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Offene Tore 3 / 2010 - Orah.ch

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Abraham und Lot<br />

Predigt von Rev. Peter M. Buss, Jr.<br />

H<br />

eute wenden wir uns Abraham und seinem Neffen Lot zu.<br />

Indem wir in diesen Teil der Bibel s<strong>ch</strong>auen, werden wir<br />

herausgefordert: wir sehen, dass die Handlungen dieser Männer<br />

und die historis<strong>ch</strong>en Details von Bedeutung für uns heute sind.<br />

Mens<strong>ch</strong>en, die si<strong>ch</strong> mit der Bibel bes<strong>ch</strong>äftigt haben, wissen, dass<br />

Gott bedeutungsvolle Mitteilungen dur<strong>ch</strong> Lebenss<strong>ch</strong>ilderungen in<br />

seinem Wort gibt. In der Neuen Kir<strong>ch</strong>e bezei<strong>ch</strong>nen wir das als den<br />

inneren Sinn des Wortes.<br />

In dieser besonderen Erzählung wird die Herausforderung dur<strong>ch</strong><br />

den Umstand verstärkt, dass der innere Sinn auf den ersten Blick<br />

ni<strong>ch</strong>t offenkundig ist - er ist verborgen unter vielen ans<strong>ch</strong>einend<br />

trivialen historis<strong>ch</strong>en Fakten über Abraham und Lot. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

ist es so, dass eine Belehrung in den S<strong>ch</strong>riften der Neuen Kir<strong>ch</strong>e,<br />

die das erklärt, sagt: »der innere Sinn s<strong>ch</strong>eint aus dem Bu<strong>ch</strong>staben<br />

entfernt worden zu sein, so, dass er s<strong>ch</strong>wer erkennbar ist.« (HG<br />

1540).<br />

Aber der Herr hat diese Bedeutung offenbart. Er hat uns einige<br />

Werkzeuge gegeben, mit deren Hilfe wir die Mitteilung ers<strong>ch</strong>ließen<br />

können, die der Erzählung zugrunde liegt; und die für uns wirkli<strong>ch</strong><br />

wi<strong>ch</strong>tig ist zu verstehen.<br />

Wir beginnen damit, uns die einzelnen Szenen im Leben von<br />

Abraham und Lot anzusehen. Sie stehen auf einem Berg. Es sind<br />

nur diese beiden, so s<strong>ch</strong>eint es zu sein. Na<strong>ch</strong> dem, was wir über<br />

das Land Kanaan wissen, wird dieser Berg re<strong>ch</strong>t spärli<strong>ch</strong> gewesen<br />

sein. Es wird Flecken mit struppigen Gras und viele Felsbrocken<br />

gegeben haben. Da wird einiges Bus<strong>ch</strong>werk aber keine Bäume gewesen<br />

sein - ni<strong>ch</strong>ts, was den Wind abhalten kann, der über die Abhänge<br />

weht. In dieser Umgebung verabs<strong>ch</strong>iedeten si<strong>ch</strong> Abraham<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

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und Lot voneinander. Es hatte Streit gegeben zwis<strong>ch</strong>en den Hirten<br />

Abrahams und den Hirten des Lot. Beide waren sie rei<strong>ch</strong>e Männer<br />

mit viel Besitz, und die Gegend in der sie weideten war ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>end<br />

für beide Männer. So bot Abraham dem Lot an über das<br />

(ganze) Land zu ents<strong>ch</strong>eiden. Er sagte:<br />

»Lass do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Zank sein zwis<strong>ch</strong>en mir und dir und zwis<strong>ch</strong>en meinen<br />

und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir ni<strong>ch</strong>t alles Land offen?<br />

Trenne di<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> von mir! Willst du zur Linken, so will i<strong>ch</strong> zur<br />

Re<strong>ch</strong>ten, oder willst du zur Re<strong>ch</strong>ten, so will i<strong>ch</strong> zur Linken.« (Gen 13,8-9).<br />

Von der Spitze des Berges s<strong>ch</strong>aute Lot in das weite Rund der<br />

Lands<strong>ch</strong>aft vor ihm. Seine Augen verweilten auf dem Land und er<br />

sah unter si<strong>ch</strong>, was man die Ebene des Jordan nannte. Im Gegensatz<br />

zu dem wo er stand würde es dort grün und gut bewässert<br />

sein. Es würde viele grüne Bäume geben, sehr viel freien Platz für<br />

das Grasen seiner Herden und den Jordanfluss, seinen Weg dur<strong>ch</strong><br />

das Tal windend. Lot wählte dieses Gebiet für si<strong>ch</strong>, und die beiden<br />

Männer s<strong>ch</strong>ieden von einander: der Onkel vom Neffen.<br />

Der innere Sinn dieser Mitteilung steht in We<strong>ch</strong>selbeziehung zu<br />

dem Land selbst: den Bergen und den Tälern. Der Herr sagt uns,<br />

dass das Land Kanaan ein Abbild unserer Gemüter ist. Die Berge<br />

stellen die höheren Regionen des Gemüts dar, und die Täler die<br />

niedrigeren Anteile (HG 1585). Der Herr sagt uns au<strong>ch</strong>, dass<br />

Abraham, der si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>loss in der Berglands<strong>ch</strong>aft zu leben, den<br />

höheren oder inneren Teil unseres Gemüts darstellt, genannt innerer<br />

Mens<strong>ch</strong>; und dass Lot, der si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>loss in den Tälern zu leben,<br />

der niedere oder äußere Anteil unseres Gemüts ist, äußerer<br />

Mens<strong>ch</strong> genannt (HG 1563). Das ist die Bedeutung des inneren<br />

(Wort)Sinnes: der innere und der äußere Mens<strong>ch</strong> in uns.<br />

Die Bedeutung für uns<br />

Das Ziel in unserem Leben ist die Vorbereitung auf den Himmel<br />

oder geistige Wesen zu werden. Wenn wir bemüht sind, ein gutes<br />

Leben zu leben, erlauben wir dem Herrn die höheren Berei<strong>ch</strong>e un-<br />

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seres Gemüts zu entwickeln. Aber diese Vorbereitung erfolgt im<br />

natürli<strong>ch</strong>en Leben. Wir sind angehalten, in der natürli<strong>ch</strong>en Umgebung<br />

geistig zu werden und himmlis<strong>ch</strong>e Dinge anzustreben, unser<br />

ewiges Leben vorzubereiten, und das inmitten unserer drängenden<br />

Termine, angefüllt mit Arbeiten, der Kindererziehung, der Vorsorge<br />

für unseren Lebensunterhalt und dem Abwickeln unserer Reisen.<br />

Inmitten der Erledigung all dieser praktis<strong>ch</strong>en Aufgaben sehen wir<br />

wie bedeutend die Realität der geistigen Welt ist. Wir erkennen die<br />

Notwendigkeit uns über die natürli<strong>ch</strong>en Welt zu erheben, zu erahnen,<br />

dass da etwas ist jenseits des äußeren Überlebens - etwas Inneres<br />

und ewig Beständiges.<br />

Die Erzählungen über Abraham und Lot führen uns hinein in die<br />

Realität der beiden Teile unseres Gemüts. Sie sind zwei Männer<br />

von unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Persönli<strong>ch</strong>keit und einer je eigenen Art des<br />

Handelns. Dur<strong>ch</strong> sie belehrt uns der Herr wie wir unser Gemüt benutzen<br />

sollen, um hier in der natürli<strong>ch</strong>en Welt ein geistiges Leben<br />

zu leben.<br />

Erzählungen über Abraham<br />

Zuerst wollen wir den inneren Teil seines Gemüts ansehen, so,<br />

wie es in den Erzählungen über Abraham wiedergegeben wurde.<br />

Der Herr ers<strong>ch</strong>eint dem Abraham in Haran. Er bittet ihn, seine Familie<br />

und das Land seiner Väter zu verlassen und an einen neuen<br />

Ort zu gehen - das Land Kanaan (Gen 12,1). Das stellt unser erstes<br />

Bewusstwerden des geistigen Lebens dar -, dass höhere Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />

in uns sind, dass es einen Zustand gibt, Himmel genannt, in<br />

den der Herr uns einlädt (HG 1410). Wir reagieren darauf dur<strong>ch</strong><br />

Verzi<strong>ch</strong>t auf unser ererbtes Zuhause - dur<strong>ch</strong> die Erkenntnis, dass<br />

diese Erde ni<strong>ch</strong>t unsere Bestimmung ist, indem wir bemerken,<br />

dass wir uns um mehr bemühen sollen als um unser Wohlergehen;<br />

dur<strong>ch</strong> Erlernen der Art des Lebens, das der Herr si<strong>ch</strong> von uns<br />

wüns<strong>ch</strong>t (HG 1411). Der Herr hat zugesagt den Abraham zu einem<br />

großen Volk zu ma<strong>ch</strong>en. So wird er au<strong>ch</strong> die guten Anteile in uns<br />

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vervielfältigen, um uns vorzubereiten, im Himmel leben zu können,<br />

wenn wir ihm entgegenkommen. Das war der erste Bund, den der<br />

Herr mit Abraham s<strong>ch</strong>loß. Er fuhr fort und vereinbarte weitere<br />

se<strong>ch</strong>s während des Lebens von Abraham: seine Na<strong>ch</strong>kommen würden<br />

wie der Staub der Erde werden (Gen 13,16), er werde Kanaan<br />

erben (Gen 12,7) und ihm werde ein Sohn geboren dur<strong>ch</strong> seine<br />

s<strong>ch</strong>on alte Frau Sarah (Gen 18,9-15).<br />

Das Wissen, dass Abraham den inneren Teil unseres Gemütes<br />

darstellt, kann hilfrei<strong>ch</strong> sein zu erkennen, dass dieser Berei<strong>ch</strong> in<br />

uns die Verheißungen des Herrn über die Ewigkeit im Himmel hören<br />

kann. Es ist der innere Berei<strong>ch</strong> in uns, der mit dem Herrn in<br />

Beziehung tritt. Diese Verheißungen des Herrn werden dur<strong>ch</strong> viele<br />

andere Wahrheiten im Wort bestätigt. In der Erzählung über Abraham<br />

wird dies wiedergegeben dur<strong>ch</strong> die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass der Herr<br />

den Abraham rei<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t an Lebewesen, Gold und Silber. Das bedeutet<br />

das Rei<strong>ch</strong>werden im Wissen um spirituelle Dinge, und au<strong>ch</strong><br />

an Neigungen und Wüns<strong>ch</strong>en, ein geistiges Wesen zu werden<br />

dur<strong>ch</strong> das Befolgen dessen, was der Herr fordert (HG 1549-52).<br />

Eine weitere Einzelheit aus dem Leben von Abraham ist die Anzahl<br />

der Anbetungen Gottes dur<strong>ch</strong> ihn. Als er zum ersten Mal na<strong>ch</strong><br />

Kanaan kam, baute er einen Altar (Gen 12,7). Als er sein Lager auf<br />

dem Berg im Osten von Bethel bra<strong>ch</strong>te, baute er einen weiteren Altar<br />

und »rief den Namen des Herrn an« (Gen 12,8). Als er von seinem<br />

Aufenthalt in Ägypten zurückkam, ging er erneut zu diesem<br />

Altar nahe Bethel und betete wieder den Herrn an (Gen 13,4). Das<br />

zeigt, dass wir den Herrn aus dem innerem Teil des Gemütes anrufen<br />

- ein weiteres Kennzei<strong>ch</strong>en unseres inneren Mens<strong>ch</strong>seins (HG<br />

1559, 1561).<br />

Aber all das war kein ruhiges Dahingleiten für Abraham. Oft<br />

hörte er das Verspre<strong>ch</strong>en des Herrn, dass aus ihm ein großes Volk<br />

kommen wird, aber Sarah war no<strong>ch</strong> immer unfru<strong>ch</strong>tbar. Er benötigte<br />

einen Sohn, um dieses Verspre<strong>ch</strong>en erfüllen zu können, aber<br />

Sarah war längst ni<strong>ch</strong>t mehr in der Zeit mögli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>wanger-<br />

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s<strong>ch</strong>aft. Abraham war darüber besorgt. Er nahm Hagar zur Magd<br />

und sie gebar ihm Ismael. Aber der Herr sagte ihm, dass er ni<strong>ch</strong>t<br />

der Re<strong>ch</strong>te sei. Sarah würde ihm einen Sohn s<strong>ch</strong>enken in ihrem<br />

fortges<strong>ch</strong>rittenen Alter (Gen 17,18-19). Abraham war au<strong>ch</strong> besorgt<br />

über die Zerstörung von Sodom und Gomorrah. Lot lebte nahe Sodom<br />

und wollte ni<strong>ch</strong>t, dass er getötet würde, falls der Herr diese<br />

Stadt zerstörte. So sehen wir ihn als Fürspre<strong>ch</strong>er für Sodom im Interesse<br />

Lots - den Herrn fragend, ob er die Stadt zerstören würde,<br />

falls dort fünfzig gere<strong>ch</strong>te Mens<strong>ch</strong>en wären oder fünfundvierzig<br />

oder vierzig und so weiter (Gen 18,16-33).<br />

All das zeigt, dass unser innerer Mens<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t immer die Verheißungen<br />

des Herrn versteht. Wir sind ni<strong>ch</strong>t immer si<strong>ch</strong>er, ob uns<br />

die Wege des Herrn Glück bringen. Der innere Mens<strong>ch</strong> ist der Teil<br />

in uns, der si<strong>ch</strong> mit der Wahrheit abmüht und kämpft, um Klarheit<br />

über die Belehrungen des Herrn zu erlangen.<br />

Verallgemeinerungen<br />

Aus all den Erzählungen über Abraham können wir ersehen,<br />

dass unser innerer Mens<strong>ch</strong> unser religiöser Anteil ist. Er sinnt über<br />

die Dinge na<strong>ch</strong>, ist fürsorgli<strong>ch</strong>, großzügig und mitfühlend. Es ist<br />

der Ort unseres Bewusstseins. Es ist der Ort in uns, wo wir bemerken,<br />

dass der Herr mit uns arbeitet: unsere Gemütsbewegungen<br />

berührt, uns erleu<strong>ch</strong>tet und uns führt. So lesen wir, »die geistige<br />

Personalität ist - in einer Art Abbild - eine geistige Welt und liebt<br />

deshalb jene Dinge, die aus dieser Welt sind, die vom Himmel<br />

sind« (GLW 251).<br />

Erzählungen über Lot<br />

Obwohl wir uns über vieles der geistigen Dimension in unserem<br />

Innern bewusst sind, können wir ni<strong>ch</strong>t beständig in diesem Teil<br />

unseres Bewusstseins leben. Wir müssen sehr viele praktis<strong>ch</strong>e<br />

Dinge erledigen. Das ist ni<strong>ch</strong>ts S<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tes. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist es so,<br />

das wir dabei die geistigen Prinzipien zur Ausführung bringen. Der<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

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Herr wüns<strong>ch</strong>t von uns ni<strong>ch</strong>t, dass wir den ganzen Tag herumsitzen<br />

und geistigen Gedanken na<strong>ch</strong>hängen - er wüns<strong>ch</strong>t, dass wir tätig<br />

sind und nützli<strong>ch</strong>. Deshalb treten wir ein in den Zuständigkeitsberei<strong>ch</strong><br />

unseres äußeren Mens<strong>ch</strong>seins.<br />

Das erste, was wir über Lot bemerken, ist, dass er ni<strong>ch</strong>t die<br />

Hauptperson ist. Abraham war der Patriar<strong>ch</strong>; Lot war ledigli<strong>ch</strong> eine<br />

der Personen, die mit ihm unterwegs waren. Der Herr lehrt uns,<br />

dass der äußere Anteil unseres Gemütes dazu bestimmt ist, dem<br />

inneren Anteil dienstbar zu sein (HG 1563). Unser äußerer Mens<strong>ch</strong><br />

führt die geistigen Ziele aus. Der Herr wüns<strong>ch</strong>t von uns, dass wir<br />

ehrli<strong>ch</strong> sind, und dass unser Mund die Wahrheit spri<strong>ch</strong>t. Der Herr<br />

wüns<strong>ch</strong>t von uns, dass wir aus seinem Wort lernen. Der Herr<br />

wüns<strong>ch</strong>t, dass wir ihn verehren; unser äußerer Mens<strong>ch</strong> ermögli<strong>ch</strong>t<br />

es uns, die Kir<strong>ch</strong>e zu besu<strong>ch</strong>en und am Ritual teilzunehmen, wel<strong>ch</strong>es<br />

eine Form der Verehrung ist. So sehen wir, dass Lot gemeinsam<br />

mit Abraham geht: von Haran na<strong>ch</strong> Kanaan, von Kanaan na<strong>ch</strong><br />

