy unterbrach<br />

sich selbst und sah seinen Freund an.<br />

Harald schwieg. Er dachte nach. Wo konnte er ungesehen hingehen? Hinter je<strong>der</strong> Hecke<br />

konnte die Polizei auf ihn lauern. Für jemanden, <strong>der</strong> mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen<br />

war, hatte die Ordnungsmacht sicherlich schon einen Haftbefehl in <strong>der</strong> Tasche. Er<br />

grübelte und grübelte. Es wurde ihm heiß im Gesicht und im nächsten Moment fröstelte er,<br />

obwohl es in Jimmys Wohnung fast sommerlich warm war. Dann begann es in seinem Kopf<br />

zu summen. Seine Situation schien immer auswegloser zu werden, je mehr Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Flucht er verwerfen musste. Jimmy erlöste ihn schließlich von seinen Seelenqualen.<br />

„Da fällt mir ein, Harald“, sagte Haralds Freund nachdenklich. „Du könntest in die Bude<br />

von meiner Schwester gehen. Da werden dich die Bullen nicht so schnell suchen.“<br />

„Und wo ist deine Schwester?“ Harald Grattler wurde neugierig.<br />

„Ach die ist nach Ungarn gefahren.“<br />

„Was macht sie denn dort?“<br />

35<br />

192


„Was weiß ich? Vielleicht irgend so ein Pornodreh. Du weißt schon.“ Jimmy zwinkerte<br />

mit seinen Augen, die hintergründig zu leuchten begannen.<br />

„Na, ja! Hat mich nur am Rande interessiert.“ Harald Grattler atmete erleichtert auf.<br />

„Und wo ist die Bude von deiner scharfen Schwester?“<br />

Jimmy musste lachen. „Da müssen wir ein paar Minuten fahren. <strong>Die</strong> ist fast an <strong>der</strong> tschechischen<br />

Grenze.“<br />

„Na, dann nichts wie hin.“ Harald Grattler sprang von seinem Stuhl hoch und wollte<br />

schon gehen, doch Jimmy hielt ihn zurück.<br />

„Langsam, langsam, Harry! Du brauchst doch noch ein paar Sachen, wenn du dich dort<br />

hinten im Wald eingraben willst.“<br />

„Du hast Recht, Jimmy.“ Harald Grattler war überzeugt und seinem Freund jetzt nicht<br />

mehr böse wegen des ungeliebten Spitznamens. Seine Gedanken eilten <strong>der</strong> Zeit schon weit<br />

voraus. „Aber wo soll ich jetzt meine Klamotten hernehmen?“<br />

„Das ist doch ganz einfach, Harry!“<br />

„Wie!?“<br />

„Ich gehe in deine Bude und hole sie.“<br />

„Und wenn die Bullen ...“<br />

„... dann sage ich ihnen einfach, dass ich im Moment dort wohne, weil du weggefahren<br />

bist. Das wird sie ablenken.“<br />

„Das ist ja fast genial, Jimmy.“ Harald Grattler setzte sich wie<strong>der</strong> hin und verschränkte<br />

lässig seine Arme vor <strong>der</strong> Brust.<br />

„Was heißt hier „fast“? Das ist genial. Falsche Fährte - kapito!“ Jimmy stand auf und<br />

hielt seine rechte Hand vor Haralds Nase auf. „The keys, please!“<br />

Harald Grattler gab seinem Freund die Wohnungsschlüssel. „Bis gleich, Jimmy!“<br />

„Adios, mein Freund!“ Jimmy eilte zum Zimmer hinaus. Harald blieb zurück. Er begann<br />

wie<strong>der</strong> nachzudenken und seine Gedanken drehten sich immer nur um eines, nämlich um die<br />

Frage, was er jetzt mit den sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>n in <strong>der</strong> Plastiktüte machen sollte.<br />

Heikes Radiowecker zeigte genau acht Uhr, als sie aufwachte. Ihr war warm, obwohl sie<br />

nur Slip und ein weites Sleepshirt anhatte. Sie nahm es nur am Rande wahr, wie sie mit ihren<br />

Händen ihren Oberkörper betastete. Sie umstrich ihre beiden Busen, die fest, nicht zu klein,<br />

aber auch nicht üppig waren. Aus ihnen entsprangen zwei zarte Knospen, die sich sogleich<br />

aufrichteten, als sie diese mit ihren Fingern zärtlich knetend streichelte. Mit ihrer linken Hand<br />

massierte sie ihre Brüste leicht, während ihre rechte Hand tiefer glitt, bis sie ihren Slip ein<br />

wenig nach unten schob und schließlich ihre Scham berührte.<br />

‚Ich bin ja ganz heiß und feucht da unten’, dachte sie und streichelte weiter ihre äußeren<br />

Schamlippen. Dann drang sie mit ihrem rechten Mittelfinger in sich ein. Ihre Vulva öffnete<br />

sich und sie konnte einen leisen Schrei <strong>der</strong> Lust nicht unterdrücken.<br />

War Wolfgang aufgewacht? Verschämt sah Heike hastig zu ihm hinüber. Nein, er hatte<br />

sich nur umgedreht. Heike atmete auf.<br />

‚Ich halte das nicht mehr länger aus, ich muss mich ausziehen.’ Heikes Gedanken waren<br />

von ihrer Lust vollständig umsponnen. ‚Ich brauche Wolfgang. Ich brauche ihn jetzt und<br />

hier.’ Nur wi<strong>der</strong>willig konnte sich ihre rechte Hand von ihrem Lustzentrum trennen und sich<br />

losreißen. Mit beiden Händen zog sie ihren Slip aus und schob ihn mit ihren Füßen an das<br />

Bettende.<br />

‚Nur fort mit dem! Ich muss jetzt nackt sein.’ Ihre Gedanken wurden von einer größer<br />

werdenden Geilheit aufgesogen. Sie setzte sich im Bett auf. Im nächsten Moment hatte sie ihr<br />

Sleepshirt ausgezogen, beugte sich mit ihrem nackten und immer noch sehr jugendlich wirkenden<br />

Körper über Wolfgang, <strong>der</strong> immer noch selig schlief. Sie zog die Bettdecke von ihm<br />

weg und setzte sich rittlings auf seine Beine, sich über ihn beugend und auf ihre Arme stützend.<br />

Heike wiegte ihren Oberkörper hin und her. Dabei wippten ihre Brüste aufreizend vor<br />

193


Wolfgangs Nase, die ihre zarten Knospen abwechselnd zärtlich berührten. Es gefiel ihr so,<br />

denn sie wollte Wolfgang; sie brauchte ihn jetzt und er sollte möglichst schnell aufwachen.<br />

Doch Wolfgang war in einen tiefen Traum gefallen, <strong>der</strong> ihn zunächst nicht aufwecken wollte.<br />

Heike gab dem Schlafenden einen zärtlichen Kuss. Wolfgang bewegte die Lippen. Es war ihr,<br />

als wolle er etwas sagen, aber sie hörte nur sein leises, tiefe Atmen. Heike streichelte Wolfgangs<br />

Haar und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen ...<br />

... und er träumte weiter. Wolfgang sah plötzlich Heike, die sich über ihn gebeugt hatte.<br />

„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Und ich brauche dich – jetzt!“<br />

„Ich liebe dich auch, Heike. Aber lass’ mich noch ein wenig schlafen.“<br />

„Ich will auch schlafen, aber mit dir.“ Heikes Stimme klang in seinen Ohren süß und verführerisch.<br />

„Wach auf, Wolfgang! Ich will, dass du ...“<br />

In diesem Moment schlug Heikes Freund die Augen auf. Er traute ihnen zunächst nicht,<br />

denn Heike saß, die Beine breit über ihn und massierte ihre Busen mit beiden Händen. Zwischen<br />

seinen Schenkeln spürte er, wie seine Männlichkeit wuchs. Es dauerte nicht lange, bis<br />

sein Stän<strong>der</strong> vollendet steif war.<br />

„Zieh’ dich aus“, for<strong>der</strong>te sie ihn auf.<br />

„Du gehst aber ganz schön ran.“ Wolfgang sah Heike immer noch erstaunt an, kam aber<br />

<strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung nach und zeigte sich wenige Augenblicke später zum ersten Mal seiner<br />

Freundin nackt. <strong>Die</strong>se fixierte seine aufragende Männlichkeit mit ihren Augen, die ein wenig<br />

erschreckt aus sahen. Wolfgang merkte dies. „Hast du plötzlich Angst bekommen?“<br />

„Nein, Wolfgang! Aber ich muss dir etwas gestehen“<br />

„Was denn? Hast du noch nie mit einem Mann ...“<br />

„Das auch“, fiel ihm Heike ins Wort. „Aber ich möchte so gerne ...? Heike traute es sich<br />

nicht aussprechen.<br />

„Was möchtest du so gerne?“ Wolfgang war überrascht über die plötzlich Zurückhaltung<br />

von Heike, die er bisher immer aufgeschlossen und durch und durch ehrlich kannte.<br />

Heike ergriff Wolfgangs Speer und massierte ihn. Dann sprudelte es aus ihr heraus: „Ich<br />

möchte ihn so gerne in den Mund nehmen, aber ich habe das noch nicht gemacht.“<br />

„Trau’ dich nur, Heike. Er wird dich schon nicht beißen.“ Wolfgang musste schmunzeln.<br />

„Er hat noch nie gebissen.“<br />

Jetzt musste Heike lachen. Wolfgang hatte ihr die Scheu genommen. Langsam näherte sie<br />

sich mit ihrem Mund dem Lustspen<strong>der</strong>, ihn weiter massierend. Dann konnte sie nicht mehr<br />

länger wi<strong>der</strong>stehen und ihre Lippen umschlossen schnell die obere Kuppe. Wolfgang konnte<br />

einen lustvollen Aufschrei nicht unterdrücken. <strong>Die</strong>s regte Heike zu mehr an. Sie begann<br />

Wolfgangs bestes Stück zu lutschen, sachte zuerst, dann immer wil<strong>der</strong>.<br />

Wolfgang stöhnte. „Du kannst das aber sehr gut. Hast du wirklich noch niemals vorher<br />

einen Schwanz gelutscht?“<br />

Heike konnte mit vollem Mund nicht antworten. Sie entließ die Eichel ihrem Gaumen<br />

und hob ihren Kopf. „Nein, wirklich nicht, Wolfgang. Ich mache es so das erste Mal.“<br />

„Schmeckt er Dir?“<br />

„Ja!“ Heikes Augen verklärten sich. „Am Anfang schmeckte er ein wenig salzig, aber<br />

jetzt ... Ah, was ist das für ein Gefühl für Dich?“<br />

„Ein wun<strong>der</strong>bares, Heike. Ein wirklich wun<strong>der</strong>bares“<br />

„Dann bin ich ja zufrieden und kann weiter machen.“ Heike schob ihre Lippen wie<strong>der</strong><br />

über die Eichel und saugte sich erneut fest. Wie<strong>der</strong> konnte Wolfgang einen lustvollen Aufschrei<br />

nicht unterdrücken.<br />

Heike wurde immer wil<strong>der</strong>. Nach einigen Minuten musste Wolfgang einen Wunsch los<br />

werden. „Ich will dich auch lutschen! Dreh dich doch zu mir her, damit meine Zunge deine<br />

Lustgrotte besuchen kann!“<br />

„Ja, du sollst sie haben!“ Heikes Stimme klang gepresst, als sie von Wolfgang abließ und<br />

sich umdrehte. Erst jetzt sah Wolfgang, dass sich Heikes Schamlippen rasiert waren.<br />

194


„Du bist ja rasiert!“ Wolfgangs Ausruf des Erstaunens belustigte Heike.<br />

„Das habe ich nur für dich gemacht, damit du nicht so viele Haare in den Mund bekommst.<br />

Und dich werde ich auch noch rasieren.“<br />

„Du bist ja eine ganz geile ...“ Wolfgang wurde von Heike unterbrochen, die jetzt ganz<br />

heiß war, Wolfgangs Zunge zu spüren<br />

„Ja, ich bin eine ganz geile Maus“, unterbrach sie ihn. „Und diese will jetzt, das du sie<br />

leckst. Leck’ meine Muschi! Leck’ sie! Ich brauche das jetzt!“<br />

Wolfgang ließ sich nicht zweimal auffor<strong>der</strong>n und drang mit seiner Zunge in ihre Lustgrotte<br />

ein. Heike schrie auf.<br />

„Ah, du leckst mich wun<strong>der</strong>bar! Mache es mir ruhig ein wenig härter. Beiß’ mich Brigitte!<br />

Beiß’ mich!“ Heike schien völlig auszurasten. <strong>Die</strong> Wolllust hieß sie auszusprechen, was<br />

sie sonst nicht gewagt hätte.<br />

Wolfgang nahm den ausgerufenen weiblichen Vornamen wohl wahr, aber er staunte jetzt<br />

über nichts mehr, denn ihre Lust, dem an<strong>der</strong>en alles zu geben, wuchs von Minute zu Minute.<br />

Er saugte sich an einer von Heikes äußeren Schamlippen fest.<br />

Heike stöhnte laut und schob Wolfgangs Pfahl tief in ihren Mund. Sie merkte, wie er<br />

immer noch wuchs. ‚Es ist schon ein wahnsinnsgeiles Gefühl’, dachte sie, als sie die Eichel an<br />

ihrem Gaumen spürte, ‚so einen Brocken in den Mund zu nehmen. Was ist mir nur bisher entgangen.<br />

Doch jetzt muss ich ihn woan<strong>der</strong>s spüren.’ Sie entließ Wolfgangs Lustkolben wie<strong>der</strong><br />

ihrem Mund.<br />

„So, jetzt werde ich auf dir reiten, bis du spritzt.“<br />

Wolfgang schien darauf gewartet zu haben. „Na endlich. Ich dachte schon, du willst, dass<br />

ich in deinem Mund komme.“<br />

Heike drehte sich um und führte mit einem lauten Aufschrei den harten Stab in ihre Lustgrotte<br />

ein. Sie ritt ihn und wollte ihn solange reiten, bis er kommen würde. Ihre Grotte begann<br />

ein Eigenleben zu führen, denn sie schien Wolfgangs Lustspen<strong>der</strong> auspumpen zu wollen.<br />

„Das ist ja irre“, schrie sie. Dann merkte sie, wie sich in einem noch nie da gewesenen<br />

Gefühl ihre Lust entlud. „Ich komme!“ Heike schwanden fast die Sinne. „Mein Gott ich<br />

komme zum ersten Mal richtig. Au jaaah!“<br />

Wolfgang spürte, wie in ihm <strong>der</strong> Saft hochstieg und zog seinen Pfahl aus <strong>der</strong> Lustgrotte.<br />

„Ich komme auch! Oh jaaah!“<br />

Ein unerträgliches Jucken durchfuhr seine Eichel, dann entlud er sich auf Heikes Bauch.<br />

Überglücklich sanken beide zusammen. Wolfgang und Heike rollten sich zur Seite und legten<br />

sich auf den Rücken.<br />

„Oh, das hat gut getan“, stöhnte Heike. „Ich bin so glücklich, Wolfgang. Ich kann dir<br />

nicht beschreiben, wie glücklich ich bin.“<br />

Wolfgang lächelte, beugte sich zu ihr und streichelte Heikes rechte Schulter. „Du hast<br />

mich ja ganz schön überfallen. Aber es hat mir sehr gefallen.“<br />

„Ich liebe dich, Wolfgang.“ Heike schloss ihre Augen und atmete tief durch.<br />

„Ich dich auch“, beteuerte Wolfgang und gab ihr einen Kuss. „Ich glaube, jetzt könnten<br />

wir noch etwas Schlaf gebrauchen.“<br />

„Meinst du, wir können uns das leisten, Wolfgang?“<br />

„Aber sicher doch. O<strong>der</strong> haben wir heute irgendwelche Verpflichtungen?“ Wolfgang lächelte<br />

Heike an.<br />

„Doch nicht in den Semesterferien, Wolfgang.“<br />

Einige Zeit lagen sie schweigend nebeneinan<strong>der</strong>.<br />

„Eigentlich bin ich glücklich, aber irgendwas in mir macht mich traurig.“ Heike, die wie<br />

Wolfgang noch immer auf dem Rücken lag, drehte ihren Kopf ihrem Freund zu. Ihre Hand<br />

streichelte sein Haar. „Ich kann nicht verstehen, warum ich jetzt traurig werde.“<br />

„Vielleicht ist es gar keine Traurigkeit, die du spürst.“ Wolfgang ergriff ihre Hand. „Vielleicht<br />

wird dir jetzt nur klar, dass ein neuer Abschnitt in deinem Leben begonnen hat.“<br />

195


„Ja, das wird’s wohl sein, Wolfgang“, seufzte Heike und zog ihre Hand zurück. Lass’ und<br />

noch ein wenig schlafen. Ein Stündchen geht noch. Dann werde ich uns ein gutes Frühstück<br />

machen.“<br />

„Au ja, das ist eine gute Idee, Heike.“ Wolfgang rollte sich zur Seite, Heike zu und gähnte.<br />

„Und eine kleine Mütze Schlaf kann uns auch nicht schaden.“<br />

Heike sagte nichts, sie hatte ihre Augen geschlossen und dämmerte gerade hinüber in das<br />

Reich <strong>der</strong> Träume.<br />

Wolfgang konnte zunächst nicht einschlafen, zu aufgewühlt war er. Seine Gedanken<br />

sprangen wild hin und her, sich um die Tagebücher und im nächsten Moment um Heike drehend.<br />

Immer wil<strong>der</strong> wurde ihr Tanz, bis sein Geist ihnen nicht mehr folgen konnte und er in<br />

einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, aus dem er wie<strong>der</strong> Kräfte schöpfen konnte.<br />

Jimmy stieg aus dem Taxi und zahlte. Harald Grattlers Wohnung lag eine Querstraße entfernt.<br />

Berechnend hatte er sich nicht vor die Wohnung seines Freundes chauffieren lassen,<br />

denn er vermutete in <strong>der</strong> Nähe dieser einen Wagen mit einer Behördennummer. Langsam<br />

schlen<strong>der</strong>te er um die Ecke und überblickte die Situation sofort.<br />

Es stand tatsächlich ein Polizeiauto in <strong>der</strong> Straße. Ein Mann mittleren Alters stand am<br />

Gehsteig daneben und sprach mit einem <strong>der</strong> Polizisten, <strong>der</strong> auf dem Beifahrersitz saß.<br />

‚Aha!’, dachte Jimmy. ‚<strong>Die</strong> Bullen beobachten schon auffällig. Und <strong>der</strong> Unauffällige, <strong>der</strong><br />

neben dran steht, ist mit Sicherheit einer von <strong>der</strong> Kripo. Aber ich riskiere es. Harry hat mir<br />

vorgestern seine Wohnungsschlüssel gegeben und ...’ Seine Gedanken fassten den Plan, den<br />

er entwickelte, schnell. ‚Jetzt nur nicht zu langsam laufen, sonst schöpfen die Bullen gleich<br />

Verdacht.’<br />

Gemäßigten Schrittes ging Jimmy weiter. <strong>Die</strong> Herren <strong>der</strong> Ordnungsmacht schienen ihn<br />

nicht zu bemerken. In Höhe <strong>der</strong> Haustüre blieb er stehen und kramte in seiner linken Hosentasche<br />

nach den Schlüsseln, die ihm Harald vorhin gegeben hatte.<br />

Es dauerte einen Moment, bis Jimmy die Schlüssel aus seiner Hosentasche geholt hatte.<br />

Er wollte gerade den Schlüssel ins das Haustürschloss stecken, als ihn von hinten eine dunkle<br />

Männerstimme ansprach: „Wohnen Sie hier?“<br />

Jimmy zuckte kurz zusammen und drehte sich um. Vor ihm stand <strong>der</strong> Mann mittleren Alters,<br />

den er bei dem Polizeiauto gesehen hatte. Er war unauffällig gekleidet und sah ihn fragend<br />

an. Jimmy überlegte kurz. ‚Nur nicht nervös werden’, sagte er zu sich. ‚Bleib cool, Junge!<br />

Und sei freundlich!’<br />

„Nein , ich wohne nicht hier“, antwortete Jimmy in betont freundlich. „Aber ...“<br />

„Warum haben Sie dann Schlüssel für das Haus?“<br />

Jimmy lachte. „Ein Freund hat mir seine Schlüssel gegeben und mich gebeten, in seiner<br />

Wohnung nach dem Rechten zu sehen.“<br />

„So, so!“ Der Mann blickte Jimmy misstrauisch an. „Und wie heißt Ihr Freund?“<br />

Jimmy, <strong>der</strong> innerlich aufs Äußerste angespannt war, konnte jetzt nicht an<strong>der</strong>s und fuhr<br />

aus <strong>der</strong> Haut. „Ich wüsste nicht, was Sie das anginge.“<br />

Blitzschnell zog <strong>der</strong> Herr einen Ausweis aus seiner rechten Gesäßtasche und hielt ihn<br />

Jimmy vor die Nase. „Kommissar Müller von <strong>der</strong> Kriminalpolizei. Über zeugt Sie das?“<br />

„Warum nicht gleich so, Herr Kommissar?“ Jimmy hatte sich blitzschnell wie<strong>der</strong> gefangen<br />

und grinste den Kommissar an. „Dass Sie von <strong>der</strong> Kripo sind sieht man Ihnen schließlich<br />

nicht an <strong>der</strong> Nasenspitz an.“<br />

„Also, wie heißt Ihr Freund?“ Kommissar Müller blickte Jimmy durchdringend an.<br />

„Harry.“<br />

„Harry?“ Der Blick des Kripobeamten wurde immer misstrauischer.<br />

„Ich meine Harald Grattler.“<br />

„Und wann hat Ihnen Ihr Freund die Schlüssel gegeben?“<br />

196


Jimmy zögerte keinen Moment. „Vorgestern. Ja, vorgestern war es. Harry, ich meine Harald<br />

wollte wegfahren.“<br />

„Hm!“ Kommissar Müller schien etwas enttäuscht über die Aussage von Jimmy. Doch er<br />

überspielte elegant die Situation. „Dann werden Sie wohl nichts dagegen haben, wenn wir<br />

beide uns in <strong>der</strong> Wohnung ein wenig umsehen.“<br />

„Nur, wenn Sie einen Durchsuchungsbefehl haben, Herr Kommissar.“ Jimmy grinste<br />

wie<strong>der</strong>, hoffte er doch, dass dieses gerichtlich ausgestellte Dokument nicht existierte.<br />

„Kein Problem, Herr ...?“<br />

„Birnbichler, Johann Birnbichler ist mein Name.“<br />

„Hier ist <strong>der</strong> Durchsuchungsbefehl, Herr Birnküchler.“<br />

„Birnbichler!“, korrigierte Jimmy.<br />

„Also gut, Herr Birnbichler.“ Kommissar Müller holte ein Blatt Papier hervor, diesmal<br />

aus seiner linken Gesäßtasche und hielt es ihm genauso vor die Nase, wie wenige Momente<br />

zuvor seinen <strong>Die</strong>nstausweis. Jimmy blickte nur kurz auf das Dokument und überflog es: Kein<br />

Zweifel, es handelte sich um die Legitimation, mit <strong>der</strong> sich die Ordnungsmacht Zugang zu<br />

Harald Grattlers Wohnung verschaffen konnte und wollte.<br />

„Also gehen wir!“ Jimmy schloss die Haustüre auf. „Aber ich sage Ihnen gleich eines:<br />

Ich gehe heute zum ersten Mal in die Wohnung von Harry. Das können sie mir glauben.“<br />

Kommissar Müller sagte nichts, son<strong>der</strong>n folgte Jimmy in den Hausflur. <strong>Die</strong>ser ließ sich<br />

nichts anmerken. Nach außen wirkte er kühl, doch in ihm brodelte es. ‚Wie zum Teufel bringe<br />

ich jetzt die Wäsche für Harry aus <strong>der</strong> Wohnung?’, fragte er sich. <strong>Die</strong>ses Problem schien ihm<br />

unlösbar, zumindest im Moment. Doch zunächst tat er so, als suchte er Harald Grattlers Wohnung,<br />

obwohl er gerade den Kommissar angelogen hatte.<br />

Dr. Brenner schlief nach all den Aufregungen überraschend gut. Erst um zehn Uhr stand<br />

er auf und ging sogleich ins Bad. ‚Jetzt erst mal eine schöne Dusche’, dachte er bei sich, zog<br />

sich aus und drehte das warme Wasser seiner Brause an. ‚Danach werde ich ins Café fahren<br />

und ordentlich frühstücken. Schließlich ist heute Samstag. Und auch wenn dies nicht so wäre,<br />

ich bin immer noch krank geschrieben. Und Dr. An<strong>der</strong>s wird sicherlich nichts dagegen haben,<br />

wenn ich mich weiterhin schone und auch daheim nichts arbeite. <strong>Die</strong> Tagebücher sind weg.<br />

Und wer weiß, ob sie je wie<strong>der</strong> auftauchen ...’<br />

<strong>Die</strong> etwa zehnminütige Dusche erfrischte seinen Körper ungemein. Als er sich frische<br />

Unterwäsche anzog, durchfuhr ihm plötzlich ein Gedanke, <strong>der</strong> seine Stimmung in fast<br />

schwindelnde Höhen empor schnellen ließ: ‚Wenn mich nicht alles täuscht, hat doch Herr<br />

Markert bei unserem ersten Treffen damals gesagt, dass ... Ja genau! <strong>Die</strong> Tagebücher sind<br />

nicht verloren. Sie sind keine Unikate mehr, denn Herr Markert hat ja Kopien angefertigt. Ich<br />

muss ihn unbedingt anrufen. – Mein Gott, die Markerts wissen ja überhaupt noch nicht, was<br />

mit ihren Tagebüchern geschehen ist. Ich muss sie unbedingt jetzt gleich anrufen.’<br />

Dr. Brenner zog sich rasch an und ging in die Küche, wo sein Telefon stand. Er hielt wenig<br />

bis nichts von diesen Mobiltelefonen, mit denen die meisten seiner Mitmenschen herumliefen,<br />

um überall für völlig überflüssige und unwichtige Nachrichten erreichbar zu sein. Er<br />

dachte wie<strong>der</strong> an seinen Vater, <strong>der</strong> ihm erzählt hatte, dass früher in den Telefonzellen das<br />

Schild mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung „Fasse Dich kurz!“ allgegenwärtig war. Aber diese Zeiten waren<br />

längst Geschichte geworden.<br />

Er hob den Hörer ab und wählte die Nummer von Heikes Eltern.<br />

Das Telefon in <strong>der</strong> Essdiele läutete<br />

„Geh’ bitte dran, Heinz!“ rief Elke aus <strong>der</strong> Küche. „Ich habe fettige Finger, denn ich mische<br />

gerade den Teig für die Fleischküchle.“<br />

197


„Ist gut, Elke! Ich geh’ schon ran.“ Heinz Markert war gerade aus Heikes früheren Zimmer<br />

gekommen, um sich die Tageszeitung zu holen, die auf dem Esstisch lag. Er hatte nur<br />

zwei Schritte zum Telefon.<br />

Es nahm den Hörer ab. „Hallo, hier Markert!“<br />

„Guten Morgen, Herr Markert, hier Brenner!“ Dr. Brenners Stimme zitterte ein wenig, als<br />

er merkte, dass sein Anruf angenommen wurde. „Sie werden sicher erstaunt sein, dass ich Sie<br />

anrufe.“<br />

„Mitnichten, Herr Dr. Brenner. Ich habe schon fast auf einen Anruf von Ihnen gewartet.“<br />

Dr. Brenner räusperte sich. Er merkte, wie sein Hals trocken wurde. „Ich muss Sie enttäuschen,<br />

wenn Sie etwas Erfreuliches von mir erwartet haben.“<br />

“Warum?“ Heinz Markert verzog sein Gesicht.<br />

„Weil ich Ihnen lei<strong>der</strong> mitteilen muss, das die Tagebücher Opfer eines Überfalls geworden<br />

sind.“<br />

„Eines Überfalls? Das müssen Sie mir näher erläutern, Herr Dr. Brenner.“<br />

Dr. Brenner rang nach einem Satz. Wie konnte er den gestrigen Überfall in möglichst<br />

wenigen Worten klar und umfassend schil<strong>der</strong>n? „Es scheint jemanden zu geben, <strong>der</strong> die Tagebücher<br />

für so wichtig hält, dass er mich überfallen und gezielt die <strong>Wachstuchhefte</strong> entwenden<br />

ließ.“ Er atmete tief durch. Endlich – es war aus ihm heraus! „Ich habe da so einen Verdacht,<br />

wer dahinter stecken könnte, aber ich bin mir nicht sicher.“<br />

„Das ist ja ungeheuerlich!“ Heinz, <strong>der</strong> sonst nicht auf den Mund gefallen, fiel in diesem<br />

Moment nichts mehr ein, was er dazu sagen konnte.<br />

„Sie sagen es, Herr Markert“ Dr. Brenner konnte die Meinung von Heinz Markert nur bestätigen.<br />

„Dabei habe ich noch Glück gehabt, denn ich wurde mit Chloroform betäubt, gefesselt<br />

und geknebelt in den Keller gesperrt.“<br />

Heinz Markert verschlug es nun endgültig die Sprache. Er wusste mehr als einen Moment<br />

lang wirklich nicht, was er sagen sollte.<br />

<strong>Die</strong>s gab Dr. Brenner die Zeit, in seiner Schil<strong>der</strong>ung fortzufahren. „Mein Glück, meine<br />

ich, war, dass ich schnell gefunden wurde. Sonst hätte ich Sie jetzt vielleicht nicht mehr benachrichtigen<br />

können.“<br />

„Das ist ja furchtbar.“ Heinz musste sich setzen. „Wie kann man nur so viele kriminelle<br />

Energie aufwenden, nur um an Tagebücher zu kommen, die fast 80 Jahre, nein, fast 90 Jahre<br />

alt sind ?!“<br />

„<strong>Die</strong>se Frage habe ich mir auch gestellt, als ich aus meiner Umnachtung wie<strong>der</strong> aufwachte.“<br />

Dr. Brenner bemühte sich, ruhig zu sprechen, denn jetzt erlebte er den letzten Abend in<br />

seiner Vorstellung noch einmal, was sehr an seinen Nerven zerrte. „Meine Nichte und ihre<br />

Freundin haben zufällig, wirklich rein zufällig, beobachtet, wie ich von zwei jungen Männern<br />

überfallen worden bin.“<br />

Heinz Markert fuhren jetzt tausend Gedanken durch den Kopf. „Ist außer den Tagebüchern<br />

denn noch etwas verschwunden, Herr Dr. Brenner?“<br />

„So, wie es aussieht: Nein, Herr Markert. Alle meine Notizen und Aufzeichnungen, selbst<br />

die Transkriptionstexte auf meinem Computer, alles ist noch vorhanden.“<br />

„Merkwürdig, äußerst merkwürdig!“ Heinz schüttelte seinen Kopf. Seine Gedanken, die<br />

ihm immer noch tausendfach im Kopf herumgeisterten, machten ihn ganz schwindlig. „Ich<br />

bin nur froh, dass ich Kopien <strong>der</strong> Originale angefertigt habe. Meine Frau und vor allem meine<br />

Tochter haben mich schon belächelt, als ich damals ein paar Euro investiert habe.“<br />

Dr. Brenner atmete auf, hatte Heinz Markert doch gerade seine Vermutung bestätigt. „Ich<br />

bin Ihnen unendlich dankbar, Herr Markert, dass Sie dies getan haben. So besitzen wir jetzt<br />

wenigstens noch die Chance, die Transkription <strong>der</strong> Tagebücher zu Ende zu führen, unabhängig<br />

davon, ob die Originale vielleicht wie<strong>der</strong> auftauchen o<strong>der</strong> nicht.“<br />

„Ich stelle Ihnen die Kopien je<strong>der</strong>zeit zur Verfügung, Herr Dr. Brenner.“<br />

198


„Ich danke Ihnen dafür, Herr Markert“, entgegnete Dr. Brenner. „Doch im Moment kann<br />

ich an meiner Studie und damit auch an den Tagebüchern nicht weiter arbeiten. Mein Arzt hat<br />

mir ein striktes Arbeitsverbot erteilt.“<br />

„Wieso denn das??“<br />

„Er hat bei mir das sogenannte Burnout-Syndrom diagnostiziert, obwohl ich da so meine<br />

Zweifel habe. Ich habe mich nämlich schon ein wenig über diese „Krankheit“ informiert.“<br />

Heinz Markert war erstaunt über die Offenheit, mit <strong>der</strong> sein Gesprächspartner über seine<br />

Gesundheit sprach. Er hatte Dr. Brenner ein wenig an<strong>der</strong>s eingeschätzt, nicht so offen, eher<br />

etwas introvertiert. „Na, dann erholen Sie sich erst einmal, Herr Dr. Brenner. <strong>Die</strong> Aufzeichnungen<br />

<strong>der</strong> Großmutter meiner Frau waren Jahrzehnte auf dem Dachboden gelegen. Da<br />

kommt es jetzt auf einen Monat hin o<strong>der</strong> her nun wirklich nicht mehr an.“<br />

Dr. Brenner atmete tief durch. Dabei spürte er, wie sich sein Magen fast schmerzhaft bemerkbar<br />

machte. Er suchte nach einer Möglichkeit, das Telefongespräch möglichst schnell zu<br />

beenden. „Also, ich bleibe dran, Herr Markert“, fuhr er fort. „Aber es wird noch etwas dauern.<br />

Sie können mir die Kopien in <strong>der</strong> nächsten Zeit ja vorbei bringen. Sie wissen ja, wo ich wohne.“<br />

„Ja, das weiß ich, Herr Doktor.“ Heinz merkte instinktiv, dass sein Gesprächspartner auflegen<br />

wollte. „Erholen Sie sich gut!“<br />

„Bis bald, Herr Markert!“ Dr. Brenner wartete nicht die Reaktion von Heinz ab, son<strong>der</strong>n<br />

legte schnell den Hörer auf. ‚Jetzt wird es aber höchste Zeit zum Frühstücken!’ dachte er und<br />

sah auf seine Armbanduhr. „O, je!“, entfuhr es ihm. „Schon halb elf vorbei. Jetzt aber auf ins<br />

Café Brandt!“<br />

Er zog rasch noch seine Schuhe an, steckte seine Schlüssel sowie seine Geldbörse ein und<br />

strebte zur Garage, um mit dem Wagen die drei o<strong>der</strong> vier Kilometer in das Café zu fahren, in<br />

dem er früher öfters von <strong>der</strong> Arbeit abschaltete und sich entspannte.<br />

<strong>Die</strong> Küchentüre stand offen, als Heinz Markert den Hörer wie<strong>der</strong> auf die Gabel legte und<br />

von dem kleinen Stuhl neben dem Telefon wie<strong>der</strong> aufstand.<br />

Hast Du das mitbekommen, Elke?“, rief er zur Küche hinüber.<br />

„Nein, Heinz! Was ist?“ Elke erschien in <strong>der</strong> Küchentüre. Sie hatte immer noch fettige<br />

Hände. „Ich habe mich auf das Essen konzentriert und Fleischküchle geformt. Wer hat gerade<br />

angerufen?“<br />

„Dr. Brenner.“ Heinz machte ein sorgenvolles Gesicht, was seine Frau sofort erschreckt<br />

bemerkte.<br />

„Ist was mit ihm? Geht es ihm nicht gut?“<br />

„Er ist gestern Abend überfallen worden. Und weißt Du warum?“<br />

„Überfallen!? Auf <strong>der</strong> Straße?“ Elkes ungläubige Miene belustigte Heinz fast. „Wo ist er<br />

überfallen worden? Sag’ schon!“<br />

„In seinem Haus. Und weißt Du warum?“<br />

„Vielleicht wollte man Geld stehlen.“<br />

„Nein, Geld nicht.“ Heinz machte es einen spitzbübischen Spaß, seine überaus neugierige<br />

Frau, die darauf brannte zu erfahren, was mit Dr. Brenner geschehen war, auf die Folter zu<br />

spannen.<br />

„Was denn dann? Jetzt sag’ schon, Heinz!“ Elke trippelte nervös durch die offene Küchentüre.<br />

„Hat man ihm sonstige Wertsachen gestohlen?“<br />

„Das kann man so sagen.“ Heinz folgte seiner Frau in die Küche.<br />

„Jetzt spann’ mich nicht weiter auf die Folter und sag’ schon, Heinz!“ Elke wusch sich<br />

ihre fettigen Hände über <strong>der</strong> Spüle.<br />

„So, wie es scheint, hat man ihn nur wegen Deiner Tagebücher überfallen, Elke.“<br />

„Nur wegen <strong>der</strong> Tagebücher? Hat er sie denn zu Hause gehabt?“ Elke schüttelte den Kopf<br />

und trocknete ihre Hände ab. „Was ist denn so wertvoll an den Aufzeichnungen meiner<br />

199


Großmutter, dass man gleich einen anständigen Menschen überfallen muss, um die Originale<br />

zu klauen? Das verstehe ich nicht, Heinz.“<br />

„Ich auch nicht. Aber es scheint Tatsache zu sein, wenn ich Dr. Brenner richtig verstanden<br />

habe.“<br />

„Und was machen wir jetzt, Heinz?“<br />

„Im Moment nichts! Abwarten!“ Heinz hob seine Augenbrauen.<br />

„Abwarten, abwarten! Man kann doch jetzt nicht so tun, als wäre nichts geschehen.“ Elke<br />

wurde ärgerlich. „Man muss die Gauner und mit ihnen die Tagebücher suchen.“<br />

„Woher weißt Du, dass es zwei waren, die Dr. Brenner überfallen haben. Ich habe nichts<br />

<strong>der</strong>gleichen erzählt und Dr. Brenner hat auch nichts Näheres am Telefon gesagt.“<br />

“Das ist reine Vermutung, Heinz, vielleicht auch weibliche Intuition. Ach was! Ich will jetzt<br />

nicht lange darüber diskutieren. Erzähl’ mir lieber, was er am Telefon gesagt hat!“<br />

„Also gut, Elke“, begann Heinz, ging aus <strong>der</strong> Küche in die Essdiele und setzte sich an<br />

den Tisch. „Dr. Brenner ist gestern Abend überfallen worden. Dabei hat man die Tagebücher<br />

Deiner Großmutter entwendet. Mehr weiß ich im Moment auch nicht. Halt! Er hat noch gesagt,<br />

dass er zurzeit krankgeschrieben ist und von seinem Arzt aus auch daheim nicht arbeiten<br />

darf.“<br />

Elke hatte eine große Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ereignisse erwartet und ließ sich jetzt enttäuscht<br />

auf den Stuhl Heinz gegenüber fallen. Es wollte ihr nicht in den Kopf gehen, warum Dr.<br />

Brenner nur wegen <strong>der</strong> Tagebücher überfallen worden war.<br />

„War das jetzt alles, was Du mir erzählen wolltest?“<br />

„Mehr kann ich im Moment nicht erzählen. Doch Halt! Da fällt mir noch ein: Dr. Brenner<br />

wurde von seiner Nichte und einer Freundin gefunden, die den Überfall zufällig aus <strong>der</strong> Entfernung<br />

gesehen haben.“ Damit war für Heinz die Schil<strong>der</strong>ung abgeschlossen. Doch in Elke<br />

begannen jetzt erst, ihre Gedanken mit Hochdruck zu arbeiten. Sie saß zunächst nur gedankenversunken<br />

da und sagte nichts.<br />

„Das ist ja wun<strong>der</strong>bar!“, rief sie nach etwa einer halben Minute plötzlich aus.<br />

„Was ist wun<strong>der</strong>bar, Elke?“ Heinz machte ein erstauntes Gesicht.<br />

„<strong>Die</strong> Polizei hat mindestens drei Zeugen des Überfalls“, sprudelte Elke heraus, „die beiden<br />

Mädchen und natürlich Dr. Brenner selbst.“<br />

„Zerbricht Dir doch nicht den Kopf <strong>der</strong> Polizei, Heike. <strong>Die</strong> werden schon ihre Ermittlungen<br />

anstellen.“ Heinz stand auf und neigte sich zu seiner Frau, die immer noch kopfschüttelnd<br />

ihm gegenüber am Tisch saß. „Wir tun im Moment nichts, außer die erschreckende Neuigkeit<br />

Heike mitzuteilen. <strong>Die</strong> weiß nämlich noch überhaupt nichts.“<br />

Dr. Brenner parkte seinen Wagen auf dem Letzten <strong>der</strong> Parkplätze, die für die Gäste des<br />

Cafés Brandt reserviert waren. Als er ausstieg, vernahm er ein knurrendes Geräusch. ‚Gemach,<br />

gemach, lieber Magen’, sagte er zu sich selbst. ‚Gleich bekommst du ein gutes Frühstück.’<br />

Er betätigte die Zentralverriegelung und ging eiligen Schrittes auf die Terrasse des<br />

Cafés, wo in dieser späten Vormittagsstunde schon einige Gäste Platz genommen hatten.<br />

Ein schattiger Tisch war noch frei. Dr. Brenner strebte auf ihn zu und ließ sich regelrecht<br />

in den rotbraunen Plastikstuhl fallen. Es dauerte keine zwei Minuten bis die Bedienung erschien.<br />

„Hallo, Herr Doktor! Sie lassen sich auch wie<strong>der</strong> einmal bei uns blicken?“<br />

„Ja, Ja, Heidi“, erwi<strong>der</strong>te Dr. Brenner. „<strong>Die</strong> Arbeit hätte mich beinahe aufgefressen, bis<br />

mir <strong>der</strong> Arzt verboten hat zu arbeiten.“<br />

36<br />

200


„Das müsste mir auch einmal passieren“, konterte die schlanke Mitvierzigerin. „Was<br />

darf’s sein, Herr Doktor?<br />

„Habt Ihr noch dieses Englische Frühstück?“<br />

„Das haben wir noch. Ein kleines o<strong>der</strong> ein großes?“<br />

„Dann bringen Sie mir ein großes Englisches Frühstück, Heidi, und dazu aber Kaffee. Ich<br />

kann dem Tee nichts abgewinnen.“<br />

„Ein großes Englisches Frühstück und ein Kännchen Kaffee“, bestätigte die Bedienung.<br />

„Ich glaube, Sie können ein kräftiges Frühstück vertragen, Herr Doktor.“<br />

„Warum?“<br />

„Na ja, ich meine, Sie sehen ein wenig blass aus.“ Heidi wartete die Antwort ihres Gastes<br />

nicht ab, son<strong>der</strong>n eilte sogleich zwischen den Tischen auf <strong>der</strong> Terrasse hindurch zum Hintereingang<br />

und ins Innere des Cafés, um die Bestellung ihres hungrigen Gastes an <strong>der</strong> Theke<br />

aufzugeben.<br />

‚Wie lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen? Ein Jahr, zwei Jahre? <strong>Die</strong> Zeit<br />

vergeht so schnell.’ Dr. Brenner atmete tief und sog dabei die milde Luft ein, die an diesem<br />

sonnigen Tag über <strong>der</strong> Stadt herrschte. ‚ Und trotzdem hat mich Heidi sofort wie<strong>der</strong> erkannt.<br />

Habe ich denn so einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen? – Sie kennt mich vermutlich nur<br />

deswegen noch, weil ich früher oft hier war. Bedienungen haben in <strong>der</strong> Regel ein gutes Personengedächtnis.<br />

Meines dagegen scheint immer löcheriger zu werden. Ich kann mich kaum<br />

an gestern Abend erinnern ...’<br />

Er versuchte, die schlimmen Ereignisse des Vortages noch einmal vor seinem geistigen<br />

Auge ablaufen zu lassen. Hatte er nicht Harald Grattler die Türe geöffnet, bevor sein Geist ins<br />

Dunkel <strong>der</strong> Ohnmacht gefallen war? ‚Ich bin mir nicht sicher’, dachte er. ‚Aber es könnte dieser<br />

eigenartige Kerl gewesen sein. Mir ist er schon vorher komisch aufgefallen. Doch beschwören<br />

möchte ich dies jetzt nicht.’ Seine Gedanken fingen an, wild durcheinan<strong>der</strong> zu<br />

springen. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, zu groß war jetzt sein Hunger, <strong>der</strong> sich<br />

wie<strong>der</strong> durch ein deutlich vernehmbares Knurren seines Magens Gehör verschaffte.<br />

Es dauerte für Dr. Brenner fast eine kleine Ewigkeit, bis Heidi aus dem Innern des Cafés<br />

auf die sonnendurchflutete Terrasse mit ihren Sonnenschirmen, die allein Schatten spendeten,<br />

zurückkehrte. Sie kam nicht mit leeren Händen.<br />

„So, hier ist ihr großes Englisches Frühstück, Herr Doktor!“ Heidi stellte einen großen<br />

Teller mit zwei Spiegeleiern, ausgelassenem Speck, warmen weißen Bohnen und kleinen<br />

Cocktailwürstchen vor Dr. Brenner auf den Tisch. In einem Körbchen folgten einige warme<br />

Toastscheiben sowie ein Glasschälchen mit Butter. „Den Kaffee bringe ich Ihnen sofort. <strong>Die</strong><br />

Chefin hat gerade frischen aufgesetzt. Er läuft noch durch die Maschine.“<br />

„Ist schon gut, Heidi!“ Dr. Brenners Miene erhellte sich zusehends, als er den Duft des<br />

ausgelassenen Specks in seiner Nase wahrnahm. „Hauptsache mein Magen gibt jetzt endlich<br />

bald Ruhe!“<br />

„Guten Appetit, Herr Doktor!“<br />

„Vielen Dank, Heidi.“<br />

Dr. Brenner nahm sich zunächst eine Scheibe Toast und bestrich sie mit Butter. Hungrig<br />

biss er in sie und schloss die Augen. Endlich bekam sein Magen Arbeit. Danach verspeiste er<br />

die beiden Spiegeleier, die ihn anlachten wie die Sonne, die immer höher stieg, die Stadt aufheizte<br />

und nur durch den dunkelblauen Sonnenschirm abgeschattet wurde, <strong>der</strong> rechts neben<br />

Dr. Brenners Stuhl stand und ihm die Kühle spendete, welche den Aufenthalt auf <strong>der</strong> Caféterrasse<br />

so angenehm machte.<br />

Dr. Brenner wollte gerade beginnen, sich ein zweites Toast mit Butter zu bestreichen, als<br />

Heidi wie<strong>der</strong> erschien, in <strong>der</strong> rechten Hand ein ovales, silbern glänzendes Tablett haltend, mit<br />

dem sie eine Spur von Kaffeeduft setzte.<br />

„So, jetzt ist das Frühstück komplett, Herr Doktor.“ Sie stellte das Tablett vorsichtig neben<br />

Dr. Brenner auf den Tisch. „Schmeckt es Ihnen?“<br />

201


„O ja, sehr gut“, erwi<strong>der</strong>te Dr. Brenner. „Mir hat selten ein Frühstück so gut geschmeckt<br />

wie dieses heute.“<br />

„Das hört man gerne.“ Heidi lächelte ihn an und drehte sich halb um. „Zufriedene Gäste<br />

sind mir immer die liebsten Gäste.“<br />

„Wie wahr, wie wahr“, murmelte Dr. Brenner und nahm sich eine Gabel voll Bohnen, die<br />

er anschließend genüsslich verspeiste. ;Wie schön kann doch das Leben sein’, dachte er. ‚Und<br />

wie schwer macht es sich <strong>der</strong> Mensch. Warum habe ich nicht schon längst zwischendurch<br />

immer wie<strong>der</strong> einmal einen ruhigen Tag eingelegt? – Nur arbeiten muss doch irgendwann<br />

einmal krank machen. <strong>Die</strong>se Erkenntnis bekomme ich jetzt bitter zu spüren.’<br />

Heike war gerade im Bad, als das Telefon in ihrem Studentenappartement klingelte. Sie<br />

hörte es und stürzte in den kleinen Flur, um den Hörer abzunehmen. Wolfgang lag noch verschlafen<br />

im Bett, aber er hörte alles, was Heike sagte.<br />

„... Verdammt noch mal! Wie konnte denn so etwas passieren ... ...Das darf doch nicht<br />

wahr sein!“<br />

„Was denn los, Heike?“, rief er aus dem Bett und drehte sich in Heikes Richtung.<br />

„Moment mal, Vati! Wolfgang hat was gefragt.“ Sie verdeckte die Sprechmuschel mit ihrer<br />

linken Hand und drehte sich zu Wolfgang um. „Was hast Du gefragt?“<br />

„Was denn los ist, Heike, wollte ich wissen.“ Wolfgang setzte sich im Bett auf.<br />

„Du wirst es nicht für möglich halten, aber mein Alptraum ist lei<strong>der</strong> Wahrheit geworden,<br />

Wolfgang!“<br />

„Was!? Das kann doch nicht sein, Heike!“<br />

„Doch, doch, Vati hat mir gerade erzählt, dass Dein Vater gestern Abend in seiner Villa<br />

überfallen worden ist. Dabei hat jemand alle sechs Tagebuchhefte mitgehen lassen.“ Heike<br />

wandte sich wie<strong>der</strong> dem Telefon zu und nahm ihre linke Hand von <strong>der</strong> Sprechmuschel. „Ich<br />

habe es gerade Wolfgang gesagt, Vati. Ich glaube wir sollte jetzt aufhören; ich ruf’ Dich später<br />

noch mal an.“<br />

Heike legte den Hörer auf, nachdem sie sich von ihrem Vater verabschiedet hatte, und<br />

ging gleich darauf zu Wolfgang, <strong>der</strong> immer noch wie vom Blitz getroffen auf dem Bett saß,<br />

kein Wort sagte, son<strong>der</strong>n nur mit dem Kopf schüttelte. Heike setzte sich zu ihm auf das Bett<br />

und legte ihren rechten Arm um Wolfgangs Schulter.<br />

„Ich kann es auch nicht fassen, Wolfgang, aber es ist geschehen.“ Heike gab ihm einen<br />

Kuss. Wolfgang sah Heike danach tief in die Augen. Er war wie<strong>der</strong> fasziniert von <strong>der</strong> unergründlichen,<br />

blauen Tiefe ihrer Augen.<br />

„Und wie geht’s meinen Vater?“ <strong>Die</strong> sorgenvoll gestellte Frage unterbrach sein Schweigen.<br />

„Hast Du Deinen Vater danach gefragt?“<br />

„Mach’ Dir keine Sorgen, Wolfgang“, begann Heike. „Dein Vater war zwar gestern<br />

Nacht noch im Krankenhaus, aber er durfte wie<strong>der</strong> nach Hause. Also kann es ihm gar nicht so<br />

schlecht gehen.“<br />

Wolfgang atmete auf. „Wie ich ihn kenne, wird er sich jetzt wie<strong>der</strong> in die Arbeit stürzen,<br />

um das Ganze zu vergessen. Nur dies wäre nicht gut für ihn.“<br />

„Und warum nicht?“ Heike sah Wolfgang verständnislos an.<br />

„Weil er an dem sogenannten Burnout-Syndrom leidet, wie er mir erst vor kurzem mitgeteilt<br />

hat. Sein Arzt hat ihm jegliche Arbeit strikt verboten und ihn einige Zeit krank geschrieben.“<br />

Jetzt schüttelte Heike ihren Kopf. „Was es nicht alles gibt! Ein bisschen Arbeit, zumal<br />

rein geistige, soll doch noch nie jemanden geschadet haben.“<br />

„Das mag schon stimmen“, entgegnete Wolfgang. „Aber mein Vater neigt lei<strong>der</strong> immer<br />

zu Übertreibungen: Wenn er arbeitet, dann stürzt er sich im wahrsten Sinn des Wortes in die<br />

Arbeit und sieht rechts und links nichts mehr andres. Und das macht er nicht acht o<strong>der</strong> zehn<br />

Stunden am Tag, was vielleicht noch gut gehen würde, son<strong>der</strong>n, wenn er arbeitet, dann schafft<br />

202


er nicht unter zwölf bis vierzehn Stunden und vergisst dabei noch sein leibliches Wohl, würgt<br />

schnell einen Happen hinunter, kippt eine Tasse Kaffee hinterher und das war’s dann mit dem<br />

Essen.“<br />

„Das ist doch nicht dein Ernst, Wolfgang.“ Heike war entrüstet, denn sie konnte nicht<br />

ganz glauben, was Wolfgang ihr erzählte. „Ist Dein Vater wirklich so ein Workaholic?“<br />

„Ja, ja, das stimmt lei<strong>der</strong>.“ Er nickte heftig. „Und deswegen muss ich jetzt unbedingt<br />

meinen Vater anrufen, um von ihm selbst zu erfahren, wie es ihm geht.“ Wolfgang sprang aus<br />

dem Bett und ging eilig, nur mit Unterhose bekleidet, zum Telefon auf dem kleinen Tischchen,<br />

das in <strong>der</strong> kleinen <strong>Die</strong>le stand. Heike blieb immer noch kopfschüttelnd auf dem Bett<br />

sitzen.<br />

Es dauerte nicht lange, dann kam Wolfgang zurück. „Es nimmt keiner ab. Er scheint nicht<br />

zu Hause zu sein. Und im Institut ist er auch nicht. Ich habe auch dort angerufen.“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Heike stand eilig vom Bett auf und ging zur Kochnische.<br />

„Jetzt mache ich uns erst einmal ein gutes Frühstück. Und dann sehen wir weiter.“<br />

Wolfgang entgegnete nichts, son<strong>der</strong>n ging zurück in Heikes kombiniertes Arbeits- und<br />

Schlafzimmer und zog sich an.<br />

Es war schon weit nach elf Uhr, als Dr. Brenner sein Frühstück beendete. Ein wohliges<br />

Gefühl einer zufriedenen Sattheit machte sich in ihm breit. Er blinzelte in die Sonne, die hinter<br />

dem Stoffschirm am Himmel weiter gestiegen war. Ihm war es nicht unangenehm, die<br />

wärmenden Strahlen auf sein Gesicht scheinen zu lassen; er blühte richtig auf und seine<br />

Stimmung schien mit jedem Sonnenstrahl zu steigen.<br />

‚So muss man sein Leben genießen’, dachte Dr. Brenner. ‚So und nicht an<strong>der</strong>s. Was nützen<br />

Hetze und vielleicht auch ein klein wenig Bekanntheit bei den Kollegen o<strong>der</strong> gar Ruhm?<br />

Wenn du heute nicht mehr bist, kann dir keiner mehr die Hand geben und dir danken. Ich<br />

werde die Zeit jetzt dazu nutzen, meine Gedanken zu ordnen und ihnen jeden Tag ein wenig<br />

freien Lauf zu geben. Ich versuche an nichts zu denken und auch nichts zu schreiben, denn<br />

das wäre ja nach Dr. An<strong>der</strong>s schon wie<strong>der</strong> Arbeit.’<br />

„Hat es Ihnen geschmeckt?“<br />

<strong>Die</strong> Frage von Heidi, die, von Dr. Brenner völlig unbemerkt, an seinen Tisch herangetreten<br />

war, schreckte ihn von seinen Gedanken auf.<br />

„Es hat mir ausgezeichnet geschmeckt, Heidi.“<br />

„Das sieht man Ihrem Gesicht auch an, das jetzt wie<strong>der</strong> etwas Farbe bekommen hat.“<br />

„Na, wenn Sie das sagen ...“<br />

„... dann wird’s wohl stimmen“, unterbrach ihn Heidi. „Haben Sie noch einen Wunsch?“<br />

Dr. Brenner blickte auf seine fast leere Kaffeetasse und nickte. „Bringen Sie mir bitte<br />

noch eine Tasse Kaffee, Heidi, und danach die Rechnung. Aber es hat Zeit. Ich habe heute<br />

jede Zeit <strong>der</strong> Welt.“<br />

„Das freut mich für Sie, Herr Doktor. Wenigstens gibt es noch hin und wie<strong>der</strong> Gäste, die<br />

auch ein wenig Zeit mitbringen.“ Heidi lächelte, räumte bis auf das Kaffeegedeck den Tisch<br />

ab und trug die wenigen Überreste des großen Englischen Frühstücks zur Theke zurück. Dr.<br />

Brenner sagte nichts. Er sah ihr nach und dachte an nichts. Wirklich an nichts?<br />

Eine Weile saß er nur da und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er wollte an nichts denken,<br />

er wollte nur da sitzen, ein wenig die Leute beobachten, diejenigen, die ins Café kamen,<br />

an<strong>der</strong>e, die wie<strong>der</strong> gingen, und sonst nichts weiter tun, nicht einmal über seine Lage o<strong>der</strong> gar<br />

über die vergangenen Ereignisse nachdenken. Sein Geist verdrängte diese ganz langsam, unmerklich<br />

für ihn. Sein Magen begann zu arbeiten. Das ausgiebige Frühstück hatte an diesem<br />

späten Vormittag aus Dr. Brenner einen ganz an<strong>der</strong>en Menschen gemacht.<br />

„So, hier ist noch eine Tasse Kaffee.“ Heidi stellte Dr. Brenner eine Tasse hin und sah,<br />

dass er sein Kännchen schon ausgetrunken hatte. „Das nehme ich gleich mit“, sagte sie zu<br />

203


ihm gewandt und räumte das ovale, silbrig glänzende Tablett mit dem Porzellankännchen und<br />

<strong>der</strong> leeren Kaffeetasse ab. „<strong>Die</strong> Rechnung bringen ich Ihnen gleich.“<br />

„Das hat Zeit“, murmelte Dr. Brenner leise; Heidi verstand ihn und ging zurück in das<br />

Innere des Cafés.<br />

‚Was ist Zeit?“, fragte sich Dr. Brenner im Gedanken. ‚Habe ich darüber eigentlich schon<br />

nachgedacht? – Ich glaube nein. Dann wird es aber Zeit, einmal über die Zeit nachzudenken,<br />

sonst vergeht meine Zeit und ich habe nur einfach so dahin gelebt, gearbeitet und darüber die<br />

Zeit vergessen. Man muss zwischendurch auch einmal bewusst philosophisch werden ...’<br />

„Hat es geschmeckt?“ Heike sah Wolfgang mit verliebten Augen an.<br />

„Ausgezeichnet, Heike! Ich bin ganz erstaunt, mit welchen Mittel Du in so kurzer Zeit<br />

ein so opulentes Frühstück auf den Tisch gezaubert hast.“<br />

Heike wurde etwas verlegen. „Nur nicht zu viel Lob. Ich habe nur das verwendet, was ich<br />

in meinem bescheidenen Studentenappartement noch gefunden habe..“<br />

„Und was Du alles gefunden hast“, entgegnete Wolfgang. „Sogar frische Brötchen hast<br />

Du auf den Tisch gestellt.“<br />

„Na, gar so frisch waren die auch nicht. Es waren vorgebackene Brötchen, die ich nur<br />

kurz aufgeheizt habe, damit sie noch ein wenig Farbe bekommen und rösch werden.“<br />

„Aber immerhin!“ Wolfgang streckte seinen Arm nach Heike aus, die ihm gegenüber an<br />

dem kleinen Tisch in <strong>der</strong> Kochnische saß. Doch sie wich ihm geschickt aus.<br />

„Geschmust haben wir heute schon genug, jetzt ...“<br />

„Nur geschmust?“ Wolfgang stand auf und ging um den Tisch auf Heike zu.<br />

„Jetzt wird aufgeräumt und abgewaschen“, sagte sie im dominanten Ton einer resoluten<br />

Hausfrau.<br />

„Alles, was meine Herrin befiehlt!“ Wolfgang neigte devot sein Haupt.<br />

„Schmarrkopf! Fass’ lieber mit an, dann sind wir schneller fertig!“ Heike packte Teller<br />

und Tassen und trug sie zur Spüle.<br />

„Ich eile, meine Herrin!“ Wolfgang trug den Rest des Geschirrs ebenfalls zur Spüle, wo<br />

seine Freundin schon den Boiler aktiviert hatte, <strong>der</strong> das warme Wasser für den Abwasch liefern<br />

sollte.<br />

Eine knappe Viertelstunde später war das Geschirr gespült und die kleine Kochnische<br />

aufgeräumt. Alles sah blitzblank aus, sauberer als zuvor.<br />

„Na, das sieht ja nicht gerade sauber aus.“ Jimmy, <strong>der</strong> so getan hatte, als sei er zum ersten<br />

Mal in <strong>der</strong> Wohnung seines Freundes, blickte sich in <strong>der</strong> Küche um.<br />

„Das kann man ruhig laut sagen.“ Kommissar Müller musterte nicht nur die Küche, in <strong>der</strong><br />

es dumpf und modrig roch, son<strong>der</strong>n auch Jimmy, <strong>der</strong> begann, die Unordnung ein wenig<br />

freundlicher zu gestalten. „Mir scheint, ihr Freund hat die Wohnung Hals über Kopf verlassen.“<br />

Jimmy drehte sich um und sah sein Gegenüber achselzuckend an. „Wenn ich gewusst<br />

hätte, wie es hier aussieht, dann wäre ich gestern schon gekommen“, log Jimmy scheinheilig.<br />

Kommissar Müller sagte zunächst nichts, son<strong>der</strong>n sah sich genau in <strong>der</strong> Küche um. „Sie<br />

haben doch nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig in <strong>der</strong> Wohnung umsehe?“<br />

„Aber mitnichten, Herr Kommissar. Walten Sie ihres Amtes!“<br />

Wortlos ging Kommissar Müller aus <strong>der</strong> Küche.<br />

‚Wie bekomme ich nur Harrys Klamotten hier raus, solange dieser dämliche Kommissar<br />

hier ist?’ Jimmy dachte angestrengt nach, während er auf das schmutzige Geschirr starrte, das<br />

sich in <strong>der</strong> Spüle türmte. ‚Ich muss warten, bis er wie<strong>der</strong> geht, sonst habe ich keine Chance,<br />

ungesehen ein paar Sachen für Harry zusammen zu packen. Also cool bleiben und abwarten!<br />

Aber das kann dauern.’<br />

204


Und es dauerte für Jimmy wirklich eine kleine Ewigkeit, bis Kommissar Müller wie<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Küche erschien. „Sie melden sich heute Nachmittag bei mir im Raubdezernat.“ Kommissar<br />

Müllers barscher Ton verwun<strong>der</strong>te Jimmy nicht. „Hier ist meine Karte, Herr ...?“<br />

„... Birnbichler, Hans Birnbichler, Herr Kommissar.“<br />

„Ach ja, Herr Birnbichler. Also bis heute Nachmittag!“<br />

„Okay!“ Jimmy versuchte, sich so natürlich wie möglich zu geben. ‚Jetzt nur nicht nervös<br />

werden’, dachte er bei sich, als Kommissar Müller sich umwandte und die Küche verließ.<br />

Kurz Zeit später hörte Jimmy, wie die Wohnungstüre ins Schloss fiel.<br />

Heike setzte sich auf ihren Stuhl. „Das wäre geschafft!“ Sie atmete tief durch. „Und was<br />

machen wir jetzt?“<br />

„Alles, was meine Herrin befiehlt.“<br />

„Jetzt lass’ den Quatsch, Wolfgang! Ich bin nicht Deine Herrin!“ Ein Blitz in Heikes Augen<br />

zeigte Wolfgang an, dass sie ärgerlich wurde.<br />

„Ich muss unbedingt versuchen, meinen Vater zu erreichen.“ Wolfgang zog seine Augenbrauen<br />

hoch.<br />

„Und wo soll das sein, Wolfgang?“ Heikes Frage machte ihn noch nachdenklicher. „Zu<br />

Hause und im Institut ist er nicht. Wo willst Du ihn dann erreichen?“<br />

„Ich habe da so eine Idee. Hast Du ein Telefonbuch, Heike?“<br />

<strong>Die</strong>se schien wegen dieser Frage zunächst verblüfft. „Für was brauchst Du ein Telefonbuch?“<br />

Wolfgang schüttelte seinen Kopf. „Na, für was braucht man ein Telefonbuch, Heike?!“<br />

<strong>Die</strong>se sagte nichts, son<strong>der</strong>n ging in ihr Arbeitszimmer. Einen Moment später gab sie<br />

Wolfgang das Gewünschte.<br />

„Mal sehen!“ Wolfgang blätterte in dem dicken Buch mit den hauchdünnen Seiten.<br />

Heike wurde neugierig. „Was suchst Du denn, Wolfgang?“<br />

„Ich könnte mir vorstellen“, begann er bedächtig; „dass er an einen bestimmten Ort gegangen<br />

ist. Ich weiß noch von früher, dass ...“<br />

„..., dass er was?“ Heike wollte jetzt unbedingt wissen, an welchen Ort Wolfgang dachte.<br />

„Ich könnte mir vorstellen, dass mein Vater bei diesem schönen Wetter ... Wie hieß denn<br />

das Café ? ... Ah, hm ...“ Wolfgang blätterte gezielt weiter. „Das ist es: Café Brandt ...“<br />

„Du meinst, er ist in ein Café gegangen?“ Heike schaute Wolfgang fragend an<br />

„Ich probier’s, ich rufe jetzt einfach im Café Brandt an. Vielleicht habe ich Glück und erreiche<br />

meinen Vater da.“ Wolfgang stand auf , ging zum Telefon und wählte ...<br />

Heidi hatte an diesem Vormittag einiges zu tun, nicht beson<strong>der</strong>s viel, aber immerhin so<br />

viel, dass es ihr nicht langweilig wurde. Als sie gerade das silbrig glänzende, ovale Tablett<br />

von Dr. Brenner auf die Theke stellen wollte, klingelte das Telefon, welches in einer kleinen<br />

Nische hinter <strong>der</strong> Theke stand. Da ihre Chefin, Frau Brandt, die Inhaberin des Cafés gerade in<br />

<strong>der</strong> Küche beschäftigt war, ging sie hinter die Theke und nahm den Hörer ab.<br />

„Café Brandt?!“<br />

„Guten Morgen! Hier spricht Wolfgang Brenner. Ich möchte fragen: Ist mein Vater zufällig<br />

bei Ihnen im Café?<br />

„Sie haben Glück, junger Mann!“, entgegnete Heidi schlagfertig. „Ihr Vater hat zufällig<br />

gerade ein großes Englisches Frühstück verspeist und sich noch eine Tasse Kaffee bestellt.“<br />

„Ausgezeichnet, ausgezeichnet, dann wird mein Vater wohl noch eine Weile bleiben.“<br />

Wolfgangs Stimme erhellte sich durch die Freude, seinen Vater geortet zu haben.<br />

„Soll ich ihn ans Telefon holen, Herr Brenner?“<br />

„Nein, nein, lassen Sie nur. Sagen Sie ihm, er solle ausharren. Wir kommen gleich vorbei.“<br />

„Wie lange dauert das „gleich“?“<br />

„Etwa eine halbe Stunde.“<br />

205


„Gut! Werde ich Ihrem Vater ausrichten. Tschüß!“ Heidi legte den Hörer auf, bevor<br />

Wolfgang etwas erwi<strong>der</strong>n konnte. <strong>Die</strong>ser war etwas überrascht über das plötzliche Ende des<br />

Telefongesprächs und legte verdattert den Hörer auf.<br />

Heike, die während des Gesprächs in ihrem Arbeitszimmer beschäftigt war, ging überaus<br />

neugierig auf Wolfgang zu. „Na, was ist? Hast Du Deinen Vater erreicht?“<br />

„Nicht direkt, aber er ist im Café Brandt.“<br />

„Und? Was ist jetzt?“<br />

„Ich werde nach Nürnberg fahren und im Café Brandt meinen Vater besuchen.“ Wolfgang<br />

machte eine Bewegung, die andeutete, dass er bald aufbrechen wollte.<br />

„Und was machst Du, wenn Dein Vater nicht mehr im Café ist bis Du hinkommst?“<br />

„Keine, Sorge, Heike!“ Wolfgang Brenner lachte. „Ich habe <strong>der</strong> Bedienung gesagt, ich<br />

werde in einer halben Stunde dort sein.“<br />

„Na, schön! Muss ich mitfahren?“ Heike schien nicht gerade begeistert zu sein, jetzt nach<br />

Nürnberg zu fahren.<br />

„Musst Du nicht! Hast Du schon etwas an<strong>der</strong>es vor?“<br />

Völlig überraschend für Wolfgang fiel Heike ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss.<br />

„War doch nur Spaß! Natürlich fahre ich mit, Liebling.“<br />

„Gut, dann lass’ uns starten!“ Wolfgang kramte in seiner linken Hosentasche nach seinem<br />

Autoschlüssel.<br />

Dr. Brenner nahm einen Schluck aus <strong>der</strong> Tasse. Er wollte auf seiner Armbanduhr nach<br />

<strong>der</strong> Zeit sehen, als er bemerkte, dass er überhaupt keine Uhr angezogen hatte. ‚Das ist ein<br />

Wink des Schicksals’, dachte er und schmunzelte still in sich hinein. ‚Irgendwer will, dass für<br />

mich die Zeit heute keine Rolle spielt. Und das ist gut so. Doch was ist eigentlich Zeit? Ist es<br />

nur ein Geisteskonstrukt des Menschen?’<br />

Immer wie<strong>der</strong> tauchte diese Frage in seinen Gedanken auf. Er wollte, aber er konnte sie<br />

nicht beantworten. ‚Ich muss doch wie<strong>der</strong> etwas Philosophisches lesen. Über die Zeit haben<br />

mit Sicherheit schon alle großen Geister nachgedacht ...’ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück<br />

und wollte gerade die Augen schließen, als er Heidis Stimme vernahm.<br />

„Herr Doktor Brenner!“ Er fuhr hoch.<br />

„Was ist denn Heidi?“<br />

„Gerade hat ihr Sohn angerufen. Er will hierher kommen.“<br />

„Mein Sohn?!“<br />

„Ja, ihr Sohn hat vor zwei Minuten angerufen und mich gebeten, dies Ihnen auszurichten.“<br />

Heidi hatte mit diesen Worten Dr. Brenners Tisch erreicht und blieb ihm gegenüber stehen.<br />

„Na, so was!“ Dr. Brenners Erstaunen war echt, nicht gespielt, denn er war wirklich völlig<br />

überrascht. „Wann will er vorbeikommen?“<br />

„Er meinte in etwa einer halben Stunde.“ Heidi stützte ihre beiden Hände auf die Rückenlehne<br />

des Stuhls, <strong>der</strong> Dr. Brenner gegenüber stand. „Er klang etwas aufgeregt und ...“ Heidi<br />

wurde durch einen Gast unterbrochen: „Bitte zahlen!“ Sie drehte sich um und ging an den<br />

übernächsten Tisch.<br />

‚Na, so was! Was will denn mein Sohn von mir?’ Dr. Brenner lehnte sich wie<strong>der</strong> in seinen<br />

Stuhl zurück.<br />

<strong>Die</strong> Frage ließ ihn nicht mehr los. Er überlegte hin und her, doch auf das am nächsten<br />

Liegende kam er nicht, hatte er doch seinen Sohn über die letzten Ereignisse noch nicht verständigt.<br />

Dr. Brenner sah zum übernächsten Tisch, wo ein junger Mann gerade hektisch aufsprang<br />

und die Caféterrasse eilig verließ. ‚Der hat’s aber eilig’, dachte er. ‚Was für ein Glück für<br />

mich, dass Zeit heute keine Rolle spielt! Nur heute? – Nein, ich muss im Vergleich zu früher<br />

die Zeit viel bewusster leben, soweit ...’ Er dachte diesen Gedanken nicht zu Ende, denn es<br />

206


drängte sich schon wie<strong>der</strong> die Frage in seinem Kopf auf, die er sich erst vor wenigen Augenblicken<br />

gestellt hatte: ‚Was ist überhaupt Zeit? Kann man dieses Phänomen überhaupt definieren?’<br />

Er sah zum Himmel empor, an dem kein Wölkchen zu sehen war, von dem <strong>der</strong> alle Wärme<br />

spendende Stern schien, von seiner Position aus gesehen nur verdeckt durch den Sonnenschirm,<br />

<strong>der</strong> ihm Schatten spendete. ‚Was denkst du über die Zeit nach, wenn sie heute keine<br />

Rolle für dich spielt? Ist Philosophie nur das Nachdenken über abstrakte Dinge, die sich nur<br />

sehr schwer beschreiben lassen? O<strong>der</strong> ist Philosophie <strong>der</strong> pure Luxus, Zeit aufzubringen, um<br />

über Dinge nachzudenken, die für den Nachdenkenden völlig unwichtig sind? Denken um des<br />

Denkens willen? Dr. Brenner schüttelte ganz unbewusst seinen Kopf. ‚Nein, ich muss systematischer<br />

nachdenken. Es gibt immer einen historischen und einen phänomenologischen Ansatz,<br />

auch abstrakte Begriffe näher zu beleuchten. Doch dazu müsste ich jetzt Literatur über<br />

die Zeit lesen. Aber wo fange ich an?’<br />

Über diesen Gedanken vergingen Minuten über Minuten. Dr. Brenner merkte nicht, wie<br />

er mit <strong>der</strong> Zeit mitschwamm, wie die Zeit ihn mitspülte, vorwärts, immer vorwärts ...<br />

Und noch ein an<strong>der</strong>er wurde von <strong>der</strong> Zeit fortgespült, aber diese lief gegen ihn.<br />

Harald Grattler lief in Jimmys Wohnung hin und her wie ein Raubtier im Käfig, ständig<br />

seine Achter drehend. ‚Verdammt noch mal! Wann kommt denn endlich Jimmy zurück Jetzt<br />

ist er schon über zwei Stunden weg. Hoffentlich verrät er sich nicht.’<br />

Er sah auf seine Uhr. ‚Verdammt, schon zwölf Uhr vorbei! Ich müsste schon längst unterwegs<br />

sein.’ Harald ging in die Küche und suchte nach etwas Trinkbaren. Endlich fand er<br />

eine angebrochene Wasserflasche, schraubte den Verschluss auf und setzte zu trinken an.<br />

‚Brr, das schmeckt ja ... Pfui Teufel!! ... Das ist ja ... Das ist ja Essig!“ Er spukte den ersten<br />

Schluck in die Spüle, die im Gegensatz zu seiner zu Hause blitzblank geputzt war. ‚<strong>Die</strong>ser<br />

Trottel von Jimmy hat Essig in eine Mineralwasserflasche gefüllt! Na warte, wenn ich dich<br />

erwische ...’<br />

Haralds Flüche wurden durch ein Geräusch unterbrochen, das ihn freudig aufschreckte.<br />

Jemand sperrte an <strong>der</strong> Wohnungstüre. Vorsichtig und ängstlich versteckte er sich hinter <strong>der</strong><br />

Küchentüre.<br />

„Harry!“ Jimmys Stimme hallte durch den kleinen Wohnungsflur. „Wo bist Du? Wo hast<br />

Du Dich versteckt?“<br />

Der Angerufene trat hinter <strong>der</strong> Küchentüre hervor und eilte hinaus in den Flur. Aller Ärger<br />

wegen des Essigs war schlagartig vergessen.<br />

„Hast Du ...?“ Harald schrie fast Jimmy an.<br />

„Psst! Sei leise!“, zischte Jimmy. „Ich weiß nicht, ob die Bullen mich verfolgt haben. In<br />

Deiner Wohnung waren sie schon.“<br />

„Und? Haben sie etwas gesucht?“ Harald Grattler zügelte seine Stimme grinste seinen<br />

Freund an.<br />

„Natürlich haben sie etwas gesucht.“<br />

„Aber sie haben es nicht gefunden, weil ich es hier habe.“ Harald deutete triumphierend<br />

auf den Plastiksack, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche auf dem kleinen Tisch lag, <strong>der</strong> nur von zwei kleinen<br />

Hockern umgeben war.<br />

„Jetzt quatsch keine Opern, Mann!“ Jimmy gab seinem Freund eine alte Plastiktasche, die<br />

merkwürdig ausgebeult aussah. „ Es ist mir endlich gelungen, Dir ein paar Klamotten zu bringen,<br />

nachdem so ein komischer Kommissar von <strong>der</strong> Kripo mehr als eine halbe Stunde in Deiner<br />

Wohnung herumgeschnüffelt hat.“<br />

Harald war überglücklich. Endlich konnte er sich aus dem Staube machen.<br />

Schnell packte er die Tasche, die ihm Jimmy mitgebracht hatte, stopfte den Plastikbeutel<br />

mit den <strong>Wachstuchhefte</strong>n in sie hinein und stellte sie hinter die Küchentüre.<br />

207


„Ich muss weg. Ich muss schnell weg, Jimmy:“ Harald Grattlers innere Unruhe übertrug<br />

sich auf seine Stimme. „Ich fahr’ mit dem Taxi zum Bahnhof. Von dort werde ich schon irgendwie<br />

weiterkommen...“<br />

„Ruhig Blut, Junge! Jetzt setz’ Dich erst einmal hin und überlege Dir genau, was Du machen<br />

willst.“ Jimmy bekam Harald an einer Gürtelschlaufe seiner Hose zu fassen und bugsierte<br />

ihn auf den nächstgelegenen Hocker in <strong>der</strong> Küche. „Überlege jetzt ganz genau, Harry, was<br />

Du machen willst. Wenn Du jetzt einen Fehler machst, dann kaschen Dich die Bullen an <strong>der</strong><br />

nächsten Straßenecke.“<br />

Harald Grattler rutschte unruhig auf dem Hocker hin und her, langte sich an seinen Kopf<br />

und raufte sich die Haare. Er sagte nichts, son<strong>der</strong>n überlegte. Dabei kam er ins Schwitzen,<br />

obwohl es in Jimmys Küche nicht beson<strong>der</strong>s warm war.<br />

Es dauerte einige Momente, bis Harald Grattler wie<strong>der</strong> seine Sprache fand. „Wo hast Du<br />

gesagt wohnt Deine Schwester?“ Er schaute Jimmy an, <strong>der</strong> mit dem Rücken zu ihm stand.<br />

<strong>Die</strong>ser drehte sich langsam um und sah Harald etwas mitleidig an.<br />

„Es ist in T., ziemlich nah an <strong>der</strong> tschechischen Grenze.“ Jimmy begann zu grinsen.<br />

„Wenn Du mit dem Zug dort hinter fahren willst, dann musst Du mindestens zweimal umsteigen.<br />

Nein, nein, Du musst mit dem Wagen fahren, das ist viel unauffälliger.“<br />

„Meinst Du?“<br />

„Ja, das meine ich!“<br />

„Und mit welchen Wagen soll ich fahren, bitte schön?“<br />

„Lass’ mich mal überlegen ...“ Jetzt wurde Jimmy nachdenklich und setzte sich auf den<br />

zweiten Hocker, <strong>der</strong> an dem kleinen Tisch in seiner Miniküche stand. „Ich könnte Sammy<br />

fragen, ob er Dich vielleicht ...“ Entschlossen sprang Jimmy gleich wie<strong>der</strong> von seinem Hocker<br />

auf. Harry erschrak ein wenig über die plötzliche Aktivität seines Freundes.<br />

„Kannst Du mich vielleicht ...?“<br />

„Nein, Harry, ich kann Dich lei<strong>der</strong> nicht hinfahren und zwar aus einem ganz einfachen<br />

Grund: Ich muss heute Nachmittag bei Kommissar Müller antanzen. Er will mich noch interviewen.“<br />

„Mach’ bloß keinen Fehler, Jimmy!“<br />

„Nur ruhig Blut, Harry, ich bekomme das schon hin. Viel wichtiger ist jetzt, dass ich<br />

Sammy erreiche.“ Jimmy ging aus <strong>der</strong> Küche hinaus über den kurzen Flur in ein an<strong>der</strong>es<br />

Zimmer. Harald hörte ihn telefonieren. Nervös stand er von seinem Hocker auf und lief in <strong>der</strong><br />

kleinen Küche auf und ab.<br />

Nach einer Weile kam Jimmy zurück. „Alles paletti, Harry!“ In seinen Augen blitzte ein<br />

zufriedenes Lächeln auf. „Sammy holt Dich heute Nachmittag hier ab. Er wollte sowieso zu<br />

den Tschechen fahren, um sich mit billigen Zigaretten ... Du weißt schon, Harry!“<br />

Harald Grattler verstand, doch seine innere Unruhe wurde durch die Aussicht auf eine<br />

verzögerte Flucht nicht geringer. Er musste sich zusammen nehmen, damit er nicht zu zittern<br />

anfing. Immer wie<strong>der</strong> versuchte er den letzten Tag zu rekonstruieren, doch die Gedächtnislücke,<br />

die <strong>der</strong> Alkohol geschlagen hatte, wollte und wollte sich nicht schließen. „Also schön“,<br />

sagte er nach einer Weile etwas kleinlaut, „dann warte ich eben noch ein paar Stunden hier.“<br />

„Lies’ doch in Deinen alten Heften, weswegen wir den Professor zumindest kurzzeitig<br />

ausgeschaltet haben.“<br />

„Das habe ich doch schon probiert, aber ich kann die alte Deutsche Schrift nur sehr<br />

schlecht lesen.“<br />

„Das ist Dein Pech, Harry! Künstlerpech!“ Jimmys Stimme klang mit einem Mal kalt und<br />

hart. „Dann musst Du Dich eben an<strong>der</strong>weitig beschäftigen, bis Sammy kommt. Er hat gesagt,<br />

dass er bis halb drei hier ist.“<br />

„Halb drei Uhr erst?!“<br />

„Geduld, Junge! Eine gute Flucht vor den Bullen muss auch gut vorbereitet sein.“<br />

„Du hast Nerven, Jimmy!“<br />

208


„Und genau die brauchst Du jetzt, Harry. Trink lieber ein Bier. Der Gerstensaft beruhigt<br />

immer die Nerven.“ Jimmy grinste, ging zu einem Kühlschrank, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> einen Ecke <strong>der</strong><br />

kleinen Küche stand, und öffnete ihn. „Ich habe immer ein kühles Blondes auf Lager. Willst<br />

Du eines?“<br />

Harald Grattler nahm das Angebot Jimmys dankend an, zumal er immer deutlicher merkte,<br />

dass seine Kehle immer trockener wurde.<br />

‚Ja, wo fange ich an, nach Literatur über die Zeit zu suchen.’ Dr. Brenner beugte sich etwas<br />

zur Seite und blinzelte in die Sonne. ‚<strong>Die</strong> Philosophie ist so gar nicht mein Fach. Wann<br />

habe ich mich das letzte mal damit beschäftigt? In <strong>der</strong> Schule? – Aber man sollte sich immer<br />

wie<strong>der</strong> damit befassen. Der Mensch denkt, solange er lebt ...’ Er konnte den Gedanken nicht<br />

weiterspinnen, denn er sah ein junges Paar auf sich zukommen, dessen männlicher Part ihm<br />

sehr bekannt vorkam.<br />

„Hallo, ihr beiden Hübschen, da seid ihr ja schon.“ Freudig erregt stand Dr. Brenner auf<br />

und lief den beiden ein paar Schritte entgegen. „Ist schon wie<strong>der</strong> eine halbe Stunde vorbei<br />

o<strong>der</strong> seid ihr hierher geflogen?“<br />

„Grüß’ Dich, Papa!“ Wolfgang Brenner wollte seinem Vater die Hand geben, doch dieser<br />

wandte sich seiner Begleiterin zu. „Wir sind we<strong>der</strong> geflogen, noch ist die halbe Stunde vorbei,<br />

seitdem ich hier angerufen habe.“<br />

„Grüß Gott, Fräulein Heike.“ Dr. Brenner war ganz Kavalier und gab ihr die Hand.<br />

„Ich grüße Sie, Herr Doktor Brenner.“ Heike schüttelte Wolfgangs Vater die Hand. „Wir<br />

sind ja ganz schön erschrocken, als wir heute Vormittag erfuhren, dass Sie gestern Abend unliebsamen<br />

Besuch hatten.“<br />

„Ach ja, ich habe ihn überstanden, wie Sie sehen.“ Dr. Brenner machte eine einladende<br />

Bewegung, indem er auf den Tisch deutete, an dem er gefrühstückt hatte. „Kommt setzt<br />

Euch!“<br />

„Wer hat Dich denn überfallen?“ Wolfgang platzte mit <strong>der</strong> Frage heraus, denn er konnte<br />

und wollte seine Neugierde nicht zügeln.<br />

Dr. Brenner antwortete zunächst nicht, son<strong>der</strong>n ging zu dem Tisch zurück. Heike und<br />

Wolfgang folgten ihm und nahmen ihm gegenüber Platz. Dann begann Wolfgangs Vater zu<br />

erzählen: „Ich habe dem Kripobeamten, <strong>der</strong> mich gestern noch im Krankenhaus befragt hat,<br />

schon gesagt, dass es zwei waren. Harald Grattler hat an meiner Türe geklingelt. Ich sah nur<br />

ihn. Als ich mich kurz umdrehte, bin ich dann von hinten angefallen und mit Chloroform betäubt<br />

worden. Es muss noch ein Zweiter dabei gewesen sein, denn ich bin ja in den Keller<br />

geschleppt worden. Und ich traue das diesem Grattler alleine nicht zu, so schmächtig wie dieser<br />

Gauner aussieht ...“<br />

„Harald Grattler hat geklingelt?“ Wolfgang unterbrach seinen Vater, <strong>der</strong> sich zurückgelehnt<br />

und seine Augen geschlossen hatte. „Hat man den noch nicht erwischt?“<br />

„Ich nehme an, dass die Kripo schon nach ihm fahndet. Aber gefunden haben sie den anscheinend<br />

noch nicht.“ Dr. Brenner öffnete wie<strong>der</strong> seine Augen. „Aber das interessiert mich<br />

jetzt herzlich wenig. <strong>Die</strong> Burschen zu fassen, ist Sache <strong>der</strong> Polizei. Ich lebe, ich bin hier und<br />

ich bin glücklich für diesen Tag.“<br />

Wolfgang Brenner schwieg betreten. Er ärgerte sich, dass er mit seinen neugierigen Fragen<br />

seinen Vater so schmerzlich an den letzten Tag erinnert hatte. Er blickte Heike an. Ein<br />

mildes Lächeln seiner Freundin versöhnte ihn wie<strong>der</strong> mit sich selbst.<br />

„Ich glaube“, begann Heike, „wir sollten Deinen Vater jetzt nicht mit unangenehmen<br />

Fragen quälen, son<strong>der</strong>n diesen schönen Tag hier einfach genießen.“<br />

37<br />

209


„Ganz meine Meinung!“ Dr. Brenners Zustimmung bestärkte Wolfgang, schleunigst das<br />

Thema zu wechseln, zumindest zum Teil, denn es brannten noch an<strong>der</strong>e Fragen auf seinen<br />

Lippen.<br />

„Du hast recht, Vati. Bestellen wir uns erst einmal etwas. Reden können wir immer<br />

noch.“<br />

Sie brauchten nicht lange auf die Bedienung zu warten, denn Heidi hatte Wolfgang und<br />

Heike kommen sehen und war auf die Terrasse hinaus an Dr. Brenners Tisch geeilt.<br />

„Bringen Sie den jungen Herrschaften, was sie möchten. Und setzen Sie es auf meine<br />

Rechnung, Heidi.“ Dr. Brenner kam es nicht darauf an, etwas mehr auszugeben. Er hatte immer<br />

genügend Geld einstecken.<br />

„Wir bedanken uns für Deine Einladung, Vati.“ Wolfgang verbeugte sich sitzend. „Mir<br />

wäre ein Cappuccino sehr recht.“<br />

„Und was bekommt die junge Dame?“ Heidi blickte Heike lächelnd an.<br />

„Bringen Sie mir auch einen Cappuccino, bitte.“<br />

„Also zwei Cappuccini?“<br />

Heike und Wolfgang nickten. Heidi drehte sich blitzschnell um und ging ins Innere des Cafés<br />

zurück. Wolfgang sah seinen Vater fragend an, aber dieser schwieg. Er wollte nicht reden.<br />

Nicht jetzt. Zu sehr war er in seine neuen Gedanken vertieft, die ihn wegbrachten von all denen,<br />

die das für ihn schrecklich Gewesene immer wie<strong>der</strong> in seiner Vorstellung aufflammen<br />

ließen. So entstand eine Situation, die nur das Schweigen kannte. <strong>Die</strong>ses jedoch wurde für<br />

Wolfgang immer bedrücken<strong>der</strong>. Er wollte von seinem Vater mehr erfahren als ihm Heike gesagt<br />

hatte, nachdem ihm diese von den Ereignissen des Vortags berichtet hatte. Doch er wagte<br />

es nicht, das Wort zu ergreifen. Er wartete vielmehr, dass dies Heike übernahm.<br />

Es dauerte nicht lange, dann erschien Heidi wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Türe, die zu <strong>der</strong> Terrasse hinausführte.<br />

Sie hatte ein Tablett in <strong>der</strong> Hand, auf <strong>der</strong> zwei Tassen standen. Zwei Schaumhäubchen<br />

auf diesen wiegten sich im Schritt von Heidi, die das Tablett in gekonnt lässiger Manier<br />

durch die Tischreihen trug.<br />

Heike sah die Heidi als Erste. „Da kommt ja schon unser Cappuccino“, rief sie aus. „Das<br />

ging aber schnell.“ Sie war überrascht, das im Café Brandt die Bestellung schnell abgewickelt<br />

wurde. Sonst musste sie immer länger warten.<br />

Dr. Brenner erwachte aus seinen Gedanken. „Ja, ja, Heidi ist schnell. Da könnte sich so<br />

manch an<strong>der</strong>e Bedienung noch Einiges abschauen.“<br />

Ohne es zu wollen, hatte Dr. Brenner selbst das Eis des Schweigens zwischen den Dreien<br />

gebrochen, nachdem ihn seine Gedanken wie<strong>der</strong> in die Wirklichkeit entlassen hatten. Doch in<br />

Wirklichkeit kreisten sie immer noch um die eine Frage. Ohne es selbst richtig wahr zu nehmen,<br />

entließ er sie in die Runde: „Was ist Zeit?“<br />

Dr. Brenner murmelte die Frage ganz leise vor sich hin. Sein Sohn horchte auf.<br />

„Was hast Du gefragt, Vati?“<br />

„Habe ich etwas gefragt?“ Dr. Brenner blinzelte Wolfgang verdattert an, doch ihm dämmerte,<br />

auf was sein Sohn anspielte.<br />

„Natürlich hast Du was gefragt. Kannst Du Deine Frage noch einmal wie<strong>der</strong>holen?“<br />

„Ich beschäftige mich seit heute Vormittag mit <strong>der</strong> ganz schlichten Frage: Was ist Zeit?“<br />

„Wie kommst Du denn darauf?“<br />

„Das kann ich Dir nicht sagen. Ich beschäftige mich eben damit.“ Dr. Brenner lehnte sich<br />

in seinem Stuhl zurück und verschränkte seine Arme vor <strong>der</strong> Brust. Er lächelte zunächst<br />

Wolfgang, danach Heike an, wobei er ihren Gesichter sofort ansah, dass er die beiden mit dieser<br />

gestellten, scheinbar einfachen Frage völlig verblüfft hatte.<br />

Heike und Wolfgang sagten nichts, son<strong>der</strong>n sahen sich nur kopfschüttelnd an. Dr. Brenner<br />

musste über sie lachen, was die beiden noch mehr vor den Kopf stieß.<br />

210


„Ich habe beschlossen, mein Leben zu än<strong>der</strong>n“, begann er nach einer schier endlos erscheinenden<br />

Pause. „Ich habe heute die schlichte Erkenntnis gewonnen, dass es außer Arbeit<br />

noch mehr gibt, dem ich mich widmen will.“<br />

„Und Du meinst, Du kannst das durchhalten, Vati?“ Wolfgangs Stimme klang durch und<br />

durch ungläubig, denn er kannte die bisherige Einstellung seines Vaters zur Arbeit nur zu gut.<br />

„Ich versuche es, Wolfgang. Und erst heute Vormittag habe ich damit angefangen.“<br />

Heike beobachtete Dr. Brenner und Wolfgang genau. Ihr entging keine Nuance ihres<br />

Mienenspiels. Sie schwieg, befürchtete aber, bei einer eventuell aufkommenden, heftigen<br />

Diskussion zwischen Vater und Sohn schlichtend eingreifen zu müssen. Doch dazu kam es<br />

nicht.<br />

„Ich werde mir genug Zeit nehmen, um mein Leben zu genießen, denn nur um zu arbeiten,<br />

dafür ist es zu kurz. Das alles ist mir heute Vormittag erst so richtig in mein Bewusstsein<br />

getreten, als ich meinen Gedanken einmal freien Lauf ließ. – Wann habe ich dies zuletzt getan?“<br />

Wolfgang sah etwas betreten auf den Tisch. Er sagte nichts und dachte nach, aber er<br />

wusste im Moment nicht worüber.<br />

„Da fällt mir etwas ein!“ Heikes plötzlicher Ausruf unterbrach das peinliche Schweigen<br />

am Tisch, dass vor allem für Wolfgang fast unerträglich geworden war. Er suchte nach einem<br />

Gesprächsthema, aber ihm brannten so viele Fragen auf den Lippen, dass er seine Gedanken<br />

nicht auf an<strong>der</strong>e Themen lenken konnte. „Ich habe neulich meine Freundin Brigitte getroffen.<br />

Wir haben über Gott und die Welt gesprochen. Und plötzlich sagte sie mir, dass Sie auch die<br />

Deutsche Schrift lesen könne. Na ja und ich habe unterdessen auch ein wenig geübt.“<br />

„Das ist ja prima!“ Wolfgang Brenners Ausruf ließ seinen Vater etwas zusammen zucken.<br />

„Dann brauchen wir doch Vati nicht mehr belästigen. Er braucht uns nur noch zu sagen<br />

...“<br />

„Langsam, langsam, Wolfgang!“ Dr. Brenner beugte sich zu seinem Sohn, <strong>der</strong> ihm gegenüber<br />

saß. „Du vergisst, das ich das Tagebuch für meine Studie brauche.“<br />

„Aber die kann doch im Moment warten“, warf Heike ein. „Einen Teil <strong>der</strong> Texte haben<br />

Sie mir ja schon übermittelt. Jetzt erholen Sie sich erst einmal richtig, Herr Dr. Brenner. Es<br />

liegen noch ein paar Tage Semesterferien vor uns. <strong>Die</strong> werden wir, das heißt Brigitte, Wolfgang<br />

und ich, nutzen, um einfach dort weiter die Aufzeichnungen abzuschreiben, wo Sie stehen<br />

geblieben sind. Wir müssen nur wissen, wieweit ...“<br />

„... Du gekommen bist, Vati“, unterbrach Wolfgang seine Freundin. „Hat Dir Dr. An<strong>der</strong>s<br />

auch verboten, den Computer einzuschalten?“<br />

„Nein, nein, Wolfgang. Er hat mir nur verboten so zu arbeiten, wie ich es vor dem Zeitpunkt<br />

tat, als er mich krank schrieb. <strong>Die</strong> Datei mit <strong>der</strong> Abschrift kann ich Euch geben; die<br />

habe ich daheim auf dem Rechner, aber die originalen Tagebücher ...“ Dr. Brenner hielt inne<br />

und seufzte tief, denn es tat ihm im Herzen weh, dass diese ihm geraubt worden waren. Der<br />

Schmerz über den Verlust <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> war für ihn größer als alles an<strong>der</strong>e, was er gestern<br />

erleben musste. „Ich mache Euch einen Vorschlag“, fuhr Dr. Brenner fort. „Wir verbringen<br />

heute noch einen ganz gemütlichen Tag und heute Abend soll Wolfgang bei mir vorbei<br />

schauen, dann gebe ich ihm die gespeicherten Texte auf einer Diskette.“<br />

„Gut, dann genießen wir diesen schönen Tag und denken nicht an das, was geschehen ist.<br />

Ungeschehen können wir es sowieso nicht machen.“ Wolfgang sah zu seinem Vater auf und<br />

lächelte zuerst ihn an. Danach wandte er sich Heike zu. „Und was machen wir, wenn wir unseren<br />

Cappuccino getrunken haben?“<br />

Heike lächelte verliebt zurück. „Dann vergessen wir die Zeit, denken auch nicht über sie<br />

nach und bestellen uns noch einen Cappuccino.“<br />

„Na Du gefällst mir!“ Wolfgang tat empört. „Du lädst Dich einfach selber bei meinem<br />

Vater ein.“<br />

211


Dr. Brenner winkte ab. „Jetzt hör’ aber auf, Wolfgang! Ich werde wegen zwei Tassen<br />

Kaffee nicht den Offenbarungseid leisten müssen.“<br />

„Zwei Cappuccinos, Vati“, verbesserte Wolfgang. Darüber mussten alle drei lachen. Es<br />

entstand eine kleine Pause in <strong>der</strong> Unterhaltung <strong>der</strong> drei.<br />

„Mein Vater wird jetzt wie<strong>der</strong> sagen: Ist nur gut, dass ich damals die Kopien gemacht habe.“<br />

Heike blickte Dr. Brenner an. „Ich habe seine Sicherungsmanie damals ein wenig auf die<br />

leichte Schulter genommen.“<br />

„Es ist immer gut, wenn man Sicherungskopien von Texten hat, die Unikate sind.“ Wolfgangs<br />

Vater nickte wohlwollend Heike und seinem Sohn zu. „Auch von den Transkriptionen,<br />

die ich bisher gemacht habe gibt es mehrere Kopien. Eine auf <strong>der</strong> Festplatte des Institutsrechners,<br />

eine auf meinem Rechner daheim und noch zwei Disketten, die ich gut versteckt habe.“<br />

„Wieso? Haben Sie schon befürchtet, dass etwas passieren könnte?“<br />

„Nein, nein, Heike! Rein aus Prinzip.“ Dr. Brenner lachte. „Also dieser Grattler ist ja<br />

auch zu blöd. Er hätte nur auf dem Institutsnetzwerk nachsehen brauchen, da sind die Texte<br />

nämlich auf dem Verteiler gespeichert. Wem soll ich sie auch vorenthalten? In <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

darf man keine Geheimniskrämerei betreiben. Wissenschaft muss für alle offen und<br />

nachvollziehbar sein und bleiben.“<br />

Heike lächelte Dr. Brenner charmant an. „Aber dass es so einfach ist, an die Texte <strong>der</strong><br />

Tagebücher heranzukommen, das wusste doch dieser Grattler nicht.“<br />

„Ja eben drum!“ Jetzt musste auch Dr. Brenner lachen. „Das offenste Versteck ist meistens<br />

auch das beste. <strong>Die</strong> Leute denken viel zu kompliziert, anstatt sich hinzusetzen und erst<br />

einmal in aller Ruhe über das nachzudenken, was vielleicht am nächsten liegen könnte. Sieh<br />

das Gute liegt so nah!“<br />

„Aber mir will es dennoch nicht in den Schädel, warum dieser Grattler so scharf auf die<br />

Originale war.“ Wolfgang schüttelte seinen Kopf und trank einen Schluck aus seiner Tasse.<br />

„Was steckt da dahinter? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesem Raub und seinem<br />

Interesse, das so groß ist, dass er – zusammen mit an<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> auch nicht – sich zu einer<br />

Straftat hat hinreißen lassen? Seine Karriere an <strong>der</strong> Uni ist doch damit vorbei. O<strong>der</strong> etwa<br />

nicht, Vati?“<br />

„Das ist so sicher wie das Amen in <strong>der</strong> Kirche, Wolfgang.“ Dr. Brenner beugte sich vor<br />

und rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her. „Lei<strong>der</strong> kenne ich ihn zu wenig, um etwas<br />

vermuten zu können. Allerdings muss ich auch dazu sagen, dass er ja einmal nach den<br />