Ägypten und wieder zurück. Wir benötigen beide Teile unseres<br />

Gemüts: den kontemplativen und den aktiven; den Teil, der für unsere<br />

ewige Zukunft sorgt, und den, der es uns ermögli<strong>ch</strong>t hier und<br />

jetzt zu leben.<br />

Aber es gibt eine weitere Facette unserer äußeren Person. Wir<br />

haben die Fähigkeit, alles Geistige aus unserem Leben auszus<strong>ch</strong>ließen,<br />

wenn wir dies wollen. Wir können uns auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf<br />

das konzentrieren, das uns in der Welt momentane Freuden bringt:<br />

die aufwendigste Kleidung, ein großes, wohl eingeri<strong>ch</strong>tetes Haus,<br />

einen großen Wagen. Keines dieser Dinge ist an si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, aber<br />

diese Dinge können s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t sein, wenn sie zur einzigen Zielsetzung<br />

werden und das ni<strong>ch</strong>t nur vorübergehend sondern dauerhaft.<br />

Der äußere Mens<strong>ch</strong> kann immer nur si<strong>ch</strong> selbst bedienen und<br />

weltbezogen werden. Er kann Anregungen erhalten; ni<strong>ch</strong>t vom<br />

Herrn dur<strong>ch</strong> seine innere Persönli<strong>ch</strong>keit, sondern aus der Hölle mit<br />

Hilfe der Sinne und deren beeindruckenden Freuden (HG 1563,<br />

1568). Diese Seite des äußeren Mens<strong>ch</strong>en wird dur<strong>ch</strong> Lot darge-<br />

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stellt, als er von Abraham getrennt war. Lot kam in S<strong>ch</strong>wierigkeiten.<br />

Er wählte sein Leben in den Niederungen und siedelte nahe<br />

Sodom (Gen 13,11-12). Er war gefangen im Krieg von fünf Königen<br />

gegen vier (Gen 14,11-12). Er war verstrickt in der ganzen Zerstörung<br />

von Sodom und Gomorrah (Gen 19). Seine Frau erstarrte zu<br />

einer Salzsäule (Gen 19,26).<br />

Verallgemeinerungen<br />

Der äußere oder natürli<strong>ch</strong>e Anteil unserer Gemüter ist der tätige<br />

Teil. Er ist am Hier und Jetzt ausgeri<strong>ch</strong>tet. Er ist hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> mit<br />

si<strong>ch</strong> selbst bes<strong>ch</strong>äftigt. Es ist der Anteil in uns, der »die Dinge<br />

liebt, die der natürli<strong>ch</strong>en Welt angehören« (GLW 251). Er ermögli<strong>ch</strong>t<br />

uns in dieser Welt zu leben. Es ist unser wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er<br />

Anteil, der fühlt, beoba<strong>ch</strong>tet, und die Dinge und Personen erkennt,<br />

die um uns herum sind. Er kann ein Diener seiner inneren Persönli<strong>ch</strong>keit<br />

sein oder er kann ein Diener seiner selbst sein.<br />

Zusammenfassung dessen, was wir kennengelernt haben<br />

Es kann sinnvoll sein, für einen Augenblick innezuhalten und<br />

zur Anfangsüberlegung zurückzukehren. Unsere Herausforderung<br />

war es, die Hinweise an unser Inneres zu bemerken, die der Herr<br />

für uns dur<strong>ch</strong> Glei<strong>ch</strong>nisse über das Leben von Abraham und Lot<br />

verfügbar hält. Wir sind, von den beiden Männern ausgehend, einen<br />

langen Weg gegangen, hin zur inneren und äußeren Personalität<br />

in uns. Das ist das Erhebende der Worte des Herrn: Es ist<br />

himmlis<strong>ch</strong>e Wahrheit, umhüllt dur<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>e biblis<strong>ch</strong>e Bilder. Dadur<strong>ch</strong><br />

haben wir erfahren:<br />

1. Unser Gemüt besteht aus zwei Teilen: einen geistigen Anteil,<br />

angeregt vom Herrn und dem Wuns<strong>ch</strong> den Himmel zu errei<strong>ch</strong>en,<br />

und einen natürli<strong>ch</strong>en Anteil, der dann und wann geistige Ziele<br />

verfolgt und zu anderen Zeiten uns verführt.<br />

2. Wird der äußere Anteil oder Mens<strong>ch</strong> für si<strong>ch</strong> alleine gelassen,<br />

wählt er egoistis<strong>ch</strong>e oder weltli<strong>ch</strong>e Ausri<strong>ch</strong>tungen. Eine Person, die<br />

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si<strong>ch</strong> dem Einfluss aus höheren Regionen ihres Gemüts vers<strong>ch</strong>ließt,<br />

wählt ein gottloses Leben. Er wird kalt und herzlos. Er wird egoistis<strong>ch</strong><br />

und strebt na<strong>ch</strong> Freuden der Welt. Er wird in geistiger Dunkelheit<br />

sein. Er wird mit den Höllen verbunden sein (GLW 254).<br />

3. Um uns zu ermuntern ni<strong>ch</strong>t gottlos zu werden, verspri<strong>ch</strong>t<br />

uns der Herr die Vermehrung unserer inneren Persönli<strong>ch</strong>keit. Er<br />

mö<strong>ch</strong>te von uns, dass wir vollkommene Mens<strong>ch</strong>en werden, mit den<br />

höheren Ebenen unseres Gemüts geöffnet (hörend) und in Tätigkeit.<br />

Er sagt uns zu, dass wir mit den Engeln der Himmel in Verbindung<br />

sein können, wenn wir ihm erlauben, diesen Teil unseres<br />

Gemüts zu entwickeln. Er verspri<strong>ch</strong>t, uns es zu erfüllen mit »vielen<br />

tausend Geheimnissen der Weisheit und mit vielen tausend Ergötzli<strong>ch</strong>keiten<br />

der Liebe« (GLW 252).<br />

Was sollen wir tun?<br />

Das Wort des Herrn ist ni<strong>ch</strong>t nur bes<strong>ch</strong>reibender Art. Er will<br />

ni<strong>ch</strong>t, dass wir verharren in unserem Wissen über einen inneren<br />

und einen äußeren Anteil in uns. Er mö<strong>ch</strong>te den Nutzen aus dieser<br />

Unterweisung sehen - sehen, dass es unser Leben verbessern kann.<br />

Aus diesen Belehrungen können wir Grundsätze zum Leben eines<br />

erfüllten Lebens herleiten:<br />

1. Kontrolle des äußeren Anteils unseres Gemüts. Der Herr<br />

wüns<strong>ch</strong>t, dass wir es zum Diener unseres inneren Anteils ma<strong>ch</strong>en.<br />

Wir erwähnten die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, in der Lot in einem Krieg gefangen<br />

wurde, gemeinsam mit Sodom und seinen Verbündeten (Gen 14).<br />

Abraham verfolgte die Sieger und befreite Lot. Das ist ein Bild zur<br />

Kontrolle und Zähmung unseres äußeren Lebens - wie wir uns<br />

selbst zu dem zwingen sollen, was der Herr gebietet.<br />

2. Um das zu errei<strong>ch</strong>en, muss unserer innerer oder geistiger<br />

Anteil offen und aufmerksam sein. Wir müssen die Gesetze der<br />

Ordnung Gottes erlernen. Je mehr wir lernen, um so mehr werden<br />

wir fähig sein, unsere äußeren Vorlieben, die ni<strong>ch</strong>t mit dieser Ordnung<br />

übereinstimmen, zu zähmen. Mir müssen au<strong>ch</strong> Zeit finden,<br />

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um in unseren inneren Mens<strong>ch</strong>en hinein zu gehen - hören, dass der<br />

Herr zu uns spri<strong>ch</strong>t, und ihn zu fühlen, wie er uns in die re<strong>ch</strong>te<br />

Ri<strong>ch</strong>tung führen will.<br />

Während wir unser ges<strong>ch</strong>äftiges Leben drunten in den Niederungen<br />

führen, angefüllt mit Terminen, Pfli<strong>ch</strong>ten, Hausarbeit, Spaß<br />

und vielen anderen Dingen, sollen wir uns an Abraham oben auf<br />

dem Berg erinnern, Altäre für den Herrn erbauend. Wenn wir das<br />

tun, werden wir wieder und wieder den Herrn hören, der uns die<br />

Verheißung gibt, dass wir einzigartig glückli<strong>ch</strong> sein werden, wenn<br />

wir mit dem geöffneten höheren Gemütsanteil leben - wenn wir ihn<br />

benutzen um unsere Art des Denkens und Handelns zu beherrs<strong>ch</strong>en.<br />

In unserer inneren Persönli<strong>ch</strong>keit begegnen wir dem Herrn<br />

und erlauben ihm, uns zu berühren. Wenn wir Zeit für geistige Erfris<strong>ch</strong>ung<br />

s<strong>ch</strong>affen, wird er uns revitalisieren und uns die Bedeutung<br />

all der Pfli<strong>ch</strong>ten lehren, die von uns im Leben erwartet werden.<br />

Er verspri<strong>ch</strong>t uns eine si<strong>ch</strong>ere und gedeihli<strong>ch</strong>e Zukunft, wie er<br />

es so viele Male gegenüber Abraham getan hat. Er wird si<strong>ch</strong> um<br />

uns kümmern - in dieser Welt und in Ewigkeit im Himmel.<br />

Wir s<strong>ch</strong>ließen mit einer dieser Verheißungen. Als Abraham<br />

neunundneunzig Jahre alt war, sagte der Herr zu ihm:<br />

»I<strong>ch</strong> bin der allmä<strong>ch</strong>tige Gott, trete her zu Mir und sei frei von S<strong>ch</strong>uld.<br />

Und I<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e Meinen Bund zwis<strong>ch</strong>en Mir und dir, und werde di<strong>ch</strong><br />

überrei<strong>ch</strong> vervielfältigen.« (Gen 17,1-2).<br />

Briefe an einen Freund<br />

Vorbemerkung der S<strong>ch</strong>riftleitung: Dr. Klaus Pfeifer von der Jung-<br />

Stilling-Gesells<strong>ch</strong>aft s<strong>ch</strong>ickte uns vor einiger Zeit die folgenden Texte,<br />

die wir hiermit gerne veröffentli<strong>ch</strong>en. Erinnert sei in diesem Zusammenhang<br />

an den in OT 3/2009 veröffentli<strong>ch</strong>ten Beitrag von Prof. Jacques<br />

Fabry über Johann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling.<br />

J<br />

ohann Heinri<strong>ch</strong> Jung, genannt Stilling (1740-1817) hat in<br />

seinem langen Leben viele Berufe ausgeübt. In der letzten<br />

Epo<strong>ch</strong>e seines Wirkens (1803-1817) war er in Karlsruhe als geistli-<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

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<strong>ch</strong>er Berater des Großherzogs Friedri<strong>ch</strong> von Baden tätig. Er hatte<br />

den Auftrag, in dieser Funktion au<strong>ch</strong> unter anderem dur<strong>ch</strong> » …<br />

Briefwe<strong>ch</strong>sel und S<strong>ch</strong>riftstellerei Religion und Christentum in aller<br />

Welt zu befördern« 1 . Insgesamt sind von den etwa 140 S<strong>ch</strong>riften,<br />

die Jung-Stilling im Laufe seines Lebens verfasst hat, na<strong>ch</strong> 1803<br />

etwa 35 größere und kleinere erstmals im Druck ers<strong>ch</strong>ienen. Darunter<br />

finden si<strong>ch</strong> Zeits<strong>ch</strong>riftenbeiträge, Erbauungsromane, Sa<strong>ch</strong>bü<strong>ch</strong>er<br />

und Gedi<strong>ch</strong>te 2 . Vor allem aber sind in diesen Jahren au<strong>ch</strong> Tausende<br />

der vielen Briefe entstanden, in denen er ungezählten Mens<strong>ch</strong>en<br />

in aller Welt, die si<strong>ch</strong> hilfesu<strong>ch</strong>end an ihn wandten, Rat und<br />

Trost gespendet hat. Zwis<strong>ch</strong>endur<strong>ch</strong> operierte er als gesu<strong>ch</strong>ter Augenarzt<br />

au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> viele Starblinde in Deuts<strong>ch</strong>land und in der<br />

S<strong>ch</strong>weiz 3 . Über diese seine augenkranken Patienten hat er akribis<strong>ch</strong><br />

Bu<strong>ch</strong> geführt. Über die Unzahl von briefli<strong>ch</strong> Getrösteten aber<br />

wissen wir nur dann etwas, wenn aus unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Quellen<br />

immer wieder einmal etli<strong>ch</strong>e seiner Beriefe auftau<strong>ch</strong>en, die er ansonsten<br />

nebst den Dankesbriefen wegen des enormen Umfanges<br />

seiner Korrespondenz ni<strong>ch</strong>t aufgehoben hat, sondern von Zeit zu<br />

Zeit verni<strong>ch</strong>tete 4 . So ist kürzli<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>weden eine Serie von a<strong>ch</strong>t<br />

Briefen aufgetau<strong>ch</strong>t, die Jung-Stilling an einen ratsu<strong>ch</strong>enden<br />

Freund geri<strong>ch</strong>tet hat. Diese Briefe sind zwis<strong>ch</strong>en dem 5.4.1811<br />

und dem 9.6.1816 ges<strong>ch</strong>rieben worden.<br />

1<br />

Merk, Gerhard: Jung-Stilling. Ein Umriss seines Lebens. Kreuztal 1989. – S. 158.<br />

2<br />

Pfeifer, Klaus: Beitrag zu einer Jung-Stilling-Bibliographie. In: Das 18. Jahrhundert.<br />

Wolfenbüttel 14 (1990) S. 122 - 130. – Ders.: Jung-Stilling-Bibliographie. J.<br />

G.Herder- Bibliothek Siegen. 1993 (Titel Nr. 1-940).<br />

Pfeifer, Klaus: Erster Na<strong>ch</strong>trag zu der im Jahre 1993 ers<strong>ch</strong>ienenen Jung-Stilling-<br />

Biographie. Verlag der Jung-Stilling-Gesells<strong>ch</strong>aft Siegen. 2001 (Titel Nr. 942-<br />

1142).<br />

3<br />

Propa<strong>ch</strong>, Gerd: Jung-Stilling als Arzt. Köln. 1983.<br />

Berneaud-Kötz, Gerhard: In memoriam Johann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling. In: Sitzungsberi<strong>ch</strong>t<br />

der 152. Versammlung des Vereins Rheinis<strong>ch</strong>-Westfälis<strong>ch</strong>er Augenärzte.<br />

1990. Balve. – Ders.: Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te meiner Staar-Curen und Heylung anderer<br />

Augenkrankheiten. Siegen. 1992. – Ders.: Kausalheorie der Starentstehung<br />

vor 250 Jahren. Siegen. 1955.<br />

4<br />

S<strong>ch</strong>winge, Gerhard (Hrsg.): Jung-Stilling. Briefe. Gießen. 2002.<br />

142 OFFENE TORE 3/10<br />

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Den ersten dieser Briefe hat Gadde in einer s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Tageszeitung<br />

mitgeteilt. Die restli<strong>ch</strong>en sieben Briefe sind später in<br />

der Heimat Jung-Stillings in einer Heimatzeits<strong>ch</strong>rift publiziert worden<br />

5 . Eine Auswertung in einem mehr theologis<strong>ch</strong> ausgeri<strong>ch</strong>teten<br />

Publikationsorgan ist bisher aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erfolgt. Dies ers<strong>ch</strong>eint<br />

jedo<strong>ch</strong> deshalb so wi<strong>ch</strong>tig, weil Stilling in dieser Serie von Briefen<br />

kurz vor seinem irdis<strong>ch</strong>en Tod eine zusammenfassende Darstellung<br />

seines religiösen Denkens und Empfindens gibt und für den ratsu<strong>ch</strong>enden<br />

Freund praktis<strong>ch</strong>e Rats<strong>ch</strong>läge und Lebenshilfen anfügt 6 .<br />

Die Briefe waren geri<strong>ch</strong>tet an den Universitätsbu<strong>ch</strong>drucker Carl<br />

Fredric Berling (1785-1847) in der süds<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Universitätsstadt<br />

Lund. Gadde hat in seinem (s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en) Kommentar zum<br />

ersten der Briefe ni<strong>ch</strong>t nur eine kurze Darstellung von Stillings Leben<br />

gegeben, da dieser den s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Lesern si<strong>ch</strong>er weniger<br />

gut bekannt war. Er hat au<strong>ch</strong> beri<strong>ch</strong>tet, dass Berling »ein ernsthaft<br />

denkender und re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affener Mann« gewesen sei. Berling gehörte<br />

in der Tat zu einer dur<strong>ch</strong> viele sol<strong>ch</strong>e re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affenen Männer<br />

bekannten Familie, die ursprüngli<strong>ch</strong> einmal von Deuts<strong>ch</strong>land na<strong>ch</strong><br />