Texten gefragt hat.“<br />

<strong>Die</strong>se Aussage von Wolfgangs Vater ließ Heike aufhorchen. „Und was haben Sie ihm daraufhin<br />

gesagt, Herr Dr. Brenner?“<br />

„Ich habe ihm gesagt, er solle sich doch an die Eigentümer <strong>der</strong> Texte, also an Euch wenden,<br />

Heike. Wenn er damals nicht so geheimnisvoll getan und ganz normal mit mir bzw. mit<br />

Deiner Familie geredet hätte, dann wäre das alles sicher nicht passiert. Doch ich hätte damals<br />

nie im Traum daran gedacht, dass er mit so viel krimineller Energie an diese Sache gehen<br />

würde.“<br />

„Aber wie verträgt sich das, was Du gerade gesagt hast mit Deiner Aussage, die Wissenschaft<br />

müsse frei und für alle offen sein?“ Wolfgang respektierte seinen Vater sehr, war aber<br />

gleichzeitig auch einer seiner ersten Kritiker, <strong>der</strong> seine Aussagen ständig sehr genau überprüfte.<br />

„Wissenschaft muss natürlich offen sein, aber man muss auch offen miteinan<strong>der</strong> reden.<br />

Wenn mir einer so krumm kommt wie <strong>der</strong> ...“ Dr. Brenner unterbrach sich selbst. Wolfgang<br />

und Heike merkten sofort wie er sich innerlich aufregte, dies aber nach außen hin zu unterdrücken<br />

versuchte.<br />

„Über Details kann man immer streiten, Wolfgang. Jetzt rege Deinen Vater doch nicht so<br />

auf! Er hat gestern fürwahr etwas zu viel mitmachen müssen.“ Heike sah Wolfgang scharf an<br />

und dieser verstand sofort. Für einen Disput war jetzt nicht die rechte Zeit und auch nicht <strong>der</strong><br />

212


ichtige Ort. Dafür war dieser warme Spätsommertag viel zu schön, viel zu lichtdurchflutet<br />

von einer Sonne, die seit ihrem Aufgehen von einem wolkenlosen Himmel strahlte und die<br />

Luft in eine wohlige Wärme tauchte.<br />

Wolfgang schwieg, nachdem ihn Heike auf die Ereignisse des letzten Tages hingewiesen<br />

hatte. Sie war überaus erstaunt, wie ruhig und gelassen Dr. Brenner heute wirkte. In ihm<br />

musste wirklich eine Wandlung vorgegangen sein, kannte sie ihn doch bisher eher als ein<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger durchgeistigtes, wissenschaftliches Arbeitstier.<br />

„Also gut“, begann Dr. Brenner, als er sah, dass er sich nicht ganz <strong>der</strong> Arbeit verweigern<br />

konnte, „ihr bekommt die Texte, die ich bisher transkribiert habe. Aber erst später. Ich will<br />

jetzt noch diesen herrlichen Tag genießen und zwar ganz, ohne auf die Zeit zu schauen. Ich<br />

kann dies auch gar nicht, denn ich habe vergessen, meine Armbanduhr anzuziehen. Vielleicht<br />

ist dies auch ein Wink des Schicksal. Was meint ihr?“<br />

Heike und Wolfgang sahen sich an. Ihre Blicke fragten sich gegenseitig, was sie darauf<br />

antworten sollten.<br />

„So kann man das durchaus sehen, Herr Dr. Brenner.“ Heike war die erste, die ihm antwortete.<br />

„Na, ja: Wink des Schicksals! So theatralisch sehe ich das nicht. Ich würde es Zufall nennen.“<br />

Wolfgang wiegte seinen Kopf leicht hin und her. „Aber <strong>der</strong> Zusammenhang könnte<br />

durchaus bestehen.“<br />

„Siehst Du, Wolfgang, ganz von <strong>der</strong> Hand zu weisen ist dieser Wink nicht.“ Heike fühlte<br />

sich in ihrer Meinung bestätigt. „Gerade die Zeit ist es, die uns doch sehr bestimmt.“<br />

„Ich sehe dies etwas an<strong>der</strong>s, denn ich möchte die Frage in den Raum stellen: Gibt es<br />

überhaupt Zeit o<strong>der</strong> haben wir sogenannte Vernunftwesen uns diese nur konstruiert, um eine<br />

gewisse Ordnung in das Durcheinan<strong>der</strong> von Geschehnissen zu bringen? Ist die Zeit vielmehr<br />

nur ein Gedanken-, ein Geisteskonstrukt, das sich von Bewegungsintervallen ableitet?“ Dr.<br />

Brenner lehnte sich wie<strong>der</strong> in seinem Stuhl zurück und wollte einen Schluck Kaffee trinken,<br />

als er merkte, dass seine Tasse leer war. ‚Ich will mir auch noch etwas bestellen’, dachte er<br />

bei sich, ‚aber Kaffee möchte ich jetzt keinen mehr trinken.’<br />

Wolfgang Brenner zog seine Augenbrauen hoch. Er dachte über die Fragen nach, die sein<br />

Vater gerade gestellt hatte. „Über diese Fragen sollte man durchaus nachdenken und zwar in<br />

aller Ruhe, ganz ohne Zeitdruck.“<br />

Heike musste lachen. „Der Mensch hetzt sich in die Zeit und denkt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

nach, ob dies alles nicht nur eine Konstruktion in seiner Vorstellung ist. Wenn das nicht Philosophie<br />

ist, dann weiß ich auch nicht mehr, was Philosophie sein könnte.“<br />

„Ganz richtig, Heike“, stimmte Dr. Brenner ihr zu. „Das ist Philosophie und zwar in<br />

Reinkultur. Der Mensch kann denken und nicht nur das, er kann über sich selbst nachdenken,<br />

er kann über sich selbst reflektieren. Das kann – soweit wir das bis heute wissen – kein an<strong>der</strong>es<br />

Lebewesen auf unseren Planeten.“<br />

„Wollen wir jetzt ein philosophisches Kränzchen abhalten?“ Wolfgangs Frage fand Heike<br />

deplaziert.<br />

„Lass’ uns doch ein wenig ins Blaue denken, Wolfgang. Wenn zwei so hochkarätige<br />

Geistesgrößen wie ihr beide zusammen kommen, dann muss es doch nur so funken vor lauter<br />

Geistesblitzen.“<br />

Dr. Brenner lächelte Heike an. „Das war jetzt aber ironisch gemeint, Heike.“<br />

„Das war durchaus ernst gemeint.“ Heike blickte erst Dr. Brenner, dann Wolfgang an, <strong>der</strong><br />

still in sich hinein schmunzelte. „Also ich kann dadurch nur profitieren. Also weiter so, meine<br />

Herren!“<br />

Jetzt gab es für Wolfgang kein Halten mehr. Er lachte lauthals heraus. „Ich habe nicht<br />

geglaubt, dass Du auch ein komisches Talent hast, Heike. Ha, ha, ha!“<br />

„Du wirst einiges von mir noch nicht wissen, Wolfgang.“<br />

213


„Das ist mir völlig klar, Heike, schließlich kennen wir uns noch nicht einmal ein halbes<br />

Jahr. O<strong>der</strong>?“<br />

Dr. Brenner, <strong>der</strong> seinen Kopf nachdenklich gesenkt hatte, richtete sich wie<strong>der</strong> auf. „Man<br />

kann über alles sprechen“, begann er, „aber man sollte sich immer bewusst sein, nicht zu sehr<br />

in seine Vorstellungen zu verfallen, sonst muss man zwangsläufig den Bezug zur Wirklichkeit<br />

verlieren. Der Mensch kann sich viel in seiner Phantasie vorstellen; er kann viel träumen, aber<br />

eines wird gefährlich: Wenn er nur in seiner Vorstellung lebt, streift er seine Persönlichkeit ab<br />

und wird selbst zum Geist. Er wird zum Gespenst seiner Gedanken. So etwas Ähnliches muss<br />

mit Harald Grattler vorgegangen sein. Er scheint sich in eine fixe Idee verrannt zu haben und<br />

diese hat er an die Tagebücher Deiner Urgroßmutter geknüpft, Heike. In seinen Gedanken<br />

dreht sich alles darum, irgendein für ihn ungelöstes Problem <strong>der</strong> Vergangenheit mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Aufzeichnungen <strong>der</strong> Elfriede Seiffert lösen zu können. Wenn ich nur wüsste, welche Zusammenhänge<br />

da bestehen!?“<br />

Heike und Wolfgang hatten nachdenklich schweigend den Gedanken Dr. Brenners gelauscht.<br />

Ihnen fiel überhaupt nicht auf, wie dessen Gedanken sie immer mehr in ihren Bann<br />

zogen, sie immer mehr faszinierten, weil sie seine Ausführungen überaus logisch bewerteten.<br />

Es entstand wie<strong>der</strong> eine kleine Gesprächspause, in <strong>der</strong> Dr. Brenner mehr als einen Augenblick<br />

lang die Gelegenheit hatte, die Gesichtszüge von Heike und Wolfgang genau beobachten<br />

zu können.<br />

Wolfgang ergriff als Erster wie<strong>der</strong> das Wort: „Ich habe mich Ähnliches auch schon gefragt:<br />

Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Tagebüchern von Heikes Urgroßmutter<br />

und dem Verhalten dieses Grattler. Und vor allem: Wie kam er darauf, dass ihm diese so<br />

wichtig erscheinen, dass er nicht zurückschreckt ...“<br />

„..., mich zu chloroformieren“, unterbrach Dr. Brenner seinen Sohn.<br />

„Genau!“ Wolfgang nickte mit dem Kopf.<br />

„Ich versuche schon seit einiger Zeit, mich in die Gedankengänge dieses Grattlers hinein<br />

zu versetzen, aber ich schaffe es irgendwie nicht.“ Heike griff nach ihrer Tasse und trank ihren<br />

Cappuccino aus. „Ich glaube, wir müssen den Schlüssel zu diesem „Geheimnis“ in den<br />

Tagebüchern suchen, denn etwas an<strong>der</strong>es als unaufgeklärte Zusammenhänge sind ja Geheimnisse<br />

nicht. Also bleibt uns nichts an<strong>der</strong>s übrig, als zu lesen. Alle weiteren Gedanken jetzt<br />

führen nur zu Spekulationen, die uns nur in die Irre führen können.“<br />

„Du hast nur zu recht, Heike“, stimmte Dr. Brenner zu. „Wir könnten hier noch Stunden<br />

lang philosophieren und werden doch zu keinem Ergebnis kommen.“<br />

„Ja, ja“, seufzte Wolfgang, „unser Problem wird uns noch länger beschäftigen. Bestellen<br />

wir uns lieber noch einen Cappuccino und reden von etwas an<strong>der</strong>em. Es gibt doch noch mindestens<br />

Hun<strong>der</strong>ttausend an<strong>der</strong>e, schönere Themen.“<br />

„Ich bin Euch nicht böse, wenn wir das Thema wechseln.“ Dr. Brenner atmete erleichtert<br />

auf. Heike sah ihn an und lächelte. Wolfgangs Vater sah sie mit einem Blick <strong>der</strong> Erleichterung<br />

an und lächelte zurück. Ihm gefiel Heike immer mehr und dies nicht nur wegen ihres<br />

jugendlich-hübschen Aussehens, son<strong>der</strong>n viel mehr wegen ihrer vernünftig erscheinenden<br />

Ansichten. ‚Ein wirklich patentes Mädel’, dachte er bei sich. ‚Ich hoffe nur, dass diese Verbindung<br />

von Wolfgang mit ihr länger als nur ein halbes o<strong>der</strong> ganzes Jahr dauern wird. Irgendwie<br />

werde ich das Gefühl nicht los, dass es für immer ist.“<br />

Wolfgang winkte Heidi, die einen Moment vorher auf die Terrasse getreten war. Sie sah<br />

seinen nach oben gestreckten Arm sofort, denn ihren geschulten Augen entging kein Wunsch<br />

eines Gastes. Schnell war sie an den Tisch <strong>der</strong> Drei geeilt.<br />

„Darf ich noch etwas bringen?“<br />

„Bringen Sie diesen beiden Hübschen hier noch je einen Cappuccino.“ Dr. Brenner lächelte<br />

Heidi charmant an. Sie erwi<strong>der</strong>te seinen Blick und nickte. „Ich möchte nicht, dass hier<br />

zwei Menschen, denen die Zukunft gehört, Durst leiden müssen.“<br />

„Also noch zwei Cappuccinos!“ Wolfgang und Heike nickten ebenfalls.<br />

214


Heidi ging sofort wie<strong>der</strong> ins Café zurück, um die Bestellung zu erledigen. Dr. Brenner<br />

blinzelte in die Sonne, atmete tief durch, sagte aber zunächst nichts. Es entstand wie<strong>der</strong> eine<br />

kleine Pause, in <strong>der</strong> je<strong>der</strong> zu überlegen schien, welches Thema man denn anschlagen könnte.<br />

„Wenn mich Dr. An<strong>der</strong>s wie<strong>der</strong> gesund geschrieben hat“, begann Dr. Brenner, „ dann<br />

werde ich zunächst mindestens drei Wochen Urlaub machen. Ich muss raus aus dieser Stadt,<br />

so schön sie auch ist, aber ich muss einmal etwas an<strong>der</strong>es sehen. Hier denke ich doch immer<br />

wie<strong>der</strong> an die Arbeit.“<br />

„Drei Wochen Urlaub willst Du machen?“ Wolfgangs ungläubiges Gesicht erheiterte<br />

nicht nur seinen Vater. „Ich kann mir nicht denken, wann Du zuletzt so lange Urlaub gemacht<br />

hast, Vati.“<br />

„Siehst Du, das besagt doch nur, dass ich in den letzten Jahren – und die Betonung liegt<br />

auf Jahre! – viel zu viel gearbeitet und viel zu wenig an mich selbst gedacht habe.“<br />

Heike wollte etwas sagen, aber sie schwieg, nicht aus Höflichkeit, son<strong>der</strong>n sie wollte erst<br />

abwarten, ob dieses neue Thema Urlaub nicht doch noch zurück in das alte münden würde.<br />

„Und wohin willst Du dann fahren?“ Wolfgang konnte seine Neugier jetzt nicht mehr zügeln.<br />

„Hm, das weiß ich im Moment nicht so genau, vermutlich dahin, wo es Ende September<br />

und in den Oktober hinein noch wärmer sein wird als hier.“ Wolfgang sah seinem Vater an,<br />

dass seine Ankündigung ernst gemeint war.<br />

„Also irgend wohin in den Süden?“<br />

„Ja, dies könnte man durchaus so sagen.“ Dr. Brenner nickte und damit war Wolfgangs<br />

Frage beantwortet. Doch war auch ein neues Thema gefunden, über das man sich längere Zeit<br />

ausgiebig unterhalten konnte? Dr. Brenner konnte jetzt über fast alles reden, er wollte nur<br />

nicht an den vorausgegangenen Tag erinnert werden. „Ja, ich werde irgend wohin in den Süden<br />

fahren“, fuhr er fort und atmete tief durch. „Nur ein einziges Buch werde ich mitnehmen<br />

und zwar einen Roman. Ach, seit wann habe ich keinen Roman mehr gelesen? Das muss<br />

schon über zehn Jahre her ein.“<br />

Wolfgang und Heike sahen sich betroffen an. Keiner von ihnen wollte Dr. Brenner in seinen<br />

Gedankengängen stören, keiner wollte ihn jetzt unterbrechen. So schwiegen sie beide.<br />

Dr. Brenner bemerkte, dass die Beiden noch weitere Ausführungen von ihm hören wollten,<br />

aber er tat so als hätte er dies nicht bemerkt. „Und im Süden werde ich dann die Sonne<br />

und die Landschaft in mich aufnehmen und einfach nur da sitzen, sie beobachten und meinen<br />

Gedanken freien Lauf lassen. Irgendwo gibt es ja schließlich immer ein kleines Café, in das<br />

man sich setzen kann, um einmal einfach nichts zu tun. Vielleicht werde ich beginnen, meine<br />

schönsten Erlebnisse aufzuschreiben. <strong>Die</strong>s könnte <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Aufzeichnung meiner Memoiren<br />

sein ...“<br />

„Meinst Du nicht, Du bist noch ein wenig zu jung, um mit Deinen Lebenserinnerungen<br />

zu beginnen, Vati?“<br />

„Lieber Wolfgang! Seine Erinnerungen, speziell seine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen,<br />

dazu kann man höchstens zu alt sein, aber nie zu jung. Wartest Du zu lange damit, dann<br />

kann es gut sein, dass Dir Deine Zeit nicht mehr reicht. Ich wollte, ich hätte schon längst damit<br />

angefangen, dann wäre ich jetzt schon ein ganzes Stück weiter. So liegt jetzt immer noch<br />

ein leeres Blatt Papier vor mir auf dem Tisch. Und vielleicht weißt Du selbst, wie schwer es<br />

ist, den ersten Satz auf ein völlig leeres Blatt Papier zu schreiben.“<br />

„O ja, das Problem kenne ich, Vati. Erst bei meiner letzten Seminararbeit saß ich vor<br />

mehreren leeren Papierblättern und überlegte lange, bis ich endlich schrieb.“ Wolfgang nickte<br />

heftig mit seinem Kopf.<br />

„Da kommt ja schon unser Cappuccino“, rief Heike plötzlich aus, als sie Heidi mit zwei<br />

Tassen auf einem Tablett an den Tisch kommen sah.<br />

„Jetzt kann’s euch wie<strong>der</strong> gut gehen.“ Wolfgangs Vater strahlte übers ganze Gesicht.<br />

„Und mir bringen sie noch bitte ein Glas Bitter Lemmon, Heidi.“<br />

215


<strong>Die</strong> Bedienung stellte die beiden vollen Tassen auf den Tisch und die leeren danach auf<br />

ihr Tablett. „Ein Glas Bitter Lemmon, Herr Doktor! Sehr recht!“<br />

Heidi nahm ihr Tablett, ging aber nicht direkt ins Innere des Cafés zurück, son<strong>der</strong>n zu einem<br />

Tisch, an dem ein junger Mann, <strong>der</strong> etwas nervös schien, Platz genommen hatte, um seine<br />

Bestellung aufzunehmen.<br />

„Was darf ich Ihnen bringen?“ Heidi lächelte den jungen Mann an und wartete. Sie sah,<br />

dass seine Finger zitterten. <strong>Die</strong>ser sah kurz auf die Karte und entschied sich kurzentschlossen<br />

für einen Irish Coffee. Heidi hörte nicht, wie Heike plötzlich leise aufschrie.<br />

„O Gott!“<br />

Dr. Brenner und sein Sohn sahen sich erschrocken an.<br />

„Was ist denn, Heike?“<br />

„Ach, nicht so schlimm, Wolfgang! Mir ist nur eingefallen, dass ich meine Eltern noch<br />

anrufen wollte.“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt, Heike.“ Wolfgang atmete erleichtert auf. „Du hast mich<br />

jetzt aber ganz schön erschreckt, Heike.“<br />

„Nicht nur Dich, Wolfgang“, gab Dr. Brenner zu, „auch ich bin ganz schön zusammen<br />

gezuckt.“<br />

Entschuldigt, dass ich so aufgeschrieen habe.“ Heike sah Wolfgang und seinen Vater bittend<br />

an. „Aber das passiert mir manchmal, wenn mir plötzlich etwas einfällt.“<br />

„Ist ja nicht so schlimm, Heike“ Wolfgang machte mit seinen Händen eine abwehrende<br />

Bewegung. „Ruf’ ruhig Deine Eltern an. Wir langweilen uns hier nicht.“<br />

Heike trank einen Schluck aus ihrer Tasse und stand auf. „Ich frage mal, ob ich vom Café<br />

aus anrufen kann.“ Sie drehte sich um und ging über die Terrasse zu <strong>der</strong> Türe, die in das Innere<br />

des Cafés führte.<br />

Harald Grattler stieß mit Jimmy an. <strong>Die</strong> Bierflaschen klirrten aufeinan<strong>der</strong>. „Also prost!<br />

Auf was trinken wir?“<br />

„Auf unsere Freundschaft“, sagte Jimmy ruhig und nahm einen kräftigen Schluck aus <strong>der</strong><br />

Flasche. <strong>Die</strong> Kohlensäure zischte, als er sie vom Mund absetzte. „Mach’ Dir keine Sorgen,<br />

Harry! Auf Sammy ist Verlass. Er hat mich noch nie hängen lassen. Doch eines muss ich Dir<br />

gleich sagen: Kritisiere nie seinen Fahrstil. Da wird er richtig fuchtig. Also bleib cool Junge.“<br />

„Wird schon schief gehen, Jimmy“<br />

„Das meine ich auch, aber nur im übertragenen Sinn, Harry“<br />

Harald Grattler setzte seine Flasche an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. Das<br />

kühle Nass rann durch seine ausgetrocknete Kehle. Er musste jetzt etwas Alkoholisches trinken,<br />

um seine aufgekratzten Nerven zu beruhigen. Sein Gewissen nagte an ihnen. Ihm überkam<br />

ein Gefühl <strong>der</strong> völligen Hilflosigkeit. Dazu kamen die schmerzenden Stöße seines<br />

schlechten Gewissens, das ihn fragte: Warum hast du das alles getan? Sein Selbstzweifel fügte<br />

noch eine Frage hinzu: War es denn unbedingt nötig, diesem Doktor Gewalt anzutun, nur<br />

um an die Tagebücher heran zu kommen? Hätte es denn noch eine an<strong>der</strong>e Möglichkeit gegeben,<br />

zu erfahren ob die Großmutter wirklich ein uneheliches Kind war? Mein Gott, dachte er,<br />

hoffentlich erwischen mich die Bullen nicht. <strong>Die</strong>sen Gedanken murmelte er leise vor sich hin,<br />

aber nicht leise genug, damit ihm Jimmy nicht verstehen konnte.<br />

„Jetzt sei doch ruhig, Harry!“ Jimmy schüttelte seinen Kopf. „Du wirst sehen, Sammy<br />

kommt pünktlich, fast auf den Glockenschlag. Er ist ein äußerst zuverlässiger Mensch. Das<br />

kann ich Dir versichern.“<br />

38<br />

216


„Ja, ja, ich glaube Dir schon, Jimmy.“ Harald Grattler setzte zu einem neuen, kräftigen<br />

Schluck an. „Aber die Zeit, sie will nicht vergehen, Jimmy. Alles dauert mir zu lange.“<br />

„<strong>Die</strong> Zeit, die Zeit! Jetzt mach’ Dich doch nicht verrückt. Es ist schon fast ein Uhr. <strong>Die</strong><br />

gute Stunde bis Sammy kommt, wird schon noch vergehen.“<br />

„Du machst es Dir leicht. Du bist nicht in meiner Situation.“<br />

„Na, jetzt hör’ mal! Ich hänge in <strong>der</strong> Sache mindestens genau so drinnen wie Du, Harry“<br />

„Du hast recht, Jimmy, aber ich habe nicht ...“<br />

„... die Nerven wie Du“, unterbrach ihn Jimmy. „Das hättest Du Dir vorher überlegen<br />

müssen. Jetzt ist es zu spät, jetzt hängen wir beide drinnen. Aber wir kommen da ganz locker<br />

wie<strong>der</strong> raus. Das verspreche ich Dir, Harry.“<br />

„Na dann: Dein Wort in des Herrn Gehörgang! Prost, Jimmy!“<br />

„Prost, Harry! Mach’ Dir keine Sorgen! Ich weiß, das alles gut geht.“<br />

„Woher willst Du das wissen?“ Harald kniff die Augen zusammen, den das Bild von<br />

Jimmy verschwamm plötzlich vor seinen Augen. Der Alkohol machte sich wie<strong>der</strong> bei ihm<br />

bemerkbar. Nicht nur, das es ihm leicht schwindlig wurde, er verspürte auch ein unangenehmes<br />

Stechen in seiner Bauchgegend.<br />

„Das weiß ich eben, Harry.“ Jimmy sah Harald mit dem Ausdruck einer aufkommenden<br />

Verzweiflung an. „Mein Bauch hat sich noch nie getäuscht.“<br />

„Und meiner fängt zu rebellieren an.“<br />

„Hast Du etwas gegessen, Harry?“ Jimmy sah Harald Grattler mit misstrauischem Blick<br />

an.<br />

„Ja, gestern Abend“, gab Jimmys Freund kleinlaut zu.<br />

„Dann wird es aber Zeit, dass Du jetzt etwas isst.“ Jimmy schüttelte den Kopf.<br />

Harald sah ihn fragend an. „Hast Du denn etwas zu essen da?“<br />

„Ich habe immer etwas zu essen im Haus, das heißt in <strong>der</strong> Wohnung, Harry“ Jimmy war<br />

aufgesprungen und ging an seinen Kühlschrank. „Was willst Du? Ich kann Dir eine Pizza anbieten,<br />

tiefgefroren zwar, aber nicht schlecht.“<br />

„O ja, Pizza habe ich schon lange nicht mehr gegessen, Jimmy.“<br />

„Also dann, Monsieur, werde ich Ihnen in Kürze eine leckere Pizza servieren.“ Jimmy<br />

öffnete das Tiefkühlfach. „Was haben wir denn da? – Einmal mit Schinken und Salami, eine<br />

„Capricciosa“ und eine ... Nein, lei<strong>der</strong> keine mehr.“ Er wandte sich wie<strong>der</strong> Harald zu. „Welche<br />

willst Du, Harry?“<br />

„Mach’ mir die mit Schinken und Salami bitte, Jimmy:“<br />

„Also eine klassische mit Salami und Schinken. Bitte sehr, bitte gleich!“ Jimmy holte eine<br />

flache Schachtel aus dem Tiefkühlfach. Kleine Nebelschwaden stiegen von ihr auf, als die<br />

warme Luft <strong>der</strong> Küche auf sie traf. „In <strong>der</strong> Mikrowelle wird es nicht lange dauern“, erklärte<br />

er, holte einen Teller aus einem kleinen Hängeschränkchen, öffnete die Schachtel an einer<br />

Schmalseite und ließ den harten, tiefgefrorenen Fladen auf den Teller rutschen. Dann nahm er<br />

diesen, öffnete die Klappe des Mikrowellenherdes und stellte die Pizza auf den Drehteller im<br />

Inneren. „Wie viele Minuten wird sie brauchen? – Na ja, zehn dürften reichen“, murmelte er<br />

und schaltete das Gerät ein.<br />

Harald Grattler blickte gedankenverloren seinen Freund an. <strong>Die</strong> Aussicht auf ein Essen<br />

regte den Speichelfluss in seinem Mund an. Sein hungriger Magen hörte unerwartet auf, knurrende<br />

Geräusche von sich zu geben. Er setzte seine Bierflasche an den Mund und trank wie<strong>der</strong><br />

einen kräftigen Schluck. „Wann musst Du zu diesem komischen Kommissar gehen, Jimmy?“<br />

Harald war selbst überrascht, diese Frage gestellt zu haben, zumal er gerade an etwas ganz<br />

an<strong>der</strong>es gedacht hatte.<br />

„Heute Nachmittag. Wann genau hat er nicht gesagt.“ Jimmy setzte sich wie<strong>der</strong> zu Harald<br />

an den Tisch. „Ich habe also noch genügend Zeit. Der Nachmittag ist noch lang.“<br />

217


„Ja, lei<strong>der</strong> viel zu lang“, seufzte Harald Grattler, nachdem er die Flasche wie<strong>der</strong> auf den<br />

Tisch gestellt hatte. Er sah sie an und bemerkte, dass er sie fast ausgetrunken hatte. „Und die<br />

Flasche ist auch schon wie<strong>der</strong> leer.“<br />

„Jetzt esse erst einmal, dann kannst Du immer noch eine Halbe trinken.“ Jimmy zog seine<br />

Stirn in Falten. „Zu viel Bier auf leerem Magen hat schon immer geschadet.“<br />

Harald schwieg und wartete weiter. Nicht nur sein Hunger wurde immer größer, son<strong>der</strong>n<br />

mehr noch sein Durst. Doch er wollte Jimmy nicht noch einmal bitten. Jetzt musste er es ohne<br />

Gerstensaft aushalten, bis die Pizza heiß und fast nicht von einer frischen zu unterscheiden<br />

war. Danach fiel er über die Pizza her als hätte er seit Tagen nichts mehr gegessen.<br />

„Nur langsam, Junge! Ich nehme Dir nichts von <strong>der</strong> Pizza weg“, kommentierte Jimmy,<br />

während er Harald beim Essen zusah. Er selbst hatte keinen Hunger, denn er frühstückte meist<br />

relativ spät am Vormittag sehr ausgiebig.<br />

Nachdem Harald Grattler seine Pizza mehr verschlungen als gegessen hatte, blickte er<br />

seinen Freund sichtlich erleichtert an. Jimmy wartete, ob Harald etwas sagen wollte, aber dieser<br />

schwieg, zufrieden und satt.<br />

Erst nach einer Weile fiel Jimmy etwas ein. „Ach ja! Du wolltest ja noch eine Halbe. Sie<br />

sei Dir gegönnt!“ Jimmy ging zum Kühlschrank und holte noch eine Bierflasche heraus, <strong>der</strong>en<br />

Kronkorkenverschluss er sogleich öffnete. „Zum Wohle, Harry!“ Er stellte die Flasche vor<br />

Harald auf den Tisch und entfernte die leere, die er neben den Kühlschrank auf dem Boden<br />

abstellte.<br />

„Danke, Jimmy!“ Harald ergriff die volle Flasche und hob sie halb in die Höhe. „Prost,<br />

Jimmy! Du bist ein wahrer Freund.“ Wie<strong>der</strong> klirrten zwei Bierflaschen aufeinan<strong>der</strong>.<br />

Als Heike wie<strong>der</strong> aus dem Caféinneren auf die Terrasse trat, war ihr Gesicht heiterer als<br />

zuvor. Vergnügt schlen<strong>der</strong>te sie zurück an den Tisch.<br />

„Was ist denn in Dich gefahren, Heike?“, wollte Wolfgang wissen. „Du strahlst über das<br />

ganze Gesicht als hättest Du gerade erfahren, den Hauptgewinn in <strong>der</strong> Lotterie gezogen zu<br />

haben.“<br />

Schweigend setzte sich Heike wie<strong>der</strong> auf ihren Platz und lächelte zuerst Wolfgang und<br />

dann seinen Vater an. „Ich glaube, alles wird gut. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“<br />

Dr. Brenner sah auf und seine nachdenklichen Gesichtszüge entspannten sich. „Warum<br />

soll nicht alles gut gehen“, begann er. „Ich bin auch fest davon überzeugt, dass man erstens<br />

diesen Grattler findet und zweitens, dass sich letztendlich die Verbindung zwischen ihm und<br />

den Tagebüchern, die wir jetzt noch nicht kennen, auch aufklären wird. Der Schlüssel liegt<br />

mit Sicherheit im Inhalt, in dem, was uns Elfriede Seiffert sagen wollte. Sie musste es damals<br />

los werden, indem sie schrieb. Sie musste sich eine große Last durch das Schreiben von <strong>der</strong><br />

Seele laden. Nur so ist es zu erklären, wie sie schrieb.“<br />

„Wie schrieb sie denn?“ Wolfgangs Frage zielte auf weitere Einzelheiten, die sein Vater<br />

gerade dabei war zu erklären. So meinte er zumindest in diesem Moment.<br />

„Zuerst war es fast noch ein kindliches Mitteilungsbedürfnis, wenn sie z.B. über ihren<br />

Geburtstags schreibt, aber dann gibt es einen fast abrupten Bruch in ihrem Stil, als sie sich<br />

zum ersten Mal verliebt. Elfriede wird reifer, sie wird zur Frau ...“<br />

Heike sah Wolfgang nur an, aber dieser erwi<strong>der</strong>te ihre Blicke nicht, son<strong>der</strong>n starrte gebannt<br />

auf seinen Vater.<br />

„Na ja! Sei’s wie’s sei! Ich werde mir wohl doch bald wie<strong>der</strong> die Texte anschauen.“ Dr.<br />

Brenner lehnte sich wie<strong>der</strong> zurück, verschränkte die Arme vor <strong>der</strong> Brust und blinzelte in die<br />

Sonne.<br />

„Du enttäuscht mich aber, Vati.“ Wolfgangs Stimme zitterte. „Ich habe gedacht, noch<br />

länger Deinen Ausführungen lauschen zu können.“<br />

„Alles zu seiner Zeit, Wolfgang!“ Dr. Brenner schmunzelte. „Alles braucht seine Zeit,<br />

viel Zeit. Ein Tagebuch wird nicht in einem Zug einfach so heruntergeschrieben. Es wächst<br />

218


mit <strong>der</strong> Zeit, es entfaltet sich wie <strong>der</strong> Geist desjenigen, <strong>der</strong> es schreibt. Es ist eine wechselseitige<br />

Beeinflussung vom Schreiber, respektive <strong>der</strong> Schreiberin, zum Text und umgekehrt.“<br />

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Wolfgang Brenner schüttelte seinen Kopf. „Das<br />

musst Du uns jetzt aber näher erklären.“<br />

Dr. Brenner richtete sich wie<strong>der</strong> in seinem Stuhl auf und legte seine beiden Arme auf die<br />

Lehnen. „Ich muss jetzt nicht alles erklären. Das Wörtchen „muss“ hat für mich im Moment<br />

keinerlei Bedeutung. Für mich ist das Wörtchen „will“ viel wichtiger geworden als das Muss,<br />

das immer mit Zwang gleich zu setzen ist. Zwänge machen uns nicht frei in den Entscheidungen,<br />

die wir treffen.“<br />

Heike, die während <strong>der</strong> letzen Minuten geschwiegen und nur vor sich hingelächelt hatte,<br />

holte tief Luft. „Dein Vater hat schon mehr als recht. Man kann nichts erzwingen, auch nicht<br />

die Lüftung irgend eines „Geheimnisses“. Alles wird sich fügen und geben. Aber dazu<br />

braucht es viel Zeit. Und wir können uns nur in Geduld üben, denn an<strong>der</strong>s werden wir dieses<br />

und auch alle an<strong>der</strong>en Rätsel nicht lösen. Und die Verbindung dieses Grattlers mit den Tagebüchern<br />

werden wir auch noch herausbekommen. Da bin ich mir ganz sicher.“<br />

Nach diesen Worten aus Heikes Mund, gab es Wolfgang auf, weitere Fragen zu stellen.<br />

Er hatte im Moment nicht nur Heike gegen sich. Wolfgang fühlte instinktiv, dass jedes weitere<br />

Nachbohren jetzt sinnlos war. Sein Vater gab von seinen Gedanken nur das heraus, was er<br />

wollte. Auch er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht alles, aber sehr viel mehr als sein Sohn, <strong>der</strong><br />

die <strong>Wachstuchhefte</strong> von Heikes Großmutter bisher überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen<br />

hatte. Betreten schwieg er. Den Wissensvorsprung, den sein Vater ihm gegenüber hatte,<br />

erkannte er ohne Neid an. Nur seine Neugier nagte immer wie<strong>der</strong> in ihm.<br />

„Ich schlage vor, wir hören jetzt wirklich auf, uns weitere Gedanken über das zu machen,<br />

was geschehen ist.“ Wolfgangs Stimme klang mit jedem Wort gefasster. „Nur eines möchte<br />

ich jetzt noch dazu sagen ...“<br />

„Und das wäre?“ Dr. Brenner sah seinen Sohn mit sehr kritischen Augen an.<br />

„Ich meine, man müsste versuchen, die Gedankengänge dieses Grattlers nach zu vollziehen.“<br />

“Völlig richtig, Wolfgang!“, erwi<strong>der</strong>te Heike. „Aber ich finde es für heute genug, weiter<br />

zu spekulieren.“<br />

„Da kann ich Heike nur zustimmen. Ich finde es auch genug. Warum reden wir nicht über<br />

an<strong>der</strong>e, schönere Themen?“ Dr. Brenner sah seinen Sohn fragend an und hob seine Augenbrauen.<br />

Wolfgang fühlte sich ein wenig bedrängt und überlegte, was er sagen sollte. „Ihr habt ja<br />

recht. Ich muss meine Neugier jetzt wirklich etwas zügeln.“<br />

„Selbsterkenntnis war schon immer <strong>der</strong> erste Weg zur Besserung, Wolfgang.“ Heike<br />

lachte ihn an. <strong>Die</strong> Situation war gerettet.<br />

Punkt halb drei klingelte es an <strong>der</strong> Türe von Jimmys Wohnung. Harald Grattler zuckte<br />

zusammen.<br />

„Nur ruhig, Harry! Das wird sicher Sammy sein.“ Jimmy war aufgesprungen, eilte zur<br />

Wohnungstüre und sah durch den Spion. Er atmete erleichtert auf, als er Sammys kantiges<br />

Gesicht erblickte. Schnell öffnete er die Türe.<br />

„Hallo Sammy! Du kommst ja mit dem Glockenschlag.“<br />

„Hallo Jimmy! War ich schon einmal unpünktlich?“ Sammys Gesicht verzog sich zu einem<br />

Grinsen.<br />

Jimmy winkte ab. „Komm’ rein! Du wirst schon sehnsüchtig erwartet.<br />

„Na dann! Ich werde immer sehnsüchtig erwartet, meist von Frauen.“ Sammy lachte und<br />

folgte Jimmy in die Wohnung.<br />

219


Harald Grattler hatte die kurze Begrüßung in <strong>der</strong> Küche angehört, schnell den Rest aus<br />

<strong>der</strong> Bierflasche ausgetrunken und war, da er ein dringendes Bedürfnis verspürte, schnell ins<br />

Bad geeilt, um sich Erleichterung zu verschaffen.<br />

Wenige Momente später trat Jimmy gefolgt von Sammy in die Küche. „Harry?! Wo bist<br />

Du?“ Er wandte sich Sammy zu. „Wo ist er denn? Er kann doch nicht durchs Fenster abgehauen<br />

sein. Zum Springen ist <strong>der</strong> zweite Stock doch ein wenig zu hoch.“<br />

„Vielleicht ist er mal für kleine Jungs.“ Sammys Bemerkung beruhigte Jimmy.<br />

„Da kannst Du recht haben, Sammy. Er hat schließlich drei Halbe Pils in den letzten beiden<br />

Stunden getrunken. Irgendwann muss <strong>der</strong> Gerstensaft auch wie<strong>der</strong> raus.“ Jimmy und<br />

Sammy mussten beide über diese trockene Bemerkung lachen. Kurz darauf hörten sie die<br />

Wasserspülung im Bad und Harald Grattler erschien in <strong>der</strong> Küche, sichtlich erleichtert, auch<br />

über Sammys pünktliches Erscheinen.<br />

„Das ist Sammy“, stellte Jimmy seinen Freund kurz vor.<br />

„Ich bin Harald.“ Harald Grattler streckte seine rechte Hand nach Jimmy aus. <strong>Die</strong>ser ergriff<br />

sie und schüttelte seinem Gegenüber mit einem kräftigen Druck die Hand.<br />

„Also Du bist <strong>der</strong>jenige, dem es hier zu heiß wird.“ Sammys Stimme schallte ausdruckslos<br />

durch die Küche, denn sie war kräftig, etwas zu kräftig für Haralds Geschmack. „Keine<br />

Sorge, Harry! Wir werden das Kind schon schaukeln. Hast Du alles?“<br />

„Ja!“ Harald Grattler machte einen Schritt zur Seite und wollte die Reisetasche holen, die<br />

er hinter die Küchentüre gestellt hatte. Dabei stand ihm aber Jimmy im Weg. „Ich muss nur<br />

meine Tasche holen.“<br />

„Deine Tasche?“ Jimmy sah ihm ungläubig an. „Es ist meine Tasche, in <strong>der</strong> ich Dir ein<br />

paar Klamotten aus Deiner Wohnung mit gebracht habe.“<br />

„Dann eben Deine Tasche, Jimmy.“ Harald wurde nervös, weil Jimmy nicht von <strong>der</strong> Stelle<br />

weichen wollte. „Jetzt lass’ mich die scheiß Tasche holen! Ich will weg.“<br />

„Nur ruhig Blut, Harry!“ Jimmy ergriff mit seinen beiden Händen die Schultern von Harald.<br />

„Mach’s gut, Junge! Und sei nicht so nervös. Sammy wird Dich jetzt dorthin bringen,<br />

wo Dich keiner sucht. Also halt’ die Ohren steif!“<br />

Harald Grattler entwand sich Jimmys Armen. „Ich danke Dir herzlich für alles, Jimmy.<br />

Aber jetzt lass’ mich gehen!“<br />

Jimmy klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Also dann geh’, Harry! Entschuldige!<br />

Harald wollte ich sagen.“<br />

Sammy musste lachen. „Komm’, Harry, bevor noch irgend jemand nach Dir fragt!“<br />

Jimmy trat zur Seite. Harald, <strong>der</strong> es jetzt furchtbar eilig hatte, sprang fast hinter die Türe<br />

und ergriff die Reisetasche, in <strong>der</strong> jetzt alles war, was ihm zu Verfügung stand: ein wenig<br />

Wäsche zum Wechseln und in einer alten Plastiktüte die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>, die erst gestern<br />

gewaltsam ihren Besitzer gewechselt hatten.<br />

„Also auf geht’s, Sammy!“ Harald Grattler war schnell wie<strong>der</strong> vor die Küchentüre getreten.<br />

Sammy fingerte die Autoschlüssel aus seiner linken Hosentasche. „Ich stehe fast vorm<br />

Haus. Wir brauchen also nicht durch die halbe Stadt zu laufen.“<br />

„Das ist gut so. Also tschüß, Jimmy!“<br />

„Gott befohlen, Harry!“ Jimmy hob seine rechte Hand zum Gruß.<br />

Eine Minute später fiel die Wohnungstüre ins Schloss. Haralds Freund blieb alleine in <strong>der</strong><br />

Wohnung zurück. Nachdenklich setzte er sich wie<strong>der</strong> auf einen <strong>der</strong> Hocker in <strong>der</strong> Küche. ‚Ich<br />

kann nur hoffen, dass ich die Beiden heil und gesund wie<strong>der</strong> sehe’, dachte er bei sich. ‚Irgendwie<br />

habe ich da so ein komisches Gefühl. Aber Gefühle können auch täuschen.’<br />

Harald Grattler sah sich vorsichtig um, als Sammy und er das Haus verließen. Aber er sah<br />

niemanden, <strong>der</strong> sich auffällig unauffällig verhielt. Nur eine junge Frau schob auf dem gegenüberliegenden<br />

Gehsteig einen Kin<strong>der</strong>wagen vor sich her.<br />

220


Sammy war sofort zu seinem Wagen gegangen und hatte die Türen entriegelt. „Komm’<br />

steig ein, Harry! Wir müssen noch ein ganzes Stück fahren.“<br />

Harald öffnete die Beifahrertüre und warf die Tasche auf den Rücksitz. „Ich lasse sie lieber<br />

hier“, meinte er und stieg ein.<br />

Sammy gab Gas. Der Wagen schoss förmlich aus <strong>der</strong> geräumigen Parklücke und bog mit<br />

quietschenden Reifen in die Straße ein. Jimmy hatte Harald vor Sammys Fahrstil ja gewarnt.<br />

So sagte er nichts, son<strong>der</strong>n verfolgte gespannt, wie Sammy ein wenig zu schnell durch die<br />

Stadt fuhr.<br />

Harald fürchtete sich weniger wegen Sammys sportlichem Autofahren, son<strong>der</strong>n vielmehr,<br />

dass dieses <strong>der</strong> Polizei auffiel und sie deswegen angehalten werden könnten. Doch er sagte zu<br />

Sammy nichts, er schwieg, immer hoffend, alles werde schon gut gehen.<br />

Sie fuhren in östlicher Richtung auf <strong>der</strong> Straße, die <strong>der</strong> Route einer alten, mittelalterlichen<br />

Handelsstraße folgte, und zugleich die kürzeste Verbindung zur Autobahn war, die Sammy<br />

offensichtlich nehmen wollte.<br />

Nachdem sie die Stadtgrenze passiert hatten, gab Sammy erst richtig Gas. <strong>Die</strong> Tachonadel<br />

pendelte sich auf <strong>der</strong> schnurgeraden Strecke bei etwa 140 km/h ein. <strong>Die</strong> Bäume des Waldes,<br />

welche die Straße durchschnitt, flogen auf sie zu und hinter ihnen wie<strong>der</strong> weit von ihnen<br />

weg. Auch Haralds Gedanken flogen jetzt weit weg.<br />

„Jetzt kann er erst so richtig zeigen, was in ihm steckt“, meinte Sammy trocken und<br />

blickte kurz zu seinem Beifahrer hinüber. „Ich kann die Kiste hier nur nicht voll ausfahren,<br />

denn bald haben wir die Autobahnauffahrt erreicht. Und die Bremsen will ich nicht überstrapazieren.<br />

Ich habe erst gestern voll in die Eisen treten müssen.“<br />

„Fahr’, wie Du’s für richtig hältst, Sammy!“<br />

„Du bist ein guter Beifahrer, Harry. Du gefällst mir.“ Sammy musste sich jetzt auf die<br />

Abzweigung zur Autobahn konzentrieren, die rasend schnell näher kam. Er war gezwungen,<br />

die Geschwindigkeit zu drosseln. Fast wi<strong>der</strong>willig trat er auf das Bremspedal, doch <strong>der</strong> Wagen<br />

verringerte nur unmerklich seine Geschwindigkeit.<br />

„Verdammte Scheiße!“ entfuhr es Sammy. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Er schaltete<br />

blitzartig einen Gang zurück. Der Motor heulte auf, aber die brutale Motorbremse zeigte Wirkung.<br />

<strong>Die</strong> Tachonadel bewegte sich schnell nach links. <strong>Die</strong> Einfahrt war erreicht.<br />

„Hoffentlich packen wir’s.“ Mehr konnte Sammy, <strong>der</strong> noch das Lenkrad hastig nach<br />

rechts riss, nicht mehr sagen, dann wurde <strong>der</strong> Wagen aus <strong>der</strong> Kurve getragen.<br />

Harald Grattler wollte aufschreien, doch seine Stimme blieb ihm im Halse stecken. Das<br />

letzte, was er sah, war ein Baum, <strong>der</strong> rasend schnell von vorne auf ihn zukam. Ein ohrenbetäubendes<br />

Krachen nahm er noch ganz kurz wahr, dann schwanden ihm die Sinne. Doch er<br />

fiel nicht in eine finstere Nacht, son<strong>der</strong>n schien zu träumen. Ein Glücksgefühl, das er vorher<br />

nie gekannt hatte, durchströmte plötzlich seinen Körper. Harald Grattler fühlte nichts weiter.<br />

Ihm war, als schwebe er über Zeit und Raum. Dabei sah er sich selbst von außen, aber das<br />

Bild verschwand bald wie<strong>der</strong>.<br />

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, dann hörte Harald Grattler aus <strong>der</strong> Entfernung dumpf eine<br />

Stimme: „Meinen Sie, dass er durchkommt, Herr Professor?“<br />

„Er hat gute Chancen, wenn sein Kreislauf mitmacht, Herr Kollege.“<br />

„Na, dann hoffen wir das Beste, Herr Professor.“<br />

„Und was ist aus dem An<strong>der</strong>en geworden?“<br />

„Dem war lei<strong>der</strong> nicht mehr zu helfen. <strong>Die</strong> Feuerwehr war ja schnell vor Ort und hat ihn<br />

als ersten aus dem Wrack geholt, doch er verstarb noch am Unfallort.“<br />

„Ja, ja, wir Mediziner vermögen schon Vieles, aber <strong>der</strong> Herr zeigt uns immer wie<strong>der</strong><br />

deutlich unsere Grenzen. Memento mori, Herr Kollege!“<br />

„Laudetur Jesus Christus, Herr Professor.“<br />

Dann verstummten die zwei Stimmen. Haralds Grattlers geschwächter Körper brauchte<br />

jetzt sehr, sehr viel Schlaf, um sich ganz langsam wie<strong>der</strong> zu erholen.<br />

221


Dr. Brenner wollte auf seine Armbanduhr sehen. „Ach so, ich habe ja meine Uhr heute<br />

vergessen anzuziehen“, sagte er gedankenverloren und sah zu seinem Sohn hinüber, <strong>der</strong> die<br />

Situation blitzartig erkannte und sofort auf seine Uhr schaute.<br />

„Man sollte es nicht glauben, aber die Zeit vergeht so schnell, wenn man sich gut unterhält.<br />

Es geht schon gegen halb drei Uhr und langsam bekomme ich Hunger.“<br />

Wollt ihr hier was essen?“ Dr. Brenner sah Wolfgang fragend an. „Es gibt hier auch ein<br />

paar Kleinigkeiten wie Wiener Würstchen o<strong>der</strong> auch Nürnberger Bratwürste ...“<br />

„Nein danke, Vati“, unterbrach er seinen Vater und winkte ab. „Auf Fleisch habe ich heute<br />

weniger Appetit. O<strong>der</strong> was meinst du, Heike?“<br />

„Ich habe nichts gegen Bratwürste.“ Sie legte beugte sich zu Wolfgang hin und legte ihren<br />

linken Arm um seine Schulter. Heike sah ihn mit einem verliebten Blick an. „Aber wenn<br />

du etwas an<strong>der</strong>es essen willst, dann habe ich auch nichts dagegen. Was möchtest du gerne<br />

essen, Wolfgang?“<br />

„Ich hätte jetzt Lust, ...“ Er überlegte kurz. „... einen guten gebackenen Karpfen zu essen.“<br />

“Karpfen?!“ Heike sah Wolfgang etwas verdattert an. „Gibt es schon wie<strong>der</strong> welche?“<br />

Dr. Brenner lachte kurz auf. „In einem Monat mit einem R wären wir schon.“<br />

„Ach ja“, gab Heike zurück, „es ist ja schon September. Wie die Zeit vergeht!“<br />

„Ja, Ja.“ Dr. Brenner nickte. „Wobei wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Zeit angekommen sind. Über die<br />

lässt es sich trefflich philosophieren. Und dabei vergeht wie<strong>der</strong> die Zeit ...“ Er lehnte sich zurück.<br />