S<strong>ch</strong>weden ausgewandert war 7 . Sein Vater, der die Druckerei in<br />

5<br />

Gadde, Fredric: Ett brev fran Jung-Stilling. In: Sydsvenska Dagbladet vom<br />

25.1.1955. – Pfeifer, Klaus: Briefe mit Trost und Rat verfasst. In: Siegerland. Bd.<br />

81 (2004) Heft 1, S. 51-62. – Bei Stillings Briefen handelte es si<strong>ch</strong>, der damaligen<br />

Gepflogenheiten entspre<strong>ch</strong>end, um einseitig bes<strong>ch</strong>riebene Briefbögen, die zum<br />

Versand so zusammen gefaltet wurden, dass ein unbes<strong>ch</strong>riebenes Stück der Bogenrückseite<br />

obenauf lag. Darauf wurde dann die Adresse ges<strong>ch</strong>rieben. Das Ganze<br />

wurde dann mit Siegellack unter Aufdruck einer Pets<strong>ch</strong>aft vers<strong>ch</strong>lossen. Bei drei<br />

von den hier vorliegenden Briefen sind no<strong>ch</strong> mehr oder weniger gut erhaltene Siegelabdrücke<br />

zu erkennen. Sie zeigen alle drei ni<strong>ch</strong>t das Siegel Jung-Stillings, sondern<br />

das s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Staatswappen. Offenbar hat also die Versiegelung erst bei<br />

Einlieferung des Briefes (s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>es Postamt ? Konsulat ?) stattgefunden.<br />

Briefums<strong>ch</strong>läge und Briefmarken waren no<strong>ch</strong> unbekannt.<br />

6<br />

Mein Dank für die Überlassung von Kopien der in der Universitäts-Bibliothek Lund<br />

aufbewahrten Briefe gilt dem Präsidenten der Jung-Stilling-Gesells<strong>ch</strong>aft Siegen,<br />

Herrn Prof. Dr. Gerhard Merk.<br />

7<br />

Wel<strong>ch</strong>er Art die Verwandts<strong>ch</strong>aft von Carl Fredric Berling und dem in Dänemark<br />

ansässig gewesenen Gründer und Herausgeber der weltbekannten Tageszeitung<br />

»Berlingske Tidende« ist, ist mir ni<strong>ch</strong>t bekannt. Dieser Ernst Heinri<strong>ch</strong> Berling<br />

(1709-1758) war ebenfalls deuts<strong>ch</strong>er Herkunft.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

143


Lund geleitet hatte, war 1809 verstorben. Der Großvater, einst<br />

Gründer des Unternehmens, stammte aus Lauenburg. Er war zuerst<br />

na<strong>ch</strong> Kopenhagen ausgewandert. Später war er dann na<strong>ch</strong><br />

Lund verzogen. Als angesehener Ges<strong>ch</strong>äftsmann führte er zuletzt<br />

den Titel eines Hofkämmerers. Sein Sohn Carl Fredric d. Ä. hatte<br />

den Druckereibetrieb vergrößert und weiter entwickelt. Bei dessen<br />

Tode war nun der bei Jung-Stilling ratsu<strong>ch</strong>ende Carl Fredric d. J.<br />

s<strong>ch</strong>on 24 Jahre alt. Er wollte ni<strong>ch</strong>t nur die Familientradition fortsetzen,<br />

sondern hatte si<strong>ch</strong>, so beri<strong>ch</strong>tet Gadde, au<strong>ch</strong> vorgenommen,<br />

dass »seine Wirksamkeit ni<strong>ch</strong>t nur von Nutzen für die Mens<strong>ch</strong>heit«,<br />

sondern au<strong>ch</strong> »ein Gott wohlgefälliges Werk« werden solle.<br />

Um dies erfolgrei<strong>ch</strong> zu bewerkstelligen, vertraute er auf den Rat<br />

des für seine selbstlose Hilfe weltweit bekannten Johann Heinri<strong>ch</strong><br />

Jung-Stilling 8 . Offenbar hatte er selbst den Eindruck, dass er in den<br />

zwei Jahren, in denen er nun bereits na<strong>ch</strong> dem Tode seines Vaters<br />

das Familienunternehmen leitete, sein ho<strong>ch</strong>gestecktes Ziel no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>t habe.<br />

Außer seinem Ersu<strong>ch</strong>en um Hilfe wollte Berling aber au<strong>ch</strong> von<br />

Stilling wissen, ob und wel<strong>ch</strong>e von dessen Werken bereits im<br />

skandinavis<strong>ch</strong>en Raum verlegt und na<strong>ch</strong>gedruckt worden seien.<br />

Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> waren zu dieser Zeit in Göteborg s<strong>ch</strong>on Jung-Stillings<br />

»Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Religion«, die »Theorie der<br />

Geisterkunde« und das »Abgeforderte Guta<strong>ch</strong>ten einer ehrwürdigen<br />

Geistli<strong>ch</strong>keit der Stadt Basel« sowie der Erbauungsroman »Das<br />

Heimweh« ers<strong>ch</strong>ienen 9 .<br />

Na<strong>ch</strong>stehend sollen nun die a<strong>ch</strong>t Briefe JungStillings an Berling<br />

8<br />

Ein Beispiel hierfür aus dem deuts<strong>ch</strong>en Raum findet si<strong>ch</strong> in meinem Aufsatz »Johann<br />

Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling (1740-1817) und Christoph Wilhelm Hufeland<br />

(1762-1836)«. In: Siegerland. Band 4 (1970) S. 89-92.<br />

9<br />

Bis zum Jahre 1811 waren in Skandinavien s<strong>ch</strong>on etli<strong>ch</strong>e weitere Werke Jung-<br />

Stillings gedruckt worden, so Nr. 190, 191, 206, 208, 212 und 976 meiner Bibliographie.<br />

Um die Herausgabe hat si<strong>ch</strong> vor allem Sam Norberg verdient gema<strong>ch</strong>t. –<br />

Näheres zu der erwähnten Ausgabe des »Heimweh« und des »S<strong>ch</strong>lüssel zum<br />

Heimweh« s. u. Nr. 187 und 188.<br />

144 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


wiedergegeben werden. Die Antworts<strong>ch</strong>reiben, die Berling jeweils<br />

an Stilling geri<strong>ch</strong>tet hat, sind allerdings leider ni<strong>ch</strong>t erhalten geblieben.<br />

Erster Brief<br />

An Herrn Carl Berling<br />

Docent und Bu<strong>ch</strong>drucker zu Lund in S<strong>ch</strong>onen<br />

im Königrei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden<br />

Calsruhe den 5ten April 1811<br />

Ihr S<strong>ch</strong>reiben vom 10ten März, mein theuerer und sehr lieber<br />

Bruder im Herrn! hat mi<strong>ch</strong> sehr gefreut. Christus sagt: I<strong>ch</strong> bin gekommen<br />

ein Feuer anzuzünden auf Erden, was wollte i<strong>ch</strong> lieber, als<br />

es brennete s<strong>ch</strong>on! Daher freue i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> sehr in dieser eiskalten<br />

und dunkeln Zeit, wenn si<strong>ch</strong> allenthalben Flammen zeigen, die<br />

li<strong>ch</strong>terloh brennen, und wenn wel<strong>ch</strong>e darunter sind, die au<strong>ch</strong> um<br />

si<strong>ch</strong> her anzuzünden bereit sind. Eine sol<strong>ch</strong>e Flamme sind au<strong>ch</strong> Sie,<br />

mein lieber Bruder! Sie wüns<strong>ch</strong>en Segen zu stiften in Ihrem Beruf,<br />

und dieser Wuns<strong>ch</strong> ist eine Flamme des Herrn. Was Sie selbst und<br />

Ihre Heiligung betrifft, so kann i<strong>ch</strong> Ihnen keinen bessern Rath geben<br />

als folgenden: Erstli<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>ließen Sie si<strong>ch</strong> vest und unwiderrufli<strong>ch</strong><br />

von nun an ganz für den Herrn zu leben, und für ihn zu<br />

sterben, dies verspre<strong>ch</strong>en Sie ihm ernstli<strong>ch</strong> und feyerli<strong>ch</strong>. Dann<br />

bestreben Sie si<strong>ch</strong>, immer so viel als mögli<strong>ch</strong> im Andenken an den<br />

Herrn, das ist, in seiner Gegenwart zu bleiben, und so oft Sie si<strong>ch</strong><br />

zerstreut haben, wieder in dieses Andenken mit dem innerli<strong>ch</strong>sten<br />

Seufzer einzukehren: Herr Jesus Christus erbarme Di<strong>ch</strong> meiner! In<br />

diesem Andenken an den Herrn, und au<strong>ch</strong> in demselben, su<strong>ch</strong>en<br />

Sie Ihre Gedanken, Worte und Werke zu prüfen, ob wohl der Herr<br />

Jesus so geda<strong>ch</strong>t, gespro<strong>ch</strong>en und getan haben würde, wenn er an<br />

Ihrer Stelle gewesen wäre, und dann su<strong>ch</strong>en Sie so zu denken zu<br />

reden und zu wirken wie Er. Dies ist das Wa<strong>ch</strong>en, wel<strong>ch</strong>es der Herr<br />

so ernstli<strong>ch</strong> empfiehlt; hiemit müssen Sie dann au<strong>ch</strong> das Bäten<br />

verbinden: Das Herz des Christen muss si<strong>ch</strong> immer na<strong>ch</strong> dem<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

145


Herrn und seiner Gnade sehnen. Dies ist das innere und immerwährende<br />

Gebät, womit dann au<strong>ch</strong> das äußere von Zeit zu Zeit verbunden<br />

werden muss.<br />

Meine S<strong>ch</strong>riften, die allenfalls in S<strong>ch</strong>weden Nutzen stiften können,<br />

sind: Heinri<strong>ch</strong> Stillings Lebensges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te in fünf Bänden. Diese<br />

sind s<strong>ch</strong>on ins S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e übersetzt. Die Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der<br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Religion ebenfalls, und wie i<strong>ch</strong> nun sehe, so übersetzt<br />

man au<strong>ch</strong> meine Zeits<strong>ch</strong>rift, den grauen Mann. I<strong>ch</strong> halte dafür,<br />

dass das Heimweh von Heinri<strong>ch</strong> Stilling Marburg bei Krieger, 4<br />

Bände in 8 gute Würkung thun würde; i<strong>ch</strong> habe au<strong>ch</strong> einen S<strong>ch</strong>lüssel<br />

dazu ges<strong>ch</strong>rieben, der zuglei<strong>ch</strong> übersetzt werden müsste. Wenn<br />

Sie dies Werk herausgegeben haben, so will i<strong>ch</strong> Ihnen dann ferner<br />

rathen. Der Geist des Herrn sey das Element Ihres Lebens und<br />

Würkens.<br />

Mit wahrer Liebe<br />

Ihr ewiger Bruder Jung Stilling.<br />

Zweiter Brief<br />

An Herrn Carl Berling<br />

Lehrer und Bu<strong>ch</strong>händler<br />

auf der Königl. Universität<br />

Lund in S<strong>ch</strong>onen<br />

franco Helsingborg<br />

Carlsruhe den 31ten August 1811<br />

Mein theuerster und inigst geliebter Bruder!<br />

I<strong>ch</strong> war einige Wo<strong>ch</strong>en verreist, bey meiner Na<strong>ch</strong>hauskunft fand<br />

i<strong>ch</strong> unter einer Menge von Briefen au<strong>ch</strong> den Ihrigen vom 27sten<br />

Juni. Die Übersetzung des Heimwehs wird allerdings s<strong>ch</strong>wer seyn,<br />

weil es in einem humoristis<strong>ch</strong>en Styl ges<strong>ch</strong>rieben ist. Der Übersetzer<br />

muss beyde Spra<strong>ch</strong>en in ihren feinsten Nuancen wohl inne ha-<br />

146 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


en. Die russis<strong>ch</strong>e Übersetzung 10 soll sehr gut geraten seyn.<br />

Überhaupt lasse i<strong>ch</strong> den Herrn mit meinen S<strong>ch</strong>riften s<strong>ch</strong>alten und<br />

walten, i<strong>ch</strong> darf da ni<strong>ch</strong>t mitwürken, damit i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in den Verda<strong>ch</strong>t<br />

der Eitelkeit gerathe, als wel<strong>ch</strong>e eine sehr gefährli<strong>ch</strong>e Klippe<br />

für einen religiösen S<strong>ch</strong>riftsteller ist. Treiben Sie das Übersetzungs-<br />

Werk ni<strong>ch</strong>t zu dringend; will es der Herr, so wird Er Ihnen au<strong>ch</strong><br />

fromme und ges<strong>ch</strong>ickte Männer anweisen, und ein wahrer Christ<br />

wird au<strong>ch</strong> in der Bezahlung billig seyn. Unser seliger Großherzog<br />

war ein wahrer Christ, ein vortreffli<strong>ch</strong>er sehr weiser und gelehrter<br />

Mann, und ein Regent der seinesglei<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t hatte; sein Enkelsohn,<br />

der Bruder der gewesenen Königin von S<strong>ch</strong>weden, tritt in<br />

seine Fußstapfen, wir können mit Grund hoffen, dass Er Land und<br />

Leute glückli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en wird 11 .<br />

Liebster Bruder! Gewiss leben wir in sehr bedenkli<strong>ch</strong>en Zeiten.<br />

Hier in Deuts<strong>ch</strong>land herrs<strong>ch</strong>t zwar allenthalben äußere Ruhe, allein<br />

Jammer, Armut, Luxus und Sittenlosigeit nehmen unaufhaltbar zu.<br />

Der religiöse Sinn erkaltet im Ganzen, do<strong>ch</strong> hat der Herr sein großes<br />

Volk in allen, besonders den südli<strong>ch</strong>en Provinzen, und dieses<br />

nimmt sowohl an der Zahl, als au<strong>ch</strong> in den Graden der Heiligung<br />

zu.<br />

Sagen Sie Ihrer lieben theuern Gattin meinen herzli<strong>ch</strong>en Brudergruß,<br />

i<strong>ch</strong> freu mi<strong>ch</strong> ihrer und hoffe sie dereinst vor dem Thron<br />

des Lammes zu umarmen.<br />

Die vierte meiner biblis<strong>ch</strong>en Erzählungen ist nun gedruckt au<strong>ch</strong><br />

mein Tas<strong>ch</strong>enbu<strong>ch</strong> auf 1812. Jetzt kommt nun au<strong>ch</strong> das 24ste Heft<br />

des grauen Mannes unter die Presse, das Mskp habe i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on abges<strong>ch</strong>ickt<br />

12 .<br />

10<br />

Übersetzt von F. P. Lubjanowski, St. Petersburg, 1806 (Nr. 195 meiner Bibliographie).<br />

11<br />

Karl von Baden (1786-1818) wurde na<strong>ch</strong> dem Ableben seines Großvaters im Jahre<br />

1811 Großherzog von Baden.<br />

12<br />

Tas<strong>ch</strong>enbu<strong>ch</strong> für Freunde des Christentums auf das Jahr 1812 (=Nr. 17 meiner<br />

Bibliographie). – Der graue Mann. Eine Volckss<strong>ch</strong>rift (Nr. 104). – Des <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />

Mens<strong>ch</strong>enfreundes biblis<strong>ch</strong>e Erzählungen (Nr. 205).<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

147


Lieben Brüder und S<strong>ch</strong>western alle! fasst do<strong>ch</strong> meine folgende<br />

Ermahnung mit getrostem Muth, und mit Geduld auf! Wir sehen<br />

einen großen Theil, viele Äste des Feigenbaumes blühen; jetzt ist<br />

also ni<strong>ch</strong>ts gewisser als dass der Sommer nahe ist; darum lasst uns<br />

unsere Häupter mit Freuden aufheben und nun gern und mit Ruhe<br />

ertragen, was der Herr über uns verhängt; unsere einzige Sorge<br />

muss nur seyn Treue in Wa<strong>ch</strong>en und Bäten, im Wandel in der Gegenwart<br />

Gottes, in der unbedingten Übergabe in den allein gute<br />

Willen unseres Herrn, mit einem Wort in der gänzli<strong>ch</strong>en Verni<strong>ch</strong>tigung<br />

unserer selbst, und dann lasst uns ni<strong>ch</strong>t bange für der Zukunft<br />

seyn, gefällt es dem Herrn au<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>werste über uns zu<br />

verhängen, so gibt er uns gewiss au<strong>ch</strong> Kraft es zu tragen.<br />

Mit herzli<strong>ch</strong>er Liebe<br />

Ihr ewiger Bruder Jung Stilling<br />

Dritter Brief<br />

An Herrn Carl Berling<br />

Lehrer und Bu<strong>ch</strong>drucker auf der Universität<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen im Königrei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden<br />