„Apropos Hunger: Ich könnte auch schon wie<strong>der</strong> etwas vertragen, obwohl ich erst spät<br />

gefrühstückt habe. Und ein Karpfen ...“<br />

„... kommt deiner Vorstellung auch entgegen.“ Wolfgang blickte gespannt seinen Vater<br />

an.<br />

„Zugegeben, die Vorstellung klingt verlockend, aber irgendwie passt jetzt Fisch meiner<br />

Meinung nach nicht in die Tageszeit. Ich werde wohl noch etwas warten und später eine Kleinigkeit<br />

essen. Ein bisschen Hunger ist gut für tiefschürfende Gedanken ...“<br />

Wolfgang wandte sich Heike zu, die mit ihrem Arm von ihm abließ. „Mein Vater philosophiert<br />

wie<strong>der</strong>. Aber wir haben etwas früher gefrühstückt wie er. Entsprechend größer wird<br />

auch mein Hunger sein.“<br />

„Ich will euch nicht aufhalten“, warf Dr. Brenner ein; „aber ich bleibe noch ein wenig<br />

hier. Mir gefällt es heute hier so gut.“<br />

Etwas enttäuscht über die Entscheidung seines Vaters, das Café nicht gegen ein an<strong>der</strong>es<br />

Lokal zu tauschen, sah Wolfgang Heike an. <strong>Die</strong>se erkannte in seinem Blick sofort seine<br />

Stimmung, überlegte kurz und stand dann unvermittelt auf, was Dr. Brenner und seinen Sohn<br />

überraschte.<br />

„Also ich gehe jetzt mal für kleine Mädchen. Und dabei werde ich eine Entscheidung<br />

treffen, ob ich hier bleibe o<strong>der</strong> ...“<br />

„Tu das, Heike!“ Wolfgangs Hoffnung, dass Heike auf seine Vorstellung einging, keimte<br />

wie<strong>der</strong> auf. Sein Vater beobachtete seinen Sohn sichtlich amüsiert, aber er sagte nichts, son<strong>der</strong>n<br />

schien sich weiter in seine Gedanken zu vertiefen.<br />

Heike war unterdessen ins Café gegangen und kehrte nach wenigen Minuten zurück.<br />

„Hast du dich entschieden, Heike?“ Wolfgangs Frage wurde ihm von seinem Hungergefühl<br />

diktiert.<br />

39<br />

222


„Fisch wäre nicht schlecht“, begann Heike und setzte sich wie<strong>der</strong> an den Tisch. „Aber irgendwo<br />

habe ich gelesen, dass man mit dem Karpfenessen ruhig bis Oktober warten solle,<br />

denn dann seien sie schmackhafter als im ersten R-Monat nach <strong>der</strong> Sommerpause.“<br />

„Na, dann eben nicht“, maulte Wolfgang enttäuscht. „Hast du einen an<strong>der</strong>en Vorschlag,<br />

Heike?“<br />

„Wie wär’s denn, wenn wir zum Italiener gingen, Wolfgang?“<br />

<strong>Die</strong> Miene von Dr. Brenners Sohn erhellte sich. Er war von Heikes Idee begeistert. „Das<br />

ist ein sehr guter Vorschlag, Heike. Da bin ich sofort dabei.“<br />

„Also gut“, schaltete sich Dr. Brenner ein, „geht zu euerem Italiener. Ich bleibe hier und<br />

lasse meinen Gedanken noch ein wenig freien Lauf.“<br />

„Also gut, Vati Dann lassen wir dich jetzt alleine zurück, wenn’s dir nichts ausmacht.“<br />

„Ich habe es doch schon gesagt, Wolfgang: Mir macht es nichts aus, noch ein wenig alleine<br />

hier zu sitzen.“<br />

Heike und Wolfgang verabschiedeten sich von Dr. Brenner und bedankten sich für die<br />

Einladung. Wenig später fuhren die Beiden mit dem Auto weg.<br />

Wolfgang schaltete das Radio in seinem Wagen ein, doch die erhoffte unterhaltende Musik<br />

kam nicht. Stattdessen tönte eine Verkehrsmeldung aus den Lautsprechern:<br />

„... und hier noch eine dringende Verkehrsmeldung: Autobahn A 3 Würzburg – Regensburg.<br />

Wegen eines Unfalls ist die Einfahrt Nürnberg-Behringersdorf gesperrt; dadurch Rückstau<br />

auf <strong>der</strong> B 14 in Richtung Lauf. Ortskundige Autofahrer werden gebeten, die Unglücksstelle<br />

großräumig zu umfahren.“<br />

„Was da wohl wie<strong>der</strong> passiert ist?“ Heike schüttelte den Kopf und sah wie<strong>der</strong> nach vorne.<br />

Wolfgang sagte nichts, son<strong>der</strong>n konzentrierte sich auf den Verkehr.<br />

Sie hatten es nicht beson<strong>der</strong>s eilig, mussten aber im Verkehr mitschwimmen. Nach zehn<br />

Minuten war ihr Ziel erreicht: eine kleine Pizzeria in einer stillen Nebenstraße, in <strong>der</strong> Wolfgang<br />

nicht weit entfernt sogar noch einen bequemen Parkplatz fand.<br />

Jimmy sah auf seine Armbanduhr Sie zeigte kurz nach drei Uhr. „Verdammt!“ entfuhr es<br />

ihm. „Ich muss mich ja noch bei diesem komischen Kommissar Müller melden.“ Schnell<br />

stellte er die Bierflaschen beiseite, die noch auf dem kleinen Küchentisch standen und eilte<br />

aus <strong>der</strong> Wohnung. ‚Wenn ich mit <strong>der</strong> U-Bahn fahre, bin ich schneller im Präsidium’, dachte er<br />

und schloss die Wohnungstüre ab. Mit eiligen Schritten stieg er die Treppe hinunter und begab<br />

sich auf den Weg zur nächsten U-Bahnhaltestelle.<br />

<strong>Die</strong> Uhr vor dem Polizeipräsidium zeigte acht Minuten nach halb vier, als Jimmy das<br />

große Haus betrat. Er kannte sich hier nicht aus und wusste daher auch nicht, wohin er gehen<br />

musste. So wandte er sich <strong>der</strong> Portierloge zu, in <strong>der</strong> ein älterer Herr saß, <strong>der</strong> aber gerade im<br />

Begriff war, diese zu verlassen.<br />

„Entschuldigung, Meister!“ Jimmy beugte sich an die Sprechöffnung und versuchte, sich<br />

so natürlich wie möglich zu geben. „Können Sie mir sagen, wo ich das Zimmer von Kommissar<br />

Müller finde?“<br />

Der ältere Herr drehte sich knurrend um und sah Jimmy prüfend an. Seine Miene verfinsterte<br />

sich etwas. Dennoch ging er drei Schritte zu seinem Tisch hinter <strong>der</strong> Glasscheibe zurück<br />

und sah auf eine Tafel, die eine Tabelle aller Zimmer und Nebenstellennummern beinhaltete.<br />

„Welchen Müller meinen Sie denn? Wir haben fünf von <strong>der</strong> Sorte hier und einer ist<br />

schlimmer als <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e.“<br />

„Ich möchte zu Kommissar Müller.“ Jimmy bemühte sich, den Mann hinter <strong>der</strong> Glasscheibe<br />

anzulächeln.<br />

40<br />

223


„Da gibt’s immer noch zwei Kommissare, die Müller heißen. Der eine ist in 307, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

in 419. Zu welchen wollen Sie?“<br />

„Entschuldigen Sie mal, Meister! Ich habe dem Kommissar nicht nach seinem Vornamen<br />

gefragt.“<br />

„Wir haben einen Mord-Müller und wir haben einen Klau-Müller hier. In welches Dezernat<br />

wollen Sie also?“ Der Mann in <strong>der</strong> Auskunft sah Jimmy fragend an.<br />

<strong>Die</strong>ser überlegte nicht lange. „Ich will zum Klau-Müller. In welchem Zimmer sitzt <strong>der</strong>?“<br />

Der ältere, schlecht gelaunte Herr sah noch mal auf die Zimmerbelegungstafel. „Dann<br />

müssen sie auf 307. Das Dezernat <strong>Die</strong>bstahl ist im dritten Stock.“<br />

„Vielen Dank, Meister!“ Jimmy grinste still in sich hinein. ‚Für was ist <strong>der</strong> Alte eigentlich<br />

da’, dachte er bei sich und wandte sich vom Sprechfenster ab. Bedächtig schlen<strong>der</strong>te er<br />

zum Aufzug, <strong>der</strong> sich gleich rechts neben dem Eingang befand, und drückte den Knopf, <strong>der</strong><br />

den Fahrkorb herholen sollte. Jimmy sah sich nicht um. Er war in seinen Gedanken vertieft.<br />

Im Geiste stellte er sich schon die Fragen, von denen er hoffte, Kommissar Müller würde sie<br />

ihm stellen. Er sah die beiden Polizisten nicht, die von <strong>der</strong> Hintertüre, die zum Fahrzeughof<br />

hinausführte, hereinstürmten und die Treppe hochjagten als sei <strong>der</strong> Leibhaftige hinter ihnen<br />

her.<br />

Endlich kam <strong>der</strong> Aufzug. <strong>Die</strong> Fahrkorbtüre öffnete sich und heraus kam eine nicht mehr<br />

ganz junge Frau, die sichtlich Mühe hatte, mit ihren extrem hochhakigen Schuhen gerade aus<br />

zu laufen. Jimmy beachtete sie nicht. Seine Gedanken hatten seinen Geist voll vereinnahmt.<br />

Er stieg in den Aufzug, drückte auf den Knopf mit <strong>der</strong> Ziffer 3 und wandte sich zur schmalen<br />

Türe um. Keiner wollte noch zusteigen. <strong>Die</strong> Türe schloss sich, <strong>der</strong> Aufzug setzte sich nach<br />

oben ich in Bewegung und erreichte sein Ziel nach wenigen Sekunden.<br />

Jimmy stieg aus und suchte ein Schild, das ihm seinen Weg zeigte, doch die hellgrün gestrichenen<br />

Wände war kahl. Sie wirkten auf ihm kalt, nichtssagend; sie waren für Jimmy abstoßend.<br />

Er überlegte kurz und entschied sich, nach links zu gehen. ‚<strong>Die</strong> meisten Leute gehen<br />

nach rechts’, dachte Jimmy bei sich. ‚Das habe ich irgendwo einmal gelesen. Aber ich laufe<br />

gegen den Strom, ich versuche mein Glück hier. Es kommt ja auf ein paar Minuten nicht an.<br />

Schließlich hat mich dieser komische Kommissar zu keiner bestimmten Zeit zu sich bestellt.’<br />

Mit diesem Gedanken bog er um die Ecke des kurzen Flurs, <strong>der</strong> vom Aufzug und Treppenhaus<br />

weg in den großen Bürotrakt führte. Jimmy besah sich die Türschil<strong>der</strong> rechts und links<br />

des Ganges, den er jetzt entlang strich. Er sah nach rechts – 312 –310 – 308 – ‚Hier muss ich<br />

richtig sein’, dachte er weiter und sah nach links. Zimmer 307 war das letzte auf diesem langen<br />

Gang.<br />

Er besah das Türschild: 307 Dez. 37 Kommissar R. Müller, stand darauf. „R. Müller“,<br />

murmelte Jimmy und klopfte an.<br />

„Einen kleinen Moment, bitte!“ klang es dumpf durch die geschlossene Türe.<br />

Jimmy zuckte mit den Achseln und blieb etwa einen halben Meter von <strong>der</strong> Türe entfernt<br />

stehen. Plötzlich wurde sie aufgerissen.<br />

„Ich danke Ihnen, dass Sie an mich gedacht und mich so schnell benachrichtigt haben. Es<br />

gibt eben noch Kollegen, die mitdenken.“ <strong>Die</strong> Stimme kam Jimmy bekannt vor. Es war die<br />

von Roman Müller, seines Zeichens Kriminalkommissar im Polizeipräsidium in Nürnberg<br />

Kaum hatte Jimmy die Stimmen vernommen, schon drängten zwei junge Polizisten in<br />

Uniform aus dem Zimmer. Es waren dieselben, die er im Erdgeschoss nicht gesehen hatte.<br />

Kurz danach erschien Kommissar Müller in <strong>der</strong> Türe und äugte neugierig auf den Flur<br />

hinaus. „Ah, da sind sie ja Herr Birnküchler!“<br />

„Birnbichler, Herr Kommissar“, verbesserte Jimmy.<br />

„Ja, richtig! Herr Birnbichler.“ Kommissar Müller schüttelte seinen Kopf. „Warum kann<br />

ich mir Ihren Namen nicht merken? Er ist doch gar nicht so schwer. Kommen Sie herein!“ Er<br />

drehte sich um und ging ins Zimmer zurück.<br />

224


Jimmy trat ein und war erstaunt. <strong>Die</strong>ses Zimmer war ganz an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> abweisende<br />

Gang. Hellbeige gestrichen und mit vielen Pflanzen versehen, strahlte es mehr die Atmosphäre<br />

eines Wintergartens aus als die eines <strong>Die</strong>nstzimmers bei <strong>der</strong> Kriminalpolizei.<br />

Kommissar Müller wies mit seiner rechten Hand auf einen Stuhl, <strong>der</strong> seinem Schreibtisch<br />

gegenüber stand. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Birnbichler.“<br />

„Vielen Dank, Herr Kommissar.“ Jimmy setzte sich und sah sein Gegenüber fragend an.<br />

<strong>Die</strong>ser setzte sich an seinen Schreibtisch, sagte zunächst nichts, son<strong>der</strong>n kramte in irgendwelchen<br />

Papieren, die vor ihm lagen.<br />

„Einen kleinen Moment noch. Ich muss nur noch einige Papierchen ordnen, sonst blicke<br />

ich überhaupt nicht mehr durch.“ Roman Müller ließ sich nicht aus <strong>der</strong> Ruhe bringen, Jimmy<br />

auch nicht.<br />

„Tun Sie sich nur keinen Zwang an“, sagte Johann Birnbichler und beobachtete dabei den<br />

Kommissar genau. „Ich habe Zeit.“<br />

„Schön zu hören.“ Nach einer Weile blickte Kommissar Müller kurz zu Jimmy hinüber.<br />

„So, jetzt hab’ ich’s“, sagte er und sah Jimmy mit strenger Miene an. „Wann haben Sie Harald<br />

Grattler zuletzt gesehen?“<br />

Jimmy war keineswegs erstaunt, diese Frage zu hören, denn er hatte sie schon erwartet.<br />

„Das war vorgestern, Herr Kommissar“, log er.<br />

„Sind Sie sich da wirklich sicher?“<br />

Auch diese Gegenfrage brachte Jimmy nicht aus <strong>der</strong> Ruhe. „Da bin ich mir ganz sicher.<br />

Wir trafen uns in einer Kneipe. Dort hat er mir auch seinen Zweitschlüssel für seine Wohnung<br />

gegeben und mich gebeten, während seiner Abwesenheit dort nach dem Rechten zu sehen.“<br />

Kommissar Müller beobachtete Jimmy genau. Er verzog keine Miene und blickte dann<br />

wie<strong>der</strong> auf seine Papiere, die er vorher geordnet hatte. „Nun ja“, begann er nach einer Weile<br />

bedächtig, „dann scheint ja unser Gesuchter noch nicht gleich losgefahren zu sein.“<br />

„Woher wollen Sie das wissen, Herr Kommissar?“ Innerlich kochte Jimmy, aber er konnte<br />

seine aufkommende Unruhe noch gut nach außen hin verstecken.<br />

„Nun ja, ich habe offensichtlich Informationen, über die Sie noch nicht zu verfügen<br />

scheinen .“<br />

Jimmy hob seine Augenbrauen. Er brannte darauf zu erfahren, was Kommissar Müller<br />

wusste, aber er musste jetzt äußerst vorsichtig sein, um sich nicht selbst zu verraten. „Ob Harry,<br />

äh ich meine Harald Grattler schon vorgestern weggefahren ist, weiß ich natürlich nicht.<br />

Ich habe ihn jedenfalls seitdem nicht mehr gesehen.“<br />

„Lassen wir das! So kommen wir nicht weiter.“ Roman Müller machte eine abweisende<br />

Handbewegung. „Ist auch nicht so wichtig. Fest aber steht, dass ...“ Er unterbrach sich selbst.<br />

„... dass was?“ Jimmy platzte vor Neugier. <strong>Die</strong>s war Kommissar Müller keineswegs entgangen.<br />

„Haben Sie es noch nicht erfahren?“<br />

„Was?“ Jimmy schrie die Frage fast aus sich heraus.<br />

„Ihr Freund liegt im Klinikum Süd und ringt mit dem Sensenmann.“<br />

„Was? Wann?“ Jimmy war im Gesicht schlagartig blass geworden, sprang von seinem<br />

Stuhl hoch, stützte seine Hände auf den Schreibtisch und beugte sich zu Kommissar Müller<br />

hinüber. „Was ist passiert? Was wollen Sie mir hier in die Schuhe schieben?“<br />

„Beruhigen Sie sich, Herr Kornbichler!“<br />

„Birnbichler, bitte schön! Birnbichler heiße ich! Merken Sie sich das endlich!“ Jimmy<br />

merkte nicht, wie er den Kommissar anschrie.<br />

„Ja, ja, Herr Birnbichler! Entschuldigung! Jetzt setzen Sie sich doch erst einmal wie<strong>der</strong><br />

hin und beruhigen Sie sich!“<br />

Jimmy schlug mit <strong>der</strong> rechten Faust auf den Schreibtisch. „Ich will jetzt wissen, was passiert<br />

ist und warum Sie mich hier haben vorsprechen lassen.“<br />

225


„Es sieht nicht gut aus.“ Kommissar Müller schüttelte seinen Kopf. Seine Miene erstarrte<br />

zu Eis<br />

„Für wen sieht es nicht gut aus?“<br />

„Für Ihren Freund nicht und für Sie auch nicht.“<br />

„Was soll das heißen?“ Jimmy merkte nicht, dass Kommissar Müller einen kleinen<br />

Knopf gedrückt hatte, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Unterseite seines Schreibtisches angebracht war.<br />

„Für Ihren Freund sieht es nicht gut aus, weil er anscheinend noch nicht über dem Berg<br />

ist. Aber entgegen aller Erfahrung hat er als Beifahrer überlebt. Der Fahrer muss auf <strong>der</strong> Stelle<br />

tot gewesen sein.“<br />

Jimmy schlug die Hände über sein Gesicht zusammen und sank in seinen Stuhl zurück.<br />

„Und für Sie sieht es nicht gut aus“, fuhr Kommissar Müller unbeeindruckt fort, „weil Sie<br />

mich angelogen haben.“<br />

„Ich habe Sie nicht angelogen.“ Jimmys Stimme klang erstickt, fast weinerlich. Er war<br />

verzweifelt. Woher konnte dieser Kommissar wissen, dass er Dr. Brenner überfallen hatte? Er<br />

konnte es nicht wissen.<br />

„Doch, doch! Sie haben mich angelogen.“ Kommissar Müller sah Jimmy mit eisigem Gesicht<br />

an. „Sie haben heute Vormittag eine Tasche von Herrn Grattler aus dessen Wohnung<br />

geholt, nachdem ich Sie dort angetroffen habe. <strong>Die</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Reisetasche passt haargenau<br />

auf diejenige, welche mir gerade die Kollegen gegeben haben, die Sie“, und damit deutete<br />

er auf Jimmy;“ aus Grattlers Wohnung geholt haben. Wir haben Sie dabei nämlich beobachtet.<br />

Und genau diese Tasche wurde unweit des Unfallortes gefunden, wie dieselben Kollegen<br />

gerade berichtet haben. Sie stecken mit Harald Grattler unter einer Decke und sind sehr<br />

wahrscheinlich <strong>der</strong> zweite Mann ...“ Kommissar Müller hielt inne, denn draußen klopfte es an<br />

<strong>der</strong> Türe. „Sehen Sie sich meine Pflanzen noch einmal gut an, Herr Birnbichler“, fuhr er einen<br />

Augenblick später fort; „denn Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit so schnell keine<br />

mehr in natura zu sehen bekommen.“<br />

„Warum nicht?“ Jimmys Stimme klang wie die eines kleinlauten Kindes, das seine Strafe<br />

für das erwartet, was es angestellt hatte.<br />

„Kommen Sie herein, meine Herren!“ Kommissar Müllers Stimme dröhnte durch den<br />

Raum. <strong>Die</strong> Türe wurde aufgerissen. Draußen standen zwei breitschultrige, uniformierte Polizeibeamte.<br />

Er wandte sich Jimmy zu. „Sie werden so schnell keine grünen Pflanzen mehr in<br />

<strong>der</strong> Natur sehen, denn Sie sind vorläufig festgenommen.“<br />

„Warum?“ Jimmys Schrei hallte hinaus auf den Flur.<br />

„Das wird Ihnen <strong>der</strong> Haftrichter genauestens erklären.“ Kommissar Müller war aufgestanden<br />

und deutete auf Jimmy, <strong>der</strong> völlig überrumpelt war. Wenige Augenblicke später war<br />

ein metallisches Klicken zu hören.<br />

<strong>Die</strong> Uhr an <strong>der</strong> Kirche gegenüber dem Café Brandt zeigte eine Minute vor drei, als Dr.<br />

Brenner Heidi mit einer unmissverständlichen Handbewegung anzeigte, dass er zahlen wolle.<br />

Seiner Meinung nach war es jetzt genug des Müßigganges. Er wollte irgendwo hin fahren und<br />

noch ein Stündchen spazieren gehen, meinte er zu <strong>der</strong> Bedienung, als diese ihm das Wechselgeld<br />

zurückgab. Dr. Brenner stand gleich danach auf, warf Heidi noch ein Lächeln zu und<br />

ging ins Innere des Cafés. Draußen schien immer noch die Sonne von einem wolkenlosen<br />

Himmel und Luft lag klar über <strong>der</strong> Stadt.<br />

Kurz nach drei Uhr verabschiedete sich Dr. Brenner von Frau Brandt, <strong>der</strong> Chefin des Cafés.<br />

„Ich hoffe, ich komme jetzt öfters hierher, Frau Brandt.“<br />

„Tun Sie das, Herr Doktor! Tun Sie das!“ Frau Brandt lächelte ihn an. „Wir haben montags<br />

bis freitags mittags auch ein günstiges Stammessen für 4,50 €.“<br />

„Das ist aber neu, Frau Brandt“, erwi<strong>der</strong>te Dr. Brenner.<br />

„Für Sie ja, Herr Doktor, weil Sie schon so lange uns nicht mehr besucht haben.“<br />

„Da haben Sie auch wie<strong>der</strong> recht, Frau Brandt. Was hätte es denn heute gegeben?“<br />

226


„Königsberger Klopse mit Kapernsoße, Reis und gemischten Salat.“<br />

„Nicht schlecht! Also dann: Auf wie<strong>der</strong>sehen, Frau Brandt!“ Dr. Brenner drehte sich zum<br />

Ausgang um.<br />

„Auf wie<strong>der</strong>sehen, Herr Doktor!“ <strong>Die</strong> Chefin des Cafés sah ihm nach und dachte sich:<br />

‚Wenn ich nicht mit Hans so glücklich verheiratet wäre, könnte mir dieser Dr. Brenner direkt<br />

gefährlich werden. Er hat so etwas elegant Charmantes und seine grauen Schläfen machen ihn<br />

irgendwie sexy. Er ist sicher ein Mann mit nicht nur hohem geistigen Niveau.’<br />

Dr. Brenner waren ähnliche Gedanken in diesem Augenblick fremd. Er strebte seinem<br />

Wagen zu und fuhr in ein Gebiet <strong>der</strong> Stadt, das er schon einige Jahre nicht mehr aufgesucht<br />

hatte, ein Naherholungsgebiet, in dem er eine gute Stunde spazieren ging. Dabei versenkte er<br />

sich wie<strong>der</strong> in seine Gedanken, in all jene, die ihn schon beschäftigten, bevor ihn sein Sohn<br />

mit Heike im Café Brandt besucht hatte.<br />

„Hat es Ihnen geschmeckt, Signora?“ Luigi sah Heike fragend an. Sie errötete leicht,<br />

denn Heike war es nicht gewohnt so angesprochen zu werden.<br />

„Danke, es hat sehr gut geschmeckt. <strong>Die</strong> Pizza war überaus reichlich.“<br />

Wolfgang blickte zuerst Luigi, dann Heike an und lächelte. „Danke, Luigi! Bei euch hat<br />

es mir schon immer geschmeckt.“<br />

„Das ist Musik in meinen Ohren, Signor Brenner.“ Luigi wandte sich mit einem zufriedenen<br />

Augenaufschlag von den Beiden ab.<br />

„Also irgendwie habe ich das Gefühl“, begann Heike, als sich <strong>der</strong> Kellner entfernt hatte,<br />

„wir haben Deinen Vater heute Mittag im Café Brandt überfallen. Doch er war viel zu höflich,<br />

uns dies zu sagen.“<br />

„Da magst Du richtig liegen, Heike.“ Wolfgang sah Heike zustimmend an. „Doch ich<br />

glaube, er hat sich auch gefreut, dass er sich mit uns unterhalten konnte. Ich meine sogar: Er<br />

hat Unterhaltung gebraucht nach all dem, was ihm gestern wi<strong>der</strong>fahren ist.“<br />

„Ich bewun<strong>der</strong>e Deinen Vater, dass er schon wie<strong>der</strong> so fit ist. Ein an<strong>der</strong>er hätte sich zu<br />

Hause verkrümelt und über Gott und die Welt gegrübelt.“ Heike trank einen Schluck aus dem<br />

schlanken Weinglas, das noch halbvoll vor ihr auf dem Tisch stand. „Dein Vater war aber<br />

trotzdem sichtlich froh, wie wir wie<strong>der</strong> aufgebrochen sind.“<br />

„Unser Hunger hat ihm wie<strong>der</strong> seine gewollte Einsamkeit gebracht.“ Wolfgang nahm<br />

ebenfalls sein Glas. „Auf meinen Vater! Es möge nützen! Prosit!“<br />

„Auf die Gesundheit Deines Vaters!“, erwi<strong>der</strong>te Heike. Sie schaute nachdenklich zu<br />

Wolfgang hinüber, <strong>der</strong> ihr gegenüber saß. „Was er wohl gerade machen wird?“<br />

„Ich glaube nicht, dass er sich heute noch irgend ein Blatt Papier zu Hause ansehen<br />

wird“, entgegnete Wolfgang. „Ich vermute, er wird bis zum Abendessen noch ein wenig spazieren<br />

gehen und nachdenken, danach etwas Gutes essen ...“<br />

„Du kannst wohl nur ans Essen denken, Wolfgang!“ Heike schmunzelte.<br />

Er verzog keine Miene. „<strong>Die</strong> alten Sprichwörter haben doch immer wie<strong>der</strong> recht, wenn<br />

sie zum Beispiel sagen, Essen und Trinken halte Leib und Seele zusammen. Bei meinem Vater<br />

ist jetzt wichtig, dass vor allem Letztere zusammengehalten wird.“ Jetzt wurde Wolfgang<br />

nachdenklich.<br />

„Das haben wir ja gerade auch getan.“ Heikes Augen begannen zu glänzen. Ihr Gefühl<br />

sagte ihr jetzt, es sei Zeit Wolfgang auf an<strong>der</strong>e Gedanken zu bringen. „Doch jetzt stellt sich<br />

die Frage: Was tun wir jetzt?<br />

41<br />

227


„Gute Frage!“ Wolfgang atmete tief durch. „Vielleicht sollten wir dasselbe tun, was vermutlich<br />

gerade auch mein Vater macht, nämlich uns etwas bewegen. Das schadet uns bestimmt<br />

nicht.“<br />

Heike nickte nur, sah Wolfgang nur an. Und er spürte ihre Blicke, die verliebt auf ihm<br />

ruhten. Kurz danach sah Wolfgang wie<strong>der</strong> auf und drehte sich zur Theke um. „Luigi! Zahlen<br />

bitte!“<br />

Der aufmerksame Kellner und Miteigentümer des Lokals hatte Wolfgang sofort gehört.<br />

„Pronto Signor Brenner! Ich komme sofort“, tönte es von <strong>der</strong> Theke her und Luigi eilte zur<br />

Bonkasse, um sich die Rechnung ausdrucken zu lassen.<br />

Als Dr. Brenner wie<strong>der</strong> zu dem Parkplatz zurückkehrte, auf dem er seinen Wagen am<br />

Rande des Naherholungsgebietes abgestellt hatte, überkam ihn plötzlich ein Hungergefühl,<br />

welches er sehr intensiv empfand .Eilig ging er zu seinem Wagen. ‚Du liebe Güte!’, dachte er<br />

und betätigte die Zentralentriegelung. ‚Du hast ja ganz vergessen, wann du zuletzt etwas zu<br />

dir genommen hast. Das war am späten Vormittag und jetzt ist es ...’ Er schwenkte den linken<br />

Arm an seinen Körper und drehte das Handgelenk, um auf seine Armbanduhr zu sehen, doch<br />

er sah nur den leeren Arm. ‚Du hast ja heute deine Uhr vergessen. Es ist bestimmt schon fünf<br />

Uhr, denn ich bin ja kurz nach drei Uhr vom Café weg. <strong>Die</strong> Turmuhr habe ich zumindest<br />

dreimal schlagen hören. O<strong>der</strong> war es viermal?’<br />

Dr. Brenner stieg in seinen Wagen und schaltete die Zündung ein. <strong>Die</strong> Digitalanzeige <strong>der</strong><br />

Uhr auf <strong>der</strong> Konsole zeigte daraufhin mit leicht zitternden Leuchtziffern 17:32 an.<br />

‚Es ist ja schon halb sechs vorbei. Jetzt wird es aber Zeit, dass ich etwas zu essen bekomme.<br />

Nur mit einem Frühstück im Magen lässt sich <strong>der</strong> ganze Tag nicht aushalten, auch<br />

wenn es ein spätes und sehr ausgiebiges Frühstück war.’<br />

Ein Wort schoss plötzlich in Dr. Brenners Kopf: Pizza! ‚Ja genau! Das ist es!’ Er stellte<br />

sich einen dieser köstlich duftenden Fladen vor. ‚Ich werde jetzt zu Luigi fahren und mir eine<br />

große Quattro Stagione bestellen. Auf geht’s!’<br />

Dr. Brenner startete unmittelbar darauf den Motor. Er wusste genau, wie er von seinem<br />

jetzigen Standort aus auf schnellstem Weg zu Luigi fahren musste.<br />

„Das wäre geschafft!“, seufzte Kommissar Müller und lehnte sich in seinem Stuhl zurück,<br />

nachdem die Türe seines <strong>Die</strong>nstzimmers ins Schloss gefallen war. ‚<strong>Die</strong>ser Birnbichler<br />

wäre jetzt erst einmal weg von <strong>der</strong> Bildfläche,’ dachte er bei sich. ‚Jetzt kann ich daran gehen,<br />

die Spuren auszuwerten, welche die Kollegen von <strong>der</strong> Unfallstelle mitgebracht haben.’ Er<br />

kramte in den Papieren, die er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte, und holte einen Zettel<br />

hervor, <strong>der</strong> eine handschriftliche Auflistung all <strong>der</strong> Dinge enthielt, die aus dem völlig zertrümmerten<br />

Wagen an <strong>der</strong> Unfallstelle geborgen werden konnten:<br />

- Reisetasche, mittelgroß, darin versch. Wäschestücke<br />

- Brieftasche, von wem?<br />

- 1 Packung HB mit 9 Zigaretten<br />

„Alles nicht interessant“, murmelte Kommissar Müller und las weiter. Einige Momente<br />

später stutzte er. „Das ist ja interessant!“, entfuhr es ihm und er las die Zeile noch einmal.<br />

- Notizbuch H. Grattler, DIN A6 mit festen Einbanddeckeln<br />

„Na, dann wollen wir doch mal sehen, was in diesem Notizbuch steht“, murmelte er weiter<br />

vor sich hin und Griff zum Telefonhörer.<br />

„Müller! Hallo Hans!“ Er kannte die Stimme seines Kollegen in <strong>der</strong> Asservatenkammer,<br />

die sich kurz darauf meldete. „Habt ihr die Sachen von diesem „Grattler-Unfall“ schon bei<br />

euch?“<br />

„Moment, Roman! Ich muss nachsehen. Es sind einige Sachen vorhin von <strong>der</strong> Unfallbereitschaft<br />

gekommen.“ Hans Hauser legte den Hörer beiseite, stand auf und ging hinüber zu<br />

228


<strong>der</strong> kleinen Theke, auf <strong>der</strong> mehrere Kisten standen, <strong>der</strong>en Inhalt in die Asservatenkammer<br />

aufgenommen werden sollten.<br />

Er sah in jede <strong>der</strong> grauen Kunststoffkisten und stieß bei <strong>der</strong> letzten einen kurzen Schrei<br />

aus. „Was bringen denn die alles mit! <strong>Die</strong> schrecken ja vor nichts mehr ab! Selbst abgetrennte<br />

Finger ...“ Hans Hauser wandte sich mit Grausen von <strong>der</strong> letzten Kiste ab. „<strong>Die</strong> kommen mir<br />

nicht in die Kammer, die gehören in den Kühlschrank <strong>der</strong> Chirurgie!“ Er sah auf den Begleitzettel,<br />

<strong>der</strong> auf den Sachen lag und las: Unfall Samuel Teichmann /Harald Grattler. „Das muss<br />

die Kiste sein, die Roman meint“, murmelte er vor sich hin und eilte zurück zu dem Tisch, auf<br />

dem das Telefon stand.<br />

„Hallo Roman! Ich habe die Sachen gefunden, die Du suchst!“<br />

„Ausgezeichnet, Hans! Schick sie zu mir hoch!“ Roman Müller war sichtlich erfreut über<br />

die Nachricht, sein Kollege drei Stockwerke tiefer weniger.<br />

„Da gibt es nur noch ein kleines Problem, Roman!“<br />

„Was für ein Problem, Hans?“<br />

„Bei den Sachen von dem Unfall, den Du bearbeitest, sind noch zwei abgetrennte Finger.<br />

<strong>Die</strong> kommen mir nicht in die Kammer.“ Wie<strong>der</strong> verzog Hans Hauser sein Gesicht.<br />

„Steck’ sie in einen Plastikbeutel und schick sie sofort in die Klinik, in <strong>der</strong> dieser Grattler<br />

liegt. Vielleicht können die Menschenmetzger dort sie noch gebrauchen.“ Kommissar Müller<br />

schüttelte seinen Kopf. „Danach schickst Du mir bitte die Kiste.“<br />

„Geht in Ordnung, Roman. Ich schick’ sie zu dir.“<br />

Okay, Hans! Bis nachher!.“ Roman Müller legte den Telefonhörer wie<strong>der</strong> auf und schüttelte<br />

noch mal seinen Kopf. „Also diese Streifenbesatzungen werden ja immer intelligenter“,<br />

murmelte er vor sich hin. „Jetzt schicken sie uns schon abgetrennte Gliedmaßen. Ich muss bei<br />

<strong>der</strong> nächsten Fortbildung das unbedingt noch mal ansprechen: Biologisches Material jeglicher<br />

Art gehört nicht in die Asservatenkammer.“<br />

Es dauerte noch eine gute halbe Stunde, bis Hans Hauser mit <strong>der</strong> grauen Kunststoffkiste<br />

in Roman Müllers Zimmer erschien. Sie schien nicht gerade leicht zu sein, denn er atmete<br />

schwer, als er sie auf den Tisch stellte.<br />

„So, da hast du deine corpora dilicti“, schnaufte Hans und trat einen Schritt zurück. „Hast<br />

du schon die Zusammenstellung von dem, was drinnen sein sollte?“<br />

„<strong>Die</strong> Übersicht haben mir vorhin schon die Kollegen von <strong>der</strong> Unfallbereitschaft gegeben.“<br />

„<strong>Die</strong> Jungs können nicht von zwölf Uhr bis Mittag denken. <strong>Die</strong> Zusammenstellung gehört<br />

immer in die Kiste. Ich muss sie doch kontrollieren.“ Hans Hauser schüttelte seinen<br />

Kopf.<br />

„Jetzt lass’ mal, Hans! <strong>Die</strong> Kollegen sind gestresst genug. Sie fahren bei Wind und Wetter<br />

draußen herum und müssen für wenig Geld noch dabei helfen, die Leichen aus zertrümmerten<br />

Autowracks herauszukratzen.“<br />

„Aber die beiden Finger ...“<br />

„... hast du hoffentlich in einem Eisbeutel zur Klinik geschickt“, unterbrach Kommissar<br />

Müller seinen Kollegen.<br />

„Alles schon erledigt, Roman!“<br />

„Na, dann ist es ja gut.“ Kommissar Müller stand auf und ging zu <strong>der</strong> Kiste, die Hans<br />

Hauser auf den Tisch gestellt hatte, <strong>der</strong> dem Schreibtisch gegenüber stand. „Jetzt will ich<br />

doch einmal sehen, wo dieses Notizbuch ist, das in <strong>der</strong> Aufstellung steht.“<br />

Er kramte in <strong>der</strong> grauen Kiste. Hans Hauser sah ihm aufmerksam zu. Nach etwa zwei<br />

Minuten hatte Kommissar Müller gefunden, was er suchte.<br />

„Ah, da ist es ja“, sagte er freudestrahlend und holte ein hellgraues Notizbuch mit dicken<br />

Einbanddeckeln und roten Leinenrücken hervor. „Hm, nobel, nobel!“, murmelte er. „Ein altes<br />

Brunnen-Notizbuch. Das hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, denn es wird schon<br />

einige Zeit nicht mehr hergestellt.“<br />

229


„Du scheinst dich ja gut auszukennen.“ Hans Hauser warf Kommissar Müller einen bewun<strong>der</strong>nden<br />

Blick zu.<br />

„In Sachen Notizbücher hast du recht, Hans.“ Er betrachtete das Notizbuch von allen Seiten,<br />

schlug es aber nicht auf. „Ich habe gelernt, diese Dinger mit Ehrfurcht zu behandeln, denn<br />

sie haben mir bei meinen Fällen schon oft geholfen, den Schlüssel für Motive zu finden.“<br />

Kommissar Müller ging zurück zu seinen Schreibtischstuhl, das kleine Büchlein immer noch<br />

aufmerksam betrachtend und in den Händen wiegend. Dann setzte er sich hin und legte es<br />

vorsichtig vor sich auf den Schreibtisch.<br />

Hans Hauser beobachtete seinen Kollegen genau. Er bewun<strong>der</strong>te Roman Müller insgeheim,<br />

denn dieser galt im Präsidium als sehr versiert auf dem Gebiet <strong>der</strong> Aufklärung auch<br />

sehr komplizierter Fälle. Ihm schien dieser eher einfach zu sein. Doch er wusste auch, dass<br />

<strong>der</strong> Teufel fast immer im Detail steckte. Sollte es auch hier so sein? Hans Hausers Ungeduld<br />

wuchs, je länger sein Gegenüber das Notizbuch ansah, ohne jedes Anzeichen, es zu öffnen.<br />

„Wie kannst du nur dieses alte, vergammelte Notizbuch minutenlang anstarren? Schlag’ es<br />

doch auf und lese, was dieser Raser geschrieben hat, bevor er ins Gras biss!“<br />

Kommissar Müller blickte zu Hans Hauser auf und schüttelte den Kopf. „Erstens“, begann<br />

er, „gehört dieses Notizbuch nicht dem verblichenen Fahrer, son<strong>der</strong>n einem gewissen<br />

Harald Grattler, dem Beifahrer, <strong>der</strong> überlebt hat; und zweitens interessiert mich jetzt im Moment<br />

nur <strong>der</strong> Gesamteindruck dieses Notizbuchs. Zum Inhalt komme ich später noch. Aber<br />

dieser geht dich im Moment nichts an. Hast du nicht in deiner Gruselkammer zu tun?“<br />

„Aber ein kleines Schwätzchen unter Kollegen wird doch noch erlaubt sein.“ Hans Hauser<br />

verzog sein Gesicht. Er wollte lächeln, aber heraus kam nur eine unförmige Grimasse, die<br />

sein rundes Gesicht noch run<strong>der</strong> erscheinen ließ.<br />

„Na, das lass’ aber nicht den Präsidenten hören!“ Kommissar Müller gab sich wie ein<br />

Vorgesetzter, obwohl die Beiden <strong>der</strong>selben Gehaltsgruppe angehörten. „Dem wäre es am<br />

liebsten, wir würden hier ein Feldbett im Büro aufstellen und maximal vier Stunden im Büro<br />

nächtigen und danach wie<strong>der</strong> 14 o<strong>der</strong> noch besser 16 Stunden <strong>Die</strong>nst schieben. Wenn ich an<br />

meine Überstunden denke, wird mir ganz schlecht.“<br />

„Bevor dir schlecht wird, gehe ich lieber.“ Hans Hausers Gesicht zog sich jetzt in Lachfalten,<br />

aber er lachte nicht, denn sein Überstundenkonto war nicht wesentlich kleiner als das<br />

seines Kollegen von <strong>der</strong> „denkenden Zunft“, wie er die Kripokommissare immer zu beschreiben<br />

pflegte. Er drehte sich um und wollte gehen.<br />

„Bleib’ noch einen Moment, Hans!“, for<strong>der</strong>te ihn Roman Müller auf.<br />

Hans Hauser dreht sich auf <strong>der</strong> Stelle wie<strong>der</strong> um. „Was ist, Roman?“<br />

Kommissar Müller hatte das Notizbuch aufgeschlagen und blätterte darin. „Was sagst du<br />

Hobbygraphologe zu dieser Schrift?“<br />

Der Mann von <strong>der</strong> Asservatenkammer ließ sich nicht zweimal auffor<strong>der</strong>n, ging um den<br />

Schreibtisch herum zu seinem Kollegen, schaute über dessen Schulter in das Notizbuch und<br />

betrachtete nachdenklich eine Schrift, die an Größe kaum zu überbieten war. „Das ist ja eine<br />

riesige Schrift!“, bemerkte er schließlich. „Wie kommt ein Mensch mit so großer Schrift, die<br />

ganze zwei Zentimeter hoch ist, nur mit so einem relativ kleinen Notizbuch zurecht?“<br />

„<strong>Die</strong>se Frage ging mir gerade auch durch den Kopf, Hans.“ Kommissar Müller wiegte<br />

seinen Kopf langsam hin und her. „Aber das werde ich noch heraus bekommen.“<br />

„Was?“<br />

„Na, wie das zusammengeht mit dem kleinen Notizbuch und <strong>der</strong> großen Schrift.“<br />

„Na, dann studier’ mal schön.“ Hans Hauser wandte sich von seinem Kollegen ab. „Ich<br />

gehe jetzt und lasse dich allein. Ich habe so das Gefühl, du bringst bald etwas aus diesem Notizbuch<br />

heraus.“<br />

„Kann schon sein, Hans. Kann schon sein“, murmelte Roman Müller und blätterte weiter<br />

in dem Notizbuch. Er merkte nicht, wie Hans Hauser das Zimmer verließ, er hörte nicht einmal<br />

die Türe ins Schloss fallen. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die teils in schöner,<br />

230


gleichmäßiger Schrift geschriebenen Zeilen, teils in immer kleiner werdenden Schrift hingekritzelten<br />

Worte. Ganz langsam konnte er jedes <strong>der</strong> Worte, die Harald Grattler seinem Notizbuch<br />

anvertraut hatte, entziffern. Er gewöhnte sich an die Schrift und konnte sie daher immer<br />

schneller lesen. Doch das, was er las, brachte Kommissar Müller bei seiner Suche nicht weiter.<br />

Aber was suchte er denn?<br />

‚Ich lese und lese’, dachte er, ‚aber was suche ich eigentlich? Stichworte? Welche? – Ich<br />

muss mich einfach treiben lassen. Vielleicht kommt die richtige Intuition noch ...’<br />

<strong>Die</strong> Zeiger <strong>der</strong> Uhr über <strong>der</strong> Türe in Kommissar Müllers Zimmer rückten stetig vor. Es<br />

war schon einige Minuten nach fünf Uhr nachmittags, als er plötzlich einen leisen Schrei ausstieß.<br />

„Das muss es sein! Das muss ich mir sofort notieren“, murmelte Kommissar Müller und<br />

suchte nach einem Blatt Papier, auf dem noch genügend Platz für Notizen war. Zunächst fand<br />

er keines, was ihn sichtlich nervös machte, doch dann schrieb er eilig etwas auf ...<br />

„Das ist ja phantastisch!“ Heike war begeistert, nachdem sie das Programm für die elektronischen<br />

Nachrichten angestoßen hatte und sah, dass ihr Wolfgangs Vater eine Botschaft<br />

gesandt hatte. „Dein Vater hat doch tatsächlich etwas geschickt. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen,<br />

was er schreibt.“<br />

Wolfgang stand von dem Stuhl auf, <strong>der</strong> an dem kleinen Esstischchen stand, wo beide vor<br />

einer halben Stunde gefrühstückt hatten. „Da bin auch ich gespannt“, sagte er und ging zu<br />

Heike, die gebannt auf den Bildschirm ihres Rechners starrte.<br />

„Kleinen Moment, Wolfgang! Er lädt noch die Nachricht von deinem Vater. Der Anhang<br />

muss ganz schön groß sein.“ Heike sah zu Wolfgang auf, <strong>der</strong> sich rechts neben ihr zu ihr hinunter<br />

beugte und das Geschehen am Rechner verfolgte.<br />

Es dauerte noch einige Augenblicke, dann gab das Programm das Fenster frei auf die<br />

Nachricht, die beide sofort lasen:<br />

Hallo Heike,<br />

im Anhang schicke ich Dir gepackt die Datei, die alle bisherigen Transkriptionen <strong>der</strong> Tagebücher<br />

enthält, die ich bisher aus den Originalen Deiner Urgrossmutter abgeschrieben habe.<br />

Wie Du sehen kannst, habe ich zwei <strong>Wachstuchhefte</strong> komplett abgeschrieben. Das dritte ist<br />

bis zum Ende des Jahres 1920 fast abgetippt. Lies’ Dir alles genau durch! Ich werde mich in<br />

den nächsten Tagen mit Deinem Vater in Verbindung setzen und ihn bitten, mir zumindest die<br />

Kopien zur Verfügung zu stellen.<br />

Bis bald!<br />

Dr. Brenner<br />

„Bis 1920 ist dein Vater also vorgedrungen“, sagte Heike leise und eine große Anerkennung<br />

für die Arbeit Dr. Brenners war in ihrer Stimme nicht zu überhören. „Ich werde das Gefühl<br />

nicht los, dass dieses Jahr ein wichtiges Jahr für Elfriede Seiffert war.“<br />

„Wurde 1920 nicht deine Urgroßmutter geboren, Heike?“<br />

Heike sah vom Bildschirm auf und lehnte sich zurück. „Moment mal, Wolfgang! Du hast<br />

ja recht. 1920 wurde tatsächlich die Mutter von Großmutter geboren. Das weiß ich genau!<br />

Aber jetzt lass’ uns doch mal in die Textdatei sehen, die er mitgeschickt hat.“<br />

Heike öffnete die gepackte Textdatei. Sie umfasste die Aufzeichnungen von 1913 an bis<br />

1920. Viele Tagebucheinträge waren in ihr verzeichnet.<br />

„Mein Gott, ist das viel Text!“, stöhnte sie. „Wo soll ich nur zu lesen beginnen?“<br />

42<br />

231


„Jetzt speichere erst einmal die Datei. Lesen kannst du immer noch.“ Wolfgang merkte,<br />

wie sich Heikes Aufregung langsam auf ihn übertrug.<br />

„Gute Idee, Wolfgang! Was sagte doch Prof. Reicherts immer: Erst sichern, dann lesen!“<br />

Heike speicherte die Datei auf ihrer Festplatte. Als dies geschehen war, entfuhr ihr ein Seufzer<br />

tiefer Erleichterung.<br />

„So, jetzt suche einfach nach „1920“! Da müsste <strong>der</strong> erste Tagebucheintrag dieses Jahres<br />

gleich erscheinen“, schlug Wolfgang vor.<br />

„Nur mit <strong>der</strong> Ruhe! Wir werden’s gleich sehen. Wenn Elfriede „1920“ und nicht nur „20“<br />

für das Jahr geschrieben hat, hast du recht, Wolfgang.“ Heike schaute wie<strong>der</strong> gespannt auf<br />

den Bildschirm. Sie steuerte den Beginn <strong>der</strong> Aufzeichnungen an, öffnete die Suchfunktion<br />

und gab die Jahreszahl 1920 ein.<br />

Es erschien ein Eintrag im Tagebuch, <strong>der</strong> erste von 1920:<br />

Freitag, 2.1.1920<br />

Ich bin so verliebt in Wilhelm. Gestern nach dem Neujahrsfest liebten wir uns. Mein Glück<br />

kann ich nicht beschreiben. Erst mit fast 22 Jahren bin ich zu einer richtigen Frau geworden.<br />

Und mein ganzes Leben liegt noch vor mir. Ich kann mein Glück noch gar nicht richtig fassen.<br />