Carlsruhe den 16ten 9br 1811<br />

Mein theuerer und herzli<strong>ch</strong> geliebter Bruder!<br />

Sie s<strong>ch</strong>reiben mir, dass es mit dem Übersetzen meines Heimwehs<br />

ni<strong>ch</strong>t vorwärts gehen wolle; dass aber die Geisterkunde in<br />

Gothenburg 13 gedruckt werde, überlassen Sie das alles der leitenden<br />

Vorsehung des Herrn; findet Er es nützli<strong>ch</strong>, so dass das Heimweh<br />

in die S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e übersetzt werden soll, so kann er<br />

es wohl veranstalten; es ist ja s<strong>ch</strong>on russis<strong>ch</strong> gedruckt; findet Er es<br />

aber ni<strong>ch</strong>t für nützli<strong>ch</strong>, so bemühen Sie si<strong>ch</strong> vergebli<strong>ch</strong>. Wir dürfen<br />

nie der Vorsehung vorlaufen, aber au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zurückbleiben, wenn<br />

sie winkt. Es ist daher ein wi<strong>ch</strong>tiges Studium für den Christen,<br />

immer ri<strong>ch</strong>tig und mit Gewissheit die Winke der Vorsehung zu er-<br />

13<br />

Wurde 1812 in Göteborg gedruckt.<br />

148 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


kennen und ihre Spra<strong>ch</strong>e zu verstehen. Nur der lernt dies unfehlbar,<br />

der immer in der Gegenwart Gottes wandelt und die Gabe des<br />

innern, immerwährenden Gebäts hat. I<strong>ch</strong> sehe aus Ihrem Brief,<br />

dass es in Ansehung des Luxus, der Armut, der Sittenlosigkeit<br />

und der Erkaltung im wahren Christentum in S<strong>ch</strong>weden ni<strong>ch</strong>t besser<br />

ist als in Teuts<strong>ch</strong>land; im ganzen ist ni<strong>ch</strong>ts mehr auszuri<strong>ch</strong>ten,<br />

nur einzelne Seelen zu retten; Aehren zu lesen, das ist die Sa<strong>ch</strong>e<br />

der Diener des Herrn und wenn das ges<strong>ch</strong>ehen, wenn au<strong>ch</strong> da die<br />

Fülle der Heiden eingegangen ist, dann ist der Zeitpunkt des großen<br />

und letzten Kampfes da. I<strong>ch</strong> weiß, dass in S<strong>ch</strong>weden s<strong>ch</strong>on das<br />

Feuer unter der As<strong>ch</strong>e glimmt: i<strong>ch</strong> bitte Sie und alle die den Herrn<br />

für<strong>ch</strong>ten nur mit allem Fleiß dahin zu würken, dass jedermann der<br />

Obrigkeit gehor<strong>ch</strong>t, die die Gewalt hat, denn Gott allein hat die<br />

Ma<strong>ch</strong>t, Cron und Scepter zu vergeben und ni<strong>ch</strong>t die Mens<strong>ch</strong>en.<br />

S<strong>ch</strong>wedens Ruhe beruht allein darauf, wenn si<strong>ch</strong> jedermann ruhig<br />

hält, und si<strong>ch</strong> für Aufruhr hütet; sobald man aber die gegenwärtige<br />

Ordnung der Dinge wieder ändern will, so wird ein Jammer entstehen<br />

wie er no<strong>ch</strong> nie in S<strong>ch</strong>weden gewesen ist. Sie wüns<strong>ch</strong>en dass<br />

i<strong>ch</strong> Ihnen einen Wirkungskreis anweisen soll. A<strong>ch</strong>! das kann allein<br />

der Herr! merken Sie nur auf das, was i<strong>ch</strong> oben von den Winken der<br />

Vorsehung ges<strong>ch</strong>rieben habe. Lasst uns nur mit allem Fleiß an uns<br />

selbst arbeiten, und unsrer Seelen Seligkeit s<strong>ch</strong>affen mit Fur<strong>ch</strong>t<br />

und Zittern, wenn wir dann einmal zum Apostel Amt tü<strong>ch</strong>tig sind,<br />

dann wird der Herr uns genug zu thun geben. Die Gnade des Herrn<br />

sey kräftig in Ihnen, und au<strong>ch</strong> in Ihrem ewigen Bruder<br />

Jung Stilling<br />

Da i<strong>ch</strong> so glückli<strong>ch</strong> gewesen bin beygehendes 24ste Heft des<br />

grauen Mannes zu erhalten, so s<strong>ch</strong>icke i<strong>ch</strong> es Ihnen. Die Kosten<br />

von diesem und dem vorhergehenden kann i<strong>ch</strong> Ihnen aber n… aber<br />

hoffentli<strong>ch</strong> bey einer andere…<br />

31. Sptr 1811 Ihr JS<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

149


Vierter Brief<br />

An den Herrn Director Carl Fr. Berling<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen<br />

im Königrei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden<br />

Carlsruhe 10ten Jan. 1813<br />

Mein theuerer Herr Director, innigst geliebter Freund!<br />

Wenn es des Herrn Wille ist, das wir Briefe miteinander we<strong>ch</strong>seln<br />

sollen, so wird au<strong>ch</strong> seine heilige Vorsehung für die glückli<strong>ch</strong>e<br />

Ankunft sorgen.<br />

Sie fragen mi<strong>ch</strong>, ob i<strong>ch</strong> glaube, dass S<strong>ch</strong>weden würde vom Krieg<br />

vers<strong>ch</strong>ont bleiben ? I<strong>ch</strong> antworte, das kann kein Mens<strong>ch</strong> voraus<br />

wissen, und das soll er au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wissen, Aber eins weiß i<strong>ch</strong>,<br />

wenn in S<strong>ch</strong>weden au<strong>ch</strong> Neologie 14 und Unglaube herrs<strong>ch</strong>end ist,<br />

wodur<strong>ch</strong> unfehlbar der Abfall von Christo herbeigeführt wird, so<br />

kann dies Königrei<strong>ch</strong> dem göttli<strong>ch</strong>en Finalgeri<strong>ch</strong>t ebenso wenig<br />

entgehen als andere Länder, denn Sie sehen lei<strong>ch</strong>t ein, dass eine<br />

s<strong>ch</strong>arfe Prüfung der Mens<strong>ch</strong>en nötig ist, wenn offenbar werden soll,<br />

wer dem Herrn von ganzem Herzen treu ist. Diese Prüfung kann<br />

ni<strong>ch</strong>t anders ges<strong>ch</strong>ehen als dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>were Leiden: denn wer in<br />

Krieg, Hungersnoth, Theuerung, Pestilenz u. dgl. si<strong>ch</strong> ernstli<strong>ch</strong><br />

zum Herrn wendet und treu bleibt, der wird errettet; wer aber in<br />

sol<strong>ch</strong>en Prüfungen Erlei<strong>ch</strong>terung und Trost in sinnli<strong>ch</strong>en Vergnügen<br />

und Lustbarkeit su<strong>ch</strong>t, der geht verloren; wenn er ni<strong>ch</strong>t bald<br />

umkehrt. Sehen Sie, theuerer Freund! deswegen s<strong>ch</strong>ickt also der<br />

Herr von Zeit zu Zeit sol<strong>ch</strong>e Landplagen um zu wecken, was si<strong>ch</strong><br />

wecken lässt. Ob nun Ihr Vaterland sol<strong>ch</strong>er Weck - und S<strong>ch</strong>reckmittel<br />

bedarf, das können Sie besser wissen als i<strong>ch</strong>, da Sie es bes-<br />

14<br />

In den sogenannten Befreiungskriegen verlor S<strong>ch</strong>weden ni<strong>ch</strong>t nur Finnland an<br />

Rußland, sondern au<strong>ch</strong> seine letzten Besitzungen auf deuts<strong>ch</strong>em Boden (Vorpommern<br />

und Rügen). Es konnte aber als Ersatz Norwegen erwerben, das 1814<br />

zur Union mit S<strong>ch</strong>weden gezwungen wurde. – Unter dem Begriff »Neologie«, der<br />

ursprüngli<strong>ch</strong> nur Spra<strong>ch</strong>neuerungen zum Inhalt hatte, verstand Jung-Stilling<br />

wohl alle unnützen und verderbli<strong>ch</strong>en Neuerungen.<br />

150 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


ser kennen. Allein der großen letzten Versu<strong>ch</strong>ungsstunde, die dereinst<br />

der Mens<strong>ch</strong> der Sünder verursa<strong>ch</strong>en wird, kann keine <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e<br />

Provinz, ja kein Mens<strong>ch</strong>, der si<strong>ch</strong> zum Christentum bekennt,<br />

entgehen. Denn diese Feuerprobe wird dann zeigen, wer unter den<br />

wahren Chrisen wert ist, Theil am herrli<strong>ch</strong>en Rei<strong>ch</strong> Christi zu nehmen.<br />

Wenn Ihnen Herr Bergmann 15 meinen Brief mitteilt, so können<br />

Sie so man<strong>ch</strong>es finden, das hierher gehört und dann bitte i<strong>ch</strong><br />

Sie ihm au<strong>ch</strong> diesen zu communizieren.<br />

I<strong>ch</strong> sagte soeben, kein Mens<strong>ch</strong> könne der großen Versu<strong>ch</strong>ungsstunde<br />

entgehen, das heißt: wer sie erleben wird, und wen der Herr<br />

ihrer würdig finden wird, denn Er will das zerstoßene Rohr ni<strong>ch</strong>t<br />

vollends zerbre<strong>ch</strong>en und den glimmenden Do<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t vollends<br />

auslös<strong>ch</strong>en. Es giebt sehr edle, Gott liebende Seelen, die die s<strong>ch</strong>weren<br />

Prüfungen ni<strong>ch</strong>t würden ertragen können; diese werden entweder<br />

zum Tode versiegelt oder in einen Bergungs Platz geführt, ehe<br />

jene Versu<strong>ch</strong>ungsstunde kommt. Große starke Seelen aber, wel<strong>ch</strong>e<br />

den großen heftigen Kampf unter Gottes Beystand werden kämpfen<br />

können, die werden au<strong>ch</strong> die Ehre haben, ihn zu kämpfen und dafür<br />

die vorzügli<strong>ch</strong> geliebte Braut des Königs aller Könige Himmels und<br />

der Erde zu seyn.<br />

I<strong>ch</strong> habe mit Freuden in Ihrem Brief gesehen, was man in<br />

S<strong>ch</strong>weden für gute Anstalten gegen die Hungersnoth und den Luxus<br />

ma<strong>ch</strong>t. A<strong>ch</strong>! wenn nur die große Herren wüssten wie lei<strong>ch</strong>t es<br />

ihnen würde, ganze Völker glückli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, die würden es<br />

gewiss ni<strong>ch</strong>t versäumen. Die Hauptsa<strong>ch</strong>e, worauf es bey uns jetzt<br />

ankommt, ist mit großem Ernst unserer Seelen Seligkeit zu s<strong>ch</strong>affen<br />

mit Fur<strong>ch</strong>t und Zittern. Denn wahrli<strong>ch</strong>! es ist keine Ruhe mehr<br />

zu hoffen, ehe das Rei<strong>ch</strong> des Herrn anbri<strong>ch</strong>t; eins wird auf das andre<br />

folgen, ein Jammer den andern ablösen bis alles vollendet ist,<br />

was der Herr dur<strong>ch</strong> den Mund aller seiner heiligen Propheten und<br />

15<br />

Ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er zu ermitteln. Wohl ein Sohn des bedeutenden s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Chemikers<br />

Tobern Olof Bergmann (1735-1784).<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

151


dur<strong>ch</strong> seinen eigenen gesagt hat. Der Herr sey Ihnen innig nahe.<br />

Jung Stilling<br />

Fünfter Brief<br />

An den Herrn Director Carl Berling<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen<br />

im Königrei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden<br />

Carlsruhe 23. März 1813<br />

Mein theuerster und innigst geliebter Herr und Freund!<br />

I<strong>ch</strong> habe Ihr S<strong>ch</strong>reiben vom 18ten Februar ri<strong>ch</strong>tig erhalten. Sie<br />

s<strong>ch</strong>reiben mir die S<strong>ch</strong>ellings<strong>ch</strong>e Philosophie habe dort eine sehr<br />

heilsame Würkung auf die Denkungsart hervorgebra<strong>ch</strong>t. Das ist in<br />

Deuts<strong>ch</strong>land ni<strong>ch</strong>t der Fall, sondern gerade das Gegenteil: die<br />

S<strong>ch</strong>ellings<strong>ch</strong>e Philosophie verbirgt ihr Gift so fein unter einer mystis<strong>ch</strong>en<br />

Larve, dass man lei<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> irre geleitet werden<br />

kann 16 . Dies ist ni<strong>ch</strong>t etwa mein Urteil, sondern darüber ist in ganz<br />

Deuts<strong>ch</strong>land nur eine Stimme; ni<strong>ch</strong>t allein die wahren Christen,<br />

sondern au<strong>ch</strong> alle wahrhaft ri<strong>ch</strong>tig denkenden Köpfe haben darüber<br />

ents<strong>ch</strong>ieden. Es sollte mir sehr leid tun, wenn die guten S<strong>ch</strong>weden<br />

aus einem Irrthum in einen andern no<strong>ch</strong> gefährli<strong>ch</strong>ern übergehen<br />

würden. Liebster brüderli<strong>ch</strong>er Freund! Was brau<strong>ch</strong>en wir um die<br />

Wahrheit zu finden, überhaupt eine Philosophie ? Jede Philosophie<br />

ist Sa<strong>ch</strong>e der Vernunft, die Religion Jesu aber nimmt die Vernunft<br />

gefangen unter den Gehorsam des Glaubens. Die wahre Philosophie<br />

ist also diejenige, wel<strong>ch</strong>e aus Vernunftgründen beweist, dass sie<br />

von den Dingen die des Geistes Gottes sind, ni<strong>ch</strong>ts vernimmt, und<br />

dass sie ihr Thorheit sind. Erst dann, wenn die Vernunft dur<strong>ch</strong> den<br />

heiligen Geist erleu<strong>ch</strong>tet ist, dann ist sie fähig den Christen zu leiten<br />

und dann muss sein Gottesdienst ein vernünftiger Gottesdienst<br />

sein.<br />

16<br />

1809 war S<strong>ch</strong>ellings S<strong>ch</strong>rift »Über das Böse« ers<strong>ch</strong>ienen, die Jung-Stilling aus seiner<br />

mehr theologis<strong>ch</strong>en Si<strong>ch</strong>t mit Misstrauen betra<strong>ch</strong>tet haben dürfte.<br />

152 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Sie klagen au<strong>ch</strong> über das Zunehmen des Luxus und des Sittenverfalls<br />

in S<strong>ch</strong>weden. Dieser Jammer ist allgemein, und die Auszehrungskrankheit<br />

aller Völker und Staaten woran sie endli<strong>ch</strong> sterben<br />

und verderben. Für den Christen aber ist sie doppelt gefährli<strong>ch</strong>:<br />

denn sie beraubt ihn au<strong>ch</strong> der ewigen Glückseligkeit in jenem<br />

Leben; über diesen Punkt werden besonders die Obrigkeiten die<br />

vornehmen Stände und die Rei<strong>ch</strong>en zur s<strong>ch</strong>weren Verantwortung<br />

gezogen werden. Würde der Regent und sein Hof si<strong>ch</strong> mit einfa<strong>ch</strong>er<br />

Nahrung, Kleidung und Wohnung begnügen, und keinem, der si<strong>ch</strong><br />

in irgendeiner Sa<strong>ch</strong>e Üppigkeit erlaubt, Gnade erzeigen, so wäre<br />

dem Übel vorgebeugt. Do<strong>ch</strong> das alles ist nun zu spät. Die Europäis<strong>ch</strong>e<br />

Christenheit ist glei<strong>ch</strong> einem S<strong>ch</strong>iff, das Masten und Segel<br />

verlohren hat, und dur<strong>ch</strong> den Strom der s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>sten brüllenden<br />

Brandung unaufhaltbar entgegen gerissen wird. Alle S<strong>ch</strong>iffleute<br />

vom Capitain bis zum S<strong>ch</strong>iffsjungen beraus<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong>, um ihre<br />

Angst zu betäuben. Wer no<strong>ch</strong> so nü<strong>ch</strong>tern ist dies alles zu sehen,<br />

und zu bemerken, der rette si<strong>ch</strong>, denn Gott Lob und Dank! neben<br />

dem S<strong>ch</strong>iff rudert die Chaloupe der ewigen Liebe, sie nimmt gern<br />

auf, wer aufgenommen seyn will, und führt ihn in einen si<strong>ch</strong>ern Hafen.<br />

Grüßen Sie von mir Ihre liebe Gattin und alle dortigen Freunde<br />

des Herrn, Jesus Christus sey Ihnen innig nahe und au<strong>ch</strong> Ihrem<br />

ewigen Bruder<br />

Jung Stilling<br />

Se<strong>ch</strong>ster Brief<br />

An Herrn Carl Fr. Berling<br />

Lehrer und Bu<strong>ch</strong>händler<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen in S<strong>ch</strong>weden<br />

Carlsruhe den 6ten Xbr 1814<br />

Mein theuerster und herzli<strong>ch</strong> geliebter Freund!<br />

Es war mir sehr angenehm endli<strong>ch</strong> einmal wieder einen Brief<br />

von Ihnen zu erhalten, wel<strong>ch</strong>er mir beweist, dass es Ihnen no<strong>ch</strong><br />

OFFENE TORE 3/10<br />

153


wohl geht. Mi<strong>ch</strong> und die Meinigen hat der Herr während der ganzen<br />

Dauer der göttli<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>te von 1792 an bis daher so heilig<br />

und gnädig geführt, dass mir au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ein einzig mal nur ein<br />

Haar gekränkt worden ist 17 . Ihm sey Ehre, Lob und Preyß in Ewigkeit.<br />

Dem allem ungea<strong>ch</strong>tet was jetzt in Wien 18 ges<strong>ch</strong>ieht, dass Napoleon<br />

gestürzt ist, dass Norwegen und S<strong>ch</strong>weden vereinigt ist<br />

und dass die drei ersten Monar<strong>ch</strong>en 19 <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong> und re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affen<br />

denken – i<strong>ch</strong> sage dem ungea<strong>ch</strong>tet, kann an einen dauerhaften<br />

Frieden ni<strong>ch</strong>t geda<strong>ch</strong>t werden. Die Ursa<strong>ch</strong>en sind offenbar. 1) Die<br />

Nationen der abendländis<strong>ch</strong>en Christenheit sind dur<strong>ch</strong> die 22-jährigen<br />

ernsten Geri<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t besser, sondern s<strong>ch</strong>limmer geworden,<br />

dies ist ein Beweiß des Geri<strong>ch</strong>ts der Verstockung, und dies geht<br />

immer vor dem Geri<strong>ch</strong>t der Ausrottung her, und 2tens die Interessen<br />

der europäis<strong>ch</strong>en Regenten sind so verwickelt und die politis<strong>ch</strong>en<br />

Verhältnisse dur<strong>ch</strong>kreuzen si<strong>ch</strong> dergestalt, dass diesen Gordis<strong>ch</strong>en<br />

Knoten nur das S<strong>ch</strong>werdt lösen kann.<br />

Ungea<strong>ch</strong>tet der ans<strong>ch</strong>einenden Ruhe in Scandinavien liegt do<strong>ch</strong><br />

ein sehr geheimes und drohendes Dunkel auf S<strong>ch</strong>weden, das i<strong>ch</strong><br />

mit meiner armen Laterne ni<strong>ch</strong>t aufhellen will. Zum Ende wird der<br />

Herr alles wohl ma<strong>ch</strong>en. Dass in S<strong>ch</strong>weden mehr Religiosität ist als<br />

in Dänemark, das weiß i<strong>ch</strong>; i<strong>ch</strong> begreife, und weiß au<strong>ch</strong> wohl, woher<br />

das gekommen ist; allein das weiß i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>, dass in S<strong>ch</strong>weden<br />

ein geheimes Ferment verborgen ist, wel<strong>ch</strong>es in der ganzen Abendländis<strong>ch</strong>en<br />

Christenheit bisher allen Jammer ausgegohren hat, und<br />

17<br />

Stilling bezieht si<strong>ch</strong> hier si<strong>ch</strong>er auf den Beginn der weitrei<strong>ch</strong>enden Umwälzungen<br />

infolge der französis<strong>ch</strong>en Revolution.<br />

18<br />

Der Wiener Kongress (1814-1815) bra<strong>ch</strong>te weitrei<strong>ch</strong>ende Veränderungen au<strong>ch</strong><br />

territorialer Art für Europa mit si<strong>ch</strong> (vgl. au<strong>ch</strong> Fußnote 14).<br />

19<br />

Gemeint ist wohl die Vereinigung der Herrs<strong>ch</strong>er von Russland, Preußen und<br />

Österrei<strong>ch</strong>, die im Jahre 1815 dann in der »Heiligen Allianz« Gestalt annahm. Ob<br />

und wel<strong>ch</strong>en Einfluß Jung-Stilling auf diesen Zusammens<strong>ch</strong>luß gehabt hat, ist<br />

umstritten. Jedenfalls hatte si<strong>ch</strong> vorher Zar Alexander I. incognito mit Jung-Stilling<br />

zu einem Vier-Augen- Gesprä<strong>ch</strong> in Bru<strong>ch</strong>sal getroffen. – Übrigens holte der Zar<br />

1817 Stillings Sohn Friedri<strong>ch</strong> (Fritz) an seinen Hof in St. Petersburg.<br />

154 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


au<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>weden ausgähren wird, nur etwas später. Weil dort die<br />

Wärme ni<strong>ch</strong>t so groß ist als in den mittägigen Ländern!!!<br />

Theuerster Freund! Das Ende kommt immer näher. Die große<br />

S<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en Christen und Wider<strong>ch</strong>risten ist vor der Thür,<br />

und diese kann nur dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>were Geri<strong>ch</strong>te bewürkt werden. Das<br />

Resultat von allem ist, dass wir alle, jeder, dem sein Heyl und seine<br />

Seligkeit lieb ist, unverrückt in der Gegenwart des Herrn bleiben,<br />

und si<strong>ch</strong> in seinem Innern, dur<strong>ch</strong> das innere Herzensgebät beständig<br />

mit ihm bes<strong>ch</strong>äftigen muss, und dann dass wir alle, die wir<br />

dem Herrn bis in den Tod treu bleiben wollen, im Geist und wahrer<br />

Einigkeit des Glaubens aneinander ans<strong>ch</strong>ließen und füreinander bäten<br />

müssen. S<strong>ch</strong>reiben Sie mir bald wieder. I<strong>ch</strong> grüße Sie und Ihre<br />

theuere Gattin herzli<strong>ch</strong>. Der Herr sey Ihnen immer innig nahe, und<br />

au<strong>ch</strong> Ihrem<br />

treuen Freund<br />

Jung Stilling<br />

Siebenter Brief<br />

Seiner Wohlgebohrnen dem Herrn Berling<br />

Königl. S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Collegien Assessor und<br />

Director der Druckereyen<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen<br />

im Königrei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden.<br />

Carlsruhe den 9ten Jan 1816<br />

Mein theuerster Bruder im Herrn!<br />

Ihr liebes S<strong>ch</strong>reiben vom 26sten Nov habe i<strong>ch</strong> erhalten; es freut<br />

mi<strong>ch</strong>, dass Sie und mehrere liebe Freunde in S<strong>ch</strong>weden no<strong>ch</strong> an<br />

mi<strong>ch</strong> denken. Ihre Klagen über das sittli<strong>ch</strong>e Verderben in Ihrem<br />

Vaterlande befremden mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, so ist es überall, und i<strong>ch</strong> bitte<br />

Sie folgendes wohl zu beherzigen: Es muß vor die Zukunft des<br />

Herrn zur Ents<strong>ch</strong>eidung kommen, wer Ihm angehören will und wer<br />

ni<strong>ch</strong>t ? – um diese S<strong>ch</strong>eidung zu bewerkstelligen sind seit 25 Jahren<br />

alle die göttli<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>te über die Christenheit ergangen. Der<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

155


Herr will wecken, was no<strong>ch</strong> geweckt werden kann; und was ni<strong>ch</strong>t<br />

geweckt werden will; das gehört dann zum Anti<strong>ch</strong>rist, und ins Geri<strong>ch</strong>t<br />

der Verstockung. Dieses Fegen der großen <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Tenne<br />

muss au<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>weden treffen, dies Rei<strong>ch</strong> kann keine Ausnahme leiden.<br />

Es kann bey der Zukunft des Herrn keine Mittelklasse, keine<br />

Laodizäer 20 mehr geben, jeder Mens<strong>ch</strong> muss si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>ließen,<br />

wohin er gehören will. Zu diesem Ents<strong>ch</strong>luss führt dann die große<br />

Versu<strong>ch</strong>ungsstunde, die der Mens<strong>ch</strong> der Sünde in der ganzen<br />

Christenheit erregen wird, und damit wird dann au<strong>ch</strong> die Gnadenzeit<br />

ges<strong>ch</strong>lossen. Wie, wo und wann dies alles ges<strong>ch</strong>ehen und ausgeführt<br />

werden wird, das sollen wir ni<strong>ch</strong>t erfors<strong>ch</strong>en, sondern den<br />

Herrn walten lassen. Genug dass es gewiss ni<strong>ch</strong>t weit mehr entfernt<br />

ist, unsre Pfli<strong>ch</strong>t ist zu warten und zu bäten, damit wir bereit<br />

erfunden werden, wenn er kommt.<br />

I<strong>ch</strong> weiß wohl, dass man mi<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>weden und Dännemark tadelt,<br />

weil i<strong>ch</strong> gutes vom Kayser Alexander gesagt habe. I<strong>ch</strong> trage<br />

diesen Tadel gern; die Zeit und no<strong>ch</strong> mehr die Ewigkeit wird mi<strong>ch</strong><br />

re<strong>ch</strong>tfertigen; was i<strong>ch</strong> von diesem Monar<strong>ch</strong>en weiß, das wissen<br />

sehr wenige, und was i<strong>ch</strong> weiß, das weiß i<strong>ch</strong> gewiss. I<strong>ch</strong> werde nur<br />

da von ihm reden, wo i<strong>ch</strong> reden muß, übrigens dann s<strong>ch</strong>weigen.<br />

Der wahre Christ ri<strong>ch</strong>tet ni<strong>ch</strong>t, sondern er überlässt dem Herrn das<br />

Urtheil über den Kayser Alexander und au<strong>ch</strong> über mi<strong>ch</strong> und ist desto<br />

strenger über si<strong>ch</strong> selbst. Grüßen Sie herzli<strong>ch</strong> Ihre Frau Gemahlin,<br />

und alle in Ihrem Brief benannten Freunde. I<strong>ch</strong> grüße Sie im<br />

Herrn als Ihr ewiger Bruder<br />

Jung Stilling<br />

20<br />

Laodikea war der Name mehrerer untergegangener und wieder aufgebauter Städte<br />

des Altertums in Syrien, im Libanon und in Phrygien, deren Einwohner si<strong>ch</strong> klaglos<br />

und willig mit jeder neuen Herrs<strong>ch</strong>aft abfanden. Jung-Stilling da<strong>ch</strong>te hier si<strong>ch</strong>er<br />

an die kritis<strong>ch</strong>e Äußerung über die Christen in der Offenbarung des Johannes<br />

(Kap. 3 V. 15 f.).<br />

156 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


A<strong>ch</strong>ter Brief<br />

An Herrn Professor Berling<br />

zu Lund in S<strong>ch</strong>onen in S<strong>ch</strong>weden<br />

Carlsruhe 9. Juni 1816<br />

Mein theuerster innig geliebter Freund und Bruder!<br />

I<strong>ch</strong> habe Ihren lieben Brief vom 21sten März ri<strong>ch</strong>tig erhalten,<br />

aber i<strong>ch</strong> kann Ihnen leider darauf ni<strong>ch</strong>t viel antworten; denn meine<br />

Kräfte sind ers<strong>ch</strong>öpft: i<strong>ch</strong> bin seit verwi<strong>ch</strong>enen Herbst sehr<br />

s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> geworden; i<strong>ch</strong> konnte man<strong>ch</strong>en Tag gar ni<strong>ch</strong>t, und die übrigen<br />

ein paar Stunden arbeiten, daher sind der angekommenen<br />

Briefe, die no<strong>ch</strong> zu beantworten sind, so viel, dass i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> überall<br />

kurz fassen muss, denn i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te do<strong>ch</strong> gern die S<strong>ch</strong>riften, die i<strong>ch</strong><br />

bisher herausgegeben habe, so lang fortsetzen, als es mir mögli<strong>ch</strong><br />

ist 21 .<br />

Was Sie mir von Versu<strong>ch</strong>ungen, Anfe<strong>ch</strong>tungen und sinnli<strong>ch</strong>en<br />

Reitzen s<strong>ch</strong>reiben das ist ja unser aller, ja aller wahren Christen<br />

tägli<strong>ch</strong>e Klage. Aller Kampf dagegen, aus eigenen Kräften, ist ganz<br />

und gar vergebli<strong>ch</strong>. Nur der Heilige Geist kann, will und soll das<br />

dur<strong>ch</strong> seine kraftbringende Gnade; damit Er aber das können möge,<br />

weil Er den freien Willen des Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t zwingt, so müssen<br />

wir von ganzem Herzen von allen jenen Lieblingssünden und Reitzen<br />

frey sein wollen, und unaufhörli<strong>ch</strong> um Kraft und Gnade bäten,<br />

und flehen, dass uns der Herr für Versu<strong>ch</strong>ungen bewahren und uns<br />

daraus erretten wolle. Fühlen wir aber Kraft, so müssen wir dann<br />

freyli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> unverzügli<strong>ch</strong> diese Kraft anwenden. Freyli<strong>ch</strong> können<br />

wir ohne Ihn ni<strong>ch</strong>ts thun. Aber wenn Er nun thut, so müssen wir<br />

die Hände ni<strong>ch</strong>t in den S<strong>ch</strong>oß legen oder Ihn gar hindern, sondern<br />

uns dur<strong>ch</strong> seine Kraft mutig dur<strong>ch</strong>kämpfen. Weise und heilig ist<br />

die Führung des Herrn, Er lässt uns oft strau<strong>ch</strong>eln und fallen, da-<br />

21<br />

Jung-Stilling teilt hier in wenigen bewundernswert nü<strong>ch</strong>ternen und sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Worten mit, dass er alt und kränkli<strong>ch</strong> geworden sei, aber denno<strong>ch</strong> bis zu seinem<br />

Tode seine Pfli<strong>ch</strong>t tun wolle.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

157


mit wir immer in der Demuth erhalten werden, zuglei<strong>ch</strong> hält Er<br />

seine Hand über das Gute das er in uns gewürkt, damit wir es<br />

ni<strong>ch</strong>t sehen, und stolz werden. Der Herr führe und leite Sie ferner<br />

an seiner Hand bis zum Ziel. I<strong>ch</strong> grüße Sie und Ihre liebe Gattin<br />

herzli<strong>ch</strong> als Ihr<br />

Jung Stilling<br />

Diesen Briefen Jung Stillings ist eigentli<strong>ch</strong> wenig hinzuzusetzen,<br />

denn sie spre<strong>ch</strong>en für si<strong>ch</strong>. Sie bringen dem Freund, der si<strong>ch</strong><br />

in Not und Zweifeln befindet, den uners<strong>ch</strong>ütterli<strong>ch</strong>en Gottesglauben<br />

des lebenserfahrenen und si<strong>ch</strong> von Gott berufen fühlenden Stilling<br />

nahe. Die Briefe befähigen den Empfänger, wie sein weiterer<br />

Lebenslauf beweist, seine Probleme erfolgrei<strong>ch</strong> zu bewältigen und<br />

seinen Vorsatz zu verwirkli<strong>ch</strong>en, Gutes für seine Mitmens<strong>ch</strong>en zu<br />

tun.<br />

Der letzte Brief, von Stilling in der Gewissheit des baldigen Todes<br />

ges<strong>ch</strong>rieben, ist ers<strong>ch</strong>ütternd. Er zeigt aber au<strong>ch</strong>, dass der<br />

gläubige S<strong>ch</strong>reiber dieser Zeilen überzeugt ist, das ewige Leben zu<br />

haben. Als Berling diesen letzten Brief erhielt, dürfte Stilling bereits<br />

verstorben gewesen sein.<br />

Die äußere Form, die we<strong>ch</strong>selnde Orthographie und die Grammatik<br />

der Stillings<strong>ch</strong>en Briefe entspra<strong>ch</strong> den Gepflogenheiten seiner<br />

Zeit und wurde daher ni<strong>ch</strong>t verändert. Die lange vers<strong>ch</strong>ollen<br />

gewesenen Briefe sind unerwartet aufgefunden worden; auf ihre<br />

Existenz wies au<strong>ch</strong> keine der eingehenden Untersu<strong>ch</strong>ungen hin,<br />

die Ras<strong>ch</strong> und Mertens über die tägli<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>ehnisse im Leben<br />

Jung-Stillings vorgelegt haben 22 .<br />

Von Interesse ist au<strong>ch</strong> die Auffassung Stillings, dass es der<br />

Herr s<strong>ch</strong>on bestimmen werde, ob seine religiösen S<strong>ch</strong>riften gedruckt<br />

und/oder übersetzt werden, oder ni<strong>ch</strong>t. Die Äußerungen<br />

Stillings über die politis<strong>ch</strong>en Tagesereignisse spiegeln seine Ein-<br />