Heike und Wolfgang sahen sich an. Keiner von ihnen hatte im Moment das Bedürfnis,<br />

etwas zu sagen. Stumm starrten sie auf den Bildschirm, <strong>der</strong> Satz für Satz das Leben Elfriedes<br />

entrollte.<br />

Nach einer Weile stand Heike auf und ging in die Kochnische. „Ich brauche jetzt unbedingt<br />

etwas zum Trinken“, sagte sie tonlos und öffnete die Türe des Kühleschranks, um sich<br />

ein Glas Sauerkirschsaft einzuschenken, den sie tagsüber gerne trank.<br />

Wolfgang nahm ihren Platz vor dem Bildschirm ein und rollte durch die Datei. Er las und<br />

las, doch mit <strong>der</strong> Zeit wurde es auch ihm zu viel. „Sie hat alles ihrem Tagebuch anvertraut“,<br />

sagte er nachdenklich. „Wir lesen im Leben eines längst verstorbenen Menschen und können<br />

teilhaben an ihm. Ich finde das phantastisch.“<br />

„Es ist phantastisch!“ Heike war wie<strong>der</strong> in ihr Studierzimmer gekommen und legte ihre<br />

linke Hand auf Wolfgangs rechte Schulter. In <strong>der</strong> rechten Hand hielt sie ein Glas mit dem<br />

dunkelroten Getränk. „Es ist phantastisch im Leben einer Vorfahrin zu lesen. Und es ist faszinierend,<br />

all die Gedankengänge nach zu vollziehen, all die Gedanken zu verfolgen, die sie in<br />

einer für ihr Leben entscheidenden Phase bewegt haben.“<br />

„Das wird mir alles im Moment zu viel, Heike. Das muss ich erst langsam verdauen.“<br />

Unvermittelt stand Wolfgang auf uns rieb sich seine Augen. „Wir sind es nicht gewohnt, am<br />

Bildschirm zu lesen, weil wir es nicht gelernt haben.“<br />

„Wir werden uns mal einige Seiten ausdrucken und dann vom Papier lesen.“ Heike sah<br />

Wolfgang abwartend an. „Dann brauchen wir nicht die Kiste und Anmerkungen auf Papier zu<br />

machen, erscheint mir leichter als mit dem Rechner.“<br />

„Ich kann dir nur zustimmen, Heike.“ Wolfgang blinzelte Heike mit kleinen, müde gewordenen<br />

Augen an. „Schau’ mal, wie viele Seiten die Datei groß ist, und dann druck’ einfach<br />

mal die letzten Seiten aus, denn die scheinen im Moment die interessantesten zu sein.“<br />

Heike stellte ihr Saftglas zurück auf den kleinen Esstisch, setzte sich wie<strong>der</strong> vor den<br />

Bildschirm und sah auf die Seitenzahlen, die das Schreibprogramm anzeigte. „Da brauchen<br />

wir ganz schön Papier. Nicht nur dein Vater war fleißig im Abtippen, Elfriede war noch sehr<br />

viel fleißiger im Schreiben.“<br />

„Wie viele Seiten sind es den insgesamt?“ Wolfgang blickte wie<strong>der</strong> zu Heike hinüber.<br />

„Insgesamt sind es über hun<strong>der</strong>t Seiten. Soll ich sie alle ausdrucken?“<br />

232


„Nein, nein! Druck’ mal die letzten dreißig! Das reicht.“ Wolfgang rieb sich wie<strong>der</strong> seine<br />

Augen, die vom konzentrierten Lesen schon ganz geschwollen waren. „Mein Gott, diese<br />

knappe halbe Stunde Lesen am Bildschirm haben mich aber jetzt angestrengt. Mir schwirrt<br />

<strong>der</strong> Kopf.“ Wolfgang ging ein schwankend auf Heike zu.<br />

<strong>Die</strong>se schaute hin zum Fenster und hatte schlagartig keine Lust mehr, an diesem Vormittag<br />

noch beson<strong>der</strong>s lange am Rechner zu sitzen. „Lass’ ihn schwirren und sieh mal zum Fenster<br />

hinaus!“, for<strong>der</strong>te sie ihn auf.<br />

„Warum, Heike?“<br />

„Was siehst du, Wolfgang?“<br />

„<strong>Die</strong> Sonne scheint – schönes Wetter draußen.“<br />

„Richtig!“ Heike nickte mit dem Kopf. „Und was machen die Studenten bei schönem<br />

Wetter in den Semesterferien?“<br />

Wolfgang überlegte kurz. „Entwe<strong>der</strong> sie jobben o<strong>der</strong> ...“<br />

„... sie gehen spazieren“, ergänzte Heike und lächelte. „Und Letzteres werden wir jetzt<br />

auch tun. <strong>Die</strong> Datei und das Tagebuch können warten. Ich muss jetzt hinaus, sonst fällt mir<br />

noch die Decke auf den Kopf.“<br />

Wolfgang sagte nichts, son<strong>der</strong>n nickte nur mit dem Kopf. Langsam ging er ans Fenster<br />

und sah gedankenverloren hinaus. <strong>Die</strong> Sonne spiegelte sich leicht auf den Dächern <strong>der</strong> Stadt.<br />

Das Blau des Himmels erheiterte ihn.<br />

„Du hast recht, Heike“, bemerkte er schließlich und drehte sich um. „Geh’n wir ein wenig<br />

spazieren. Vielleicht ordnen sich dabei unsere aufgescheuchten Gedanken etwas.“<br />

„Also auf, Wolfgang!“ Heike fuhr ihren Rechner herunter. Der Bildschirm wurde dunkel.<br />

„Lass’ uns unsere müden Glie<strong>der</strong> etwas bewegen. Wir essen sowieso zu viel und bewegen uns<br />

zu wenig.“<br />

„Ja, gehen wir“, seufzte Wolfgang. „es wäre wirklich schade, dieses schöne Herbstwetter<br />

in den Semesterferien dazu zu nutzen, sich von morgens bis abends an den schnöden Rechner<br />

zu setzen und zu Hause zu vergammeln.“<br />

Fünf Minuten später verließen die Beiden das Haus und spazierten in Richtung Innenstadt.<br />

Wo sollten sie auch sonst hingehen? Das Zentrum bot immer noch die meisten Abwechslungen<br />

vom Alltag mit all seinen Restaurants, Kinos, Kneipen und Cafés. Heike und<br />

Wolfgang unterhielten sich angeregt. So überhörten sie auch den ersten Ruf, den eine nicht<br />

unattraktive jungen Dame den beiden hinterher schickte.<br />

„Hallo, Heike! Heike!!“ Brigitte schüttelte ihren Kopf. ‚<strong>Die</strong> Beiden sind so mit sich beschäftigt’,<br />

dachte sie, ‚dass sie nichts mehr um sich herum wahrnehmen. „Heike!!!“, schrie sie<br />

noch einmal und beschleunigte ihren Schritt, um die Beiden einzuholen, die nur etwa zwanzig<br />

Meter vor ihr gingen.<br />

„Hat da nicht jemand Heike gerufen?“ Wolfgang blieb abrupt stehen und blickte sich um.<br />

„Ich habe nichts gehört, Wolfgang.“ Auch Heike war stehen geblieben und folgte Wolfgangs<br />

Blicken.<br />

„Heike!!!“ Jetzt konnten sie die Richtung des Rufes ausmachen. Er kam direkt von hinten.<br />

Wolfgang und Heike drehten sich um.<br />

Heikes Gesicht erheiterte sich, als sie Brigitte auf sich zu kommen sah.<br />

„Hallo, Heike!“ rief Brigitte, als sie Heike erreicht hatte. <strong>Die</strong> beiden umarmten sich.<br />

Wolfgang stand daneben und fühlte sich etwas deplaziert.<br />

„Hallo, Brigitte!“ Heike löste sich aus <strong>der</strong> Umarmung Ihrer Freundin. „Schön, dass ich<br />

dich wie<strong>der</strong> einmal sehe.“ Sie zeigte mit ihrer rechten Hand auf Wolfgang und wandte sich<br />

ihm zu. „Darf ich dir Wolfgang vorstellen?“<br />

Sein Gesicht erhellte sich. Das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein, wich von ihm.<br />

Wolfgang ging einen Schritt auf Brigitte zu und streckte seine Hand aus. „Hallo, Brigitte!“ Zu<br />

seiner großen Überraschung umarmte sie auch ihn.<br />

233


„Hallo, Wolfgang! Heike hat mir ja schon viel über dich erzählt.“ Brigitte spürte Wolfgangs<br />

starke Arme. Sie löste ihre Umarmung wie<strong>der</strong> und sah ihn musternd an.<br />

„Ich hoffe, es war nur Gutes, was Heike da von mir erzählt hat.“ Wolfgang schmunzelte.<br />

„Na, ja“, entgegnete Brigitte und lächelte Wolfgang an. „Es war auch Gutes dabei.“<br />

<strong>Die</strong> drei mussten spontan lachen.<br />

„Was hast du vor, Brigitte?“ Heike sah ihre Freundin fragend an.<br />

„Ich bin gerade auf dem Weg zum Studentenhaus, um meinen Semesterobolus zu entrichten.<br />

Danach habe ich mir eigentlich nichts Beson<strong>der</strong>es vorgenommen. Vielleicht vergammle<br />

ich den Tag einfach nur.“<br />

„Wir wollen nur ein wenig spazieren gehen.“ Heike hob ihre Schultern. „Vielleicht essen<br />

wir danach eine Kleinigkeit und setzen uns noch ein wenig in den Schlossgarten.<br />

Wolfgang schwieg. Brigittes spontane Umarmung hatte ihn nachdenklich gemacht. Wäre<br />

es nicht ihre erste Begegnung gewesen, so hätte er keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.<br />

Aber warum hatte Brigitte ihn umarmt, einen für sie mehr o<strong>der</strong> weniger wildfremden<br />

Mann?<br />

„Treffen wir uns später?“ Brigitte sah zuerst Heike, dann Wolfgang fragend an.<br />

„Vielleicht! Schau doch mal ins Café Mengin rein. Ich bin mir fast sicher, dass wir uns<br />

dort einen Cappuccino gönnen. O<strong>der</strong> etwa nicht, Wolfgang?“ Heikes etwas anzüglicher Blick<br />

irritierte Wolfgang.<br />

„Ja, warum nicht!“, sagte er nachdenklich. Wolfgang überlegte immer noch.<br />

„Also ich gehe jetzt schnell ins Studentenhaus, danach kurz in eine Buchhandlung, denn<br />

ich brauche noch ein paar Bücher, fällt mir gerade ein. Und dann schaue ich im Mengin vorbei.<br />

Okay?“<br />

„Bis dann, Brigitte“, verabschiedete sich Heike.<br />

„Bis bald, Heike. Tschüß ihr beiden Hübschen!“<br />

„Tschüß! Bis bald!“ Wolfgang sah Brigitte nach, die sich eilig umgedreht hatte und sich<br />

mit festen, schnellen Schritten von ihnen entfernte.<br />

„Deine Freundin scheint ja ein sehr spontaner Mensch zu sein, Heike.“ Wolfgang wandte<br />

sich wie<strong>der</strong> ihr zu. „Sie umarmt mich einfach. Dabei kennt sie mich doch gar nicht.“�<br />

„Ja, sie hat ein sehr einnehmendes Wesen.“ Heike legte ihren linken Arm um Wolfgang<br />

„So, so! Hat sie dich auch schon eingenommen?“<br />

Auf diese Frage von Wolfgang schoss Heike das Blut ins Gesicht. Sie bekam ein schlechtes<br />

Gewissen, hatte sie ihm doch längst wegen Brigitte etwas gestehen wollen. „In gewisser<br />

Weise ja“, entfuhr es ihr, ohne dass ihr bewusst war, was sie eigentlich sagte. Wolfgang<br />

schwieg nachdenklich.<br />

Immer noch standen sie an <strong>der</strong> Stelle, an <strong>der</strong> sich Brigitte verabschiedet hatte.<br />

„Willst du hier Wurzeln schlagen, Wolfgang?“<br />

Heikes Frage riss ihn aus seinem Nachdenken. „Nein, nein! Geh’n wir weiter, Heike!“<br />

Sie setzten ihren Spaziergang fort und lenkten ihre Schritte weiter in Richtung Stadtzentrum.<br />

Wolfgang trottete neben Heike her. Es war still zwischen ihnen geworden. Wolfgang schien<br />

etwas im Kopf herum zu gehen. <strong>Die</strong>s spürte Heike neben ihm. Sie sagte nichts, fragte ihn<br />

nichts – zunächst. Es werde sich schon noch die Gelegenheit ergeben, herauszufinden, worüber<br />

er gerade grübelte, dachte sie bei sich und ließ ihre Blicke um sich schweifen. Vielleicht<br />

entdeckte sie ja noch mehr Bekannte in <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong> Leute, die, in verschiedenen Richtungen<br />

sich bewegend, durch die Fußgängerzone gingen. Aber Heike sah niemanden, den sie<br />

freudig hätte begrüßen können. Es dauerte nicht allzu lange, dann hielt sie ihre Situation nicht<br />

mehr aus. Ihre Neugier auf das, worüber Wolfgang nachdachte, wurde zu groß. Aber sie wollte<br />

ihm keine Frage stellen – vorerst.<br />

Du bist aber still geworden“, stellte sie nach einer Weile fest. „Vorhin als wir fort gingen,<br />

haben wir uns noch so angeregt unterhalten, aber jetzt gehen wir nebeneinan<strong>der</strong> her als wäre<br />

wir ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Was meinst du, Wolfgang?“<br />

234


Wolfgang Brenner ging noch einen Schritt weiter, dann blieb er stehen und drehte sich zu<br />

Heike um, die ebenfalls stehen geblieben war. „Ich habe darüber nachgedacht, was ich vorhin<br />

im Tagebuch <strong>der</strong> Elfriede Seiffert gelesen habe.“<br />

„Und was hast du gelesen, Wolfgang?“ Heike konnte ihre Neugier nicht mehr unterdrücken.<br />

„Es gibt zwei Männer in Elfriedes Leben“, sagte Wolfgang und wandte sich wie<strong>der</strong> dem<br />

Gehen zu.<br />

„So? Hast du das gelesen, Wolfgang.“ Heike folgte ihn.<br />

„Da ist zuerst dieser Wilhelm ...“<br />

„... und danach?“ Heike platzte vor Neugier.<br />

„... und danach kommt dieser Herrmann“, ergänzte Wolfgang. „Aber irgendwas passt da<br />

nicht zusammen.“ Er ging gemächlichen Schrittes weiter. „Und das alles geschieht im dritten<br />

Heft im Jahr 1920. Ich weiß nur noch nicht, was dazwischen vorgefallen ist. Ich muss unbedingt<br />

im Tagebuch weiter lesen.“<br />

„Aber nicht jetzt, Wolfgang. Jetzt gönnen wir uns erst einmal einen guten Cappuccino.<br />

Dabei können wir weiter reden.“<br />

„Ja, weiter reden“, murmelte Wolfgang und ging nachdenklich weiter.<br />

Im Garten des Cafés Mengin waren fast alle Tische besetzt. Viele Stadtgänger gönnten<br />

sich ein wenig Ruhe und genossen die warmen Strahlen <strong>der</strong> Sonne, die ihre Kraft in diesen<br />

späten Septembertagen noch nicht verloren hatte. Heike und Wolfgang fanden noch einen<br />

freien, kleinen Tisch und setzten sich so, dass sie sich in die Augen sehen konnten.<br />

Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber Wolfgangs Blick war in die Ferne gerichtet. Seine<br />

Gedanken entrückten ihn in seine Vorstellung. Er war geistig völlig abwesend.<br />

„Was darf ich Ihnen bringen?“ <strong>Die</strong> Frage <strong>der</strong> kleinen, etwas dicklichen Bedienung riss<br />

Wolfgang etwas unsanft aus seinen Gedanken.<br />

„Zwei Cappuccino, bitte!“, sagte Heike schnell, bevor Wolfgang Luft holen konnte.<br />

„Ich war jetzt völlig in meinen Gedanken versunken.“ Wolfgangs fast entschuldigende<br />

Miene erheiterte Heike.<br />

„Das habe ich wohl bemerkt“, entgegnete sie und nickte heftig mit dem Kopf. „Mir ist<br />

fast Angst geworden.“<br />

„Aber nein, Heike!“ Wolfgang schüttelte den Kopf. „Ich habe nur intensiv nachgedacht.<br />

Und dabei bin ich immer geistig abwesend.“ Er atmete tief durch und lehnte sich in seinem<br />

Stuhl zurück. „Aber lei<strong>der</strong> bin ich nicht zu Potte gekommen, wie man etwas nördlicher von<br />

hier wohl sagt.“<br />

„Lass’ das Grübeln, Wolfgang! Grübeln bringt nichts, es verkrampft nur deine Gedanken<br />

und damit deinen Geist. Lass’ uns lieber von etwas an<strong>der</strong>em reden als immer nur von den Tagebüchern.<br />

<strong>Die</strong> müssen wir uns beide sowieso noch einmal ganz genau und systematisch anschauen,<br />

soweit dein Vater sie eben transkribiert hat. Ich hoffe, er hat mir alles geschickt, was<br />

er bisher in den Computer eingegeben hat.“<br />

„O, das denke ich doch“, entgegnete Wolfgang. „Ich glaube, er ist bis Mai o<strong>der</strong> Juni 1920<br />

gekommen, soweit ich dies überblicken kann.“<br />

„Mai o<strong>der</strong> Juni 1920 ...“, wie<strong>der</strong>holte Heike nachdenklich. „Da war doch noch dieser<br />

Brief, den wir, das heißt Brigitte und ich ...“<br />

Wolfgang musste lachen. „Jetzt verfällst aber du ins Nachdenken, Heike.“<br />

„Nein, nein, Wolfgang! Mir ist nur gerade wie<strong>der</strong> eingefallen, dass wir ja noch die Briefe<br />

haben, die ich zu einem kleinen Teil schon abgetippt habe, als sie mir Brigitte quasi vom Originalblatt<br />

diktierte. Ich muss sie unbedingt fragen, wenn sie dann kommt – hoffentlich<br />

kommt.“<br />

„Na, darauf bin ich aber gespannt. Ich wusste gar nicht, dass auch noch Briefe von Elfriede<br />

existieren.“<br />

235


„Ja, da ist einer an ihre Mutter ... Aber jetzt genießen wir erst einmal unseren Cappuccino.<br />

O, ich glaube, da kommt er schon!“<br />

<strong>Die</strong> kleine, pummelige Bedienung näherte sich dem Tisch <strong>der</strong> Beiden und stellte wenige<br />

Augenblick später zwei Tassen auf den Tisch. „Ihre beiden Cappuccinos, bitte sehr!“, sagte<br />

sie freundlich und verschwand so schnell wie sie an den Tisch geeilt war.<br />

Heike rührte in ihrer Tasse. „Hast du dich schon wie<strong>der</strong> zurück gemeldet?“, fragte sie<br />

plötzlich.<br />

„Du meinst im Studentenhaus?“<br />

„Ja.“<br />

„Schon letzte Woche, Heike. Und du?“<br />

„Ich muss es noch machen, aber nicht heute. Mir geht die Hektik im Studentenhaus immer<br />

auf die Nerven. So viele Leute um mich herum machen mich nervös.“<br />

„Aber hier sind doch auch viele Leute um uns herum“, wandte Wolfgang ein.<br />

„Das ist richtig, aber die sitzen fast alle und rennen nicht herum, Wolfgang.“<br />

Er zog seine linke Augenbraue in die Höhe, was bedeutete, dass er an Heikes Erklärung<br />

ein wenig zweifelte. „Je<strong>der</strong> empfindet eben eine bestimmte Situation an<strong>der</strong>s. Und wer weiß,<br />

wozu dies gut ist.“<br />

„Ja, wer weiß?“ Heike holte tief Luft und atmete diese langsam wie<strong>der</strong> aus. Danach trank<br />

sie einen Schluck aus ihrer Tasse und lehnte sich zurück, blickte umher, gedankenverloren<br />

suchend. Aber wen o<strong>der</strong> was suchte sie? <strong>Die</strong> Begegnung mit Brigitte hatte sie innerlich merklich<br />

aufgewühlt. Sollte sie jetzt Wolfgang gestehen, dass ihre Freundin auch eine intime<br />

Freundin war? Nein, entschied sie, nicht hier und nicht jetzt. Aber ihr Gewissen bedrängte sie.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite musste sie wie<strong>der</strong> an ihr vorletztes Beisammensein mit Brigitte denken,<br />

an jenen Abend, als ... Sie schloss ihre Augen. Eine Minute verging, dann meldete sich wie<strong>der</strong><br />

Wolfgang zu Wort.<br />

„Bist du schon wie<strong>der</strong> müde, Heike?“ Wolfgangs Frage ließ sie aus ihren Tagträumen<br />

hochschrecken.<br />

„Sieht es so aus?“<br />

„Ich frage nur, weil ...“<br />

„ ..., weil du neugierig bist.“ Heike hatte ihre Augen wie<strong>der</strong> geöffnet und sah Wolfgang<br />

herausfor<strong>der</strong>nd an, als wollte sie gleich einen sehnlichen Wunsch äußern. Er bemerkte dies<br />

sofort.<br />

„Hast du was, Heike?“<br />

„Ach nichts, Wolfgang.“<br />

„O<strong>der</strong> wolltest du mir etwas sagen?“<br />

Heike erschrak. Woher wusste Wolfgang, dass sie eigentlich doch etwas sagen wollte,<br />

aber irgend etwas sie davon abhielt? Aber was? Heike fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer<br />

Haut. Zwei Stimmen kämpften in ihr und sie konnte sich nicht entscheiden, welcher sie folgen<br />

sollte. Heike musste etwas sagen, was ihre Gedanken ablenkte und sie nicht mehr an Brigitte<br />

denken ließ. Sie überlegte angestrengt ... Jetzt über das Studium zu reden, schien ihr nicht<br />

sinnvoll. Schließlich waren noch Semesterferien. Sollte sie über ihre gemeinsame Zukunft mit<br />

Wolfgang sprechen und Pläne schmieden?– Sie kannte ihn jetzt knapp ein halbes Jahr. Heike<br />

hatte Wolfgang auf einer Geburtstagsfeier im Mai dieses Jahres kennen gelernt. Ihr aber<br />

schien es viel länger. Hatten die zurückliegenden Ereignisse die Zeit länger erscheinen lassen?<br />

Eigentlich hätte genau das Gegenteil <strong>der</strong> Fall sein müssen, meinte sie. Ganz unbewusst sprudelte<br />

dann eine Frage aus ihr heraus.<br />

„Sollten wir vielleicht ...?“ Sie stockte<br />

„Was sollten wir?“<br />

„Ach nichts, Wolfgang! Ich habe nur laut gedacht.“<br />

„Ach so! Ich dachte, du wolltest etwas fragen.“<br />

236


„Mir schwirren so viele Gedanken durch den Kopf.“ Heike trank wie<strong>der</strong> einen Schluck<br />

aus ihrer Tasse.<br />

„Wobei sich vermutlich viele um diese Tagebücher drehen.“ Wolfgang betrachtete Heike<br />

sehr genau.<br />

„Auch, Wolfgang, auch! Aber mich beschäftigt noch viel mehr.<br />

Er wollte nachfragen und hatte schon Luft geholt, sagte jedoch nichts, denn Wolfgang<br />

wollte Heike jetzt nicht bedrängen. Auch ihm schwirrten viele Fragen im Kopf herum und<br />

auch nicht alle betrafen die Schriftstücke, die ihnen die letzten Ereignisse beschert hatten.<br />

„Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt eine Feststellung treffe, Heike.“<br />

„Warum sollte ich dir böse sein. Ich liebe dich doch.“<br />

„Ich dich auch, Heike. Und deswegen möchte ich wissen, was dich bedrückt.“<br />

Heike war völlig überrascht. Wie konnte Wolfgang ahnen, dass sie jetzt etwas bewegte?<br />

„Mich bedrückt nichts“, log Heike und fühlte sich dabei äußerst unwohl.<br />

„Das glaube ich dir nicht, jedenfalls nicht ganz, Heike.“ Wolfgangs überzeugen<strong>der</strong> Ton in<br />

seiner Stimme ließ sie fast verzweifeln. Sie wollte es ihm ja sagen, aber es hielt sie immer<br />

noch etwas ab. Aber was in drei Teufels Namen?<br />

„Irgendwie sehe ich es dir an, Heike, dass dich irgend etwas bedrückt“, fuhr Wolfgang<br />

unbeirrt fort. „Ich kann dir aber nicht sagen, was es ist. Aber ich spüre, dass dich mehr bewegt<br />

als nur das, was in den Tagebüchern steht.“<br />

„Lass’ mir etwas Zeit, Wolfgang. Es ist nichts Furchtbares, was mich bewegt, aber trivial<br />

ist es auch nicht.“<br />

Wolfgang lächelte Heike an. Er fasste zärtlich ihre rechte Hand, die sich kalt anfühlte,<br />

aber keineswegs kalt war, und sah ihr in ihre strahlend blauen Augen. „Du brauchst mir nichts<br />

zu sagen, was du mir jetzt nicht sagen willst, Heike. Ich kann warten.“<br />

Heike erhob sich etwas aus ihren Sitz, beugte sich zu Wolfgang hinüber und gab ihm einen<br />

Kuss. „Du bist so gut zu mir, Wolfgang. Du liebst mich wirklich. Das spüre ich.“<br />

„Ja, Heike. Ich liebe dich und nur dich.“<br />

Heike schwieg. <strong>Die</strong> letzten Worte von Wolfgang hatten sie Brigitte vergessen lassen und<br />

sie fühlte sich in ihrer Meinung bestärkt, dass sie mit Wolfgang denjenigen gefunden hatte,<br />

den sie schon einige Zeit gesucht hatte. Sie konnte es sich rational nicht erklären, aber irgend<br />

etwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass sie drauf und dran war, die sehnsuchtsvoll erwartete<br />

wahre Liebe zu entdecken. Wolfgang war für sie schon längst viel, viel mehr als nur eine<br />

flüchtige Bekanntschaft geworden. Auch dies spürte sie, ohne dass sie es sich erklären konnte.<br />

Heike setzte sich wie<strong>der</strong> auf ihren Stuhl, <strong>der</strong> ihr plötzlich kalt vorkam. Sie selbst fröstelte<br />

ein wenig, obwohl das Thermometer fast 25°C anzeigte. Wolfgang bemerkte dies sofort. Er<br />

war voller, ihn drängen<strong>der</strong> Fragen, die er Heike stellen wollte, aber er fragte sie nicht, son<strong>der</strong>n<br />

schwieg und wartete.<br />

„Warum muss ich auf Brigitte warten? Ich habe doch einige Briefe von Elfriede, die sie<br />

mir diktiert hatte, abgetippt.“ Heike sah zu Wolfgang hinüber, <strong>der</strong> jedes Wort, das sie gerade<br />

gemurmelt hatte, deutlich verstand.<br />

„Brigitte hat dir aus Briefen von Elfriede diktiert? – Das sind ja ganz neue Erkenntnisse!“<br />

Wolfgang beugte sich erwartungsvoll nach vorne und trank seinen Cappuccino aus. „Kann sie<br />

denn die alte deutsche Schrift lesen?“<br />

„Habe ich dir das nicht erzählt, Wolfgang.“<br />

„Nein, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, Heike.“ Wolfgang sah zum Eingang<br />

des Cafégartens hin und seine Miene erhellte sich, was Heike nicht entging, denn sie beobachtete<br />

seine Gesichtszüge genau. „Aber da kommt sie ja.“<br />

Heike drehte sich blitzartig um und sah ihre Freundin, die gerade mit schnellen Schritten<br />

vom Schlossplatz kommend das Café Mengin erreichte, und sich suchend umsah. Sie entdeckte<br />

Wolfgang und Heike und ging zielstrebig auf <strong>der</strong>en Tisch zu.<br />

237


„Hallo, ihr Beiden! Ich bin froh, diesem Hexenkessel entronnen zu sein“, stöhnte Brigitte<br />

und ließ sich in den freien Stuhl neben Heike fallen. „Ich kann euch nicht sagen, wie es gerade<br />

im Studentenhaus zuging.“<br />

<strong>Die</strong> drei begrüßten sich. Wolfgang sah abwechselnd Heike und Brigitte an.<br />

„War es denn wirklich so schlimm?“ Heike blickte ihre Freundin fragend an.<br />

„Man könnte fast glauben, dort gebe es was geschenkt.“ Brigitte schüttelte den Kopf.<br />

Wolfgang betrachtete weiter die beiden und lächelte. „Es ist richtig voll geworden in Erlangen“,<br />

sagte er schließlich, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Hände<br />

hinter seinem Kopf. „Noch vor zwei Jahren, als ich hier zu studieren anfing, ging es irgendwie<br />

gemütlicher, irgendwie familiärer zu bei <strong>der</strong> Einschreibung.“<br />

„Ja bei <strong>der</strong> Einschreibung sind die Anfänger noch unter sich“, entgegnete Heike und lachte.<br />

„Aber dann bei <strong>der</strong> Rückmeldung sieht man erst, wie viele Studenten in Erlangen wirklich<br />

studieren.“<br />

„Das kannst du laut sagen, Heike“, stimmte ihr Brigitte zu. „Ich bin jedenfalls froh, den<br />

ganzen Zirkus jetzt hinter mir zu haben. Doch jetzt möchte ich darüber eigentlich nicht reden.<br />

Erzählt mir lieber, was denn so alles geschehen ist, seitdem wir uns nicht mehr gesehen habe.“<br />

Wolfgang und Heike sahen sich kurz an. Ihre Blicke fragten, wer wohl zu erzählen anfangen<br />

sollte.<br />

„Wo sollen ...“ Heike und Wolfgang stimmten gleichzeitig diese Frage an und brachen<br />

auch gleichzeitig wie<strong>der</strong> ab. Dann mussten sie alle drei lachen.<br />

„Ihr müsst euch schon einigen, wer anfängt“, lachte Brigitte und drehte sich um in <strong>der</strong><br />

Hoffnung die Bedienung aus dem Café kommen zu sehen, „Ich habe jetzt einen Riesendurst.<br />

Was trinke ich nur?“<br />

„Also mir helfen am besten zwei Tassen Kaffee, wenn ich großen Durst habe.“ Wolfgang<br />

blickte zu Brigitte hinüber, die sich wie<strong>der</strong> umgedreht hatte, weil sie keine Bedienung sah.<br />

„Keine schlechte Idee, Wolfgang.“ Brigitte nickte zustimmend. „Ich probier’s mal mit<br />

Kaffee. Schmeckt <strong>der</strong> hier auch gut?“<br />

„Er ist nicht schlecht, aber auch nicht beson<strong>der</strong>s stark“, erklärte Wolfgang. „Mir hat er<br />

bisher immer geschmeckt. Aber seit einiger Zeit bin ich auf Cappuccino umgestiegen.“<br />

„Nicht nur du, Wolfgang“, ergänzte Heike.<br />

„Also dann erzählt doch mal! Was ist denn so alles passiert?“ Brigittes Neugier duldete<br />

jetzt keinen Aufschub. Und Wolfgang begann mit farbigen Worten den Überfall seines Vaters<br />

zu schil<strong>der</strong>n. Heike ergänzte ihn hin und wie<strong>der</strong>. Dabei wich Brigittes fröhliche Miene zusehends<br />

aus ihrem Gesicht. Sie begann, immer häufiger ihren Kopf zu schütteln. <strong>Die</strong> unbeantwortete<br />

Frage nach dem Grund des Handelns schwebte dabei wie<strong>der</strong> über den Köpfen <strong>der</strong><br />

drei.<br />

„Das ist ja ein starkes Stück!“, entrüstete sich Brigitte, nachdem Wolfgang mit seinem<br />

Bericht geendet hatte, und schüttelte dabei ihren Kopf. „Da sieht man wie<strong>der</strong> einmal, wozu<br />

ein verwirrter Geist fähig ist. Lei<strong>der</strong> laufen viel zu viele von diesen Psychopathen noch immer<br />

frei durch die Gegend. Ich könnte mir ja gerade noch vorstellen, wenn jemand wegen des<br />

Geldes überfallen wird, aber nur wegen ein paar alter Tagebücher? Das will mir nicht in den<br />

Kopf gehen.“<br />

„Und mir auch nicht, Brigitte!“ Heike nickte zustimmend.<br />

„Und wo sind die Tagebücher jetzt?“ Brigittes Frage löste nur ein Kopfschütteln bei<br />

Wolfgang und Heike aus.<br />

„Das wissen wir nicht.“ Wolfgang zog seine Stirne in Falten. „Ich hoffe nur, dass sie<br />

noch existieren. Aber wo? Wo könnten sie sein? – Ich vermute, die Polizei tappt ebenso im<br />

Dunkeln wie wir, sonst hätte sie meinen Vater bestimmt verständigt.“ „Und mein Vater hätte<br />

dann bestimmt auch mir etwas gesagt, doch er weiß es auch nicht.“<br />

238


<strong>Die</strong> Stimmung zwischen den dreien war gedrückt. Sie schwiegen zunächst. Brigitte fasste<br />

sich als Erste wie<strong>der</strong>.<br />

„Also lasst uns doch jetzt kein Trübsal blasen, nicht bei diesem schönen Wetter!“<br />

Unbemerkt von allen war die Bedienung an den Tisch getreten und sah Brigitte fragend<br />

an. „Was darf ich Ihnen bringen?“<br />

„Ein Kännchen Kaffee, bitte!“<br />

„Und uns bitte noch zwei Cappuccinos“, ergänzte Wolfgang die Bestellung. <strong>Die</strong> Bedienung<br />

nickte, lächelte ihn an und verschwand wie<strong>der</strong>.<br />

Heike wandte sich Brigitte zu. „Sag’ mal, Brigitte, kannst du dich noch daran erinnern,<br />

als du mir Briefe von und an Elfriede gelesen und diktiert hast?“<br />

„Aber sicher, Heike! Hast du sie nicht gleich in den Computer getippt?“<br />

„Ja, Brigitte! Kannst du dich noch an den Brief erinnern, in dem Elfriede plötzlich mit<br />

Wagner unterschrieb, denn vorher taucht <strong>der</strong> Name in den Tagebüchern nicht auf, jedenfalls<br />

soweit ich mich im Moment erinnern kann?“<br />

„Aber sicher, Heike!“<br />

„Ich glaube dieser Brief ist <strong>der</strong> Schlüssel für das Problem, das wir im Moment haben.“<br />

Heike berichtete Brigitte über die Verständnisschwierigkeiten, die sie und Wolfgang mit den<br />

bisher gelesenen Tagebuchaufzeichnungen hatten. Alles wollte nicht so recht zusammenpassen.<br />

Sie tappten beide im Dunkeln über die Ereignisse des Jahres 1920 im Leben <strong>der</strong> Elfriede<br />

Seiffert, die plötzlich Wagner hieß.<br />

„Für mich ist die Sache vollkommen klar“, begann Brigitte. „Elfriede war schwanger<br />

und „musste“ heiraten. Aber sie hat vermutlich nicht den geheiratet, <strong>der</strong> ihr das Kind gemacht<br />

hat. Wer weiß warum?“<br />

„Das ist es!!“ Heike war aufgesprungen. „O Brigitte, du bist ein Schatz!!“ Mit diesen<br />

Worten umarmte sie ihre Freundin. <strong>Die</strong>se war im ersten Augenblick von <strong>der</strong> heftigen Reaktion<br />

Heikes völlig überrumpelt. Doch ihre Überraschung wich schlagartig einer Freude, die<br />

nicht weniger groß war als die von Heike.<br />

Auch Wolfgangs Gesichtsausdruck erheiterte sich schnell. „Wir grübeln und grübeln und<br />

Brigitte hat die einfache Lösung.“<br />

„Manchmal überblickt eben ein Außenstehen<strong>der</strong> die Zusammenhänge besser als diejenige,<br />

die sich intensiv mit einer Sache, wie zum Beispiel den Tagebüchern, beschäftigen, also<br />

ihr zwei.“ Brigitte hatte sich wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Umarmung Heikes gelöst. Ihre direkte Art hatte<br />

Bewegung in das Denken von Heike und Wolfgang gebracht.<br />

„Wo habe ich nur die beiden Ordner mit den Kopien <strong>der</strong> Tagebücher hin?“ Heinz Markert<br />

kratzte sich am Kopf. Seine Frau sah ihn an, neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite und<br />

amüsierte sich köstlich über seine verzweifelte Miene. „Gerade jetzt ist es wichtig, dass ich<br />

sie finde, nachdem die Originale mit größter Wahrscheinlichkeit für alle Zeiten vernichtet<br />

sind.“<br />

„Woher willst du wissen, dass die Tagebücher nicht mehr existieren, Heinz?“ Elke stand<br />

vom Esstisch auf und griff nach den Tellern, um sie zusammen mit dem Geschirr vom Tisch<br />

abzuräumen. „Ich kenne dich fast nicht mehr, seitdem du erfahren hast, dass Dr. Brenner<br />

überfallen worden ist. Früher warst du <strong>der</strong> Optimist in Person. Und jetzt?“<br />

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, entgegnete Heinz und fingerte nach <strong>der</strong> Fernsehzeitschrift,<br />

die auf dem Stuhl neben ihm lag. „In letzter Zeit scheine ich immer vergesslicher<br />

zu werden. Ich bin mir sicher, die beiden Ordner in das Regal neben den Schreibtisch<br />

gestellt zu haben. Aber dort sind sie nicht mehr. Ich habe vorhin dreimal nachgesehen ...“<br />

43<br />

239


Elke war in die Küche hinüber gegangen und stellte gerade das Geschirr neben <strong>der</strong> Spüle<br />

ab. „Überlege doch Heinz! Wann hast du die Ordner zuletzt gesehen?“, rief sie in die<br />

Essdiele.<br />

„Das muss schon einige Tage her sein, Elke“, rief er zurück. „Um genau zu sein, es war<br />

an dem Tag, an dem ich den zweiten Teil <strong>der</strong> Tagebücher kopiert habe – glaube ich wenigstens.“<br />

„Dann müssen die Ordner doch noch dort stehen, vorausgesetzt du hast sie zwischendurch<br />

nicht irgendwo an<strong>der</strong>s hingestellt.“<br />

Heinz überlegte. Hatte er die Kopien zwischendurch nicht woan<strong>der</strong>s hingelegt? Sein Herz<br />

begann, ihm bis zum Hals zu klopfen, denn ihm fiel jetzt siedheiß ein, dass er vergangene<br />

Woche die beiden Ordner auf dem Papierkorb abgelegt hatte, weil er kurzzeitig keinen Platz<br />

für sie gefunden hatte. Wo hatte er sie danach hingelegt? Je länger er überlegte, desto größer<br />

wurde seine Unsicherheit.<br />

Nach einigen Minuten kam Elke wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Küche zurück. Sie hatte das Geschirr und<br />

Besteck in <strong>der</strong> Spülmaschine verstaut und diese eingeschaltet. „Na, Heinz! Weißt du jetzt, wo<br />

du die Kopien hingelegt hast?“<br />

„Ich denke, ich habe sie auf den Papierabfallkorb gelegt ...“<br />

Elke überlegte kurz. „Ich habe mich schon gewun<strong>der</strong>t, dass du sie wegwerfen willst, habe<br />

aber nicht weiter gefragt und sie dann in die Papiertonne gesteckt, denn du hast mir einmal<br />

gesagt, dass ich alles, was in o<strong>der</strong> auf dem Papierkorb liegt, wegwerfen kann.“<br />

Heinz fuhr wie von <strong>der</strong> Tarantel gestochen in die Höhe. Er fühlte, wie ihm das Blut in<br />

den Kopf schoss. Schweißperlen standen ihm plötzlich auf <strong>der</strong> Stirne. „Du hast was?“, schrie<br />

er und seine Stimme überschlug sich fast.<br />

„Ich habe sie in die Papierabfalltonne getan“, wie<strong>der</strong>holte Elke ganz ruhig.<br />

„O nein! O nein!“ Heinz hielt sich beide Hände vor dem Kopf. Dann fasste er sich wie<strong>der</strong>.<br />

„Wann ist die Tonne geleert worden?“<br />

„Vorgestern, glaube ich.“ Elkes ruhige, monotone Stimme brachte jetzt Heinz völlig aus<br />

<strong>der</strong> Fassung.<br />

„Es darf nicht wahr sein! O nein! O nein! Es darf nicht wahr sein!“ Kraftlos ließ sich<br />

Heinz in den Stuhl fallen. Tränen stiegen in seine Augen. „Da schleppe ich mich zweimal mit<br />

den Kopien ab, muss mich fast auslachen lassen und dann ...“<br />

Elke merkte, dass sie Heinz zu Hilfe kommen musste. „Jetzt bleib erst mal ganz ruhig!<br />

Noch ist Polen nicht verloren.“<br />

„Du bist gut, Elke.“ Heinz hatte seinen Kopf auf beide Hände gestützt und schluchzte.<br />

„Das darf nicht wahr sein!“ Er holte tief Luft und sah Elke entgeistert an, die sich ihm gegenüber<br />

wie<strong>der</strong> an den Tisch gesetzt hatte. „Ich brauche jetzt einen Schnaps, Elke“, murmelte er<br />

und schüttelte seinen Kopf. „Das ist jetzt fast ein Schlag unter die Gürtellinie“, seufzte er und<br />

schüttelte wie<strong>der</strong> heftig seinen Kopf.<br />

„Jetzt nimm es nicht so tragisch, Heinz!“ Elke stand auf und ging in die Küche. „Ich<br />

bringe dir jetzt einen Cognac. Der beruhigt dich erst einmal“, rief sie aus <strong>der</strong> Küche.<br />

„Ich will’s hoffen, Elke! Ich will’s hoffen!“, rief er zurück und legte seinen Kopf wie<strong>der</strong><br />

auf beide Hände, die Ellenbogen auf den Essdielentisch gestützt.<br />

Eine Minute später stellte ihm Elke ein über den Bauch gefülltes Cognacglas auf den Esstisch.<br />

„Jetzt beruhige dich, Heinz! Es bringt doch nichts, sich jetzt über dieses Missgeschick<br />

von uns beiden aufzuregen.“<br />

„Du hast gut Reden, Elke. Da investiere ich einen nicht unerheblichen Betrag, schleppe<br />

mich mit Papier ab und ...“<br />

„... legst sie auf den Papierkorb. Und ich werfe sie weg. Ich weiß, ich weiß!“ Elke hatte<br />

sich neben Heinz hingesetzt und streichelte sein Haar.<br />

Er hob den Kopf und sah seine Frau an. Ein müdes Lächeln quälte sich auf sein Gesicht.<br />

„Du hast ja recht – wie immer“, stammelte er und nickte.<br />

240


Still saßen sie beisammen. Elke streichelte ihren Mann weiter am Kopf und sah ihn traurig<br />

an. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie Heinz nicht gefragt hatte, was mit den beiden Ordnern<br />

auf dem Papierkorb geschehen solle. Nach außen hin schien sie aber ruhig und gefasst.<br />

„Vielleicht tauchen die <strong>Wachstuchhefte</strong> ja auch wie<strong>der</strong> auf, Heinz“, begann sie nach einer<br />

Weile. „Man soll die Hoffnung nie aufgeben, Heinz. Es hofft <strong>der</strong> Mensch, solange er lebt.“<br />

Heinz hob seinen Kopf und atmete wie<strong>der</strong> tief durch. „Du hast ja recht, Elke. Du hast<br />

recht wie immer“, wie<strong>der</strong>holte er, nahm den Cognacschwenker in seine rechte Hand, fasste<br />

den kurzen Stiel des Glases zwischen seinen Mittel- und Ringfinger und begann, das leuchtend<br />

braune Getränk mit seiner Hand zu wärmen. „Wer hat das eigentlich gesagt?“<br />

„Was gesagt, Heinz?“<br />

„Na das mit <strong>der</strong> Hoffnung und dem Menschen.“<br />

„Ich weiß nicht, Heinz. Aber irgendein gescheiter Mensch muss es gewesen sein. Vielleicht<br />

ist es auch ein Sprichwort. Wir verwenden viele von diesen im Alltag. Ich weiß es<br />

nicht.“<br />

Heinz trank einen kleinen Schluck aus dem bauchigen, kurzstieligen Glas. „Ah, <strong>der</strong><br />

schmeckt! Was ist das für ein köstliches Getränk?“<br />

„Ein Metaxa, ein siebensterniger“, antwortete Elke. „Ich habe ihn erst gestern gekauft. Er<br />

war im Angebot.“<br />

„Was hat er gekostet?“ Heinz versuchte mit dieser Frage, sich selbst ein wenig abzulenken.<br />

„Ich glaube elf Euro irgendwas, Heinz“<br />

„Und was kostet er sonst, wenn er nicht im Angebot ist?“<br />

„Na, so dreizehn o<strong>der</strong> vierzehn denke ich.“ Elke war ein wenig stolz auf sich, dass sie es<br />

anscheinend geschafft hatte, ihren Mann von seinem Grübeln über das Missgeschick mit den<br />

weggeworfenen Tagebuchkopien abgelenkt zu haben.<br />

„Wie<strong>der</strong> ein kleines Schnäppchen gemacht, Elke?“<br />

„Ganz genau, Heinz!“ Elke stand wie<strong>der</strong> auf und ging in die Küche zurück.<br />

Heinz blieb nachdenklich in <strong>der</strong> Essdiele zurück. Ihm war etwas leichter ums Herz geworden.<br />

Was nützte es, jetzt den Tagebüchern nachzutrauern. Sie schienen ihm für alle Zeiten<br />

verloren. Wer weiß, für was es gut war? Doch er konnte eine gewisse Neugier nicht verhehlen,<br />

eine Neugier darauf, zu erfahren, was für ein Mensch Elkes Großmutter gewesen war,<br />

was sie freute und was sie bedrückte.<br />

„Was soll’s!“, murmelte er. „Es hat eben nicht sollen sein.“<br />

Obwohl Heinz nur leise vor sich hinmurmelte, hörte es Elke, die in <strong>der</strong> Küche aufräumte,<br />

aber sie verstand nicht, was er gesagt hatte. „Hast du etwas gesagt, Heinz?“, rief sie fragend<br />

aus <strong>der</strong> Küche.<br />

„Ach nichts, Elke! Ich habe nur etwas laut gedacht.“<br />

„Soso!“, tönte es aus <strong>der</strong> Küche. „Seit wann denkst du laut nach, Heinz?“<br />

„Sei nicht so neugierig, Elke!“, rief er zurück. „Schließlich sind Gedanken frei.“<br />

„Aber nur, wenn man sie leise denkt, Heinz!“<br />

Trotz seiner Nie<strong>der</strong>geschlagenheit musste Heinz lachen. „Du musst doch immer das letzte<br />

Wort haben, Elke!“<br />

„So soll es sein! So soll es sein!“, rief Elke aus <strong>der</strong> Küche zurück.<br />

Heinz entgegnete nichts, son<strong>der</strong>n hob sein Cognacglas, wärmte das goldbraune Getränk<br />

noch einmal kurz schwenkend in seiner rechten Hand und trank es in einem Zug leer.<br />

„Ich gebe Ihnen jetzt noch ein Attest mit“, sagte Dr. An<strong>der</strong>s zu Herbert Brenner und sah<br />

ihn durchdringend an. „Damit sind Sie noch eine Woche vom <strong>Die</strong>nst befreit, aber das heißt<br />

nicht, dass Sie jetzt noch nichts tun dürfen.“<br />

„Das überrascht mich, Herr Doktor An<strong>der</strong>s.“ Dr. Brenner hob seine Augenbrauen. „Heißt<br />

das, ich kann zu Hause wenigstens ein paar Papiere sichten?“<br />

241


„Genau das! Sie dürfen wie<strong>der</strong> langsam anfangen, sich an die Arbeit zu gewöhnen. Aber<br />

Vorsicht!! Jede Anstrengung müssen sie jetzt unbedingt noch vermeiden.“<br />

Dr. Brenner atmete auf. Er hatte verstanden, was sein Arzt ihm verschrieben hat. Insgeheim<br />

hatte er ja darauf gehofft, seine Tage nicht mehr nur lesend verbringen zu müssen. Er<br />

wusste auch schon, was er zunächst tun wollte.<br />

Dr. An<strong>der</strong>s gab ihm das Attest. „So, dann wünsche ich Ihnen einen langsamen Anfang. In<br />

einer Woche schauen Sie wie<strong>der</strong> bei mir vorbei. Wenn dann Ihr Blutdruck ähnlich niedrig ist<br />

wie heute, dann können sie wie<strong>der</strong> normal arbeiten. Und mit normal meine ich auch Ihre tägliche<br />

Arbeitszeit. Nicht über acht Stunden am Tag!“<br />

„Ich habe verstanden, Herr Doktor An<strong>der</strong>s.“ Herbert Brenner nahm das Attest und steckte<br />

es in die Brusttasche seiner Jacke, die er kurz zuvor angezogen hatte. „Also bis in einer Woche!“<br />

„Bis in einer Woche, Herr Dr. Brenner!“<br />

Eine halbe Stunde später war er in sein Haus zurückgekehrt. Unverzüglich begab er sich<br />

ans Telefon und wählte ...<br />

Heinz hatte sich nach dem Cognac ein wenig hingelegt. Das hochprozentige Getränk hatte<br />

ihn müde gemacht. Er dämmerte langsam in den Schlaf. Von ferne hörte er noch wie das<br />

Telefon klingelte ... Elke hob ab und meldete sich.<br />

„Ah, das ist aber nett, dass Sie anrufen, Herr Dr. Brenner! Wie geht es Ihnen?“<br />

„Danke, gut! Ich darf zwar offiziell noch nicht arbeiten, aber ich brauche mich auch nicht<br />

mehr voll schonen, meint zumindest <strong>der</strong> Arzt.“<br />

„Das ist schön für Sie“, entgegnete Elke und fragte nach dem Grund des Anrufs.<br />

„Sie haben mir doch bei unserem ersten Treffen erzählt, Frau Markert, dass Ihr Mann<br />

Kopien <strong>der</strong> Tagebücher angefertigt hat. Da nun die Originale verloren sind, muss ich wohl ...“<br />

„Tut mir leid, Herr Doktor“, fiel ihm Elke ins Wort, „aber die Kopien existieren lei<strong>der</strong><br />

auch nicht mehr. Ich habe sie aus Versehen weggeworfen. Mein Mann ist ganz aufgelöst deswegen.“<br />

„O, das ist ja schrecklich!!“ Dr. Brenner war entsetzt, versuchte jedoch, sich nichts anmerken<br />

zu lassen.<br />

„Ja, lei<strong>der</strong>, Herr Doktor. Meinem Mann geht das sehr nach.“<br />