22<br />

Ras<strong>ch</strong>, Wolfgang und Eri<strong>ch</strong> Mertens: Jung-Stilling von Tag zu Tag. Ungedrucktes<br />

Manuskript im Besitz der Jung-Stilling-Gesells<strong>ch</strong>aft zu Siegen.<br />

158 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


drücke während einer bewegten ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Epo<strong>ch</strong>e wieder.<br />

Seine Ansi<strong>ch</strong>ten müssen daran gemessen werden, dass hier ein<br />

Mann seine Meinung dargelegt hat, der mit vielen Großen dieser<br />

Welt, ni<strong>ch</strong>t zuletzt mit dem Zaren Alexander I. von Rußland, persönli<strong>ch</strong>e<br />

Erfahrungen austaus<strong>ch</strong>te und Disputationen führte.<br />

Über den Einfluß, den Stillings S<strong>ch</strong>riften in S<strong>ch</strong>weden ausgeübt<br />

haben, s<strong>ch</strong>rieb Gadde, dass die »Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« von großem Einfluß<br />

auf König Gustav IV. Adolf gewesen sei. Jener habe Napoleon<br />

na<strong>ch</strong> der Lektüre geradezu als »ein wildes Tier« angesehen. Gadde<br />

ist au<strong>ch</strong> der Meinung, dass Stillings Wirken ni<strong>ch</strong>t ohne Bedeutung<br />

für die Psalmen Franzéns gewesen sei. Er beruft si<strong>ch</strong> dabei auf die<br />

Untersu<strong>ch</strong>ungen von Emil Liedgren 23 .<br />

Blieben vom S<strong>ch</strong>riftwe<strong>ch</strong>sel zwis<strong>ch</strong>en Stilling und Berling die<br />

Stillings<strong>ch</strong>en Briefe erhalten, so sind bisher vom S<strong>ch</strong>riftwe<strong>ch</strong>sel<br />

zwis<strong>ch</strong>en Christoph Wilhelm Hufeland und Jung-Stilling leider nur<br />

zwei Dankesbriefe von Hufeland aufgefunden worden 24 .<br />

Si<strong>ch</strong>er ist jedenfalls, dass Stillings briefli<strong>ch</strong>er Zuspru<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong><br />

günstig auf die weitere Entwicklung Berlings und auf dessen weiteren<br />

Lebensweg ausgewirkt haben. Gadde hat dies in seiner Arbeit<br />

au<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong> herausgestellt. Auf Stillings Zuspru<strong>ch</strong> hin hat<br />

Berling demna<strong>ch</strong> die väterli<strong>ch</strong>e Druckerei erweitert und aus seinem<br />

Wirken als Drucker, Verleger und Bu<strong>ch</strong>händler einen einzigen<br />

fortwährenden Arbeitstag unter <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Aspekten gema<strong>ch</strong>t. Er<br />

legte einen zusätzli<strong>ch</strong>en Druckereibetrieb in Malmö an, übernahm<br />

die verantwortungsvolle Tätigkeit eines Rentmeisters der Universität<br />

Lund, und bra<strong>ch</strong>te Ordnung in die zerrütteten Finanzen dieser<br />

Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule. Er setzte si<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> im Öffentli<strong>ch</strong>en Dienst<br />

S<strong>ch</strong>wedens ein, indem er 1828 die Skandinavis<strong>ch</strong>e Lebensversi<strong>ch</strong>erung<br />

gründete. Dabei ordnete er an, dass der Aufsi<strong>ch</strong>tsrat dieser<br />

23<br />

Emil Liedgren (1879-1963), s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>er »Priester und Poet«. – Frans Mi<strong>ch</strong>ael<br />

Franzén (1772-1847), Bis<strong>ch</strong>of.<br />

24<br />

Vgl. Fußnote 8<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

159


Versi<strong>ch</strong>erung si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> hohe Honorare berei<strong>ch</strong>ern dürfe,<br />

sondern ein sparsames Regiment zu führen habe.<br />

Neben all diesen Aufgaben war Berling no<strong>ch</strong> Herausgeber eines<br />

in jedem Jahr ers<strong>ch</strong>einenden Lesebu<strong>ch</strong>es für de Jugend. Diese<br />

Bu<strong>ch</strong>reihe, die moralisierende Beiträge enthielt, war allerdings ein<br />

finanzieller Misserfolg 25 .<br />

Stillings Roman »Das Heimweh« wurde auf Berlings Betreiben<br />

hin ins S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e übersetzt und ers<strong>ch</strong>ien (in einer dreibändigen<br />

Ausgabe) in den Jahren 1815-1817 im mittels<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Örebrö<br />

26 .<br />

Zusammengefasst werden die Auswirkungen der Stillings-Briefe<br />

auf Berling von Gadde mit den Worten: »Die Briefe Jung-Stillings<br />

haben Berlings Leben verändert und ihm klar gema<strong>ch</strong>t, dass er<br />

si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>eiden müsse für oder gegen Gott und auf des Herrn Ers<strong>ch</strong>einen<br />

warten« – ein Rats<strong>ch</strong>lag, der au<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong>, 200 Jahre<br />

später, von jedem vernünftigen Mens<strong>ch</strong>en befolgt werden sollte.<br />

Jung-Stilling und das Heil aus dem Osten<br />

von Klaus Pfeifer<br />

J<br />

ohann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling (1740 - 1817) hat in seinem Leben<br />

viele Berufe ausgeführt 27 . Im letzten Abs<strong>ch</strong>nitt seines<br />

Daseins, vom Jahr 1803 an, war er am badis<strong>ch</strong>en Hof direkt bei<br />

seinem Großherzog angestellt. Er wurde von ihm besoldet als sein<br />

geistli<strong>ch</strong>er Berater und als religiöser S<strong>ch</strong>riftsteller, der in seinem<br />

Auftrag das Christentum fördern sollte. Dur<strong>ch</strong> dieses direkte und<br />

25<br />

Berling, Carl Fredric (Hrsg.): Der Jugendfreund. Vermis<strong>ch</strong>te Aufsätze und Erzählungen<br />

für anwa<strong>ch</strong>sende Mitbürger. Lund, 1804 ff. Im Bestand der Universitäts-<br />

Bibliothek Lund.<br />

26<br />

Hemsjukan, af Henrik Stilling. Örebrö, tryckt hos N. M. Lindh. 5 Bände. 1815-<br />

1817. Im Besitz der S<strong>ch</strong>wed. National-Bibliothek, Stockholm.<br />

27<br />

Merk, Gerhard: Jung-Stilling. Ein Umriss seines Lebens. Kreuztal 1989.<br />

160 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


fast tägli<strong>ch</strong>e Beisammensein mit dem Fürsten erweiterte si<strong>ch</strong> der<br />

bis dahin in seinen Beziehungen und seiner Wirksamkeit auf deuts<strong>ch</strong>e<br />

Länder (allenfalls dur<strong>ch</strong> Kontakte auf Reisen zu Starkranken,<br />

beispielsweise in die S<strong>ch</strong>weiz, na<strong>ch</strong> Frankfurt am Main und na<strong>ch</strong><br />

Herrnhut) bes<strong>ch</strong>ränkte Gesi<strong>ch</strong>tskreis Stillings nun auf die große<br />

Bühne der europäis<strong>ch</strong>en Politik und da vor allem auf das riesige<br />

russis<strong>ch</strong>e Rei<strong>ch</strong>. Der badis<strong>ch</strong>e Großherzog war nämli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> seine<br />

mit dem russis<strong>ch</strong>en Zaren Alexander I. verheiratete Enkelto<strong>ch</strong>ter<br />

unmittelbar eine Figur in der damals re<strong>ch</strong>t unruhigen europäis<strong>ch</strong>en<br />

Politik geworden.<br />

Dadur<strong>ch</strong> kam Jung-Stilling in der bewegten Zeit na<strong>ch</strong> 1803<br />

au<strong>ch</strong> ganz von selbst mehr und mehr in Kontakt zu etli<strong>ch</strong>en Persönli<strong>ch</strong>keiten<br />

des weltpolitis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>ehen. Das bedeutete für ihn<br />

aber zum Beispiel au<strong>ch</strong> eine Änderung seiner einst so positiven<br />

Einstellung zur Person Napoleons. Immerhin verdankte ja der badis<strong>ch</strong>e<br />

Großherzog seinen klingenden Titel dem französis<strong>ch</strong>en Kaiser,<br />

der ihm diesen na<strong>ch</strong> dem Beitritt zu dem militäris<strong>ch</strong>en Bündnis<br />

mit Frankrei<strong>ch</strong>, dem Rheinbund, verliehen hatte. Aber die Eins<strong>ch</strong>ätzung<br />

der Person des Kaisers hatte si<strong>ch</strong> in den deuts<strong>ch</strong>en Ländern<br />

und damit au<strong>ch</strong> am badis<strong>ch</strong>en Hof ja allgemein inzwis<strong>ch</strong>en<br />

deutli<strong>ch</strong> zu Napoleons Ungunsten verändert.<br />

Jung-Stilling war dur<strong>ch</strong> seine religiöse S<strong>ch</strong>riftstellerei s<strong>ch</strong>on im<br />

Jahre 1803, bei seinem Dienstantritt in Karlsruhe, eine zumindest<br />

europaweit bestens bekannte und ges<strong>ch</strong>ätzte Persönli<strong>ch</strong>keit. Etli<strong>ch</strong>e<br />

seiner Werke waren bereits ins holländis<strong>ch</strong>e (1786) und ins<br />

dänis<strong>ch</strong>e (1788) übersetzt und in diesen Ländern gedruckt worden.<br />

In den USA war eines seiner Bü<strong>ch</strong>er 1787 in deuts<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e ers<strong>ch</strong>ienen<br />

28 .<br />

Zu Russland hatte Stilling zunä<strong>ch</strong>st keine persönli<strong>ch</strong>en Kontakte.<br />

Im Jahre 1808 ma<strong>ch</strong>te er dann die Bekannts<strong>ch</strong>aft der Frau<br />

28<br />

Pfeifer, Klaus: Jung-Stilling-Bibliographie. Siegen 1993. – Erster Na<strong>ch</strong>trag: Siegen<br />

2002.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

161


von Krüdener 29 . Diese Deuts<strong>ch</strong>baltin war die Witwe eines 1802<br />

verstorbenen russis<strong>ch</strong>en Diplomaten. Sie hatte Russland verlassen<br />

und lebte anfangs in Paris, später aber in Karlsruhe, um mehr in<br />

der Nähe Jung-Stillings sein zu können, den sie seiner S<strong>ch</strong>riften<br />

wegen bewunderte. Frau von Krüdener hatte ihr Leben ganz dem<br />

praktis<strong>ch</strong>en Christentum geweiht und selbst au<strong>ch</strong> einen Erbauungsroman<br />

ges<strong>ch</strong>rieben. Sie hatte zeitweise einen gewissen Einfluß<br />

auf den russis<strong>ch</strong>en Zaren Alexander I., in dem sie den künftigen<br />

Erretter der Welt zu sehen glaubte. Ihre ständige Anwesenheit in<br />

Karlsruhe erlaubte es ihr dann, zusammen mit Jung-Stilling persönli<strong>ch</strong>e<br />

Kontakte zu den dort von Zeit zu Zeit anwesenden Persönli<strong>ch</strong>keiten<br />

aus Russland aufzunehmen und zu pflegen. Das waren<br />

etli<strong>ch</strong>e Damen und Herren aus der höfis<strong>ch</strong>en Umgebung des russis<strong>ch</strong>en<br />

Herrs<strong>ch</strong>ers und – ni<strong>ch</strong>t zuletzt – der Zar selbst.<br />

Besonders der Umstand, dass der Zar si<strong>ch</strong> im Jahre 1814 in Baden<br />

aufhielt, während die Zarin Elisabeth si<strong>ch</strong> in Bru<strong>ch</strong>sal bei ihren<br />

Eltern befand, begünstigte diese Bekannts<strong>ch</strong>aften. Bei ihrer Vermittlung<br />

spielte die erste Hofdame der Kaiserin, Roxandra Stourdza,<br />

eine wesentli<strong>ch</strong>e Rolle. Sie war die S<strong>ch</strong>wester des Grafen Alexander<br />

Scarlatovi<strong>ch</strong> Stourdza (1791 – 1854). Dieser war der Sohn<br />

eines rumänis<strong>ch</strong>en Bojaren, der einst aus politis<strong>ch</strong>en Gründen na<strong>ch</strong><br />

Russland hatte fliehen müssen. Alexander Sarlatovi<strong>ch</strong> hatte dana<strong>ch</strong><br />

seine Erziehung in Deuts<strong>ch</strong>land genossen. Er kehrte später in den<br />

russis<strong>ch</strong>en Staatsdienst zurück. Stourdza war sehr konservativ<br />

eingestellt und stark religiös geprägt. Er heiratete später (1819)<br />

Wilhelmine Hufeland, eine To<strong>ch</strong>ter des berühmten preußis<strong>ch</strong>en<br />

Arztes und zog dann auf sein Gut in der Ukraine. Die in der Literatur<br />

erwähnte Vermutung, dass Graf Stourdza s<strong>ch</strong>on früher einen<br />

Kontakt zu Jung-Stilling aufgenommen habe 30 lässt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> neueren<br />

Fors<strong>ch</strong>ungen 31 ni<strong>ch</strong>t bestätigen.<br />

29<br />

Baronin Barbara Juliane von Krüdener (1764–1824).<br />

30<br />

Högy, Tatjana: Jung-Stilling und Rußland. Siegen 1984.<br />

31<br />

Mertens, Eri<strong>ch</strong> und Wolfgang Ras<strong>ch</strong>: Jung-Stilling von Tag zu Tag. Ungedrucktes<br />

162 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Roxandra Stourdza war für Alexander I. eine einfühlsame, ho<strong>ch</strong>intelligente<br />

und sehr an religiösen Fragen und wegen einer gewissen<br />

Neigung zum Mystizismus beliebte Gesprä<strong>ch</strong>spartnerin. Von<br />

den bis dahin ers<strong>ch</strong>ienenen S<strong>ch</strong>riften Jung-Stillings gab sie vor allem<br />

den »Szenen aus dem Geisterrei<strong>ch</strong>e (1795 bis 1801)« den Vorzug.<br />

Sie s<strong>ch</strong>loß mit Jung-Stilling, den sie sehr verehrte, einen<br />

»ewigen Freunds<strong>ch</strong>aftsbund im Namen der Liebe und Barmherzigkeit«.<br />

Dieser s<strong>ch</strong>rieb später über sie in einem Brief: »Drei Personen<br />

waren mir besonders merkwürdig: 1. Die Prinzessin Sturza, Nièce<br />

des Hospodars von der Moldau und Walla<strong>ch</strong>ei, Marnsi und Üpsilanti<br />

32 , die die erste Hofdame und Liebling der Kaiserin ist, sie will<br />

aber nur Fräulein genannt werden. Diese vortreffli<strong>ch</strong>e Grie<strong>ch</strong>in ist<br />

eine im innern Leben mit Christo in Gott weitgeförderte Seele, und<br />

es tut mir wohl, dass sie si<strong>ch</strong> auf ewig mit mir vereinigt und verbündet<br />

hat. Sie hat vielen Einfluss auf die Kaiserin und kann also<br />

sehr viel Gutes wirken«.<br />

Roxandra Stourdza, die dem russis<strong>ch</strong>-orthodoxen Bekenntnis<br />

angehörte, s<strong>ch</strong>rieb ihrerseits über Frau von Krüdener und Jung-Stilling<br />

in ihren Memoiren: »In Baden wurde i<strong>ch</strong> näher mit zwei Personen<br />

bekannt, die si<strong>ch</strong> ehrli<strong>ch</strong> und gründli<strong>ch</strong> der Betra<strong>ch</strong>tung göttli<strong>ch</strong>er<br />

Dinge widmeten. Baronin Krüdener und Jung-Stilling gewannen<br />

mi<strong>ch</strong> beide lieb, was mir besonders teuer war, da i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />

von der Langeweile und Fadheit des Hofs in ihre Gesells<strong>ch</strong>aft retten<br />

konnte. Die Baronin lebte in einer Hütte, wo zu ihr die Bettler und<br />

Trostsu<strong>ch</strong>enden kamen, ebenso Kinder und vers<strong>ch</strong>iedene weltli<strong>ch</strong>e<br />

Leute … Jung-Stilling gehörte zu der Zahl der heißen und reinen<br />

Seelen, denen es ledigli<strong>ch</strong> an einer positiven Religion fehlt, um in<br />

Glaubenssa<strong>ch</strong>en den Fußspuren Fénelons 33 zu folgen. Aber er wur-<br />

Manuskript im Besitz der Jung-Stilling-Gesells<strong>ch</strong>aft, Siegen.<br />

32<br />

Marnsi und Üpsilanti (=Ypsilanti): alte grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Honoratiorenfamilien, die<br />

mehrfa<strong>ch</strong> Hospodars und hohe Militärs stellten.<br />

33<br />

Fénélon, Francois (eigentli<strong>ch</strong>: Francois de Salignac de la Mothe-Fénélon, geb. am<br />

6.8.1651, gest. am 7.1.1715). Erzbis<strong>ch</strong>of von Cambrai. S<strong>ch</strong>rieb erzieheris<strong>ch</strong>e Bü<strong>ch</strong>er<br />

für die Jugend im Sinne der beginnenden Aufklärung.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

163


de in der protestantis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e geboren, und seine Einbildung<br />

verirrte si<strong>ch</strong> in fanatis<strong>ch</strong>en Theorien, ohne indes die Einfa<strong>ch</strong>heit<br />

seines Herzens zu beeinträ<strong>ch</strong>tigen. Er lebte <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong> und erfüllte<br />

mit Liebe alle seine Pfli<strong>ch</strong>ten. Als i<strong>ch</strong> ihn in seiner bes<strong>ch</strong>eidenen<br />

Wohnung aufsu<strong>ch</strong>te, erzählte er seiner vielköpfigen Familie das,<br />

was ihm im Leben widerfahren war, und mir s<strong>ch</strong>ien, als ob i<strong>ch</strong> vor<br />

mir einen der alten Patriar<strong>ch</strong>en sähe, die der Na<strong>ch</strong>kommens<strong>ch</strong>aft<br />

die Wunder des Herrn weitergeben. Die Lage Jung-Stillings war<br />

kummervoll und eingeengt. Aber sein Glaube wankte deswegen<br />

ni<strong>ch</strong>t, und die Vorsehung führte ihn jedesmal wieder unverhofft<br />

aus den allers<strong>ch</strong>wersten Bedrängnissen. So war es au<strong>ch</strong> zu dieser<br />

Zeit. Ohne sein Wissen erbat i<strong>ch</strong> für ihn bei der Kaiserin eine Pension.<br />

Mir war bekannt, dass er S<strong>ch</strong>ulden hatte, die ihn quälten, da<br />

er keine Hoffnung hatte, sie bezahlen zu können. Wieder ohne sein<br />

Wissen (mir sagte er nie etwas über seine Angelegenheiten) wandte<br />

i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> an Fürst Golicyn 34 , dessen Wohltätigkeit i<strong>ch</strong> kannte.<br />

Dieser sagte es dem Zaren, und dem alten Mann wurden von unbekannter<br />

Hand 1000 Dukaten überwiesen, mit denen er seine<br />

S<strong>ch</strong>ulden bezahlte 35 . Dieser Umstand gab Jung-Stilling die Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />

ruhig und Gott lebend seine langjährige Laufbahn zu beenden.<br />

I<strong>ch</strong> werde niemals die bei ihm verbra<strong>ch</strong>ten Sommerabende<br />

vergessen. Er setzte si<strong>ch</strong> ans Klavier und begleitete mit feierli<strong>ch</strong>en<br />

34<br />

Fürst Alexander Niolajewits<strong>ch</strong> Golicyn (=Gallitzin, Galitzin) stammte aus einer uralten<br />

russis<strong>ch</strong>en Adelsfamilie. Er lebte von 1774–1844. Der Jugendfreund von<br />

Zar Alexander I. bekleidete später hohe Ämter im Zarenrei<strong>ch</strong>. So war er zeitweise<br />

Minister für Kultus und Volksaufklärung, später Generalpostmeister. Galt als<br />

milde und freisinnig.<br />

35<br />

Mertens und Ras<strong>ch</strong> (a. a. O.) vermerken eine Spende von 1400 Dukaten, die Frau<br />

von Krüdener (vermutli<strong>ch</strong> im Auftrag des Zaren) etwa zur glei<strong>ch</strong>en Zeit an Jung-<br />

Stilling übergab. – Jung-Stilling hatte während seines ganzen Lebens Geldsorgen.<br />

Dies rührte von den Ausgaben für seine große Familie und vor allem von seiner<br />

ständigen Freigebigkeit her. So hatte er einst seinem Gönner Molitor in Attendorn<br />

ges<strong>ch</strong>woren, alle Augenpatienten kostenlos zu behandeln. Er nahm deshalb von<br />

diesen hö<strong>ch</strong>stens einmal die Erstattung seiner Unkosten entgegen. In seinen letzten<br />

Lebensjahren vers<strong>ch</strong>langen die Portokosten für seinen regen und weltweiten<br />

philantropis<strong>ch</strong>en und religiösen S<strong>ch</strong>riftwe<strong>ch</strong>sel praktis<strong>ch</strong> sein ganzes Gehalt.<br />

164 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Akkorden irgendein s<strong>ch</strong>önes geistli<strong>ch</strong>es Lied, das die reinen und<br />

fris<strong>ch</strong>en Stimmen seiner Kinder sangen. Mein Herz wurde weit<br />

dur<strong>ch</strong> die Töne, die voller Liebe zu Gott und Dankbarkeit waren«.<br />

Roxandra Stourdza unterhielt si<strong>ch</strong> oft mit dem Zaren über Jung-<br />

Stilling. Sie beri<strong>ch</strong>tet in ihren Memoiren darüber: »Dann fragte der<br />

Zar mi<strong>ch</strong> über Jung-Stilling aus. I<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong> von ihm mit herzli<strong>ch</strong>er<br />

Anteilnahe, was uns Veranlassung gab, einander unsere Ansi<strong>ch</strong>ten<br />

über Religion mitzuteilen. Wie viele unserer Zeitgenossen fühlten<br />

wir die Notwendigkeit eines positiven Glaubens, dem aber die Unduldsamkeit<br />

fremd ist und der alle Lage des Lebens anspri<strong>ch</strong>t«.<br />

Der Zar reagierte – für einen so mä<strong>ch</strong>tigen Mann – re<strong>ch</strong>t<br />

mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und beri<strong>ch</strong>tet mit ganz einfa<strong>ch</strong>en Worten darüber:<br />

»Heute früh sah i<strong>ch</strong> Jung-Stilling. Wir verständigten uns, wie wir<br />

konnten, deuts<strong>ch</strong> und französis<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> verstand i<strong>ch</strong>, dass Sie (Roxandra)<br />

mit ihm einen unauflösli<strong>ch</strong>en Bund im Namen der Liebe<br />

und Barmherzigkeit ges<strong>ch</strong>lossen haben. I<strong>ch</strong> bat ihn, mi<strong>ch</strong> als dritten<br />

aufzunehmen, und wir s<strong>ch</strong>üttelten einander darauf die Hände«.<br />

Über den Zaren s<strong>ch</strong>reibt Roxandra Stourdza wenig später in einem<br />

an Stilling geri<strong>ch</strong>teten Brief aus Petersburg: »Unser kaiserli<strong>ch</strong>er<br />

Führer fährt fort, auf dem Wege des Herrn Herr zu wandeln. Er<br />

führt ein sehr zurückgezogenes und vorbildli<strong>ch</strong>es Leben und trägt<br />

mit Geduld die Dornen, mit denen seine Krone verziert ist. I<strong>ch</strong> hoffe,<br />

dass Gott ihn segnen und ihn erleu<strong>ch</strong>ten wird auf seiner Laufbahn,<br />

deren Unzahl von S<strong>ch</strong>wierigkeiten Sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vorstellen<br />

können 36 «.<br />

Der Zar hat si<strong>ch</strong> offenbar in diesen Jahren mehrfa<strong>ch</strong> mit Jung-<br />

Stilling getroffen. Über eine Begegnung der beiden Männer, die im<br />

Jahre 1814 in Bru<strong>ch</strong>sal stattfand, hat Jung-Stilling 1815 in seiner<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift »Der graue Mann« beri<strong>ch</strong>tet: »Daß i<strong>ch</strong> im verwi<strong>ch</strong>enen<br />

36<br />

In der Tat sind viele russis<strong>ch</strong>e Zaren ermordet worden. Au<strong>ch</strong> Alexander I. fühlte<br />

si<strong>ch</strong> oft bedroht Er starb s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf einer Reise in Taganrog an einem bis dahin<br />

unbekannten Fieber. Über die genauen Umstände seines Todes wurde aber no<strong>ch</strong><br />

lange gemunkelt und gerätselt.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

165


Sommer eine merkwürdige Unterredung mit dem russis<strong>ch</strong>en Monar<strong>ch</strong>en<br />

gehabt habe, ist dur<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> selbst und andere bekannt geworden.<br />

I<strong>ch</strong> weiß, es gibt Freunde, wel<strong>ch</strong>e wüns<strong>ch</strong>en, den Inhalt<br />

dieser Unterredung hier zu lesen, allein bei ruhigem Na<strong>ch</strong>denken<br />

werden sie si<strong>ch</strong> selbst bes<strong>ch</strong>eiden können, dass dies ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ickli<strong>ch</strong><br />

ist; erstli<strong>ch</strong> würde es mir als Prahlerei ausgelegt werden, und<br />

zweitens würde es dem Kaiser gar ni<strong>ch</strong>t gefallen, wenn er es erführe<br />

– und Er erführe es gewiß – was mit Vorsatz unter vier Augen<br />

gespro<strong>ch</strong>en wird, das darf ni<strong>ch</strong>t mit Vorsatz allgemein bekannt<br />

gema<strong>ch</strong>t werden; so viel kann und darf i<strong>ch</strong> aber do<strong>ch</strong> laut und öffentli<strong>ch</strong><br />

sagen, ohne den Vorwurf kindli<strong>ch</strong>er Alterss<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e oder<br />

gar der Hofs<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elei zu verdienen, daß der Kaiser Alexander<br />

den festen Vorsatz hat, als ein wahrer Christ zu leben und zu sterben<br />

und das wahre Christentum auf alle Weise und dur<strong>ch</strong> alle mögli<strong>ch</strong>en<br />

Mittel zu befördern; ein Beweis davon ist die kräftige Unterstützung<br />

der russis<strong>ch</strong>en Bibelgesells<strong>ch</strong>aft, die mit großer Thätigkeit<br />

fortwirkt. Der Kaiser selbst ma<strong>ch</strong>t aus der Heiligen S<strong>ch</strong>rift sein<br />

tägli<strong>ch</strong>es Studium, seine Bibel sah i<strong>ch</strong> auf seinem Tis<strong>ch</strong>, sie gli<strong>ch</strong><br />

einem S<strong>ch</strong>ulbu<strong>ch</strong>e, das s<strong>ch</strong>on mehrere Jahre gebrau<strong>ch</strong>t worden.<br />

Außer der Bibel liest er wenig, außer dem, was er Amts wegen lesen<br />

muß«.<br />

Ein Gebet, das der Zar um diese Zeit häufig gebetet hat, lautet<br />

(aus dem Französis<strong>ch</strong>en übersetzt): »Oh, mein großer Gott! Nimm<br />

uns in die Reihe Deiner Heiligen auf. Ma<strong>ch</strong>, dass wir uns niemals<br />

vom Wege der Ehre und der Tugend abwenden, ma<strong>ch</strong>, dass wir<br />

niemals davon abwei<strong>ch</strong>en; wir danken Dir, großer Gott, für alle<br />

Wohltaten, die Du uns erwiesen hast. Oh, mein großer Gott! Wir<br />

bitten Di<strong>ch</strong>, fahre fort, uns und die Unsrigen zu behüten, und die<br />

ganze Mens<strong>ch</strong>heit …«.<br />

Bei den Begegnungen Stillings mit dem Zaren standen immer<br />

religiöse Fragen im Vordergrund. So wurde Jung-Stilling einmal<br />

von Alexander befragt, wel<strong>ch</strong>e der bestehenden <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aften<br />

er für die wahre, dem reinen Christentum am nä<strong>ch</strong>-<br />

166 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


sten kommende, halte. Vor allem wollte der Zar da wohl eine klare<br />

Auskunft Jung-Stillings über die Bedeutung der Herrnhuter hören.<br />

Jung-Stilling antwortete ihm aber nur auswei<strong>ch</strong>end, wohl um dem<br />

russis<strong>ch</strong>-orthodoxen Zaren ni<strong>ch</strong>t zu nahe zu treten. Er bekannte frei<br />

heraus, dass er keine Antwort auf diese Frage geben könne, da<br />

na<strong>ch</strong> seiner Meinung alle <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Bekenntnisse und au<strong>ch</strong> die<br />

Sekten ihr Gutes hätten, und keines der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Bekenntnisse<br />

s<strong>ch</strong>lösse den Weg zur Seligkeit aus. Es käme eben nur auf den<br />

Mens<strong>ch</strong>en an, auf seine Gesinnungen und seinen Lebenswandel.<br />

Der Zar war unzufrieden über diese auswei<strong>ch</strong>ende Antwort und<br />

meinte, es müsse do<strong>ch</strong> Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Bekenntnissen geben. Jung-Stilling meinte hingegen, es sei ihm<br />

einfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, eine unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Wertung der einzelnen<br />

Bekenntnisse vorzunehmen. Darauf versetzte Alexander, er habe<br />

eigentli<strong>ch</strong> den Eindruck, dass die Herrnhuter Brüdergemeine dem<br />

großen Vorbild am ehesten entsprä<strong>ch</strong>e. »O ja«, soll Stilling geantwortet<br />

haben, »die Herrnhuter sind vortreffli<strong>ch</strong> und mir gewiß lieb;<br />

aber die Form tut es au<strong>ch</strong> hier ni<strong>ch</strong>t, und wenn der Mens<strong>ch</strong> nur gut<br />

ist, so kann er in jeder gedeihen«.<br />

Alexander, der seit seiner Kindheit auf der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einer<br />

wahrhaften und ihn voll befriedigenden Religion war, hatte in der<br />

Tat alle ihm errei<strong>ch</strong>bare religiösen S<strong>ch</strong>riften seiner Zeit gelesen,<br />

darunter au<strong>ch</strong> – soweit sie bereits ins Russis<strong>ch</strong>e übersetzt worden<br />

waren – die Bü<strong>ch</strong>er Jung-Stillings. Im Jahre 1812 hatte der Kaiser<br />

dann unter dem Einfluß der ungewissen Kriegszeit und der hohen<br />

Verantwortung, die er zu tragen hatte, so etwas wie eine innere<br />

Wandlung und religiöse Erweckung erlebt. Das kam vor allem zum<br />

Ausdruck in einer Aufstellung empfehlenswerter <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er Literatur,<br />

die er für seine S<strong>ch</strong>wester Katharina in Jahre 1812 angefertigt<br />

hat. In dieser Aufstellung unters<strong>ch</strong>ied er drei Arten von geistli<strong>ch</strong>en<br />

und theologis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riften. In den S<strong>ch</strong>riften der ersten<br />

Klasse werden na<strong>ch</strong> seiner Eins<strong>ch</strong>ätzung theoretis<strong>ch</strong>e Lehren dar-<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

167


gelegt. Zu diesen S<strong>ch</strong>riften zählt er die von Böhme 37 , Swedenborg<br />

und Jung-Stilling. Aber er blieb kritis<strong>ch</strong>: »in allen diesen S<strong>ch</strong>riften<br />

findet si<strong>ch</strong> die Wahrheit mit dem Irrtum auf das gröbste vermis<strong>ch</strong>t«.<br />

Der Zar verließ si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t auf das Literaturstudium<br />

allein, sondern su<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong> offene religiöse Fragen in persönli<strong>ch</strong>en<br />

Gesprä<strong>ch</strong>en zu klären. So hat er sol<strong>ch</strong>e Unterredungen ni<strong>ch</strong>t nur<br />

mit Jung-Stilling geführt, sondern au<strong>ch</strong> einmal mit dessen Freund<br />

Lavater 38 in der S<strong>ch</strong>weiz. Dorthin war Alexander eines Tages inkognito<br />

gereist, um diesen bedeutenden Mann zu treffen. Au<strong>ch</strong> der<br />

Einfluß des Fürsten Golizyn ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> geltend, der ihn wiederholt<br />

gebeten hatte, si<strong>ch</strong> dem Studium der Bibel zu widmen. Der<br />

Zar befolgte seinen Rat und s<strong>ch</strong>rieb ihm dann: »Mir s<strong>ch</strong>eint es so,<br />

als ob si<strong>ch</strong> eine neue Welt für mi<strong>ch</strong> auftut, i<strong>ch</strong> bin dir wirkli<strong>ch</strong> sehr<br />

dankbar für diesen Rat«. Diese Einflüsse (und die Bemühungen der<br />

Frau von Krüdener) führten s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> im Jahre 1815 dazu, daß auf<br />

Betreiben des Zaren si<strong>ch</strong> die sogenannte »Heilige Allianz« bildete<br />

39 . Ihr gehörten außer dem Zaren au<strong>ch</strong> Kaiser Franz I. von Österrei<strong>ch</strong><br />

und der preußis<strong>ch</strong>e König Friedri<strong>ch</strong> Wilhelm III. an.<br />