„Kann ich ihn sprechen?“<br />

„Er hat sich ein wenig hingelegt. Ich möchte ihn jetzt nur sehr ungern aufwecken.“<br />

„Wecken Sie ihn nicht auf, Frau Markert. Ich kann mir gut vorstellen, wie ihm zu Mute<br />

ist. Es ist wirklich sehr schade, dass uns jetzt die Quelle vollständig abhanden gekommen ist.<br />

Aber was soll man in dieser Situation machen?“<br />

„Nichts, Herr Doktor! Nichts außer hoffen, dass die Originale vielleicht doch wie<strong>der</strong> auftauchen.“<br />

„Sie sagen es, Frau Markert! Sie sagen es!“. Dr. Brenner hatte sich wie<strong>der</strong> gefasst. „Also<br />

hoffen wir. Es hofft <strong>der</strong> Mensch, solange er lebt.“<br />

Elke lächelte. „Da haben Sie recht, Herr Dr. Brenner.“<br />

„Ich melde mich wie<strong>der</strong>. Vielleicht kann ja die Polizei weiterhelfen. Auf wie<strong>der</strong>hören,<br />

Frau Markert!“<br />

„Trotzdem vielen Dank für Ihren Anruf. Auf wie<strong>der</strong>hören, Herr Dr. Brenner!“ Elke legte<br />

auf und horchte zu Heinz’ Arbeitszimmer hinüber, ob sich etwas regte. Aber alles blieb ruhig.<br />

Ihr Mann war eingeschlafen.<br />

Ein eigenartig beklemmendes Gefühl beschlich Elke. Sie machte sich wie<strong>der</strong> Vorwürfe,<br />

doch nicht nochmal Heinz gefragt zu haben, was mit den beiden Ordnern hätte geschehen sollen,<br />

die auf dem Papierkorb lagen. Sie atmete tief durch, wobei sich ein kaum hörbarer Seufzer<br />

von ihr löste. Dann ging sie zurück in die Küche, um weiter aufzuräumen. Ihr war jetzt<br />

wichtig, nicht mehr an das zu denken, was sie im Moment so sehr bedrückte.<br />

242


„Hermes!! Komm’ her!“ Robert Schnei<strong>der</strong> rief seinen Golden Retriever Rüden, doch <strong>der</strong><br />

schien heute seinem Herrchen überhaupt nicht folgen zu wollen. Hatte er die Spur einer Hundedame<br />

gewittert? Hermes blieb kurz stehen und horchte, dann tollte er weiter, sprang über<br />

die tiefen Reifenspuren, die erst ein paar Tage alt sein mochten. Das mit Büschen und Bäumen<br />

bestandene Gelände war für ihn ein idealer Platz, sich endlich einmal so richtig auszutoben.<br />

Hermes hatte tatsächlich eine Spur aufgenommen, doch er konnte nicht so recht einschätzen,<br />

was es wirklich war. Einerseits roch es nach einem Hund, aber dann wie<strong>der</strong> doch<br />

nicht. Es war <strong>der</strong> für ihn bisher unbekannte Geruch, <strong>der</strong> ihn immer weiter ins Gelände lockte.<br />

Ihn störte das permanente Brummen nicht, das von den vielen Fahrzeugen herrührte, die in<br />

einiger Entfernung über die Autobahn rasten. Hin und wie<strong>der</strong> bogen an<strong>der</strong>e Fahrzeuge mit<br />

deutlich niedrigerer Geschwindigkeit in die Autobahnauffahrt ein.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> hatte seinen Wagen etwa einen Kilometer vor <strong>der</strong> Auffahrt am Rande<br />

einer kleinen Forststraße auf einem Wan<strong>der</strong>parkplatz geparkt und war danach mit Hermes<br />

hierher gezogen. Schnell hatten sie die Einfahrt überquert und befanden sich jetzt mitten auf<br />

dem Gelände <strong>der</strong> Autobahnauffahrt. Es war kein idealer Platz, einen Hund laufen zu lassen,<br />

meinte Robert, aber dieser war über die Bundesstraße 14 schnell erreichbar. Und dies war<br />

wichtig für ihn, denn er hatte nur eine knappe Stunde Zeit, sich Hermes’ Auslaufbedürfnis zu<br />

widmen.<br />

„Hermes!! Komm’ sofort her!“, rief Robert Schnei<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> und sah ein hellbraun glänzendes<br />

Fell in einem Gebüsch verschwinden, das vor einer kümmerlichen Kiefer stand, die<br />

nur noch erahnen ließ, dass hier früher dicht bestandener Wald war, bevor die Moloche Stadt<br />

und Industrialisierung sich in ihn hineinfraßen. Erst jenseits <strong>der</strong> breiten sechsspurigen Autobahnschneise<br />

begann er, <strong>der</strong> Rest das Waldes, <strong>der</strong> den sandigen Boden einst fast vollständig<br />

überzogen hatte.<br />

‚Also heute hört er überhaupt nicht auf mich’, dachte Robert Schnei<strong>der</strong> bei sich und überlegte,<br />

ob er Hermes hinterher gehen o<strong>der</strong> lieber auf ihn warten sollte. Hermes würde schon<br />

wie<strong>der</strong> auftauchen, meinte er und ging langsam auf das Gebüsch zu.<br />

‚Er wird schon wie<strong>der</strong> auftauchen’, dachte er wie<strong>der</strong> und sah zum Himmel hinauf. Dunkle<br />

Wolken jagten von Nordwesten her über das Land, angetrieben von einem kräftigen, aber<br />

nicht unangenehm wehenden Wind.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> war ganz in seine Gedanken versunken, als er plötzlich ein Bellen hörte,<br />

welches er seit über einem Jahr nur zu gut kannte. Hermes musste etwas aufgestöbert haben.<br />

Er bellte immer heftig, wenn er etwas entdeckt hatte, und sei es nur eine tote Maus gewesen.<br />

Roberts Blick ging sofort hin zu dem Gebüsch. Doch von Hermes keine Spur. Dann hörte<br />

er wie<strong>der</strong> ein Bellen, das eindeutig aus dem Gebüsch kam. Es musste Hermes sein.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> beschleunigte seinen Schritt und ging in Richtung des Gebüsches, aus<br />

dem jetzt zerrende Geräusche an sein Ohr drangen.<br />

Hermes zog und zerrte. Mit seinem Maul hatte er eine Plastiktasche gepackt, die er<br />

erschnüffelt hatte.. Doch so leicht wie er zunächst dachte, war die Tasche nicht. Es musste<br />

sich etwas Schweres in ihr befinden, das einen für ihn völlig neuartigen Duft verströmte. Es<br />

war <strong>der</strong>selbe, den er schon von weitem gewittert hatte.<br />

Endlich schaffte es Hermes, die Plastiktasche aus dem Gebüsch zu zerren. Sein Herrchen<br />

bemerkte dies sofort. Er hatte das Gebüsch fast erreicht, als er Hermes mit etwas Weißem im<br />

Maul sah, das er heran schleppte. Er war stolz auf seine Beute.<br />

„Was hast du denn da gefunden?“ Robert Schnei<strong>der</strong> war entrüstet. „Wer schmeißt denn<br />

ganze Plastiktaschen mit Abfall ins Gebüsch? Aus, Hermes! Aus!!“<br />

44<br />

243


<strong>Die</strong>smal gehorchte er seinem Herrn und ließ die Plastiktasche sofort los. Robert sah etwas<br />

schwarz Glänzendes in <strong>der</strong> Tasche, etwas, das sofort seine Neugier erweckte. Nach ein paar<br />

Schritten hatte er die Plastiktasche und Hermes erreicht, <strong>der</strong> heftig mit dem Schwanz wedelte.<br />

„Brav, Hermes“, lobte Robert Schnei<strong>der</strong> und streichelte den Kopf des Rüden. „Was ist<br />

denn da drinnen?“ Er sah in die Tasche und traute seinen Augen nicht. Das schwarz Glänzende<br />

entpuppte sich als sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>, die geschlossen, aber etwas durcheinan<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Plastiktasche lagen.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> schüttelte den Kopf. „Wer wirft denn so was weg? Dafür gibt’s doch<br />

Papiertonnen.“ Er nahm die Tasche an sich und beugte sich zu Hermes hinunter, <strong>der</strong> sein<br />

Herrchen freudig ansah „Das werfen wir schön in die Papiertonne, Hermes. Gut, dass du es<br />

gefunden hast.“<br />

Hermes bellte. Es klang, als wollte er sagen: Schau’ doch erst einmal genau nach, was<br />

wirklich in <strong>der</strong> Plastiktasche ist! Er bellte noch zweimal.<br />

„Was willst du, Hermes?“ <strong>Die</strong>se stupste mit seiner Nase die Tasche an, die Robert daraufhin<br />

fallen ließ. Ein Heft purzelte dabei heraus und blieb geöffnet liegen. Erst jetzt bemerkte<br />

er, dass es sich um beschriebene Hefte handelte. Robert wurde nachdenklich, hob das Heft<br />

auf und las die alte Schrift, die zu entziffern ihm etwas Mühe machte.<br />

Sonntag, 2. April 16<br />

Vorgestern ist mein Vater aus dem Lazarett entlassen worden. Er ist nur noch ein Schatten<br />

seiner selbst. Ausgemergelt sieht er aus und fast stumm ist er geworden ...<br />

„Das sind ja Tagebücher!“, murmelte er erstaunt. „<strong>Die</strong> wollte wohl jemand verschwinden<br />

lassen. Na ja, nehmen wir sie einmal mit. Ich kann mir ja immer noch überlegen, was ich mit<br />

denen mache ...“<br />

Hermes schien zufrieden. Er bellte noch einmal. Doch diesmal war es ein ganz an<strong>der</strong>es<br />

Bellen als noch vor wenigen Augenblicken. Er blieb jetzt bei seinem Herrn, <strong>der</strong> sich umdrehte<br />

und von dem Gebüsch wegging, schweigend und nachdenklich, die Plastiktüte in <strong>der</strong> rechten<br />

Hand. Hermes war zufrieden mit sich. Er hatte Beute gemacht, eine ungewöhnliche zugegeben,<br />

aber immerhin eine Beute, mit <strong>der</strong> sein Herrchen hoch zufrieden schien. Robert wun<strong>der</strong>te<br />

sich etwas, weil Hermes ihm die Plastiktüte so einfach überlassen hatte, hatte er doch sonst<br />

seine Beute nicht so einfach hergegeben. Doch diese war für seine Schnauze vielleicht ein<br />

wenig zu schwer.<br />

Wie<strong>der</strong> überquerten sie die Einfahrt zur Autobahn, die Reifenspuren hinter sich lassend,<br />

die genau zu jenem Baum hinführten, an dem vor drei Tagen ein Wagen zerschellt war.<br />

Eine Viertelstunde später erreichten die beiden wie<strong>der</strong> den Wagen auf dem Wan<strong>der</strong>parkplatz.<br />

„Steig’ ein, Hermes!“, for<strong>der</strong>te Robert Schnei<strong>der</strong> seinen Hund auf. Hermes blickte sich<br />

kurz um, bellte einmal und sprang auf die Rückbank. Der Ausflug in die Natur war für ihn<br />

jetzt zu Ende, aber gefahren zu werden, empfand Hermes auch als sehr angenehm, zumal er<br />

hoffte, dass sein Herrchen vielleicht doch noch woan<strong>der</strong>s hinfuhr, wo es spannende Spuren<br />

gab, denen er nachgehen konnte. Fährten zu erschnüffeln, sie zu lesen war für Hermes genau<br />

dasselbe, wie für sein Herrchen die Zeitung.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> wartete eine Lücke in <strong>der</strong> Autoschlange ab und bog links in die Bundesstraße<br />

ab. Er fuhr zurück in die Stadt, wo er noch einen Termin mit einem Kunden hatte.<br />

Viel lieber wäre er jetzt noch mit Hermes durch die Natur gestreift, aber die Zeit drängte ihn.<br />

Nach einigen Kilometern tauchte <strong>der</strong> Wagen wie<strong>der</strong> in das Verkehrsgewühl <strong>der</strong> Großstadt ein.<br />

Ruhig, aber zügig lenkte Robert seinen Wagen durch die Straßen in Richtung seines Hauses<br />

mit dem kleinen Vorgarten, das aussah wie alle dort in <strong>der</strong> stillen Straße, die eine war unter<br />

Hun<strong>der</strong>ten.<br />

244


Immer wie<strong>der</strong> dachte Robert Schnei<strong>der</strong> während <strong>der</strong> Fahrt an den ungewöhnlichen Fund,<br />

<strong>der</strong> neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Wie kam die Plastiktüte in das Gebüsch? Hatte sie<br />

jemand absichtlich dort versteckt? Es musste ein Geheimnis, einen merkwürdigen Zusammenhang<br />

zwischen dem Inhalt und dem Fundort geben. Aber welchen? Immer mehr Fragen<br />

schwirrten durch seinen Kopf. Eine, die dabei immer wie<strong>der</strong> auftauchte, war: Was mache ich<br />

mit den Tagebüchern?<br />

‚Ich bringe es doch nicht übers Herz, die Hefte so einfach in die Papiertonne zu werfen’,<br />

dachte er und bog in die Straße ab, die zu seinem Haus führte. ‚Aber behalten will ich den<br />

Fund auch nicht. Wohin kann ich die Tagebücher geben, damit sie erhalten bleiben?<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> parkte seinen Wagen vor seiner Garage. Er brauchte ihn gleich wie<strong>der</strong>.<br />

Warum sollte er in die Garage fahren?<br />

„Endstation! Alles aussteigen, Hermes!“ Er wartete, aber Hermes machte keine Anstalten,<br />

von <strong>der</strong> Rückbank aufzustehen. „Hermes auf!!“, kommandierte Robert und machte eine<br />

Bewegung, die andeutete, er solle nun endlich aussteigen.<br />

‚Schade!’, dachte Hermes. ‚Mir hat die Fahrt so gut gefallen. Warum soll ich jetzt schon<br />

wie<strong>der</strong> aussteigen?’<br />

„Hermes, komm’ raus!!“ Robert Schnei<strong>der</strong> wurde ungeduldig.<br />

‚Na gut, dann gehe ich eben!’ Hermes gab nach, schließlich war er <strong>der</strong> treue <strong>Die</strong>ner seines<br />

Herrn.<br />

Ganz gemächlich setzte er sich zunächst auf, sprang dann aber mit einem Satz aus den<br />

Wagen und trottete in den Vorgarten, <strong>der</strong> die Garageneinfahrt umgab.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> schlug die rechte hintere und die Fahrertüre zu und wollte schon die<br />

Zentralverriegelung betätigten, als ihm einfiel, dass ja noch die Plastiktasche auf dem Beifahrersitz<br />

lag. Er öffnete also wie<strong>der</strong> die Fahrertüre und beugte sich zum Beifahrersitz hinüber.<br />

Schnell packte Robert die Tasche am Griff, <strong>der</strong> schon etwas ausgefranst war. Und nahm sie in<br />

seine rechte Hand. Eigenartigerweise war sie fast nicht schmutzig. <strong>Die</strong>s fiel ihm erst jetzt auf,<br />

doch er verschwendete keinen Gedanken nach den Gründen darüber, son<strong>der</strong>n beeilte sich, ins<br />

Haus zu kommen, an dessen Eingangstüre Hermes schon schwanzwedelnd freudig auf sein<br />

Frauchen wartete, das die Ankunft <strong>der</strong> Beiden durch eines <strong>der</strong> beiden Wohnzimmerfenster<br />

beobachtet hatte.<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> brauchte die Haustüre nicht aufzuschließen, denn seine Frau war herbeigeeilt<br />

und öffnete sie kurz danach.<br />

„Hallo, ihr Beiden!“, begrüßte sie Robert und Hermes, <strong>der</strong> kurz bellte.<br />

„Grüß dich Gott, Irmgard!“ Robert gab seiner Frau einen Kuss auf die linke Wange. „Du<br />

wirst es nicht glauben, was ich heute gefunden habe.“<br />

„Was denn, Robert?“<br />

<strong>Die</strong>ser hob die Plastiktasche in die Höhe. „In dieser unscheinbaren Tasche befinden sich<br />

...“ Er zögerte. Seine Frau wurde neugierig.<br />

„Was denn, Robert? Etwa Geld?“<br />

„Nein, nein! In dieser Tasche befinden sich Tagebücher.“<br />

„Tagebücher?“ Irmgard machte ein ungläubiges Gesicht. „Hast du Tagebücher gesagt?“<br />

„Ja, genau!“<br />

„Wer lässt denn irgendwo eine Plastiktasche mit Tagebüchern stehen?“<br />

„<strong>Die</strong> Tüte stand nicht irgendwo herum, Irmgard, sie lag hinter einem Gebüsch bei <strong>der</strong><br />

Autobahnzufahrt Behringersdorf.“<br />

„Hast du sie gefunden, Robert?“<br />

„Nein, Hermes war es. Seine Nase hat ihn zu <strong>der</strong> Tasche geführt.“ Robert sah auf seinen<br />

Hund und lachte. Hermes musste gespürt haben, dass von ihm die Rede war, denn er bellte<br />

und wedelte weiter mit seinen Schwanz.<br />

245


„Er wäre ja kein Jagdhund, wenn er nicht jedes Mal irgendeine Beute heim brächte“, ergänzte<br />

Irmgard, beugte sich zu Hermes hinunter und kraulte ihn am Kopf. Hermes bellte wie<strong>der</strong>.<br />

Robert sah seine Frau fragend an. „Und was machen wir mit <strong>der</strong> heutigen Beute von<br />

Hermes?“<br />

„Ich weiß nicht, Robert.“ Irmgard zuckte mit ihren Schultern.<br />

„Also, ich muss jetzt gleich wie<strong>der</strong> weg. Du weißt schon, Irmgard, mein Termin.“<br />

„Na ja, legen wir die Plastiktasche erst einmal auf die Kommode in <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe. Da<br />

sieht sie Hermes und kann sie bewachen.“<br />

„Mach’ das, Irmgard! Ich verschwinde jetzt. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis ich<br />

wie<strong>der</strong> da bin.“ Robert Schnei<strong>der</strong> ergriff seine Aktentasche und verabschiedete sich von seiner<br />

Frau. Zwei Minuten später waren Hermes und Irmgard alleine im Haus. Der Golden<br />

Retriever legte sich tatsächlich vor die Gar<strong>der</strong>obe und betrachtete die Plastiktasche, die sie auf<br />

die Kommode gelegt hatte.<br />

‚Komisch’, dachte Hermes, ‚mein Herrchen und mein Frauchen scheinen sich gar nicht<br />

so über meine Beute zu freuen. Irgendwie wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen.<br />

Sei’s wie’s sei! Mir gefällt <strong>der</strong> Geruch, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Tasche kommt. Es riecht nach Mensch,<br />

aber auch nach etwas an<strong>der</strong>em. Aber nach was? – Ich habe noch nie vorher so etwas gerochen.<br />

Was soll’s! Jetzt bin ich müde und werde ein wenig vor mich hindösen.’<br />

Er legte seinen Kopf auf seine beiden Vor<strong>der</strong>pfoten, blinzelte noch einmal zur Tasche<br />

hinauf und schloss dann seine Augen. Nicht lange danach träumte er, aber nicht von <strong>der</strong> Tasche,<br />

son<strong>der</strong>n von einer toten Wildente, die er stolz seinem Jagdherren brachte und dafür reich<br />

belohnt wurde. Immer wie<strong>der</strong> träumte er davon.<br />

Irmgard hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt und das Telefonbuch vor sich auf den Tisch<br />

gelegt. Sie blätterte in dem dicken Schmöker, suchte die Nummer des Fundbüros, fand sie<br />

aber nicht auf Anhieb.<br />

‚Zu dumm!’, dachte sie und schlug das Telefonbuch wie<strong>der</strong> zu. ‚Wo könnten wir diese<br />

Tagebücher denn dann abgeben?’ Sie stand auf und ging leise in die Gar<strong>der</strong>obe, wo Hermes<br />

schlief. Vorsichtig und jedes Geräusch vermeidend nahm sie die Plastiktasche und ging damit<br />

zurück ins Wohnzimmer. Ihre Neugier hatte sie gepackt, ohne dass es ihr bewusst wurde. Sie<br />

wollte, sie musste diese Tagebücher ansehen, denn sie wollte wissen, was in ihnen stand.<br />

Im Wohnzimmer angekommen, griff sie in die Plastiktasche und nahm eines des sechs<br />

<strong>Wachstuchhefte</strong> heraus. Irmgard stellte die Tasche vorsichtig auf den Boden und legte das<br />

dicke Heft vor sich auf den Tisch, das Telefonbuch achtlos beiseite schiebend. Dann setzte sie<br />

sich wie<strong>der</strong> auf das Sofa und schlug in freudiger Erregung das vor ihr liegende Wachstuchheft<br />

auf ...<br />

‚Hm, schöne Schrift!’, war ihr erster Gedanke. Aber was für eine Schrift? ‚So schön sie<br />

ist, aber ich kann sie nicht lesen.’ Irmgard war enttäuscht. ‚<strong>Die</strong>s muss die alte Deutsche<br />

Schreibschrift sein. Schauen wir doch einmal nach, wann das geschrieben wurde ...’<br />

Sie blätterte ein wenig in dem Heft, bis sie auf den Beginn eines Tagebucheintrags stieß.<br />

12. November 1918, konnte sie gerade noch entziffern. „Mein Gott 1918!“, stieß sie laut hervor.<br />

„Das ist ja schon über achtzig Jahre her. So was kann man doch nicht einfach wegwerfen!<br />

Das hat ja schon fast Altertumswert ...“<br />

Hermes hörte sein Frauchen reden. ‚Mit wem redet sie denn?’, fragte er sich unvermittelt.<br />

Hermes schlug seine Augen auf und hob seinen Kopf. Sein erster Blick ging hinauf zur<br />

Kommode. O Schreck! <strong>Die</strong> Tasche war verschwunden. Hermes sprang hoch, schüttelte sich<br />

und schnüffelte ... Sein Frauchen musste die Tasche weggenommen haben. Er ging ihrer<br />

Fährte nach schnurstracks ins Wohnzimmer.<br />

45<br />

246


Harald Grattler wachte auf und spürte nichts. Überhaupt nichts, nicht seine Beine, nicht<br />

seine Arme. Auch sein Kopf schien nicht mehr vorhanden zu sein. Aber trotzdem war er<br />

noch. Er lebte und war wach. Wie lange hatte er geschlafen? Und wo war er? Er versuchte<br />

seine Arme zu bewegen und spürte die leichte Zudecke. Dann versuchte er es mit seinen Beinen,<br />

aber er fühlte dort nichts. Seine Beine bewegten sich nicht.<br />

‚Du hast zwar überlebt, aber du bist ein Krüppel’, war sein erster Gedanke. Dann schoss<br />

ihm eine Frage durch den Kopf.<br />

„Wo sind die Tagebücher?“ Harald kamen die Worte nur leise über die Lippen. ‚Wenigstens<br />

kannst du reden’, dachte er und versuchte, seinen Kopf zu bewegen, doch es kam nicht<br />

dazu. Ein Gesicht beugte sich über ihn. Es war Annette, die zierliche Krankenschwester.<br />

„Können Sie mich verstehen?“ Sie formulierte die Frage betont langsam.<br />

„Ja, Schwester“, presste Harald Grattler leise hervor. Dann wie<strong>der</strong>holte er die Frage, die<br />

ihn sehr beschäftigte: „Wo sind die Tagebücher?“<br />

„Welche Tagebücher?“<br />

Harald Grattler wollte <strong>der</strong> Krankenschwester erklären, was er meinte, aber er war zu<br />

schwach und fiel wie<strong>der</strong> in einen tiefen Schlaf.<br />

Annette Schwadler maß seinen Blutdruck, fühlte ihm den Puls und war zufrieden. ‚So ein<br />

hübscher junger Mann’, dachte sie dabei. ‚Er wird wohl nie wie<strong>der</strong> richtig laufen können.<br />

Aber wer weiß?’ Vorsichtig schob sie die dünne Zudecke wie<strong>der</strong> nach oben und entfernte sich<br />

leise aus dem Krankenzimmer. Sie wollte gerade nach rechts ins nächste gehen, als Professor<br />

Liechtenfels mit <strong>der</strong> Oberschwester und drei Praktikanten links von ihr um die Ecke des langen<br />

Flurs bog.<br />

‚O weh! Jetzt kommt mir noch die Visite entgegen’, dachte Annette Schwadler und wollte<br />

schnell im nächsten Zimmer verschwinden, doch Prof. Liechtenfels, <strong>der</strong> allen an<strong>der</strong>en<br />

schnell voran schritt, hatte sie fast erreicht.<br />

„Wie geht es denn dem Patienten Grattler, Schwester Annette?“<br />

„Gut, Herr Professor. Sein Zustand ist jetzt schon über einen Tag stabil und <strong>der</strong> Blutdruck<br />

hat sich normalisiert.“<br />

„Das freut mich, Schwester Annette. Das freut mich.“<br />

„Mich auch, Herr Professor.“<br />

„War <strong>der</strong> Patient schon ansprechbar?“ Prof. Liechtenfels blickte Annette Schwadler<br />

freundlich fragend an.<br />

„Nur ganz kurz, Herr Professor.“<br />

„Sie haben ihm aber noch nicht gesagt, dass sein Freund ...“ Prof. Liechtenfels hielt inne<br />

und wandte sich <strong>der</strong> Oberschwester zu. <strong>Die</strong>se wusste nicht, ob sie antworten sollte o<strong>der</strong> ob die<br />

Frage an Annette gerichtet war.<br />

„Nein, nein, Herr Professor“, begann diese. „Dafür war bis jetzt noch keine Zeit. Aber er<br />

fragte nach irgendwelchen Tagebüchern.“<br />

„Tagebüchern?“ Prof. Liechtenfels schaute fragend in die Runde. <strong>Die</strong> Oberschwester und<br />

die drei Praktikanten sahen sich achselzuckend an.<br />

„Ja, Tagebücher“, bestätigte Annette. „Ich weiß auch nichts damit anzufangen.“<br />

„Ich vermute, diese etwas verwirrende Frage des Patienten Grattler ist eine Reaktion auf<br />

die Schmerzmittel in den Infusionen, die wir ihm bisher geben mussten. Was meinen Sie,<br />

Herr Kollege?“ Dabei wandte er sich einem <strong>der</strong> Praktikanten zu. <strong>Die</strong>ser stammelte einige<br />

Worte, die selbst sein Nachbar nicht verstehen konnte, und blickte betreten auf den Boden.<br />

„Nun denn, fahren wir fort!“ Prof. Liechtenfels sah die Oberschwester an. „Welche Patienten<br />

haben wir jetzt?“<br />

247


<strong>Die</strong> Oberschwester sah in ihre Liste. „Herr Strauß und Herr Stöhr auf Zimmer 311, Herr<br />

Professor.“ <strong>Die</strong> Visite setzte sich wie<strong>der</strong> in Bewegung und strebte <strong>der</strong> nächsten Türe zu. Kurz<br />

danach waren alle fünf im Krankenzimmer verschwunden.<br />

Annette Schwadler ging den Flur zurück zum Schwesternzimmer. Es war dort wie immer<br />

viel zu tun. Als sie dort ankam, fiel ihr ein, dass sie eigentlich in das Zimmer gehen wollte,<br />

welches demjenigen benachbart war, in dem dieser junge Mann lag, dem sie gerade dem Puls<br />

gefühlt hatte. Also eilte Annette wie<strong>der</strong> aus dem Schwesternzimmer hinaus auf den Flur, <strong>der</strong><br />

zur Station führte. Sie lief ihn entlang und verschwand nach wenigen Augenblicken in das<br />

Zimmer, in das sie gehen wollte. ‚Was du nicht im Kopfe hast’, dachte Annette, ‚das musst du<br />

eben in den Beinen haben.’<br />

Nach zwei Stunden kam Robert Schnei<strong>der</strong> von seinen Kundenbesuch in sein Haus zurück.<br />

Hermes war aufgesprungen und begrüßte ihn schwanzwedelnd.<br />

„Na, du alter Gauner! Was hast du denn wie<strong>der</strong> alles angestellt, während ich weg war?<br />

Hermes schien die Frage zu verstehen. Er bellte einmal, als wollte er sagen: Nein, ich war<br />

ganz artig, aber Frauchen hat die Tasche an sich genommen.<br />

Auch Robert bemerkte, dass die Plastiktasche nicht mehr auf <strong>der</strong> kleinen Kommode lag.<br />

„Hast Du die Plastiktasche weg?“, rief er in den Flur <strong>der</strong> vom Eingang in Richtung Küche<br />

führte.<br />

„Ja, Robert“, rief Irmgard zurück und eilte aus dem Wohnzimmer, um ihren Mann zu begrüßen.<br />

„Ich muss Dir etwas gestehen, Robert.“<br />

„So, so! Was denn?“ Robert lächelte seine Frau erwartungsvoll an. Er nahm diese Ankündigung<br />

offenbar nicht ganz ernst.<br />

„Ich habe versucht, in den Tagebüchern zu lesen.“ Irmgard blickte etwas betreten auf den<br />

Boden.<br />

„Nur versucht?“<br />

„Ja, lei<strong>der</strong>! Ich konnte die Schrift nicht lesen.“<br />

Robert Schnei<strong>der</strong> schüttelte seinen Kopf. „Ist denn die Schrift so schlecht?“<br />

Irmgard antwortete nicht, son<strong>der</strong>n drehte sich um und ging schnell zurück ins Wohnzimmer,<br />

wo noch immer das Heft auf dem Tisch lag, das sie willkürlich aus <strong>der</strong> Plastiktasche gezogen<br />

hatte. Sie nahm es, aufgeschlagen wie es war, um es ihren Mann zu zeigen.<br />

„<strong>Die</strong> Schrift ist fast gestochen, aber ich kann sie an sich nur äußerst mühsam entziffern“,<br />

erklärte sie und hielt das Wachstuchheft Roland vor die Nase, als sie aus dem Wohnzimmer<br />

zurück kam.<br />

Robert warf einen kurzen Blick auf das Heft und die Schrift. „Ich kann die alte Deutsche<br />

Schrift auch nur sehr schlecht lesen, Irmgard. Es scheint fast wie das Schicksal unserer Generation,<br />

die alten handschriftlichen Schätze nicht mehr lesen zu können.“<br />

„Es ist schon ein ganz eigenartiges Gefühl, einerseits wissen zu wollen, was in diesen<br />

Heften steht, es aber an<strong>der</strong>erseits nicht lesen zu können.“ Ihr Gesicht drückte genau die Enttäuschung<br />

über sich selbst aus, die sie zum ersten Mal erfahren hatte, als sie das Tagebuch<br />

lesen wollte.<br />

„Ich kann Dich sehr gut verstehen, Irmgard. Der Mensch ist nun einmal ein neugieriges<br />

Wesen.“ Robert Schnei<strong>der</strong> nickte beiläufig mit dem Kopf. „Er will immer wissen, was darinnen<br />

o<strong>der</strong> dahinter ist.“<br />

„Das mag ja richtig sein, was Du da sagst, Robert“, entgegnete Irmgard, „aber das erklärt<br />

noch immer nicht, was mit den <strong>Wachstuchhefte</strong>n geschehen soll.“<br />

Robert kratzte sich am Kinn und überlegte, doch ihm fiel keine Antwort ein. Er erinnerte<br />

sich aber plötzlich an frühere Zeiten, in denen er öfters viel schwerwiegen<strong>der</strong>e Probleme gewälzt<br />

hatte, zu <strong>der</strong>en Lösung Tage und Wochen vergingen, er also öfters darüber schlafen<br />

musste.<br />

248


„Ich schlage vor, wir schlafen mindestens einmal darüber“, sagte er schließlich nachdenklich.<br />

„Vielleicht fällt uns beiden Hübschen noch ein, wohin wir die Tagebücher geben könnten.“<br />

Irmgard schmunzelte, denn sie hatte eine ähnliche Antwort schon erwartet, sonst sollte<br />

sie ihren Mann nach dreißig Jahren wohl schlecht kennen. „Schlafen wir mindestens noch ein<br />

o<strong>der</strong> zweimal darüber. Aber ins Bett gehe ich jetzt noch nicht.“<br />

„Nein, Irmgard, dafür ist es noch zu früh am Abend. Und zuvor hätte ich gerne noch eine<br />

Kleinigkeit gegessen, denn schon vorhin hat mein Magen deutlich hörbar auf sich aufmerksam<br />

gemacht.“<br />

„Da stimme ich Dir sofort zu, Robert“, entgegnete Irmgard und lächelte. „Essen hält eben<br />

Leib und Seele zusammen.“<br />

Robert nickte schmunzelnd und stellte seine Aktentasche auf die Kommode in <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe.<br />

„Und die Tagebücher legen wir auch wie<strong>der</strong> hierhin“, rief er in die Küche, in die seine<br />

Frau verschwunden war.<br />

„Damit sie Hermes bewachen kann“, rief sie zurück. <strong>Die</strong>s musste Hermes als Auffor<strong>der</strong>ung<br />

verstanden haben, denn er eilte in die Gar<strong>der</strong>obe, legte sich zu Füssen <strong>der</strong> Aktentasche<br />

und wich nicht von <strong>der</strong> Stelle, bis Robert seine heutige Beute auf ihren schon fast angestammten<br />

Platz gelegt hatte. Dann bellte er zweimal kurz und bewachte den ganzen Abend jene von<br />

ihm erwitterte Plastiktasche, die jetzt zumindest nicht mehr dem Wetter ausgesetzt war. Doch<br />

am späten Abend, so gegen halb elf Uhr, spürte er ein Bedürfnis, sich erleichtern zu müssen,<br />

sprang von seinem Platz in <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe auf und lief schnell ins Wohnzimmer.<br />

Robert hatte es sich mit seiner Frau auf dem Sofa bequem gemacht und unterhielt sich<br />

mit ihr bei einem Glas Wein. Aus dem Radio ertönte gerade <strong>der</strong> Schlusschor aus Beethovens<br />

neunter Sinfonie ...<br />

Hermes bellte zweimal. Irmgard und Robert schreckten hoch.<br />

„Ach herrje!“, stieß Irmgard hervor. „Dich habe ich ja ganz vergessen, Hermes! Ich ziehe<br />

mir schnell etwas an und gehe mit Hermes noch einmal nach außen, Robert.“<br />

„Ist schon gut, Irmgard.“ Robert Schnei<strong>der</strong> merkte, dass er langsam müde wurde.<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> ging zur Gar<strong>der</strong>obe, zog sich Schuhe und eine Jacke an. „Ja, ja, Hermes!<br />

Wir sind schon unterwegs“, sagte sie zu ihm und strich über sein glänzendes Fell. Hermes<br />

war zufrieden, denn sein Frauchen hatte ihn verstanden.<br />

Zwei Minuten später eilte er an Irmgard im Vorgarten vorbei, wartete kurz vor <strong>der</strong> kleinen<br />

Türe, bis sie geöffnet wurde und war sofort in <strong>der</strong> Dunkelheit verschwunden. Er kannte<br />

seinen Lieblingsbaum, den er jetzt schleunigst aufsuchte. Irmgard folgte ihm langsam.<br />

„Guten Abend, Frau Schnei<strong>der</strong>!“ Roman Müller war aus seinem Wagen ausgestiegen und<br />

ging zum Garagentor, um es zu öffnen.<br />

„Guten Abend, Herr Müller! Na, so spät erst vom <strong>Die</strong>nst zurück?“ Irmgard blieb in <strong>der</strong><br />

Garageneinfahrt stehen.<br />

„Ja, lei<strong>der</strong>!“, gab Roman Müller bedauernd zu. „Zurzeit kann ich von einer geregelten<br />

Arbeitszeit nur träumen. Es gibt viel zu viel zu tun.“<br />

„Ja, mein Mann ist auch viel unterwegs“, entgegnete Irmgard Schnei<strong>der</strong>. „Er ist auch erst<br />

nach sieben Uhr heim gekommen.“<br />

„Um sieben heim zu kommen wäre nur allzu schön!“ Kommissar Müller öffnete sein Garagentor<br />

und ging zurück zu seinen Wagen, <strong>der</strong> mit laufenden Motor davor stand.<br />

„Darf ich Sie etwas fragen, Herr Müller?“, rief Irmgard ihrem Nachbarn hinterher, <strong>der</strong><br />

gerade in seinen Wagen steigen wollte. Ihr waren plötzlich die Tagebücher eingefallen.<br />

„Sofort, Frau Schnei<strong>der</strong>. Ich fahre nur schnell den Wagen in die Garage.“<br />

„Ist gut.“ Irmgard ging einen Schritt vor und blieb dann stehen.<br />

Kommissar Müller fuhr seinen Wagen in seine Garage. ‚Ich bin mal gespannt, was mich<br />

die Frau Nachbarin so spät noch fragen will’, dachte er, als er ausstieg. Eilig schloss er das<br />

249


Garagentor wie<strong>der</strong> und ging zu dem niedrigen Einfahrtstor, um es ebenfalls zu abzuschließen.<br />

Danach ging er auf Irmgard Schnei<strong>der</strong> zu<br />

„Darf ich Sie so spät noch kurz etwas fragen?“, wie<strong>der</strong>holte diese.<br />

„Fragen Sie, fragen sie!“, ermunterte Roman Müller seine Nachbarin.<br />

Gibt es hier in Nürnberg eigentlich so etwas wie ein Fundbüro?“<br />

„Sicher, Frau Schnei<strong>der</strong>!“ Kommissar Müller überlegte kurz. „Sie müssen nur unter den<br />

städtischen Einrichtungen im Telefonbuch nachsehen. Haben Sie etwas verloren?“<br />

„Nein, mein Mann hätte etwas abzugeben.“ Irmgard sah ihren Nachbarn gespannt an.<br />

<strong>Die</strong>ser antwortete wi<strong>der</strong> erwarten nichts. Man merkte ihm an, dass er müde war.<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> zögerte. Sollte sie jetzt ihren Nachbarn wirklich noch mit ihren neuesten<br />

Problem behelligen? Schließlich rang sie sich doch durch, ihren Nachbarn eine weitere<br />

Frage zu stellen. „Kann man Fundstücke auch bei <strong>der</strong> Polizei, also auch bei Ihnen abgeben?“<br />

„Bei mir direkt nicht, aber es gibt eine Stelle, die auch gefundene Sachen sammelt.“<br />

„Und die wäre?“<br />

„Unsere Asservatenkammer.“ Kommissar Müller sah seine Nachbarin fast flehendlich an,<br />

sie solle ihn doch keine weitere Fragen stellen. Irmgard bemerkte dies trotz <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

sofort, sie spürte seinen müden Blick.<br />

„Also dann: Gute Nacht, Herr Müller!“<br />

Roman Müller gähnte. „Gute Nacht, Frau Schnei<strong>der</strong>!“ Dann drehte er sich um und strebte<br />

<strong>der</strong> Türe seines Hauses zu.<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> überlegte kurz, dann rief sie ihren Hund: „Hermes! Komm’!“ Es bewegte<br />

sich eine Weile nichts. Dann aber tauchte Hermes aus dem Dunkel des Gehweges auf,<br />

<strong>der</strong> schlecht beleuchtet war. „Na, Hermes! Hast du alles zu deiner Zufriedenheit erledigt?“<br />

Hermes wedelte mit seinen Schwanz und lief um sein Frauchen herum. Wollte er sie damit<br />

aufmuntern, mir ihm noch einen Spaziergang zu unternehmen? Irmgard verstand die Geste.<br />

„Also gut, Hermes! Du hast mich überzeugt. Gehen wir noch ein Stückchen.“ Sie schlug<br />

den Kragen ihrer Jacke hoch, wandte sich in die Richtung, aus <strong>der</strong> Hermes gekommen war,<br />

und ging zügig los. Hermes folgte ihr auf dem Fuß. ‚Habe ich sie doch noch überzeugen können,<br />

dass ich noch ein wenig Auslauf brauche’, dachte er und hob seine Nase. Er hatte den<br />

unwi<strong>der</strong>stehlichen Duft einer Hundedame wahrgenommen. Und dieser Fährte musste er unbedingt<br />

folgen.<br />

Es war schon halb zwölf Uhr vorbei, als Irmgard Schnei<strong>der</strong> und Hermes wie<strong>der</strong> nach<br />

Hause kamen. Robert Schnei<strong>der</strong> saß noch immer im Wohnzimmer. Er stand auf, als es an <strong>der</strong><br />

Haustüre sperrte.<br />

„Wir sind wie<strong>der</strong> da“, rief Irmgard in den Flur.<br />

„Alles erledigt?“ Robert ging zur Wohnzimmertür. Hermes lief ihm mit wedelnden<br />

Schwanz entgegen. Er schien die Frage verstanden zu haben und strich seinem Herrn um die<br />

Beine. „Das wir dich fast vergessen haben ...“, sagte Robert fast entschuldigend und streichelte<br />

Hermes kurz am Kopf. <strong>Die</strong>ser lief gleich darauf zurück zur Gar<strong>der</strong>obe, wo Irmgard gerade<br />

ihre Jacke auf einen Klei<strong>der</strong>bügel gehängt hatte.<br />

Auch Irmgard kraulte Hermes am Kopf. „Ja, ja, Hermes! Deine Tasche steht schon noch<br />

da, wo sie vorhin stand.“ Hermes schnüffelte an dem Plastik. Sein Frauchen stand nachdenklich<br />

dabei. ‚Komisch!’, dachte sie. ‚Kommissar Müller hat vorhin überhaupt nicht gefragt,<br />

was wir gefunden haben. Er muss sehr müde gewesen sein, sonst ist er doch viel neugieriger.<br />

Na ja, das bringt wohl <strong>der</strong> Beruf so mit sich.’ Dann ging sie ins Wohnzimmer. Hermes folgte<br />

ihr.<br />

Kurz vor acht Uhr am nächsten Morgen verließen Hermes und Irmgard Schnei<strong>der</strong> das<br />

Haus. Es war Zeit für den notwendigen Morgenspaziergang. Gerade als sie an Roman Müllers<br />

Haus vorbei gehen wollten, erschien dieser in <strong>der</strong> Tür. Irmgard hörte ihn noch einen Abschiedsgruß<br />

sagen, dann sah er seine Nachbarin.<br />

250


„Guten Morgen, Frau Schnei<strong>der</strong>!“, rief er Irmgard zu.<br />

„Guten Morgen, Herr Müller! Wie geht’s?“<br />

„Gut wie fast immer.“ Roman Müller blieb plötzlich nachdenklich stehen. „Sagten Sie<br />

mir nicht gestern Abend, sie hätten etwas gefunden?“<br />

„Hermes hat gestern etwas aufgestöbert.“<br />

Jetzt brach Roman Müllers berufsbedingte Neugier durch. „Was denn, wenn ich fragen<br />

darf?“<br />

„Sie werden es kaum glauben, Herr Müller, aber Hermes hat gestern eine Plastiktasche<br />

mit sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>n in einem Gebüsch nahe <strong>der</strong> Würzburger Autobahn aufgestöbert.“<br />

Kommissar Müller fasste sich nachdenklich ans Kinn. „<strong>Wachstuchhefte</strong>, sagten Sie?“<br />

„Ja, richtig! Sechs alte <strong>Wachstuchhefte</strong>.“<br />

„Eigenartig“, murmelte Roman Müller. Sein Gehirn begann zu kombinieren.<br />

„Was haben Sie gesagt?“ Irmgard hatte Kommissar Müller gerade nicht verstanden und<br />

war jetzt neugierig darauf, was ihr Nachbar gesagt hatte.<br />

„Eigenartig“, wie<strong>der</strong>holte dieser, wandte sich seiner Nachbarin zu und sah sie nachdenklich<br />

an. „Irgendwie, meine ich, könnte das wichtig sein. Welcher Fall war denn das?“<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> sah eine ungeahnte Möglichkeit, den gestrigen Fund wie<strong>der</strong> los zu<br />

werden. „Wollen Sie die Hefte gleich mitnehmen, Herr Müller?“<br />

Kommissar Müller schüttelte bedächtig seinen Kopf. „Lassen Sie mal, Frau Schnei<strong>der</strong>!“,<br />

sagte er und kramte einen Schlüssel aus seiner linken Hosentasche. „Ich muss erst mal ins<br />

Büro. Ich bringe das im Moment nicht zusammen. Vielleicht rufe ich Sie an, Frau Schnei<strong>der</strong>.<br />

Sind Sie heute Vormittag zu Hause?“<br />

„Ich muss nur kurz zum Einkaufen weg.“<br />

„Gut, gut. Ich fahre jetzt.“ Kommissar Müller war geistig abwesend. In seinem Kopf war<br />

etwas angestoßen worden, das jetzt zu brodeln begann und in ihm arbeitete.<br />

Etwa zur selben Zeit, als Irmgard Schnei<strong>der</strong> mit Hermes wie<strong>der</strong> in ihr Haus zurück kamen,<br />

wachte Heike Markert auf und sah auf ihren Radiowecker. <strong>Die</strong> Uhr zeigte: 8:12. Sie räkelte<br />

sich im Bett und überlegte ... Nein, es waren noch Semesterferien und sie konnte liegen<br />

bleiben. Doch irgendeine innere Unruhe ließ sie nicht mehr schlafen. Heike wälzte sich hin<br />

und her. ‚Was macht mich heute nur so nervös?’, fragte sie sich und sah wie<strong>der</strong> auf den Radiowecker.<br />

Seit ihrem letzten Blick darauf waren nur fünf Minuten vergangen. Heike beugte<br />

sich zu dem Gerät hinüber und schaltete das Radio ein. Dann legte sie sich auf den Rücken<br />

und schloss wie<strong>der</strong> ihre Augen. <strong>Die</strong> Musik beruhigte sie ungemein. Es dauerte nicht lange,<br />

dann schlummerte sie wie<strong>der</strong> ein. Ihre plötzlich aufkommende Unruhe schien ebenso plötzlich<br />

wie<strong>der</strong> verschwunden zu sein. Heike träumte ...<br />

... und sah eine junge Frau vor sich, die in einer fast altertümlich anmutenden Küche saß.<br />

Auf dem Tisch vor ihr lag etwas schwarz Glänzendes, ein dickes Heft. Rechts daneben lag ein<br />

Füllfe<strong>der</strong>halter, dessen Kappe auf die rechte obere Ecke des Heftes zeigte. <strong>Die</strong> junge Frau sah<br />

auf das Heft, nachdenklich ihren Kopf auf beide Hände gestützt. Plötzlich schlug sie das<br />

schwarz glänzende Heft auf, nahm den Füllfe<strong>der</strong>halter, schraubte schnell die Kappe ab und<br />

begann ohne weiter nachzudenken zu schreiben ...<br />

‚Mein Gott, das ist ja ein Wachstuchheft’, fuhr es Heike durch den Kopf, als sie wie<strong>der</strong><br />

erwachte. ‚Du hast von deiner Ururgrossmutter geträumt, die in ihr Tagebuch geschrieben hat.<br />

Ach ja, die Tagebücher. Ich muss heute unbedingt noch in <strong>der</strong> Datei lesen, die Wolfgangs<br />

Vater mir geschickt hat. Sollte Wolfgang nicht dabei sein?’<br />

Heike sah wie<strong>der</strong> auf die Uhr ihres Radioweckers: 8:58. ‚Gleich werden die Nachrichten<br />

kommen’, dachte sie. ‚<strong>Die</strong> höre ich mir noch im Bett an, dann steh’ ich auf. Langsam treibt<br />

mich <strong>der</strong> Hunger aus dem Bett. Habe ich überhaupt noch etwas zum Frühstück daheim? –<br />

Ach ja, Knäckebrot ist noch da. Und darauf ...’ Unbewusst brach sie den Gedanken ab. Etwas<br />

251


hatte sie immer im Kühlschrank. Und für genügend Kaffee sorgte schon ihre Mutter, was ihre<br />

nicht gerade üppig ausgestattete Studentenkasse auf Dauer spürbar entlastete.<br />

Heike tat wie gedacht und stand nach den Neun-Uhr-Nachrichten auf. Noch etwas müde<br />

schlürfte sie ins Bad und drehte die Dusche auf.<br />

Das lauwarme Wasser bracht ihren Kreislauf in Schwung. ‚Habe ich eigentlich die Datei<br />

mit den Tagebuchtexten ausgedruckt?’, fragte sie sich unvermittelt, als sie sich nach <strong>der</strong> Dusche<br />

abtrocknete. Woher kam diese Frage plötzlich? Irgendetwas in ihr musste sich anscheinend<br />

ständig mit den Tagebüchern beschäftigen, auch wenn ihre Gedanken ganz woan<strong>der</strong>s<br />

waren. Aber waren sie das wirklich? – Wie<strong>der</strong> schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf.<br />

Heike zog sich an und setzte vier Tassen Kaffee auf. ‚<strong>Die</strong> werde ich wohl brauchen, wenn<br />

ich mir heute die Texte aus den Tagebüchern von Elfriede Seiffert vornehme. Ich will wissen,<br />

wie es weiter ging mit ihr.’ Am liebsten hätte sie gleich damit angefangen, aber zunächst erbat<br />

sich ihr Magen, arbeiten zu dürfen.<br />

Sie ging in die Kochnische und suchte in dem kleinen Hängeschränkchen, in dem sie all<br />

das aufbewahrte, was vor Feuchtigkeit geschützt werden musste. Heike holte ein Paket mit<br />

Knäckebrot hervor, ging danach an den Kühlschrank und sah nach einem geeigneten Aufstrich<br />

für das flache, trockene Gebäck. Nach einigen Suchen fand sie einen Rest feine Mettwurst.<br />

‚Na, wenn nichts an<strong>der</strong>es da ist, dann esse ich auch Wurst zum Frühstück, obwohl ich<br />

ja am Morgen kein Wurstfan bin’, dachte sie und holte die rosafarbene Wurst im Kunstdarm<br />

aus dem Kühlschrank.<br />

Sie stellte ihr Frühstück auf den kleinen Tisch in <strong>der</strong> Kochnische und sah nach <strong>der</strong> Kaffeemaschine.<br />

Es dauerte noch ein wenig bis alles Wasser durchgelaufen war. Unterdessen<br />

bestrich Heike zwei Knäckebrotscheiben mit dem Rest <strong>der</strong> feinen Mettwurst. ‚So, die kann<br />

nicht mehr schlecht werden’, dachte sie und stand wie<strong>der</strong> auf, um sich Kaffee einzuschenken.<br />

Eine innere Unruhe ergriff sie. Hastig aß sie ihr Frühstück und ebenso hastig trank sie ihre<br />

erste Tasse Kaffee. Es drängte sie an den Rechner, sie wollte endlich weiter lesen im Leben<br />

<strong>der</strong> Elfriede.<br />

Heike stellte das Frühstücksgeschirr in die Spüle und ging ins Bad, um sich die Hände zu<br />

waschen, die etwas fettig geworden waren.<br />

‚So, jetzt ist es endlich soweit’, dachte sie, setzte sich an ihren Computer und schaltete<br />

Bildschirm und Rechner ein. Sie konnte es kaum erwarten, bis sich die Maschine selbst hochgefahren<br />

hatte und endlich das Hintergrundbild erschien, auf dem zarte weiße Wolken am<br />

Himmel abgebildet waren. Sie suchte die Datei mit den Tagebuchtexten und öffnete sie. Dann<br />

begann sie zu lesen ...<br />

Freitag, <strong>der</strong> 16. Mai 1913<br />

Morgen ist mein sechzehnter Geburtstag. Vater hat mir erlaubt, dass ich zu meinem Geburtstag<br />

ein paar Freundinnen einladen darf. Ich habe an Hedwig und Elisabeth gedacht, denen<br />

ich sehr nahe stehe. Alle an<strong>der</strong>en kann ich nicht ausstehen. Ich habe überhaupt wenig Freundinnen<br />

...<br />

Heike hielt sofort wie<strong>der</strong> inne. ‚Nein’, dachte sie, ‚ich lese nicht von ganz vorne, son<strong>der</strong>n<br />

springe gleich ins Jahr 1920. Dort müsste <strong>der</strong> Schlüssel zu den Zusammenhängen liegen, die<br />

ich noch nicht kenne.’ Sie gab als Suchbegriff „1920“ ein und sprang damit sieben Jahre im<br />

Leben <strong>der</strong> Elfriede Seiffert vor. Dann begann sie wie<strong>der</strong> zu lesen ...<br />

Freitag, 2.1.1920<br />

Ich bin so verliebt in Herrmann. Gestern nach dem Neujahrsfest liebten wir uns. Mein Glück<br />

kann ich nicht beschreiben. Erst mit fast 22 Jahren bin ich zu einer richtigen Frau geworden.<br />

252


Und mein ganzes Leben liegt noch vor mir. Ich kann mein Glück noch gar nicht richtig fassen.<br />

‚Aha! Elfriede Seiffert entdeckt die Liebe.’ Heike las weiter ... Es waren viele Einträge in<br />

diesem Jahr. ‚Elfriede Seiffert war 1920 schon zu einer eifrigen Tagebuchschreiberin geworden.<br />

Sie musste all ihr Glück und Leid ihrem Wachstuchheft anvertrauen. Warum? War es ihr<br />

zur schlichten Gewohnheit geworden?’<br />

Heike musste plötzlich gähnen. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. ‚Komisch’,<br />

dachte sie. ‚Jetzt habe ich knapp eine halbe Stunde am Bildschirm gelesen und schon bin ich<br />

müde. <strong>Die</strong>ses Lesen am Bildschirm ist wirklich sehr anstrengend. Vielleicht sollte ich mir den<br />

Text lieber doch ausdrucken. Wie viele Seiten sind es denn?’ Heike sah auf die untere Leiste<br />

des Schreibprogramms und las „77/96“. ‚Es sind also 96 Seiten, fast hun<strong>der</strong>t, die Wolfgangs<br />

Vater schon eingetippt hat. Nicht gerade wenig. Alle Achtung! Aber ich muss erst einmal<br />

nachsehen, ob ich überhaupt so viel Papier habe ...’<br />

Sie stand schnell auf und suchte in ihrem Studierzimmer nach unbeschriebenen Papier. In<br />

einer Ecke, in die sie lange nicht mehr gesehen hatte, fand sie schließlich welches. Erfreut<br />

darüber fütterte sie ihren Drucker damit. Dann setzte sie sich wie<strong>der</strong> an den Rechner und gab<br />

den Druckbefehl „alles ausdrucken“. Der Drucker begann zu arbeiten, da klingelte es an <strong>der</strong><br />

Appartementtüre.<br />

‚Wer könnte das sein?’, fragte sie sich und stand auf, um an die Türe zu gehen und durch<br />

den Spion zu sehen. Zu ihrer großen Freude erkannte sie das Gesicht vor <strong>der</strong> Türe. Es war<br />

Wolfgang.<br />

Heike öffnete die Türe. „Hallo Wolfgang! Was treibt dich jetzt her? Hatten wir uns verabredet?“<br />

Sie streckte sich ein wenig und gab ihm einen Kuss<br />

„Hallo, Heike! Ich bin einfach so vorbeigekommen. Hoffentlich störe ich Dich nicht.“<br />

„Aber nein, Wolfgang. Ich bin gerade beim Erforschen des Tagebuches.“<br />

„Ach ja, die Tagebücher.“<br />

„Komm’ rein, Wolfgang.“ Heike wandte sich um und ging in den kurzen Flur ihres Appartements.<br />

„Ich habe gerade den Drucker angestoßen und lasse mir den gesamten Text auf<br />

Papier raus. Das Lesen am Bildschirm ist mir zu anstrengend.“<br />

Wolfgang nickte. „Da kann ich Dir nur zustimmen.“ Er zog seine Jacke aus und hängte<br />

sie an die kleine Gar<strong>der</strong>obe, die gerade so in den Flur passte.<br />

Heike ging zum Drucker, <strong>der</strong> noch fleißig arbeitete, obwohl sich schon eine ansehnliche<br />

Menge bedruckter Seiten in dem Auswurfschacht stapelte. „Er arbeitet noch. Es dauert eben<br />

seine Zeit, bis fast hun<strong>der</strong>t Seiten ausgedruckt sind.“<br />

„Fast hun<strong>der</strong>t Seiten hat mein Vater schon eingetippt?“<br />

„Sechsundneunzig Seiten, um genau zu sein“, verbesserte Heike und nahm den Papierstapel<br />

aus dem Druckerauswurf. „<strong>Die</strong> nehme ich lieber gleich weg, bevor es noch zum Papierstau<br />

kommt.“<br />

Wolfgang sah ihr über die Schulter. „Ich kann es gar nicht fassen, dass mein Vater so viele<br />

Seiten in so relativ kurzer Zeit eingetippt hat:“<br />

„Und er ist ja noch lange nicht fertig damit“, fügte Heike hinzu. „Ich glaube er war beim<br />

dritten o<strong>der</strong> vierten Heft.“<br />

„Ja, ja, deine Urgroßmutter war eine fleißige Tagebuchschreiberin ...“<br />

„ ... und hat uns damit viel von ihren Leben mitgeteilt“, unterbrach ihn Heike.<br />

Wolfgang nickte nur. Heike begann die bereits gedruckten Seiten zu ordnen, was ihr nicht<br />

schwer viel, denn sie hatte sich die Seitenzahlen mit ausdrucken lassen.<br />

„Rein äußerlich und oberflächlich betrachtet ist es nur ein Stapel Papier“, sagte sie nachdenklich,<br />

„aber in Wirklichkeit sind es Jahre eines Lebens, die in diesen Texten stecken. Was<br />

da alles dahinter steht!“<br />

253


Unterdessen hatte <strong>der</strong> Drucker seinen großen Auftrag erledigt und nochmal einen etwas<br />

kleineren Packen bedrucktes Papier in den Auswurfschacht beför<strong>der</strong>t. Heike nahm diesen,<br />

stieß die Blätter auf ihrem Schreibtisch so zurecht, dass sie genau aufeinan<strong>der</strong> zu liegen kamen,<br />

und legte den Stoß links neben die Tastatur des Rechners. Dann sah sie wie<strong>der</strong> auf den<br />

Bildschirm, <strong>der</strong> noch immer die Seite zeigte, bei <strong>der</strong> sie zu lesen aufgehört hatte.<br />

„Wo habe ich zu lesen aufgehört? – Ach ja, bei Seite siebenundsiebzig.“ Sie blätterte im<br />

Papierstoß, bis diese Seite erschien und las weiter, ohne sich viel um Wolfgang zu kümmern,<br />

<strong>der</strong> sich an das kleine Esstischchen gesetzt hatte und Heike amüsiert beobachtete.<br />

„Kann ich mir eine Tasse Kaffee einschenken?“, rief er nach einer Weile Heike zu, die<br />

sich ins Lesen vertieft hatte. „Es müsste gerade noch für eine reichen.“<br />

„Ja, ja, tu das, Wolfgang!“, rief Heike gedankenversunken zurück, dann las sie weiter.<br />

Er schenkte sich den Rest aus <strong>der</strong> Kaffeemaschinenkanne in eine Tasse, gab zwei<br />

Süßstofftablettchen dazu und rührte um. ‚Heike ist voll bei <strong>der</strong> Sache. <strong>Die</strong> Tagebücher haben<br />

sie gepackt und lassen sie jetzt nicht mehr los. Sie sucht solange, bis ...’ Er hielt im Gedanken<br />

inne. Was suchte sie überhaupt?<br />

‚Ach ja, Heike sucht einen Hinweis in den Tagebüchern, dass Elfriede Seifert nicht den<br />

Vater ihre Kindes geheiratet hat.’, dachte Wolfgang weiter.<br />

Heike vertiefte sich immer mehr in die Ausdrucke und nahm dabei immer weniger von<br />

ihrer Umgebung war. Sie merkte daher überhaupt nicht, dass Wolfgang hinter sie getreten<br />

war.<br />

„Hast Du schon gefunden, was Du suchst?“<br />

Heike zuckte zusammen. „Du kannst einen aber erschrecken, Wolfgang!“<br />

„Ich wollte Dich aber nicht erschrecken, Heike.“<br />

Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Das hast Du aber, Wolfgang.“<br />

„Entschuldige, Heike. Soll ich wie<strong>der</strong> gehen?“<br />

„Nein, nein, Wolfgang! So war das nicht gemeint.“ Heike atmete tief durch. „Ich kann<br />

und kann einfach keinen Hinweis finden, dass Elfriede sich einem an<strong>der</strong>en zuwendete.“<br />

Wolfgang tat etwas begriffsstutzig. „Was meinst Du mit „einem an<strong>der</strong>en zuwendete“?“<br />

„Jetzt stehst Du aber auf <strong>der</strong> Leitung, Wolfgang.“ Heikes Miene wurde jetzt deutlich ärgerlich.<br />

„Wir waren doch schon so weit, dass sie einen An<strong>der</strong>en geheiratet haben muss.“<br />

„Ach ja, ich erinnere mich! Brigitte kam darauf.“<br />

„Genau! Weißt Du noch? Brigitte hatte mir einen Brief diktiert, den Elfriede mit Wagner<br />

unterschrieb.“<br />

„Also hieß sie später Wagner:“ Wolfgang hob seine Augenbrauen. Schwang da nicht ein<br />

triumphierendes Lächeln mit?<br />

Heike langte sich an die Stirn. „Jetzt war aber ich auf <strong>der</strong> Leitung gestanden.“<br />

Wolfgang schmunzelte. „Du kannst ja gerne chronologisch weiterlesen. Ich würde einmal<br />

nach dem Wort „Wagner“ suchen.“<br />

Heike legte den Papierstapel weg. „Keine schlechte Idee! Suchen wir nach „Wagner“!“<br />

Sie gab den Suchbegriff ein, doch zu ihrem entsetzten Erstaunen fand sich dieser nicht in <strong>der</strong><br />

Datei. <strong>Die</strong> Enttäuschung war bei Heike groß. Tausend Fragen schossen ihr plötzlich durch<br />

den Kopf. Welchen Denkfehler hatte sie begangen? Geistesabwesend drückte sie ein paar<br />

Tasten und steuerte dadurch unbewusst den Cursor an das Ende <strong>der</strong> Datei und las:<br />

Montag, <strong>der</strong> 4. Oktober 1920<br />

Es hat keinen Sinn mehr, länger an Herrmann festzuhalten. Ich werde Friedrich heiraten, mit<br />

dem ich zwar erst ein knappes Vierteljahr zusammen bin, aber er hat gestern um meine Hand<br />

angehalten und ich habe ja gesagt. Wir beide lieben uns sehr und er akzeptiert mich so wie<br />

ich bin, auch das Kind in mir. Friedrich weiß, daß ich nicht von ihm schwanger bin, ...<br />

254


„Ja, hier ist <strong>der</strong> Hinweis!“, schrie sie. Hier, ganz am Ende <strong>der</strong> Datei!“<br />

„Wo?“ Wolfgang war von seinem Platz aufgesprungen und stürzte zu Heike an den<br />

Rechner. „Ja, dies ist <strong>der</strong> Hinweis, dass Elfriede nicht den Vater ihres Kindes geheiratet hat“,<br />

sagte er nachdenklich. „Aber wir wissen jetzt nur, dass ihr späterer Mann Friedrich hieß.“<br />

„Der Text bricht hier ab. Bis hierher scheint dein Vater die Tagebücher abgetippt zu haben.“<br />

Heike war jetzt auch nachdenklich geworden. „Wir müssen uns den weiteren Text ansehen,<br />

aber die Tagebücher sind verschwunden“, fügte sie langsam dazu.<br />

„Aber es gibt doch die Kopien, die Dein Vater vor einiger Zeit gezogen hat.“ Wolfgang<br />

macht Heike wie<strong>der</strong> Mut.<br />

„Also auf! Worauf warten wir noch?“ Heike war aufgesprungen und achtete nicht mehr<br />

auf den Rechner und den Papierstapel, <strong>der</strong> neben dem Bildschirm lag. „Holen wir uns die Kopien!“<br />

„Ruf’ lieber vorher bei Deinen Eltern an!“, wandte Wolfgang ein. „Vielleicht sind sie<br />

jetzt überhaupt nicht daheim.“<br />

„Ach was! <strong>Die</strong> erreichen wir schon.“<br />

„Wie Du meinst, Heike!“ Wolfgang hob fragend seine Augenbrauen. „Aber schalte wenigstens<br />

Deinen Rechner aus.“<br />

„Ach ja, den Rechner hätte ich jetzt fast vergessen.“ Heike, die schon in die Gar<strong>der</strong>obe<br />

gestürmt war und sich ihre Jacke angezogen hatte, kam zurück und sah den Papierstapel mit<br />

den Tagebuchtexten auf dem Boden liegen. ‚Bin ich mit den Knien jetzt an den Tisch gestoßen?<br />

Wie sonst kommt <strong>der</strong> Stapel auf den Boden?’ Während sie dies dachte schaltete sie den<br />

Rechner und den Bildschirm aus.<br />

Wolfgang und Heike fuhren nach Nürnberg. Voller freudiger Erwartung drückte Heike<br />

kurz nach halb zwölf Uhr auf den Klingelknopf ihrer Eltern, einmal – zweimal – dreimal. Der<br />

Öffner für die Haustüre blieb stumm. Enttäuscht sah Heike Wolfgang an. <strong>Die</strong>ser zuckte nur<br />

mit den Achseln und hob seine Augenbrauen.<br />

„Anscheinend sind meine Eltern wohl doch nicht zu Hause“, brummte Heike und erinnerte<br />

sich an Wolfgangs Vorschlag, ihre Eltern zuvor anzurufen, um zu sehen, ob sie daheim wären.<br />

„Ich hätte doch anrufen sollen“, gab sie kleinlaut zu.<br />

Wolfgang wollte Heikes Ärger nicht noch vergrößern und sagte zunächst nichts. Beide<br />

gingen langsam zurück zu Wolfgangs Wagen, mit dem sie hergefahren waren und <strong>der</strong> in einer<br />

Parallelstraße geparkt war. Sie hatten ihn fast erreicht, da hatte Wolfgang einen Einfall. „Vielleicht<br />

sind sie in dieses Café gegangen, in dem sie öfters sind. Wie heißt das Café noch?“<br />

Heike blieb abrupt stehen. „Ja genau, Wolfgang! Dort könnten sie sein. Ich weiß zwar<br />

nicht den Namen des Cafés, aber ich weiß wo es ist. Komm’, lass’ uns schnell dorthin gehen.<br />

Es ist nur ein paar Minuten von hier.“<br />

„Also gut! Gehen wir ins Café.“ Wolfgang hatte sich den Vormittag zwar etwas an<strong>der</strong>s<br />

vorgestellt, doch ein gewisses unangenehmes Gefühl in <strong>der</strong> Magengegend erinnerte ihn daran,<br />

dass sein Frühstück an diesen Morgen nicht gerade üppig ausgefallen war.<br />

Kommissar Müller schwang sich in seinen Wagen und fuhr ins Büro. Er konzentrierte<br />

sich auf den morgendlichen Berufsverkehr. Und während dieser Zeit waren die Gedanken an<br />

seine ungelösten Fälle völlig in den Hintergrund gedrängt. Erst als er die Türe zu seinem Büro<br />

aufschloss, schossen sie ihm wie<strong>der</strong> in den Sinn. ‚Ich muss mir unbedingt gleich die Notizen<br />

ansehen, die ich zu dem Fall Teichmann/Grattler gemacht habe’, dachte er und machte die<br />

Bürotüre leise hinter sich zu.<br />

46<br />

255


Kaum hatte er seine Jacke ausgezogen und seine Tasche auf den Aktenbock hinter sich<br />

gestellt, klingelte das Telefon.<br />

‚Wer ist denn das schon wie<strong>der</strong> in aller Herrgottsfrühe!’ Roman Müller setzte sich an den<br />

Schreibtisch und nahm den Hörer ab.<br />

„Müller!? ... Ach Sie sind’s! ... Ja, wer? ... <strong>Die</strong> Klinik hat angerufen. Warum? ... Haben<br />

Sie die Nebenstellennummer? ... Na, ja, ich werde mich da auch noch durchfragen.“ Kommissar<br />

Müller legte auf und schüttelte den Kopf. ‚Da liegt <strong>der</strong> Kerl gelähmt im Krankenhaus und<br />

kaum ist er über den Berg, schon fragt er nach irgendwelchen ...’ Wie von <strong>der</strong> Tarantel gestochen<br />

fuhr Roman Müller von seinem Stuhl hoch. „Das ist es!“, schrie er. „Das ist <strong>der</strong> Zusammenhang!<br />

Wo habe ich nur die Notizen, die ich mir damals gemacht habe?“<br />

Er begann zu suchen, aber suchte im falschen Stapel, was bei Kommissar Müllers chaotischer<br />

Unordnung gleichbedeutend mit einem an<strong>der</strong>en Fall war. Nachdem er den zweiten Stapel<br />

ergebnislos durchgewühlt hatte, fiel ihm ein, wo er die Unterlagen für den Fall Teichmann/Grattler<br />

hingelegt hatte. Und es dauerte keine zwei Minuten, dann hatte er gefunden,<br />

was er suchte.<br />

‚Ah, da sind ja die Notizen’, dachte er erfreut, nahm den kleinen Stapel und legte ihn vor<br />

sich auf seinen Schreibtisch. ‚Jetzt wird sich die Lösung gleich auftun. Was habe ich da mir<br />

aus dem Notizbuch von diesem Grattler notiert.’ Er durchsuchte den Stapel Papier Blatt für<br />

Blatt. Und auf einem las er:<br />

Elfriede Seiffert<br />

sehr wahrscheinlich Urgroßmutter (geb. Fürth i.B.) lt. Heiratsurkunde<br />

Dr. Brenner hat Tagebücher von Elfriede S. - Woher? Herkunft?<br />

Tagebücher unbedingt besorgen!!! Originale?<br />

„Das ist des Rätsels Lösung“, murmelte er leise, da klopfte es an seiner Bürotüre.<br />

„Herein!“, Kommissar Müllers Stimme klang mürrisch und barsch.<br />

In <strong>der</strong> Türe erschien sein Kollege Kommissar Schuster. „Guten Morgen, Roman! Ich<br />

wollte nur vorbei sehen, weil ich laute Stimmen bei Dir gehört habe.“<br />

„Das nenne ich einen fürsorglichen Kollegen“, entgegnete Roman Müller und grinste.<br />

„<strong>Die</strong> „lauten Stimmen“, das war ich, denn ich habe plötzlich die Lösung eines Falles gefunden.<br />

Ein Stichwort in einem Telefongespräch hat mich darauf gebracht.“<br />

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Daniel Schuster machte eine entschuldigende Geste.<br />

„Nichts für ungut, Roman!“<br />

„Alles klar, Daniel! Ich schreie schon, wenn mir hier einer an den Kragen gehen will.“<br />

Kommissar Müller musste lachen und sein Kollege Schuster auch. Einen Moment später war<br />

er wie<strong>der</strong> verschwunden, die Türe hinter sich fast lautlos schließend. Roman Müller setzte<br />

sich wie<strong>der</strong> an seinen Schreibtisch und lächelte zufrieden. Er überlegte und sofort fiel ihm<br />

wie<strong>der</strong> seine Nachbarin ein. Waren die Tagebücher jetzt gefunden, nach denen Harald<br />

Grattler im Krankenhaus immer wie<strong>der</strong> fragte? Kommissar Müller sah auf die Uhr. Es war<br />

gerade acht Uhr vorbei. ‚Ich werde Frau Schnei<strong>der</strong> erst später anrufen’, dacht er und sah weiter<br />

seine Notizen durch. ‚Sie wird jetzt vielleicht beim Einkaufen sein.’<br />

Seine Gedanken ließen ihn nicht von den Tagebüchern abschweifen, die jetzt bei Schnei<strong>der</strong>s<br />

im Nebenhaus lagen. Kommissar Müller überlegte hin und her. ‚Ach was! Ich probiere es<br />

einfach, bei ihr anzurufen. Vielleicht ist sie ja doch noch zu Hause.’ Er schlug das Telefonbuch<br />

auf, überflog eine lange Liste mit Schnei<strong>der</strong>s und fand endlich die Nummer, die nach<br />

Straße und Hausnummer diejenige seiner Nachbarn sein musste. Bedächtig griff er zum Telefonhörer<br />

und wählte. Er ließ es lange klingeln.<br />

256


Irmgard Schnei<strong>der</strong> und Hermes tollten noch ein wenig im Vorgarten des Hauses herum,<br />

nachdem sie zurück gekommen waren. Plötzlich hörte Irmgard ein gedämpftes Klingeln.<br />

„Komm’ Hermes, gehen wir ins Haus. Ich glaube, das Telefon klingelt.“ Sie schritt zur<br />

Haustüre und sperrte sie auf. Nein, Irmgard hatte sich nicht getäuscht. Das Telefon klingelte<br />

wirklich. Ohne ihre Jacke auszuziehen ging sie eilig in den Raum, <strong>der</strong> an die Gar<strong>der</strong>obe angrenzte<br />

und in dem das Telefon stand.<br />

„Schnei<strong>der</strong>!?“ Irmgard sah auf die Wand gegenüber und wartete. Einen kurzen Moment<br />

hörte sie nichts.<br />

„Guten Morgen, Frau Schnei<strong>der</strong>. Hier spricht Müller, ihr Nachbar. Ich hoffe, ich störe sie<br />

nicht.“<br />

„Aber keineswegs, Herr Müller Ich bin gerade mit Hermes zurück gekommen.“<br />

Kommissar Müller zögerte einen Moment. Er überlegte, wie er fragen sollte. „Ich rufe<br />

wegen Ihres Fundes an, Frau Schnei<strong>der</strong>.“<br />

„Ach ja! Sie meinen Hermes’ Fund.“<br />

„Ja, richtig!“ Kommissar Müller zögerte wie<strong>der</strong>. Er wusste immer noch nicht, wie er fragen<br />

sollte. Irmgard Schnei<strong>der</strong> kam ihm zuvor.<br />

„“Rufen Sie wegen <strong>der</strong> Tagebücher an?“<br />

„Ja, genau!“ Jetzt taute Roman Müller aus seiner geistigen Abwesendheit auf. „Haben Sie<br />

in Ihnen gelesen?“<br />

„Ich wollte lesen, aber ich bin nicht weiter als bis zur Überschrift des ersten Heftes gekommen,<br />

weil ich die Schrift so gut wie nicht lesen kann.“<br />

„Nur eine Frage, Frau Schnei<strong>der</strong>.“ Kommissar Müller spürte wie ihm sein Blut in den<br />

Kopf schoss. „Gehörten die Tagebücher einer gewissen Elfriede Seiffert?“<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> überlegte nicht lange. „Ja genau, Herr Müller! Den Namen habe ich<br />

gerade noch entziffern können.“<br />

„Großartig, Frau Müller – äh Frau Schnei<strong>der</strong> meine ich“ Roman Müller war aus dem<br />

Häuschen. Er hatte richtig kombiniert.<br />

„Sie sind ja ganz nervös, Herr Müller. So kenne ich Sie ja überhaupt nicht.“<br />

„Sagen wir lieber: Ich bin freudig erregt. Und das mit recht. Ihr Hermes hat das fehlende<br />

Glied in einem Fall gefunden.“<br />

„Das freut mich für Sie, Herr Müller ...“ Irmgard Schnei<strong>der</strong> hielt inne. Tausend Gedanken<br />

durchströmten plötzlich ihren Kopf.<br />

„Ich habe eine große Bitte, Frau Schnei<strong>der</strong>.“<br />

Irmgard hatte sich wie<strong>der</strong> gedanklich gefasst. „Und die wäre?“<br />

„Könnten Sie im Laufe des Tages bei mir im Büro vorbeikommen und die Tagebücher<br />

mitbringen?“<br />

„Das ist kein Problem, Herr Müller. Kann ich vorher noch einkaufen?“ Irmgard musste<br />

über die letzte Frage lachen.<br />

„Aber sicher. Mir genügt es, wenn Sie bis zum frühen Nachmittag kommen.“<br />

„Gut, dann kaufe ich jetzt anschließend ein und komme danach vorbei. Aber ich müsste<br />

Hermes mitbringen, denn ich lasse ihn äußerst ungern alleine zu Hause.“<br />

„Das wird schon gehen, Frau Schnei<strong>der</strong>. Hunde sind zwar bei uns nicht gerade erwünscht,<br />

doch ich sage <strong>der</strong> Pforte Bescheid.“<br />

„Gut, bis später!“<br />

„Bis später, Frau Schnei<strong>der</strong>!“ Kommissar Müller legte den Telefonhörer ganz langsam<br />

auf. Auch ihm fuhren jetzt tausend Gedanken durch den Kopf. Er war gespannt auf diese Tagebücher,<br />

las er doch selbst hin und wie<strong>der</strong> in veröffentlichten Diarien bekannter Persönlichkeiten.<br />

Jetzt hatte er einmal die Möglichkeit, im Tagebuch einer Unbekannten zu lesen. Für<br />

seinen Fall war dies nicht so wichtig. Trotzdem wollte er die <strong>Wachstuchhefte</strong> sehen; er wollte<br />

einmal ein Originaltagebuch in seinen Händen halten.<br />

257


Es war etwa zehn nach halb zwölf, als Heike und Wolfgang das Café „Noris“ betraten.<br />

Schon im großen Vorraum, in dem eine riesige Kuchenvitrine stand, sahen sie Heikes Eltern<br />

sitzen, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Eilig gingen sie an <strong>der</strong>en Tisch. Heikes Mutter<br />

sah die Beiden zuerst, da sie mit Blick auf den Eingang des Cafés ihrem Mann gegenüber<br />

saß.<br />

Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Das ist aber eine Überraschung!“ Elke Markert<br />

sprang von ihrem Sitz auf. Heinz sah sie entgeistert an und drehte sich vorsichtig um.<br />

„Das ist ja wirklich eine Überraschung!“, rief Heinz Markert und stand ebenfalls auf.<br />

„Mit uns habt ihr wohl nicht gerechnet.“ Heike lachte und gab ihren Eltern die Hand.<br />

„Aber wir kommen nicht ohne Eigennutz.“<br />

„So, so!“ Heikes Mutter schmunzelte und setzte sich mit einer einladenden Geste wie<strong>der</strong>.<br />

Aber setzt Euch erst einmal!“<br />

Wolfgang Brenner beugte sich vor und gab Elke die Hand. „Grüß Gott, Frau Markert!<br />

Heike hat nicht ganz Unrecht.“ Danach begrüßte er Heikes Vater.<br />

„So, so!“, wie<strong>der</strong>holte Elke Markert. „Na, dann legt mal los! Was habt Ihr auf dem Herzen?“<br />

Heike und Wolfgang legten ihre Jacken an <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe ab und setzten sich an den<br />

rechteckigen Tisch, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Wand des Cafés stand und an den gerade noch zwei Personen<br />

Platz nehmen konnten.<br />

Wolfgangs Blick wandte sich fragend Heike zu, die sich neben ihre Mutter gesetzt hatte.<br />

<strong>Die</strong>se begann auch zu erzählen.<br />

„Wir haben uns die Datei von Wolfgangs Vater mit den Tagebuchtexten ein wenig genauer<br />

angesehen und sind bis zum Ende vorgestoßen. Und jetzt ...“ Heike zögerte.<br />

„... möchten wir weiter lesen“, ergänzte Wolfgang.<br />

Elkes Miene verdunkelte sich ein wenig. Verlegen sah sie auf ihre Kaffeetasse, die leer<br />

vor ihr stand. Sie schwieg. Heike sah zu ihrer Mutter und erschrak über <strong>der</strong>en Gesichtsausdruck.<br />

„Was hast Du, Mutti? Geht’s Dir nicht gut?“<br />

Elke schüttelte ihren Kopf. „Mir geht’s gut, aber den Tagebüchern ...“<br />

„Ja, ja, das wissen wir ja“, entgegnete Heike. „<strong>Die</strong> Originale sind wahrscheinlich für alle<br />

Zeiten verloren. Aber Vati hat doch die Kopien.“<br />

Jetzt meldete sich Heikes Vater zu Wort „Hatten muss ich lei<strong>der</strong> sagen.“ Seine Stimme<br />

klang schwach.<br />

„Hatten? Wieso?“ Heike und Wolfgang sahen sich entsetzt an.<br />

„Deine Mutter hat die Kopien dem Altpapier übergeben.“ Heinz musste schlucken. „Weil<br />

ich sie auf den Papierkorb gelegt habe.“<br />

„Das kann doch nicht ...“ Heike schüttelte den Kopf<br />

„Doch es ist wahr“, bekräftigte Elke und nickte heftig.<br />

„Das heißt ...“ Heike hielt inne.<br />

„Das heißt, dass die Tagebücher Deiner Urgroßmutter mit großer Wahrscheinlichkeit lei<strong>der</strong><br />

für alle Zeiten unwie<strong>der</strong>bringlich verloren sind, bis auf den Teil, den Wolfgangs Vater<br />

bisher in die Datei getippt hat.“ Heikes Vater senkte seinen Blick.<br />

Heike konnte es nicht fassen. Sie schlug die Hände über ihren Kopf zusammen und begann<br />

zu schluchzen. Ihre Mutter strich ihr tröstend über ihr langes blonde Haar. „Nimm’s<br />

nicht so tragisch, Heike. Vielleicht tauchen die <strong>Wachstuchhefte</strong> ja auch wie<strong>der</strong> auf. Es soll<br />

schon öfters vorgekommen sein, dass urplötzlich scheinbar für immer verlorene Dinge wie<strong>der</strong><br />

aufgetaucht sind.“<br />

„Aber so, wie ich unser Glück kenne“, schluchzte Heike und wischte sich einige Tränen<br />

aus den Augen, „wird das bei uns nicht passieren.“<br />

„Woher willst Du das wissen, Heike?“ Auch Wolfgang, <strong>der</strong> die Hiobsbotschaft gefasst<br />

aufgenommen hatte, versuchte Heike zu trösten. „<strong>Die</strong> Polizei hat doch diesen ... Wie heißt er<br />

258


noch? – Ach ja, diesen Harald Grattler mehr o<strong>der</strong> weniger dingfest gemacht. Soweit ich weiß,<br />

hat er den Unfall überlebt und liegt im Krankenhaus. Ich bin mir sicher, dass sie ihn noch<br />

vernehmen wird, wenn er wie<strong>der</strong> ansprechbar ist. <strong>Die</strong> werden ihn schon fragen, was er mit<br />

den Tagebüchern angestellt und wo er sie möglicherweise versteckt hat.“<br />

„Wolfgang hat ganz Recht“, mischte sich jetzt Heikes Vater ein. „Man darf die Hoffnung<br />

niemals aufgeben.“<br />

Heike wischte sich noch eine Träne aus ihrem linken Auge, dann fasste sie sich wie<strong>der</strong>.<br />

„Ich trauere weniger um die Tagebücher“, begann sie, „son<strong>der</strong>n vielmehr um die jetzt verpfuschte<br />

Möglichkeit, das Leben meiner Urgroßmutter durch ihre eigenen Aufzeichnungen zu<br />

erleuchten. Ausgerechnet in diesen Eintrag bricht <strong>der</strong> Text in <strong>der</strong> Datei ab ...“<br />

„Welchen Eintrag meinst Du, Heike?“ Elke war neugierig geworden. „Das musst Du uns<br />

aber noch ein wenig näher erläutern, Heike.“ Sie merkte nicht, dass die Bedienung an ihren<br />

Tische herangetreten war.<br />

„Das werde ich auch gleich“, entgegnete Heike, „doch zuerst sollten wir uns erst einmal<br />

etwas bestellen. Was trinkst Du, Wolfgang?“<br />

„Also ich hätte jetzt erst einmal so richtig Lust auf einen guten, starken Kaffee.“<br />

„Da können wir Ihnen helfen.“ <strong>Die</strong> Bedienung blickte Wolfgang erwartungsvoll an.<br />

„Darf ich Ihnen ein Kännchen bringen?“<br />

„Bringen Sie mir bitte eines.“ Wolfgang nickte <strong>der</strong> Bedienung zu.<br />

„Und was darf ich Ihnen bringen?“ <strong>Die</strong> Bedienung blickte jetzt Heike fragend an.<br />

„Bringen Sie mir bitte auch ein Kännchen Kaffee und dazu einen Cognac.“<br />

<strong>Die</strong> Bedienung nickte. Wolfgang sah Heike entgeistert an. „Seit wann trinkst Du Cognac?“<br />

„Nur wenn mir danach ist. Und jetzt ist mir danach.“ Heikes Stimme klang in Wolfgangs<br />

Ohren plötzlich ungewohnt kalt, fast herrisch.<br />

Elkes Vater schmunzelte still in sich hinein. ‚Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’,<br />

dachte er bei sich und trank den Rest Kaffee aus seiner Tasse aus.<br />

Wolfgang zuckte mit seinen Schultern. „Es sei Dir gegönnt“, meinte er lakonisch.<br />

<strong>Die</strong> Bedienung wollte sich schon umdrehen, doch Heikes Mutter ließ sie nicht fortgehen.<br />

„Bringen Sie uns noch zwei Tassen Kaffee“, bestellte sie. <strong>Die</strong> Bedienung nickte nur und<br />

nahm gleich die beiden Kännchen mit, die Heikes Eltern getrunken hatten.<br />

Wolfgang ergriff die Karte, die in einer eigens dafür aufgestellten elegant aussehenden<br />

Halterung auf dem Tisch stand. „Also ich brauche jetzt eine Kleinigkeit zu essen. <strong>Die</strong> eine<br />

Scheibe Knäckebrot heute früh kann man nicht gerade als üppiges Frühstück bezeichnen.“<br />

Heike sah ihn an und begann zu lächeln. „Das grenzt ja fast schon an Seelenverwandtschaft.<br />

Auch ich habe heute früh nur Knäckebrot zum Frühstück gegessen.“<br />

Heikes Mutter schüttelte den Kopf. „Hast Du wie<strong>der</strong> nichts für Deine Studentenbude eingekauft?“<br />

Eindringlich sah sie ihre Tochter an.<br />

„Ich gib’s ja zu, Mutti. Ich hab’s gestern vergessen.“ Der Kummer über den Verlust <strong>der</strong><br />

<strong>Wachstuchhefte</strong>, so meinte sie in Heikes Blick zu lesen, schien bei ihrer Tochter vergessen.<br />

Und sie wollte dieses Thema auch jetzt nicht wie<strong>der</strong> aufwärmen. Doch sie täuschte sich dieses<br />

Mal in ihrer Tochter.<br />

Heike atmete tief durch und seufzte. Dann schüttelte sie wie<strong>der</strong> ihren Kopf. „Also, ich<br />

kann’s noch immer nicht ganz richtig fassen. Da rennt Vati zweimal in die Kopierbude und<br />

schleppt sich danach mit Papier ab, locht zig Seiten, heftet sie in einen Ordner und dann ...“<br />

„Willst Du mir jetzt Vorwürfe machen, Heike?“ Elke erschrak über die Heftigkeit, mit<br />

<strong>der</strong> sie diese Frage ausstieß.<br />

„Nein, nein, Mutti“, besänftigte Heike ihre Mutter. „Ich kann diese Verkettung von unglücklichen<br />

Umständen nur noch immer nicht ganz fassen ...“<br />

„Aber sie sind so geschehen“, entgegnete Elke und sah ihren Mann an. „Wir können sie<br />

nicht mehr rückgängig machen. Geschehenes gehört <strong>der</strong> Vergangenheit an. Warum soll man<br />

259


sich darüber grämen? Warten wir doch erst einmal ab, was weiter geschieht, bevor wir alle in<br />

Selbstmitleid zerfließen.“<br />

„Deine Mutter hat nur zu gut recht“, sagte Heinz an seine Tochter gerichtet. „Ich überlege<br />

gerade, wer folgendes gesagt hat: Vorwärts, vorwärts sollst zu schauen ...“<br />

Heikes Vater blickte fragend in die Runde, doch keiner hatte eine Antwort auf seine versteckt<br />

formulierte Frage.<br />

„Du hast uns immer noch nicht erklärt, was es mit diesen Tagebucheintrag auf sich hat, in<br />

dem <strong>der</strong> übertragene Text abbricht.“ Elke Markert sah gespannt auf ihre Tochter. Heike, die<br />

mit gesenkten Kopf dasaß, spürte ihren Blick. Sie hob ihren Kopf und atmete tief.<br />

„Ich glaube“, sagte sie schließlich, „wir sind einem kleinen Geheimnis auf die Spur gekommen.“<br />

„Einem Geheimnis?“ Elkes Neugier war jetzt wie<strong>der</strong> voll entfacht. Auch ihr Mann sah<br />

jetzt Heike gespannt an.<br />

„Ja, einem Geheimnis“, unterstrich Heike. „Elfriede Seiffert hat etwas mit einem Herrmann<br />

gehabt, konnte o<strong>der</strong> wollte aber nicht an diesen festhalten, son<strong>der</strong>n wandte sich nachher<br />

einem gewissen Friedrich zu.“<br />

„Moment mal, Heike!“, unterbrach Elke sie. „Hast Du Friedrich gesagt?“<br />

„Ja, Friedrich.“<br />

„Das ist aber kein Geheimnis! Soweit ich weiß, war <strong>der</strong> Vater von Deiner Großmutter ein<br />

gewisser Friedrich ... - <strong>der</strong> Nachname fällt mir jetzt nicht ein. So steht es wenigstens in <strong>der</strong><br />

Geburtsurkunde <strong>der</strong> Mutter von Oma. Ich habe die Kopie <strong>der</strong> Urkunde vor einigen Jahren<br />

einmal gesehen. Da bin ich mir ganz sicher.“<br />

„Das kann doch stimmen“, warf Heinz ein. „Was ist also Dein großes Geheimnis, Heike?“<br />

„Na, ja, Geheimnis!“, entgegnete Heike. „Aber auf irgendwas scheint <strong>der</strong> letzte bekannte<br />

Eintrag hinzudeuten. Nur ist er eben unvollständig abgetippt, wobei wir wie<strong>der</strong> beim alten<br />

Thema wären.“<br />

„Und über das wollen wir jetzt nicht weiter reden.“ Heinz blickte seine Tochter prüfend<br />

an. „Wir lassen uns doch einen schönen Tag nicht ver<strong>der</strong>ben.“ Damit war für diesen Moment<br />

die Unterhaltung über die Tagebücher abgeschlossen.<br />

Wolfgang Brenner, <strong>der</strong> die Karte noch immer in seinen Händen hielt, hatte aufmerksam<br />

zugehört. Auch er machte sich seine Gedanken, behielt sie aber für sich. Er beobachtete jetzt<br />

lieber Heike und ihre Eltern als sich an <strong>der</strong> Diskussion zu beteiligen. Doch mitten im Zuhören<br />

machte sich wie<strong>der</strong> sein Magen bemerkbar, <strong>der</strong> trotz <strong>der</strong> Gesprächskulisse für alle deutlich<br />

hörbar knurrte.<br />

„War das Dein Magen, <strong>der</strong> eben so komische Geräusche von sich gab?“ Heike musste lachen.<br />

Wolfgang lächelte verlegen. „Ich glaube, ich werde wohl doch nochmal in die Karte<br />

schauen und mir etwas zu essen bestellen.“ Er sah in die Karte.<br />

„Tun Sie das!“, for<strong>der</strong>te ihn Heikes Vater auf. „Ihr beide seid eingeladen, damit die Studentenkasse<br />

nicht zu sehr belastet wird.“<br />

Heike und Wolfgang bedankten sich sogleich bei ihm für die unerwartete Einladung.<br />

Etwa zur selben Zeit, als dies geschah, betrat Irmgard Schnei<strong>der</strong> mit Hermes, eine Plastiktasche<br />

in <strong>der</strong> rechten Hand, durch den Haupteingang das Polizeipräsidium und wandte sich<br />

an den Mann, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Pförtnerloge saß, um sich nach dem Büro von Kommissar Müller zu<br />

erkundigen. <strong>Die</strong>ser sah ihren vierbeinigen Begleiter zunächst etwas mürrisch an, doch seine<br />

Miene erhellte sich gleich danach wie<strong>der</strong>.<br />

„Sie sind die Dame, die Kommissar Müller mir heute Vormittag angekündigt hat?“<br />

„Ja, genau! Schnei<strong>der</strong> ist mein Name.“<br />

260


„Gut, Frau Schnei<strong>der</strong>! Kommissar Müller finden Sie in Zimmernummer 307. Sie können<br />

den Aufzug dort benutzen.<br />

„Vielen Dank!“ Irmgard Schnei<strong>der</strong> wandte sich Hermes zu. „Du musst jetzt ganz artig<br />

sein, Hermes, denn Hunde dürfen normalerweise nicht hier hinein. Aber du darfst es und zwar<br />

mit Son<strong>der</strong>erlaubnis.“<br />

Hermes verstand die ruhigen Worte seines Frauchens und trottete mit ihr gelassen zum<br />

Aufzug. Wenige Minuten später standen die Beiden vor <strong>der</strong> Tür zu Kommissar Müllers Büro.<br />

Frau Schnei<strong>der</strong> klopfte. Ein dumpfes „Herein!“ aus dem Innern des Büros for<strong>der</strong>te sie auf<br />

einzutreten.<br />

„Das ist aber schön, dass Sie so schnell gekommen sind, Frau Schnei<strong>der</strong>“, begrüßte sie<br />

Roman Müller freundlich und bot ihr einen Platz auf dem Besucherstuhl ihm gegenüber an.<br />

Hermes wurde unruhig, als Kommissar Müller die Türe hinter Irmgard Schnei<strong>der</strong> schloss.<br />

<strong>Die</strong>se merkte dies sofort und stellte die Plastiktasche rechts neben sich am Boden ab, um sich<br />

Hermes zuzuwenden. Auf diesen Moment schien dieser wie<strong>der</strong>um nur gewartet zu haben,<br />

rannte zur Plastiktasche und versuchte sie in Richtung Bürotüre zu zerren.<br />

„Du willst deine Beute wohl äußerst ungern hergeben.“ Kommissar Müller amüsierte sich<br />

„Hermes, komm’ sofort zu mir!“, befehligte Irmgard Schnei<strong>der</strong> ihren Hund. Doch Hermes<br />

schien überhaupt nicht folgen zu wollen, son<strong>der</strong>n schleifte die Plastiktasche weiter in<br />

Richtung Türe, wo noch Roman Müller stand.<br />

„Du hast dir mehr als nur einen großen Knochen verdient, Hermes.“ Kommissar Müller<br />

beugte sich hinunter und strich über sein glänzendes Fell. „Lass’ uns doch die Tasche! Du<br />

kannst doch nichts damit anfangen.“<br />

Hermes wedelte einmal heftig mit seinem Schwanz. Er hatte den für ihn noch fremden<br />

Herrn endlich verstanden. Irmgard Schnei<strong>der</strong> stand dabei und schmunzelte. Hermes und Roman<br />

Müller sahen sich in die Augen. Eine neue Freundschaft war geboren.<br />

Hermes ließ die Tasche mit dem für ihn viel zu schweren Inhalt los. Irmgard Schnei<strong>der</strong><br />

hob sie geschwind auf und stellte auf Kommissar Müllers Schreibtisch.<br />

„Hier sind sie“, sagte sie trocken. „Ich bin irgendwie froh, sie wie<strong>der</strong> los zu sein, Herr<br />

Müller, denn we<strong>der</strong> mein Mann, noch ich können diese alte deutsche Schrift lesen.“<br />

Roman Müller war unterdessen zu seinem Schreibtisch gegangen und holte die Tagebücher<br />

aus <strong>der</strong> Tasche. „Ja, ja“, sagte er nachdenklich. „Es gibt immer weniger Leute, die den<br />

guten, alten Sütterlin lesen können.“<br />

„Sütterlin?“ Irmgard Schnei<strong>der</strong> schüttelte ihren Kopf und setzte sich auf den Besucherstuhl,<br />

den ihr Kommissar Müller angeboten hatte. „Was meinen Sie damit?“<br />

Kommissar Müller blätterte in einem <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong>. „Mit Sütterlin meine ich den<br />

Lithographen und Erneuerer <strong>der</strong> deutschen Schreibschrift Ludwig Sütterlin, <strong>der</strong> oftmals als<br />

Synonym für diese herhalten muss, obwohl er auch eine lateinische Schreibschrift entwickelt<br />

hat.“<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> lauschte <strong>der</strong> Erklärung andächtig. „Na, dann habe ich wie<strong>der</strong> etwas<br />

dazu gelernt. Man lernt eben doch nicht aus.“<br />

„Genau so ist es. Mir geht das fast täglich so.“ Kommissar Müller legte das Heft beiseite,<br />

griff das nächste, das er fassen konnte, und schlug die erste Seite auf. „Da haben wir es!“, rief<br />

er aus. Irmgard Schnei<strong>der</strong> zuckte zusammen. „Was meinen Sie damit, Herr Müller?“<br />

„Da haben wir es!“, wie<strong>der</strong>holte Roman Müller. „Hier steht: Tagebuch <strong>der</strong> Elfriede Seiffert,<br />

geboren am 17. Mai 1897, zu Fürth in Bayern.“ Er zeigte Irmgard Schnei<strong>der</strong> die Seite des ersten<br />

Tagebuches. „Das ist das Corpus delicti, weswegen sogar ein Mensch überfallen, chloroformiert<br />

und beraubt worden ist.“<br />

Irmgard Schnei<strong>der</strong> erschrak und schüttelte mit den Kopf. „Ist das wirklich wahr?“<br />

„So wahr ich hier sitze, Frau Schnei<strong>der</strong>. Aber wir haben die Täter. Er liegt im Krankenhaus,<br />

vermutlich querschnittsgelähmt, den an<strong>der</strong>n habe ich zum Haftrichter geschickt, <strong>der</strong> ihn<br />

wohl nicht laufen lässt.“<br />

261


„Was Menschen nicht alles machen.“ Irmgard Schnei<strong>der</strong> schüttelte wie<strong>der</strong> ihren Kopf.<br />

Dann seufzte sie erleichtert auf. „Das Wichtigste für mich ist jetzt erst einmal, diese Tasche<br />

mit Inhalt losgeworden zu sein.“<br />

„Ich danke Ihnen nochmals recht herzlich, Frau Schnei<strong>der</strong>, dass Sie diese <strong>Wachstuchhefte</strong><br />

zu mir gebracht haben.“ Kommissar Müller erhob sich leicht aus seinem Schreibtischstuhl<br />

und gab Irmgard Schnei<strong>der</strong> die Hand. „Sie können absolut sicher sein, dass wir, d. h. die Polizei,<br />

sie dem rechtmäßigen Besitzer wie<strong>der</strong> zurückgeben werden.“<br />

„Aber daran habe ich doch keine einzige Sekunde gezweifelt, Herr Müller.“ Irmgard<br />

Schnei<strong>der</strong> war aufgestanden und verabschiedete sich. „Ich will Sie jetzt nicht mehr länger<br />

aufhalten, Herr Müller.“<br />

„Das tun Sie in keiner Weise, Frau Schnei<strong>der</strong>“, entgegnete Roman Müller. Dabei streifte<br />

sein Blick über die schwarz glänzenden Hefte, die etwas ungeordnet vor ihm auf dem<br />

Schreibtisch lagen. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Schnei<strong>der</strong>. Aber eines<br />

müssen wir jetzt noch tun.“<br />

„Was denn, Her Müller?“<br />

„Wir müssen Hermes noch die Belohnung geben, die er sich redlich verdient hat.“<br />

„Jetzt sagen sie bloß, Sie wollen ihm jetzt einen Knochen mitgeben?“<br />

„Genau.“<br />

„Haben Sie denn welche hier?“<br />

„Hier im Büro natürlich nicht, aber wir haben im Anbau unseren Polizeihundezwinger.<br />

Und wo die sind, gibt’s auch Knochen. Ich muss nur schnell den Kollegen anrufen, dann werden<br />

wir bald nicht nur einen Knochen für Hermes haben.“<br />

Als dieser seinen Namen zum zweiten Mal hörte, sprang er auf, bellte einmal und wedelte<br />

mit seinen Schwanz.<br />

„Ruhig, Hermes!“ Irmgard Schnei<strong>der</strong> wandte sich ihrem Hund zu. „Wir gehen gleich.“<br />

Kommissar Müller griff zum Telefonhörer und bestellte bei seinem Kollegen eine ganze<br />

Tasche voll Knochen. „<strong>Die</strong> Plastiktasche bekommst du wie<strong>der</strong>, Hermes“, sagte zu Hermes<br />

gewandt. „Aber nicht leer.“<br />

Hermes hatte ihn verstanden und setzte sich wie<strong>der</strong> neben den Besucherstuhl. Er brauchte<br />

nicht lange warten, denn Roman Müllers Kollege von Hundezwinger klopfte ein paar Minuten<br />

später an die Tür von Zimmer 307.<br />

Stolz trug Hermes die Tasche mit den Knochen durch den Flur des dritten Obergeschosses<br />

zum Aufzug.<br />

„<strong>Die</strong> nimmt dir jetzt keiner mehr“, sagte Irmgard Müller zu ihm gewandt und lächelte.<br />

„Ich hoffe ja nur, dass du nicht die meisten wie<strong>der</strong> im Garten vergräbst und nicht wie<strong>der</strong>findest.“<br />

Hermes hatte die Tasche fest im Biss, <strong>der</strong>en Inhalt vielversprechend roch. ‚Das war jetzt<br />

aber ein guter Tausch’, dachte er bei sich. ‚Aber die Tasche bleibt solange bei mir, bis ich alle<br />

Knochen vergraben habe. <strong>Die</strong> gebe ich jetzt nicht mehr her.’<br />

Nachdem Irmgard Schnei<strong>der</strong> gegangen war, nahm Roman Müller wie<strong>der</strong> an seinem<br />

Schreibtisch Platz und sah auf die sechs <strong>Wachstuchhefte</strong>, die immer noch ungeordnet vor ihm<br />

lagen. Er schlichtete sie auf einen Stapel, das älteste, das erste Tagebuch oben auf. ‚Hier liegt<br />

ein halbes Leben vor mir’, dachte er, nahm das oberste Heft vom Stapel und legte es noch<br />

geschlossen vor sich auf den Schreibtisch. Andächtig besah er es.<br />

„Es sieht für sein Alter noch sehr gut erhalten aus“, murmelte er und schlug das Heft auf.<br />

„So eine schöne Schrift! Elfriede Seiffert hat sich sehr große Mühe gegeben. Sie ließ sich Zeit<br />

beim Schreiben. Was hat sie dazu bewogen, Ihre Gedanken einem Tagebuch anzuvertrauen?<br />

Ich glaube, ich hätte nicht die Geduld dazu, mich hinzusetzen und einfach loszuschreiben.“ Er<br />

schlug die erste Seite um und begann zu lesen. Etwa eine halbe Stunde später griff er zum<br />

Telefon und wählte die Nummer von Dr. Brenner.<br />

262


Wolfgang Brenner hatte sich ein Hawaiitoast bestellt und hungrig, aber geduldig gewartet,<br />

bis die Bedienung es servierte. Dann aber gab es für ihn kein Halten mehr. Sein Magen<br />

sollte bald Arbeit bekommen. Hungrig schnitt er sich Stück für Stück ab und vertilgte den<br />

Toast mit wachsenden Appetit. Er war fast fertig mit dem Essen, als in seiner linken Hosentasche<br />

sein Mobiltelefon zu vibrieren begann.<br />

„Na so was! Wer könnte das denn sein?“ In einem Anfall von leichten Missmut kramte er<br />

das kleine Telefon aus seiner Hosentasche hervor.<br />

„Brenner!? Wolfgangs Stimme klang for<strong>der</strong>nd hart.<br />

„Ja, hier auch Brenner.“<br />

„Hallo Papa! Was gibt’s denn so Dringendes, dass Du mich auf diesem Kanal zu erreichen<br />

versuchst?“<br />

Dr. Brenner ging nicht auf die Frage seines Sohnes ein. „Wo bist Du, Wolfgang?“<br />

„Ich bin mit Heike und <strong>der</strong>en Eltern im Café Noris in Nürnberg.“<br />

„Das ist gut. Dann komme ich auch hin.“<br />

„Warum?“<br />

„Weil ich im Polizeipräsidium etwas Wichtiges abzuholen habe.“<br />

„Was willst Du im Polizeipräsidium? Ist es wegen ...“<br />

Das Wort Polizeipräsidium hatte Heike und ihre Eltern schlagartig neugierig gemacht.<br />

Gespannt verfolgten sie Wolfgangs Telefongespräch.<br />

„Indirekt ja, Wolfgang“, unterbrach Dr. Brenner seinen Sohn. „Du wirst es nicht glauben.“<br />

„Was? ... Nein! ... Das ist ja phantastisch, Papa! ... Ja, ja, wir halten hier die Stellung. ...<br />

Was? ... Wer hier verhungert, muss ein armer Wicht sein. ... Gut! ... Bis in etwa einer Stunde.<br />

Tschüß!“<br />

Heike war unruhig geworden. Sie brannte darauf zu erfahren, was Wolfgang gerade erfahren<br />

hatte. „Was ist so phantastisch, Wolfgang?“<br />

Wolfgang Brenner vergaß den Rest seines Hawaiitoasts, stand auf, ging um den Tisch zu<br />

Heike, die ihm gegenübersaß, und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Dann wandte er sich<br />

Heikes Eltern zu und verkündete mit getragener Stimme: „Alle Ungewissheit ist vorbei. <strong>Die</strong><br />

Tagebücher sind gefunden.“<br />

„Nein!“ Aus Heike brach es heraus. Sie musste schreien.<br />

„Doch, doch, Heike!“ Wolfgang strahlte übers ganze Gesicht.<br />

„Siehst Du, Heike, so schnell kann sich das Blatt wenden.“ Elke beugte sich zu ihrer<br />

Tochter vor. Beiden standen plötzlich die Tränen in den Augen. Heike legte ihre rechte Hand<br />

auf die linke ihrer Mutter.<br />

„Ich kann’s noch immer nicht fassen, Mutti“, schluchzte sie und fingerte mit ihren linken<br />

Hand in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch. „Wo kommen denn die Tagebücher meiner<br />

Urgrossmutter so plötzlich wie<strong>der</strong> her?“<br />

„Das kann Dir mein Vater sicherlich viel besser erklären als ich.“ Wolfgang Brenner hatte<br />

sich gesetzt und ergriff wie<strong>der</strong> sein Essbesteck, um den Rest des Hawaiitoasts zu verspeisen.<br />

„Er wird in etwa einer Stunde die <strong>Wachstuchhefte</strong> hier vorbei bringen, nachdem er sie bei<br />

einem Kommissar vom Raubdezernat im Präsidium abgeholt hat. Dort sind sie – soviel mir<br />

mein Vater gerade erzählt hat – abgegeben worden, nachdem sie ein Hund gefunden hat.“<br />

„Ein Hund!!?“ Mit einem entsetzten Erstaunen stellten Elke und Heike gleichzeitig die<br />

Frage und sahen sich an.<br />

„Ja, mein Vater hat etwas von einem Hund gesagt.“<br />

47<br />

263


„Na, auf diese Geschichte bin ich gespannt.“ Heinz Markert lehnte sich zurück und schüttelte<br />

seinen Kopf. „Was es nicht alles gibt! <strong>Die</strong>se Geschichte mit den Tagebüchern ist es ja<br />

fast Wert aufgeschrieben zu werden. <strong>Die</strong> hat ja schon etwas Romanhaftes.“<br />

„Um ehrlich zu sein, Herr Markert“, entgegnete Wolfgang. „So etwas Ähnliches habe ich<br />

mir gerade auch gedacht.“<br />

„Das Leben kann ganz schön verrückt spielen.“ Elke streichelte die Hand ihrer Tochter.<br />

„Wer hätte noch vor einem guten halben Jahr daran gedacht, dass wir zu alten Tagebüchern<br />

von meiner Großmutter kommen, die dann geraubt werden, fast verloren sind ...“ Elke hielt<br />

nachdenklich inne.<br />

„... und Gott sei Dank dann doch wie<strong>der</strong> auftauchen“, ergänzte Heike und sah ihre Mutter<br />

mit immer noch feuchten Augen an. „Jetzt können wir bald weiter lesen, um zu erfahren, wie<br />

es meiner Urgroßmutter weiter erging.“<br />

„Das auch“, warf ihr Vater ein, „aber zuvor werde ich nochmal Kopien machen. Und die<br />

halte ich unter Verschluss. <strong>Die</strong> gehen mir nicht mehr verloren.“ Heikes Vater lachte und alle<br />

an<strong>der</strong>en mussten über sein Missgeschick jetzt mitlachen.<br />

<strong>Die</strong> vorher getrübte Stimmung in <strong>der</strong> Runde war durch die erfreuliche Nachricht schlagartig<br />

umgeschlagen. Eine fast euphorische Aufbruchstimmung machte sich unter den<br />

Markerts breit und Wolfgang wurde von ihr mitgerissen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite jedoch setzte<br />

die Zeit des Wartens auf Wolfgangs Vater an, die umso langsamer zu vergehen schien, je länger<br />

sie dauerte. <strong>Die</strong> jetzt fröhliche Runde beschloss, das Wie<strong>der</strong>auffinden <strong>der</strong> Tagebücher mit<br />

einer Flasche Sekt zu feiern, wollte aber warten, bis man sie wirklich wie<strong>der</strong> in den Händen<br />

halten konnte. Doch die Stunde zog sich scheinbar unendlich in die Länge; sie wollte und<br />

wollte nicht vergehen.<br />

Dr. Brenner erschien erst über eine Stunde nach seinem Anruf und wurde mit einem lauten<br />

Hallo begrüßt. Er hatte seine rindsle<strong>der</strong>ne Aktentasche dabei. In ihr steckten nur sechs<br />

Gegenstände, die jedoch mehr Begehrlichkeiten geweckt hatten als alle an<strong>der</strong>en Dinge, die sie<br />

zuvor je beherbergt hatte. Freudestrahlend stellte sie Wolfgangs Vater auf den freien Nebentisch.<br />

„Grüß Gott allerseits!“, begrüßte er die Anwesenden. „Ich bitte zu entschuldigen, dass ich<br />

etwas später gekommen bin als ich ursprünglich annahm, aber es hat etwas gedauert, bis ich<br />

einen Parkplatz gefunden habe, bei dem die Aussicht besteht, nicht teuer dafür bezahlen zu<br />

müssen.“<br />

„Grüß Dich, Papa!“ Wolfgang stand auf und begrüßte seinen Vater händeschüttelnd.<br />

„Wir haben schon alle gespannt auf Dich gewartet.“<br />

„Das habe ich mir schon gedacht.“ Dr. Brenner zog seine Jacke aus und suchte nach <strong>der</strong><br />

Gar<strong>der</strong>obe. Sein Sohn nahm sie ihm ab. „Unser Tisch ist lei<strong>der</strong> für fünf Leute zu klein.“<br />

„Das macht überhaupt nichts. Ich setzte mich hierher. Das geht schon.“<br />

Wolfgang ging zur Gar<strong>der</strong>obe und hängte die Jacke auf. Sein Vater setzte sich an den<br />

Nebentisch und sah erwartungsvoll zu Heike und <strong>der</strong>en Eltern hinüber. Für kurze Zeit entstand<br />

eine fast unerträgliche Stille. Keiner sagte etwas, keiner fragte etwas, alle starrten nur<br />

Dr. Brenners Tasche gebannt an.<br />

„Ja, ich glaube“, begann Dr. Brenner schließlich und machte eine Bewegung, als wolle er<br />

seine Tasche öffnen. „Ich habe jetzt einiges zu erzählen. Das Wichtigste zuerst ...“<br />

Dr. Brenner begann, die Geschichte <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>auffindung <strong>der</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> so detailgetreu<br />

zu erzählen, wie es ihm möglich war. Alle lauschten gespannt. Niemand wagte es, ihn<br />

zu unterbrechen. Aber alle blickten immer wie<strong>der</strong> zu seiner rindsle<strong>der</strong>nen Aktentasche hinüber,<br />

die vor ihm stand als sei sie von jemanden vergessen worden. Auf sie waren vier Augenpaare<br />

gerichtet. Doch Dr. Brenner öffnete seine Aktentasche nicht.<br />

Heike war die Erste, die es vor Neugier nicht mehr aushielt. „Sind denn die <strong>Wachstuchhefte</strong><br />

irgendwie beschädigt worden?“, fragte sie in <strong>der</strong> Hoffnung, dass Wolfgangs Vater seine<br />

Tasche jetzt endlich öffnete und die ersehnten Hefte ans Tageslicht bringen würde.<br />

264


„Soweit ich gesehen habe nicht.“ Wie<strong>der</strong> machte Dr. Brenner eine Bewegung, als wolle<br />

er seine Aktentasche jetzt öffnen, doch Heikes Hoffnung erfüllte sich nicht.<br />

„Ich habe mir sie vorhin im Polizeipräsidium angesehen“, fuhr Dr Brenner fort, „und habe<br />

auf den ersten Blick keinerlei Beschädigungen erkennen können. Aber sehen Sie selbst!“<br />

Endlich öffnete Wolfgangs Vater seine rindsle<strong>der</strong>ne Aktentasche, griff hinein und holte<br />

die schwarz glänzenden <strong>Wachstuchhefte</strong> hervor. Am Nachbartisch war ein deutlich vernehmbares<br />

Aufatmen zu hören, aber niemand sagte etwas. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Anwesenden, auch Dr. Brenner,<br />

blickte ehrfürchtig auf den Heftstapel, den er jetzt ganz vorsichtig auf den Tisch legte.<br />

Der Moment <strong>der</strong> Stille war ein Moment <strong>der</strong> Andacht. <strong>Die</strong> <strong>Wachstuchhefte</strong> waren wie<strong>der</strong> aufgetaucht.<br />

Endlich! Der glückliche Augenblick, auf den fast keiner mehr gehofft hatte, war<br />

eingetreten. <strong>Die</strong> Ereignisse vorher, die alle so in ihren Bann gezogen hatten, jetzt waren sie<br />

schlagartig vergessen. Jetzt galt es, die Originale weiter zu lesen, weiter in das Leben jener<br />

Elfriede Seiffert einzutauchen, welches sie durch ihre Aufzeichnungen für die Nachkommen<br />

aufbewahrt hatte.<br />

Heikes Vater fand als Erster wie<strong>der</strong> Worte. „Ich denke, auf die glückliche Wie<strong>der</strong>auffindung<br />

<strong>der</strong> Tagebücher sollten wir ruhig mit einem Gläschen anstoßen. Also bestellen wir und<br />

jetzt eine Flasche Sekt, wie vorhin besprochen?“<br />

„Wir bestellen“, sagte Elke und winkte <strong>der</strong> Bedienung, die gerade auf die beiden Tische<br />

zukam, weil sie Dr. Brenner als neuen Gast gesichtet hatte.<br />

„Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte diese und sah Wolfgangs Vater erwartungsvoll an.<br />

„Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Markert, bestelle ich eine Flasche Sekt.“ Dr. Brenner zwinkerte<br />

Elke und Heinz zu. „Aber die geht auf meine Rechnung.“<br />

Bei den Anwesenden regte sich kein Wi<strong>der</strong>stand. <strong>Die</strong> Bedienung blickte Wolfgangs Vater<br />

fragend an. „Also eine Flasche Sekt mit wie viel Gläsern?“ <strong>Die</strong> Frage war zwar überflüssig,<br />

aber die Bedienung wollte auf Nummer sicher gehen.<br />

„Fünf!“, riefen Heike und Wolfgang gleichzeitig und alle, auch die Bedienung, mussten<br />

lachen.<br />

Man verabredete, dass Dr. Brenner wie<strong>der</strong> die Originale zu sich nehmen sollte. Doch zuvor<br />

machte Heikes Vater seine Ankündigung wahr und kopierte gleich am nächsten Tag die<br />

sechs <strong>Wachstuchhefte</strong> noch einmal. <strong>Die</strong> Kopien gab er Heike zur Aufbewahrung, nicht weil er<br />

fürchtete, sie nochmals zu verlieren, son<strong>der</strong>n um seiner Tochter die Gelegenheit zu geben, die<br />

alte Schrift besser zu lernen. Heike war darüber erfreut und machte sich gleich daran, jene<br />

Stelle im dritten Heft zu suchen, an <strong>der</strong> Dr. Brenner seine Transkriptionsarbeit vor dem Überfall<br />

abgebrochen hatte. Wolfgang half ihr dabei.<br />

Beide waren aufgeregt. Eine gespannte Erwartung lag auf ihren Gesichtszügen.<br />

„Ah, da haben wir die Stelle“, sagte Heike mit einem Kloß im Hals und beugte sich über<br />

Heft drei, wie sie es nannte, das auf ihren Schreibtisch lag. Wolfgang stand dahinter und sah<br />

ihr über die Schulter. Heike begann langsam und stockend zu lesen. Es machte ihr große Mühe,<br />

die klare Schrift Elfriedes zu entziffern.<br />

Montag, <strong>der</strong> 4. Oktober 1920<br />

Es hat keinen Sinn mehr, länger an Herrmann festzuhalten. Ich werde Friedrich heiraten,<br />

mit dem ich zwar erst ein knappes Vierteljahr zusammen bin, aber er hat gestern um meine<br />

Hand angehalten und ich habe ja gesagt. Wir beide lieben uns sehr und er akzeptiert mich so<br />

wie ich bin, auch das Kind in mir. Friedrich weiß, daß ich nicht von ihm schwanger bin, aber<br />

ich werde ihn als Vater angeben. So gebe ich ihm das Gefühl, daß das Kind von ihm ist. Nur<br />

dieses Tagebuch hier wird wissen, wer <strong>der</strong> wirkliche Vater des Kindes ist, nämlich Herrmann<br />

Schmidt, geb. am 30. Januar 1895 in Nürnberg.<br />

265


Heike lehnte sich zurück und atmete tief durch. „Das ist also das große Geheimnis“,<br />

murmelte sie und drehte sich zu Wolfgang um. Dann las sie langsam weiter<br />

Ich kann mit dieser kleinen Lebenslüge leben. Gott möge mir verzeihen.<br />

„Ja, ja, jetzt wird alles schlagartig klar. Das Kind, also meine Urgroßmutter o<strong>der</strong> Omas<br />

Mutter ist von Herrmann Schmidt ...“ Heike stockte.<br />

„... und nicht von Friedrich Wagner.“, ergänzte Wolfgang. „Das war ja mehr als ritterlich,<br />

dass dieser Friedrich das Kind anerkannt hat als sei er <strong>der</strong> Vater.“<br />

„Na ja“, warf Heike ein. „So genau wissen wir das im Moment noch nicht, aber vielleicht<br />

gibt uns das Tagebuch auch darüber Antwort.“<br />

„Vielleicht, vielleicht!“, murmelte Wolfgang, beugte sich zu Heike hinunter und sah ihr<br />

tief in ihre blauen Augen. Sie stand auf und umarmte Wolfgang. Gleich darauf versanken die<br />

beiden in ihre eigene Welt, die Welt, die nur Verliebte kennen.<br />

Nach einer Kusslänge dämmerten sie wie<strong>der</strong> zurück in die Wirklichkeit. Nachdenklich<br />

trennten sie sich wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> gegenseitigen Umarmung.<br />

„<strong>Die</strong>ser Friedrich Wagner muss Elfriede wirklich geliebt haben.“ Heike setzte sich nachdenklich<br />

wie<strong>der</strong> auf ihren Schreibtischstuhl. Wolfgang beugte sich wie<strong>der</strong> über das aufgeschlagene<br />

Heft und las langsam weiter, denn auch er hatte seine Schwierigkeiten, die alte<br />

deutsche Schrift zu entziffern.<br />

Für eine gute Wohnung wird Friedrich sorgen. Schon seit einigen Tagen sieht er sich in<br />

Nürnberg um. Das Aufgebot ist schon bestellt. So können wir Mitte November heiraten. Der<br />

Tag steht noch nicht fest, aber das wird auch noch werden.<br />

„Haben Deine Urgroßeltern in Nürnberg geheiratet?“ Wolfgang sah Heike fragend an.<br />

„Und wann wurde Deine Großmutter geboren?“<br />

„Fragen, nichts als Fragen, Wolfgang.“ Heike schüttelte kurz ihren Kopf. „Ich kann sie<br />

Dir jetzt nicht beantworten. Aber meine Mutter hat, so glaube ich wenigstens, eine Menge<br />

Geburtsurkunden, vielleicht sogar die Trauurkunde von Friedrich und Elfriede Wagner, geborene<br />

Seiffert. Ich muss sie nur anrufen, Wolfgang, dann wissen wir es.“<br />

„Na, dann ruf’ sie doch an, Heike!“ <strong>Die</strong>se Auffor<strong>der</strong>ung musste Wolfgang nicht wie<strong>der</strong>holen.<br />

Heike stand sofort auf und ging zum Telefon.<br />

Das Telefon klingelte nur zweimal, dann nahm Elke Markert den Hörer ab, meldete sich<br />

und war hoch erfreut, ihre Tochter am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung zu hören. „Schön, dass Du<br />

anrufst, Heike! Gibt’s was Beson<strong>der</strong>es?“<br />

„Das kann man mit gutem Gewissen behaupten.“ Heikes Stimme klang aufgeregt. „Wir<br />

haben im Tagebuch von Deiner Großmutter weitergelesen ...“<br />

„Und? Habt Ihr etwas Neues herausgefunden?“ Elkes Neugier war geweckt.<br />

„Wir haben den definitiven Beweis, das meine Großmutter, also Oma, eigentlich keine<br />

Wagner ist.“<br />

„Das verstehe ich jetzt nicht, Heike.“<br />

„Genau deswegen rufe ich Dich ja an, Mutti.“ Heike konnte nicht schnell genug die Frage<br />

los werden, die ihr auf den Lippen brannte. „Hast Du eine Geburtsurkunde meiner Großmutter,<br />

Mutti? Ich finde nämlich im Moment die Kopie nicht, die ich mir beim Standesamt in<br />

Fürth besorgt habe.“<br />

„Von Deiner Oma?“<br />

„Ja, genau von Oma!“<br />

„Ja, die habe ich. Oma hat eine alte Geburtsurkunde von sich gehabt. Und ihre Mutter<br />

war eine geborene Seiffert. Als ich damals in den Lehrdienst eintrat, habe ich ein wenig Fami-<br />

266


lienforschung betrieben, weil ich irgendeine Urkunde meiner Großeltern für einen Staatsbürgerschaftsnachweis<br />

brauchte. Aber weiter als bis zur Geburtsurkunde meiner Großmutter habe<br />

ich nicht geforscht, denn ich hatte ja dann das, was ich brauchte. Und meine Großmutter ist ja<br />

...“<br />

„... Elfriede Wagner, geborene Seiffert“, unterbrach Heike ihre Mutter. „Aber <strong>der</strong> Vater<br />

von <strong>der</strong>en Tochter, also von meiner Oma, ist eben nicht Friedrich Wagner, son<strong>der</strong>n ein gewisser<br />

Herrmann Schmidt.“<br />

„Schmidt?! Wo steht das?“ Elke war sichtlich schockiert über die Mitteilung ihrer Tochter.<br />

„Ich bin mir ganz sicher, das in <strong>der</strong> Geburtsurkunde von Oma steht, ihr Vater sei Friedrich<br />

Wagner, den Elfriede ja schließlich auch geheiratet hat.“<br />

„Was in <strong>der</strong> Geburtsurkunde steht ist eine Sache, Mutti“, entgegnete Heike mit dem<br />

Brustton <strong>der</strong> Überzeugung. „Hier in ihrem Tagebuch hat Elfriede anscheinend den richtigen<br />

Vater genannt.“<br />

„Das ist ja ein Ding, Heike!!“ Elke Markert konnte es noch immer nicht fassen, was für<br />

eine Entdeckung ihre Tochter im Tagebuch ihrer Großmutter gemacht hatte. „Also, da müssen<br />

wir uns unbedingt zusammen setzen und das besprechen!“<br />

„Genau das wollte ich gerade auch vorschlagen, Mutti. Seid Ihr heute Nachmittag zu<br />

Hause?“<br />

„Soweit ich weiß: Ja. Aber ich kann Vati jetzt nicht fragen, denn er ist nicht da, son<strong>der</strong>n<br />

zu Wolfgangs Vater gefahren.“<br />

„Zu Wolfgangs Vater? Warum?“ Heike schüttelte ihren Kopf<br />

„Das weiß ich auch nicht genau. Dr. Brenner wollte ihm noch irgendetwas geben, was er<br />

von diesem Kriminalkommissar bekommen hat.“<br />

Heike überlegte kurz. „Also pass auf, Mutti! Wir, also Wolfgang und ich, werden jetzt<br />

diesen ominösen Tagebucheintrag abtippen und bringen ihn heute Nachmittag noch vorbei. Ist<br />

Dir’s recht, Mutti?<br />

„Kommt nur vorbei. Ich bin daheim.“<br />

„Gut, Mutti! Bis gleich!“<br />

„Bis gleich, Heike!“ Elke legte auf. Sie hörte noch das Knacken in <strong>der</strong> Leitung. Nachdenklich<br />

ging sie in die Essdiele und setzte sich auf den Platz, den sie gewöhnlich einnahm.<br />

Vor ihr stand noch eine halbe Tasse Tee, die sie in einem Zug austrank, denn die Nachricht<br />

von Heike hatte ihren Gaumen schlagartig ausgetrocknet.<br />

‚Ich bin jetzt nur gespannt, was Dr. Brenner Heinz unbedingt geben will’, dachte sie und<br />

stand wie<strong>der</strong> auf, um sich noch eine Tasse Tee einzuschenken. Doch eine innere Unruhe ließ<br />

sie jetzt nicht still sitzen. Es war, als fiele ihr gleich die Decke auf den Kopf. ‚Da fällt mir ein,<br />

ich wollte ja noch etwas einkaufen.’ Der Gedanke erleichterte Elke ungemein. Sie stand auf,<br />

ging zur Gar<strong>der</strong>obe, zog ihre Jacke an und ging eilig zur Wohnung hinaus. Das Telefon, das<br />

wenige Minuten später wie<strong>der</strong> klingelte, konnte sie nicht mehr hören.<br />

Kommissar Müller wählte, doch Dr. Brenner hob nicht ab. ‚Dann muss ich Herrn Markert<br />

anrufen’, dachte er bei sich und wählte die Nummer <strong>der</strong> Markerts, aber auch da nahm niemand<br />

ab. ‚Wen könnte ich jetzt noch anrufen?’, fragte er sich und überlegte. ‚Ach ja, Dr.<br />

Brenner hat mir ja noch die Telefonnummer <strong>der</strong> Freundin seines Sohnes gegeben. Vielleicht<br />

erreiche ich dort jemanden.’<br />

Er wählte Heikes Telefonnummer und brauchte es nicht lange klingeln zu lassen.<br />

„Heike Markert!?“<br />

„Müller von <strong>der</strong> Kripo in Nürnberg.“ Roman Müllers Stimme klang sanft und entspannt<br />

„Sie wünschen?“ Heike war mehr als erstaunt, von <strong>der</strong> Kriminalpolizei angerufen zu<br />

werden.<br />

„Ich wollte eigentlich Dr. Brenner erreichen, aber we<strong>der</strong> bei ihm noch bei Ihren Eltern<br />

hebt jemand ab.<br />

267


„Das erstaunt mich, Herr Müller, den ich habe vor nicht fünf Minuten mit meiner Mutter<br />

am Telefon gesprochen.“ Heike schüttelte ihren Kopf.<br />

„Ich wollte Ihnen nur kurz noch etwas mitteilen, was mir auf den Nägeln brennt.“<br />

„Sie machen mich jetzt aber neugierig, Herr Kommissar. Was brennt Ihnen denn auf den<br />

Nägeln?“ Heike musste schmunzeln, obwohl sie angespannt war.<br />

„Ich denke, Sie sollten wissen, was sich Harald Grattler notiert hat.“ Kommissar Müller<br />

wollte schnell auf den Punkt kommen, denn nicht nur ein ungelöster Fall lag auf seinem<br />

Schreibtisch. „Schreiben Sie mit?!“<br />

„Ich hole mir nur schnell einen Notizzettel, Herr Müller.“ Heike legte den Hörer beiseite<br />

und eilte zu ihrem Schreibtisch.<br />

Wolfgang sah sie erstaunt an. „Wer ruft da an?“<br />

„Ein gewisser Kommissar Müller, Wolfgang.“ Heike schnappte sich einen Stift und einen<br />

Zettel und eilte zurück zum Telefon. „So, jetzt können sie loslegen, Herr Müller.“<br />

„Ich bin durch folgende Notiz in Harald Grattlers Notizbuch auf die Lösung des Falles gekommen,<br />

Frau Markert.“ Kommissar Müller hielt kurz inne. „Elfriede Seiffert sehr wahrscheinlich<br />

Urgroßmutter (geb. Fürth i.B.) lt. Heiratsurkunde Dr. Brenner hat Tagebücher von<br />

Elfriede S. - Woher? Herkunft? Tagebücher unbedingt besorgen!!! Originale?“<br />

Heike schrieb und stutzte. „Das würde ja bedeuten, dass dieser Grattler ...“ Sie hielt inne.<br />

„... nur wegen <strong>der</strong> Tagebücher Dr. Brenner überfallen hat“, ergänzte Roman Müller.<br />

„Jetzt wird mir alles klar, Herr Müller.“ Heike fasste sich mit <strong>der</strong> linken Hand an den<br />

Kopf.<br />

„Nicht alles Frau Markert Ich habe Dr. Brenner die Kopie einer Kopie einer Geburtsurkunde<br />

gegeben, die Harald Grattler bei dem Unfall bei sich hatte. Wenn sie diese lesen, wird<br />

Ihnen wirklich alles klar.“<br />

„Ach ja?!“ Heike war ein wenig verwirrt und wusste nicht, was sie jetzt denken sollte.<br />

„Na, dann muss ich doch noch ein wenig warten.“<br />

„Das wird schon nicht mehr so lange dauern.“ Kommissar Müller schmunzelte, doch dies<br />

konnte Heike ja nicht sehen. „Ich bin mir sicher, dass Dr. Brenner Ihnen dieses Beweisstück<br />

zeigen wird.“<br />

„Ich auch, Herr Kommissar. Mein Vater ist, wie ich gerade von meiner Mutter erfahren<br />

habe, schon zu ihm gefahren. Sicher will Dr. Brenner ihm diese Kopie geben.“<br />

„Sehen Sie! So fügt sich alles letztendlich doch noch logisch zusammen.“<br />

„Wenn Sie es sagen, Herr Kommissar, ...“<br />

„... dann stimmt es meistens. Es ist ja schließlich mein Beruf, Motive von Straftaten zu<br />

finden und diese aufzuklären.“<br />

„Auf jeden Fall vielen dank für diese Mitteilung, die Sie mir gerade gegeben haben, Herr<br />

Müller.“ Heike atmete tief durch. „Meine Eltern und wir, d.h. Wolfgang und ich, werden uns<br />

heute noch zusammensetzen und über die neuesten Erkenntnisse reden.“<br />

Tun Sie das! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Markert.“ Kommissar<br />

Müller drängte, das Telefongespräch zu beenden, denn wie jeden Tag lief ihm auch heute<br />

wie<strong>der</strong> die Zeit davon.<br />

„Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Müller. Wie<strong>der</strong>hören!“ Heike legte den Hörer auf<br />

und ging nachdenklich wie<strong>der</strong> zu Wolfgang, <strong>der</strong> sich auf ihren Schreibtischstuhl gesetzt hatte<br />

und in einem <strong>der</strong> Tagebücher las.<br />

„Hast Du noch ein wenig gelesen, Wolfgang?“ Heike sah ihn fragen an.<br />

„Ja, ein wenig“, erwi<strong>der</strong>te Wolfgang. „Aber neue, das Weltbild Deiner Mutter in die Krise<br />

stürzende Erkenntnisse habe ich nicht finden können.“<br />

„Aber ich!“ Stolz zeigte Heike ihm die Notiz, die ihr Kommissar Müller am Telefon zugeleitet<br />

hatte.<br />

268


Wolfgang überflog den Zettel und nickte. „Langsam sehe ich jetzt klarer. Ab warten wir<br />

ab, bis wir das haben, weswegen Dein Vater zu meinen gefahren ist. Jetzt ergänzen wir erst<br />

den Tagebucheintrag vom 4. Oktober 1920.“<br />

„Genau! Das tun wir jetzt, Wolfgang. Soll ich schreiben?“<br />

„Schreib’ lieber Du, Heike. Es ist ja schließlich auch Deine Urgroßmutter, die uns so in<br />

Atem hält.“<br />

„Also gut, wenn Du meinst! Lass’ mich mal an den Computer!“ Wolfgang machte ihr<br />

Platz. Heike setzte sich an ihren Rechner und schaltete ihn ein.<br />

Es dauerte nur knappe zehn Minuten, dann war die selbst auferlegte Arbeit am Computer<br />

getan. Heikes Drucker begann, den neu entdeckten Tagebucheintrag auszudrucken.<br />

„So, das hätten wir geschafft!“ Heike nahm das eben bedruckte Blatt aus dem Auswurfschacht<br />

des Druckers. „Jetzt kann ich meinen Eltern den Tagebucheintrag zeigen.“<br />

Wolfgang sah ihr nachdenklich zu und kratzte sich am Kinn. „Mir geht immer noch nicht<br />

ganz in den Kopf, warum Deine Urgroßmutter nicht den richtigen, den biologischen Vater in<br />

<strong>der</strong> Geburtsurkunde angegeben hat.“<br />

„Sie wird wohl ihre Gründe gehabt haben“, entgegnete Heike, faltete das Blatt Papier<br />

zweimal zusammen und steckte es mit dem Notizzettel, auf dem sie die Mitteilung von<br />

Kommissar Müller geschrieben hatte, in ihre Tasche.<br />

„Vielleicht gibt das Tagebuch meiner Urgroßmutter auch darüber Auskunft. Doch dazu<br />

müssten wir vielleicht lange weiterlesen. Aber dazu fehlt uns jetzt die Zeit.“<br />

Wolfgang schüttelte seinen Kopf. „Vielleicht fehlt uns im Moment nicht nur die Zeit,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr die Geduld. Ein Tagebuch liest sich eben nicht so leicht, wie zum Beispiel<br />

ein Roman.“<br />

Heike sah ihn an und verstand. „Aber ist ein Tagebuch nicht auch eine Art Roman, Wolfgang?“<br />

„Wie meinst Du das, Heike?“ Wolfgang Brenner runzelte seine Stirne.<br />

„So wie ich es gerade gesagt habe, Wolfgang. Ganz wörtlich.“ Sie hielt einen Moment<br />

inne und dachte kurz nach. „Wenn Du in ein Tagebuch schreibst, dokumentierst Du Dein Leben.<br />

Und mit jedem neuen Eintrag entsteht ein weiteres Kapitel, ein Tag aus Deinem Leben.<br />

Und dies alles zusammen ergibt schließlich ein mehr o<strong>der</strong> weniger dichtes Gespinst aus Erlebnissen<br />

und Gedanken wie das eines Romans. Kannst Du mir folgen?“<br />

„Ja, ja.“ Wolfgang machte eine abwiegelnde Bewegung mit seiner rechten Hand. „Du<br />

hast schon recht, Heike. Trotzdem finde ich, ein Tagebuch ist etwas an<strong>der</strong>es als ein Roman.“<br />

„Einen klassischen Roman meinst Du“, warf Heike ein. „Es gibt auch berühmte Tagebuchromane.<br />

Denk’ doch nur an Goethes Werther.“<br />

„Ja, ja, JWvG – Johann Wolfgang von Goethe.“ Wolfgang hatte jetzt keine Lust, sich in<br />

einen längeren Disput mit Heike einzulassen. Seine Gedanken waren ganz woan<strong>der</strong>s. Aber wo<br />

genau, das wusste er im Moment auch nicht.<br />

Heike sah Wolfgang an uns bemerkte sofort, dass er geistig abwesend bei ihr stand.<br />

„Träumst Du, Wolfgang?“<br />

Heikes Frage riss ihn aus seinen Gedanken. „Was hast Du gefragt, Heike?“<br />

„Ob Du träumst habe ich gefragt, Wolfgang.“<br />

„Ich? O nein!“ Wolfgang schüttelte seinen Kopf. „Ich war nur in Gedanken.“<br />

„Das habe ich gemerkt.“ Heike ging auf Wolfgang zu, stellte ihre Tasche auf den<br />

Schreibtisch und legte ihre Arme um seinen Hals. „Gib mir einen Kuss, Wolfgang!“<br />

Verdattert tat er, was sie for<strong>der</strong>te. Dabei merkte Wolfgang, wie Heikes Lippen erregt vibrierten.<br />

„Fahren wir jetzt zu Deinen Eltern?“, fragte er, nachdem er sich wie<strong>der</strong> von ihnen<br />

gelöst hatte.<br />

Heike, die noch immer ihre Arme um Wolfgangs Hals geschlungen hielt, blickte ihn mit<br />

halboffenen Augen an. „Wir fahren dann schon noch zu meinen Eltern, aber vorher brauche<br />

ich Dich.“<br />

269


„Jetzt am helllichten Vormittag?“<br />

„Ja, genau jetzt“, hauchte Heike und löste ihre Umarmung. Sie nahm Wolfgang am Arm<br />

und zog ihn vom Schreibtisch weg.<br />

Etwa eine Stunde später fuhren die Beiden dann zu Heikes Eltern. Als sie das Mietshaus<br />

fast erreicht hatten, erblickte Heike ihren Vater, <strong>der</strong> eilig die Haustüre aufschloss und mit einer<br />

großen, prall gefüllten Stofftasche im Hausflur verschwand. Er hatte sie nicht bemerkt.<br />

„Aha, wenigstens werden wir meinen Vater antreffen.“ Heike sah Wolfgang an, <strong>der</strong><br />

rechts neben ihr ging.<br />

„Deine Mutter wird sicherlich auch da sein.“ Wolfgang erwi<strong>der</strong>te ihren Blick.<br />

„Das hoffe ich. Jedenfalls hat sie am Telefon gesagt, dass sie zu Hause ist.“<br />

„Also dann!“ Wolfgang beschleunigte seinen Schritt und Heike musste dies auch tun, um<br />

nicht zurück zu fallen. Wenige Augenblicke später hatten auch sie die Haustüre erreicht. Heike<br />

drückte auf den Klingelknopf.<br />

Es dauerte etwa eine Minute, bis <strong>der</strong> Türöffner betätigt wurde. <strong>Die</strong> Beiden gingen ins<br />

Haus und stiegen die Treppe hinauf zur Wohnung von Heikes Eltern.<br />

Elke öffnete die Wohnungstüre. „Da seid Ihr ja schon!“, rief sie überrascht aus, als sie ihre<br />

Tochter und Wolfgang sah. „Kommt rein!“<br />

Wolfgang ging als Letzter in die Wohnung. Er ließ Heike den Vortritt, denn seine gute<br />

Erziehung machte sich auch jetzt durch sein höfliches, zuvorkommendes Verhalten bemerkbar.<br />

Heike war etwas nervös, als sie die Essdiele ihrer Eltern betrat. Sie brannte darauf, ihre<br />

neue Erkenntnis ihren Eltern mitzuteilen. Doch ihr Vater kam ihr zuvor. Er holte ein Blatt<br />

Papier hervor, das wie eine Fotokopie aussah, und schwenkte es in <strong>der</strong> Luft.<br />

„Ich glaube, hier ist <strong>der</strong> Schlüssel zu dem Geheimnis all <strong>der</strong> zurückliegenden Ereignisse“,<br />

rief er triumphierend.<br />

„Jetzt lass’ doch Heike und Wolfgang erst einmal setzen!“ Elke Markert machte eine einladende<br />

Bewegung, die zur Türe des Wohnzimmers zeigte. „Aber setzen wir uns doch ins<br />

Wohnzimmer. Dort haben wir es doch viel gemütlicher als hier auf den harten Stühlen.“<br />

„Also gut, Elke! Gehen wir ins Wohnzimmer“, stimmte Heinz zu und öffnete die Tür.<br />

Heike und Wolfgang folgten <strong>der</strong> Einladung und setzten sich auf die bequeme, dreisitzige<br />

Couch. Elke und Heinz nahmen in den Sesseln Platz, die dem Sofa gegenüber standen.<br />

Heinz Markert legte das Blatt Papier vor sich auf den schweren, niedrigen Tisch, dessen<br />

Oberfläche aus Keramikkacheln bestanden. „Also hier habe ich eine Fotokopie einer Geburtsurkunde,<br />

die mir vorhin Dein Vater, Wolfgang, gegeben hat, <strong>der</strong> sie wie<strong>der</strong>um von Kommissar<br />

Müller erhalten hat. <strong>Die</strong>se Geburtsurkunde ist von Elfriede Seiffert ...“<br />

„Elfriede Seiffert?“, rief Heike dazwischen.<br />

„Ja, genau! Elfriede Seiffert.“ Heikes Vater sah seine Tochter mit einen entwaffnenden<br />

Lächeln an. „<strong>Die</strong>se Geburtsurkunde fand man bei Harald Grattler nach dem Unfall. Und in<br />

dieser Urkunde steht folgendes:<br />

Fürth i. O, am 8. März 1898<br />

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, <strong>der</strong> Persönlichkeit nach<br />

Durch Wehrpass anerkannt,<br />

<strong>der</strong> Fabrikarbeiter Johann Seiffert<br />

wohnhaft zu Fürth i.O. Nr. 253<br />

48<br />

270


katholischer Religion, und zeigte an, daß von <strong>der</strong><br />

Maria Seiffert, geb. Meyer, seiner Ehefrau,<br />

katholischer Religion, wohnhaft<br />

bei ihm,<br />

zu Fürth, in seiner Wohnung<br />

am siebten März des Jahres<br />

tausend acht hun<strong>der</strong>t neunzig und acht nachmittags<br />

um fünf Uhr ein Kind weiblichen<br />

Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen<br />

Elfriede Amalie, (Elfriede unterstrichen, also <strong>der</strong> Rufname!)<br />

erhalten habe.<br />

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben<br />

Johann Seiffert<br />

Der Standesbeamte<br />

In Vertretung ...<br />

... und so weiter. Na, was sagt Ihr jetzt?“<br />

„Das kann doch nicht meine Großmutter sein!“, wandte Elke entrüstet ein.<br />

„Sehr richtig, Elke! Ist sie auch nicht!“ Heinz holte tief Luft. „Ich kann mir im Moment<br />

immer noch nicht vorstellen, was diesen Grattler dazu bewogen hat, die Tagebücher zu rauben.“<br />

„Ich auch nicht.“ Elke schüttelte heftig ihren Kopf<br />

„Aber wir!“, rief Heike triumphierend, „Denn wir haben noch zwei Überraschungen parat.“<br />

Heike musste jetzt ihre Neuigkeiten loswerden und holte den ausgedruckten Tagebucheintrag<br />

sowie den Notizzettel aus ihrer Tasche, auf den sie Harald Grattlers Notiz notiert hatte.<br />

Den Tagebucheintrag gab sie ihrer Mutter. „Überraschung Nummer eins: Da, lies, Mutti!“<br />

Elke überflog den Eintrag und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich konnte es vorhin am<br />

Telefon überhaupt nicht glauben. <strong>Die</strong>ser Tagebucheintrag bedeutet, Heikes Großmutter ist<br />

keine geborene Wagner, son<strong>der</strong>n ...“ Sie hielt inne.<br />

„... son<strong>der</strong>n eine geborene Schmidt“, ergänzte Heike und sah ihre Mutter an. Sie beobachtete<br />

die Miene ihrer Mutter ganz genau. „Weiß das Oma?“<br />

„Ich glaube nicht. Das kann auch nicht sein.“ Elkes Worte kamen ihr seltsam zögernd<br />

und nachdenklich über die Lippen. „Sie hat ja von den Tagebüchern nichts gewusst und kann<br />

sie daher nicht gelesen haben. In ihrer Geburtsurkunde steht also <strong>der</strong> falsche Vater, vorausgesetzt<br />

Elfriede hat die Wahrheit geschrieben.“<br />

„Also davon gehe ich aus“, warf Heinz Markert ein. „Darf ich den Tagebucheintrag auch<br />

einmal sehen?“<br />

„Aber sicher doch, Heinz!“ Elke gab ihm das Blatt. Heikes Vater las den Text schnell,<br />

viel schneller als seine Frau vorher.<br />

„Ja“, sagte Heikes Vater nachdenklich und strich sich mit seiner linken Hand übers Kinn,<br />

„ich glaube felsenfest daran, dass Elfriede die Wahrheit in ihr Tagebuch geschrieben hat.<br />

Vielleicht musste sie es schreiben, weil sie sich sonst niemanden anvertrauen konnte, außer<br />

ihrem späteren Mann.“<br />

Nachdem Heikes Vater dies gesagt hatte, trat Schweigen ein. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Anwesenden<br />

musste erst einmal seine Gedanken ordnen. Elke Markert fand als Erste wie<strong>der</strong> zu Worten.<br />

„Und jetzt wissen wir auch, warum dieser Grattler so scharf hinter den Tagebüchern her<br />

war.“ Elke sah ihren Mann mit einem triumphalen Blick an.<br />

271


„Ja, diese Kopie <strong>der</strong> Heiratsurkunde von Elfriede Seiffert, die man bei seinen Sachen<br />

nach dem Unfall gefunden hat, ist <strong>der</strong> Schlüssel zu seinem Tun.“ Heinz Markert lehnte sich<br />

entspannt in seinem Wohnzimmersessel zurück.<br />

„Der Meinung bin ich nicht ganz, Vati.“ Heike beugte ihren Oberkörper vor und tippte<br />

mit ihren rechten Zeigefinger auf den Notizzettel, <strong>der</strong> vor ihr auf dem niedrigen Wohnzimmertisch<br />

lag. „ Überraschung Nummer zwei: Ich habe mir genau notiert, was mir Kommissar<br />

Müller am Telefon gesagt hat. In Harald Grattlers Notizbuch steht:<br />

Elfriede Seiffert sehr wahrscheinlich Urgroßmutter (geb. Fürth i.B.) lt. Heiratsurkunde.<br />

Dr. Brenner hat Tagebücher von Elfriede S. - Woher? Herkunft? Tagebücher unbedingt besorgen!!!<br />

Originale?<br />

„Das verstehe ich jetzt nicht ganz, Heike.“ Heinz Markert schüttelte den Kopf.<br />

„Das ist doch ganz einfach, Vati!“ Heike deutete auf ihren Notizzettel. „<strong>Die</strong>ser Grattler<br />

war felsenfest davon überzeugt, dass seine Urgrossmutter Elfriede Seiffert mit meiner Urgrossmutter<br />

identisch ist. Aber in <strong>der</strong> Heiratsurkunde von seiner Vorfahrin steht geboren in<br />

Fürth i.O. und er las Fürth i.B.“<br />

„Und das alles hat diese Geschichte erst ausgelöst?“ Elke Markert blickte skeptisch durch<br />

das Wohnzimmer.<br />

„Das wird es wohl gewesen sein.“ Heike sah ihre Mutter an und merkte, wie sich <strong>der</strong>en<br />

angespannte Gesichtszüge merklich lockerten.<br />

„Ja, das ist es gewesen“, mischte sich jetzt Wolfgang ein. „Nur ein einziger Buchstabe<br />

falsch gelesen, eine falsche Schlussfolgerung ...“<br />

„... und schon wäre beinahe ein Leben ausgelöscht worden.“ Heinz Markert zog seine<br />

Stirn in Falten.<br />

Wolfgang schüttelte seinen Kopf. „Wie tief und abgründig doch die menschliche Natur<br />

ist! Dabei ist des Rätsels Lösung ganz einfach. Harald Grattlers Urgrossmutter ist in Fürth<br />

i.O., einem Ort im Odenwald geboren und deine Urgrossmutter, Heike, in Fürth i.B., also in<br />

Bayern.“<br />

„Ja, das kommt davon, wenn man die Quellen nicht ordentlich studiert.“ Elke Markert<br />

schüttelte ebenfalls ihren Kopf. „Mich ärgert nur, dass ich die Sütterlinschrift erst wie<strong>der</strong> neu<br />

lernen musste, um den kleinen, aber feinen Unterschied richtig zu erkennen.“<br />

<strong>Die</strong> Runde schwieg wie<strong>der</strong> für einen Moment. Eine unnatürlich wirkende Stille trat in das<br />

Wohnzimmer von Elke und Heinz.<br />

Heike brach als Erste das Schweigen. „Hätte dieser Grattler alles richtig gelesen, so wären<br />

wir um eine aufregende Geschichte ärmer.“<br />

„Aber auch um einige Erfahrungen“, fügte Wolfgang hinzu. „Irgendwie bleibt bei mir die<br />

tiefe, innere Erkenntnis, dass ...“ Er unterbrach sich selbst. Es wurde wie<strong>der</strong> still im Raum.<br />

Doch plötzlich war deutlich ein tiefes Knurren zu vernehmen.<br />

Heike wurde rot im Gesicht. „Meine tiefe, innere Erkenntnis sagt mir jetzt, dass mein<br />

Magen wie<strong>der</strong> etwas zu arbeiten wünscht. Hat Luigi schon offen?“<br />

Wolfgang sah auf seine Armbanduhr. „Ja“, sagte er knapp.<br />

Heikes Vater stand von seinem Sessel auf. „Und was hält uns jetzt davon ab, zu Luigi zu<br />

gehen?“<br />

272

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