Der Zar hatte si<strong>ch</strong> die überkonfessionelle Haltung gegenüber<br />

den vers<strong>ch</strong>iedenen <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Bekenntnissen weitgehend zu eigen<br />

gema<strong>ch</strong>t, wie er sie im Gesprä<strong>ch</strong> mit Jung-Stilling erfahren hatte.<br />

Dies geht aus den Worten hervor, die er dem Baumeister Witberg<br />

40 sagte, als dieser si<strong>ch</strong> mit dem Gedanken trug, zur Orthodoxie<br />

überzutreten: »Da Sie gut Bes<strong>ch</strong>eid wissen über den <strong>ch</strong>ristli-<br />

37<br />

Jacob Böhme (1575–1624), S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>er, Mystiker, Philosoph und Theosoph.<br />

38<br />

Johann Caspar Lavater (1741–1801), Züri<strong>ch</strong>er Gelehrter. Lebenslang mit Jung-<br />

Stilling befreundet. Bes<strong>ch</strong>äftigte si<strong>ch</strong> mit theologis<strong>ch</strong>en Fragen. Aber er s<strong>ch</strong>rieb<br />

au<strong>ch</strong> ein viel bea<strong>ch</strong>tetes Bu<strong>ch</strong> über den Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Antlitz und<br />

Charakter. Dazu ließ er von seinem Zei<strong>ch</strong>ner S<strong>ch</strong>moll die Köpfe von Freunden und<br />

Prominenten abbilden, so au<strong>ch</strong> von Jung-Stilling.<br />

39<br />

Die »Heilige Allianz« war ein loses Bündnis, dem na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> fast alle europäis<strong>ch</strong>en<br />

Fürstenhäuser beitraten. S<strong>ch</strong>on bald war die Allianz aber praktis<strong>ch</strong> ohne<br />

Bedeutung, obwohl sie theoretis<strong>ch</strong> bis 1914 bestand.<br />

40<br />

A. L. Witberg (1787–1855), aus S<strong>ch</strong>weden gebürtiger Ar<strong>ch</strong>itekt. Entwarf (1812)<br />

die Pläne für die Christ-Erlöserkir<strong>ch</strong>e auf den Sperlingsbergen bei Moskau.<br />

168 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


<strong>ch</strong>en Glauben, wissen Sie, dass es ganz glei<strong>ch</strong> ist, zu wel<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e<br />

man gehört … Alle <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Kr<strong>ch</strong>en sind gut …«.<br />

Interessant ist au<strong>ch</strong> der Beri<strong>ch</strong>t von einer übersinnli<strong>ch</strong>en Ers<strong>ch</strong>einung,<br />

den die Fürstin Mecserskaja 41 gegeben hat. Sie erzählte,<br />

daß 1812, als der Zar gerade Petersburg verlassen wollte, diesem<br />

eine weibli<strong>ch</strong>e Gestalt ers<strong>ch</strong>ienen sei, die er als die verstorbene<br />

Gräfin Tolstoi erkannte. Sie habe ihm eine gute Reise gewüns<strong>ch</strong>t<br />

und einen Zettel gegeben, auf dem der 91. Psalm gestanden<br />

habe. Alexander habe den Psalm gelesen, der mit den Worten<br />

beginnt: »Wer im S<strong>ch</strong>irm des Hö<strong>ch</strong>sten sitzt, wird bleiben im<br />

S<strong>ch</strong>atten des Allmä<strong>ch</strong>tigen …«. Er habe si<strong>ch</strong> gestärkt gefühlt. Später<br />

sei ihm ein Bu<strong>ch</strong> herunter gefallen. Dabei habe si<strong>ch</strong> eine Seite<br />

aufges<strong>ch</strong>lagen, die wiederum den 91. Psalm gezeigt habe. Diesen<br />

Psalm habe der Zar von nun an ständig bei si<strong>ch</strong> getragen. -<br />

Der Zar, der Jung-Stilling außergewöhnli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ätzt haben<br />

muß, setzte diesem au<strong>ch</strong> eine alljährli<strong>ch</strong>e Rente von 200 Talern<br />

aus. Außerdem nahm er si<strong>ch</strong>, wie no<strong>ch</strong> zu bespre<strong>ch</strong>en sein wird,<br />

na<strong>ch</strong> Stillings Tode dessen Sohnes Friedri<strong>ch</strong> (Fritz) 42 an, und ließ<br />

ihm eine gute Erziehung in St. Petersburg angedeihen.<br />

Aber ni<strong>ch</strong>t nur der Zar hat die in die russis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e übersetzten<br />

Werke Jung-Stillings gelesen, sondern diese fanden au<strong>ch</strong> in<br />

ganz Russland eine weite Verbreitung. Das erste in russis<strong>ch</strong>er<br />

Spra<strong>ch</strong>e ers<strong>ch</strong>ienene Werk Stillings war sein »Tas<strong>ch</strong>enbu<strong>ch</strong> für<br />

Freunde des Christentums«. Es wurde 1805 unter dem russis<strong>ch</strong>en<br />

Titel »Kurze erbauli<strong>ch</strong>e Regeln für jeden Tag des Jahres für die<br />

Freunde des Christentums« von A. F. Labzin übersetzt 43 . Dieser<br />

41<br />

Fürstin Sofia Sergejewna Mecserskaja (1775–1848), Unterstützerin der russis<strong>ch</strong>en<br />

Bibelgesells<strong>ch</strong>aft und Herausgeberin religiöser Traktate.<br />

42<br />

Friedri<strong>ch</strong> (=Fritz) Stilling (1795–1853). Wurde vom Zaren 1827 in den Adelsstand<br />

erhoben und (1835) zum Oberpostmeister von Livland in Riga ernannt.<br />

43<br />

Alexander Fedorowits<strong>ch</strong> Labzin, 1766 in Moskau geboren, studierte dort Philosophie,<br />

alte Spra<strong>ch</strong>en, sowie die neuere Literatur des In- und Auslandes. Dana<strong>ch</strong><br />

wurde er zunä<strong>ch</strong>st Herausgeber einer Literaturzeits<strong>ch</strong>rift und Übersetzer in der<br />

Moskauer Gouvernementsverwaltung. Dur<strong>ch</strong> seine Übersetzungen der S<strong>ch</strong>riften<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

169


verwendete anstatt seines Namens bei diesem Bu<strong>ch</strong> das Pseudonym<br />

»U. M.«, eine Abkürzung für »Ucenik mudrosti« = S<strong>ch</strong>üler der<br />

Weisheit. Das Bu<strong>ch</strong> war bald vergriffen und im Jahre 1818 mußte<br />

eine zweite Auflage veranstaltet werden. Ebenfalls 1805 übersetzte<br />

Labzin, diesmal unter Angabe seines ri<strong>ch</strong>tigen Namens, Stillings:<br />

»Scenen aus dem Geisterrei<strong>ch</strong>«. Labzin gab der Übersetzung den<br />

Titel: »Ereignisse na<strong>ch</strong> dem Tode«. Hier ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> eine zweite<br />

Auflage bereits im Jahre 1817 nötig, viellei<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on wegen des<br />

etwas reißeris<strong>ch</strong>en Titels.<br />

S<strong>ch</strong>on 1806 folgte die Übersetzung des ersten Bandes des<br />

»Grauen Mannes« unter dem Titel »Die Drohung der Ostli<strong>ch</strong>tener«.<br />

Dabei spielte Labzin sowohl auf die Hauptperson des »Grauen<br />

Mannes« an, Ernst Uriel von Ostenheim, und au<strong>ch</strong> auf Stillings<br />

Hoffnung auf das zu erwartende Heil aus dem Osten. Vom »Grauen<br />

Mann« ers<strong>ch</strong>ienen na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> alle 30 Bände und fanden eine<br />

gute Aufnahme. Labzin übersetzte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die »Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Religion«, die mehrere russis<strong>ch</strong>e Auflagen<br />

erlebte. Ans<strong>ch</strong>ließend gab er »Heinri<strong>ch</strong> Stillings Leben, eine wahre<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« heraus und versah sie mit einem Vorwort. Im Jahre<br />

1818, na<strong>ch</strong> Stillings Tode, s<strong>ch</strong>rieb Labzin dann no<strong>ch</strong> »Die letzten<br />

Tage Jung-Stillings oder das se<strong>ch</strong>ste Bu<strong>ch</strong> seines Lebens, von ihm<br />

selbst begonnen und fortgesetzt von seinem Enkel« und die »Erinnerungsworte<br />

über den verstorbenen und unvergessenen Freund<br />

Jung, genannt Stilling, von einigen seiner Freunde«.<br />

Labzin hat si<strong>ch</strong> also sehr verdient gema<strong>ch</strong>t und darum bemüht,<br />

Jung–Stilling den russis<strong>ch</strong>en Lesern nahe zu bringen. Der Zar würdigte<br />

diese Arbeit dur<strong>ch</strong> Verleihung des Wladimirordens zweiter<br />

Klasse.<br />

Aber es gab bald no<strong>ch</strong> einen zweiten Übersetzer, der Werke<br />

Jung-Stillings erwarb si<strong>ch</strong> L. das Wohlwollen des Zaren und wurde in höhere Ämter<br />

berufen, so zum Staatsrat für auswärtige Angelegenheiten, zum Vizepräsidenten<br />

der Kunstakademie und zum Mitlied der Bibelgesells<strong>ch</strong>aft.<br />

170 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Stillings ins Russis<strong>ch</strong>e übertrug. Das war F. P. Lubjanowski 44 . Er<br />

übersetzte 1806 »Das Heimweh« unter dem Titel »Das Heimweh<br />

zur Heimat« und 1819 »Theobald der S<strong>ch</strong>wärmer«.<br />

Vor allem die Übersetzungen Labzins erfreuten si<strong>ch</strong> einer großen<br />

Popularität. Es gab damals in den gebildeten S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten Russlands<br />

kaum jemand, der Jung-Stilling ni<strong>ch</strong>t gekannt hätte und von<br />

seiner Erweckung wusste. Am Hof war der Kaiser selbst ein eifriger<br />

Leser und Verehrer Stillings, dessen Beispiel viele folgten, so Roxandra<br />

Stourdza, Fürst Golicyn und au<strong>ch</strong> andere, weniger im öffentli<strong>ch</strong>en<br />

Interesse stehende Persönli<strong>ch</strong>keiten. In der mündli<strong>ch</strong>en<br />

Überlieferung der Familie Jung-Stillings hat si<strong>ch</strong> bei seinen Na<strong>ch</strong>kommen<br />

hartnäckig die Meinung gehalten, Jung-Stilling habe einen<br />

oder mehrere ho<strong>ch</strong>rangige Russen erfolgrei<strong>ch</strong> am Star operiert<br />

und au<strong>ch</strong> deshalb sei er in Russland so verehrt worden. Diese Ansi<strong>ch</strong>t<br />

wird au<strong>ch</strong> in den Lebenserinnerungen der Diakonisse Elisabeth<br />

von Engelhardt, einer Urenkelin Jung-Stillings, vertreten 45 .<br />

Allerdings hat der um die Erfors<strong>ch</strong>ung von Stillings augenärztli<strong>ch</strong>er<br />

Tätigkeit sehr verdiente Augenarzt Gerhard Berneaud-<br />

Kötz in den sehr exakten Krankenakten, die Jung-Stilling geführt<br />

hat, keine diesbezügli<strong>ch</strong>en Patienten feststellen können. Offenbar<br />

ist also die Person und das Wirken Jung-Stillings in Russland allein<br />

dur<strong>ch</strong> seine religiöse Tätigkeit bekannt und überaus populär geworden.<br />

Die Kenntnis der Werke Stillings gehörte bald in den Sa-<br />

44<br />

Fedor Petrovit<strong>ch</strong> Lubjanowski, Adliger aus der Ukraine, der auf vers<strong>ch</strong>iedenen Reisen<br />

in seiner Freizeit Werke von Jung-Stilling ins Russis<strong>ch</strong>e übersetzte. Freimaurer<br />

und Mitglied der Bibelgesells<strong>ch</strong>aft. War später berufli<strong>ch</strong> als Mitarbeiter des Innenministers<br />

Graf V. P. Kocubey tätig.<br />

45<br />

Elisabeth von Engelhardt (1897–1978) war die Altoberin des Diakonissen-<br />

Mutterhauses »Amalie von Sieveking« in Hamburg-Volksdorf. Sie hat fast 80 Seiten<br />

starke hands<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Aufzei<strong>ch</strong>nungen hinterlassen, in denen sie die Erlebnisse<br />

ihres infolge der Zeitumstände sehr bewegten Lebens festgehalten hat. Sie<br />

hat allerdings vor ihrem Tode verfügt, daß dieses Manuskript ni<strong>ch</strong>t vollständig publiziert<br />

werden solle. Die Kenntnis der hier interessierenden Passagen verdanke<br />

i<strong>ch</strong> der inzwis<strong>ch</strong>en ebenfalls verstorbenen Diakonisse Esther Herzberg (Halle/Saale)<br />

die mir freundli<strong>ch</strong>erweise einen Einblick in die Aufzei<strong>ch</strong>nungen ermögli<strong>ch</strong>te.<br />

Dafür sei ihr au<strong>ch</strong> an dieser Stelle no<strong>ch</strong> einmal herzli<strong>ch</strong> gedankt.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

171


lons des Landes zum guten Ton und war eine Selbstverständli<strong>ch</strong>keit.<br />

Aber au<strong>ch</strong> der »gemeine Mann« im Lande las mit<br />

Begeisterung wenigstens den »grauen Mann« Stillings und seine<br />

Ansi<strong>ch</strong>ten waren das Gesprä<strong>ch</strong> in den öffentli<strong>ch</strong>en Gaststätten und<br />

überall, wo man der Geselligkeit pflegte. In Jung-Stillings Namen<br />

erfolgten viele Spenden für kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e und wohltätige Zwecke.<br />

Au<strong>ch</strong> die russis<strong>ch</strong>e Geistli<strong>ch</strong>keit war zunä<strong>ch</strong>st von dem religiösen<br />

Treiben Jung-Stillings begeistert und beteiligte si<strong>ch</strong> daran. Der<br />

Metropolit Serafim 46 und der russis<strong>ch</strong>e Erzbis<strong>ch</strong>of Mi<strong>ch</strong>ael 47 kannten<br />

Jung-Stilling persönli<strong>ch</strong> und au<strong>ch</strong> Filaret 48 gehörte zu seinen<br />

Verehrern. Au<strong>ch</strong> andere geistli<strong>ch</strong>e Würdenträger bes<strong>ch</strong>äftigten<br />

si<strong>ch</strong> mit Jung-Stillings Gebetsübungen und lasen seine Bü<strong>ch</strong>er. Einer<br />

derselben bes<strong>ch</strong>reibt seine Begeisterung so: »Unser Zeitvertreib<br />

bestand größtenteils in der Lektüre sol<strong>ch</strong>er geistli<strong>ch</strong>er Bü<strong>ch</strong>er,<br />

die besonders unserem hö<strong>ch</strong>st wi<strong>ch</strong>tigen Werk vor Gott entspra<strong>ch</strong>en,<br />

dies waren: der ›Sionskij vestnik‹ (= Zionsbote, Pf.), die<br />

Auslegung der Apokalypse dur<strong>ch</strong> einen deuts<strong>ch</strong>en Zeugen Christi,<br />

Heinri<strong>ch</strong> Stilling, sowie sein ›Heimweh‹ und der ›Graue Mann‹ … alle<br />

diese Bü<strong>ch</strong>er wurden uns von Erzbis<strong>ch</strong>of Johann und dem Fürsten<br />

Golicyn vers<strong>ch</strong>afft, und i<strong>ch</strong> Sünder fand in ihnen, besonders<br />

im ›Heimweh‹ … wunderbare Prophezeiungen sowie unsere gegenwärtige<br />

Pfli<strong>ch</strong>t vor Gott in aller Genauigkeit bes<strong>ch</strong>rieben und vorhergesagt«.<br />

Au<strong>ch</strong> die russis<strong>ch</strong>en Theologie-Studenten bes<strong>ch</strong>äftigten<br />

si<strong>ch</strong> mit Stillings Thesen und seinen Bü<strong>ch</strong>ern. Sie veranstalteten<br />

Seminare zu deren Studium und Geldsammlungen, um mehr<br />

46<br />

Erzbis<strong>ch</strong>of Serafim von Twer, war später Metropolit von Moskau und Petersburg.<br />

Er hatte großen geistli<strong>ch</strong>en und au<strong>ch</strong> politis<strong>ch</strong>en Einfluß, und war au<strong>ch</strong> ein wi<strong>ch</strong>tiges<br />

Mitlied der russis<strong>ch</strong>en Bibelgesells<strong>ch</strong>aft.<br />

47<br />

Erzbis<strong>ch</strong>of Mi<strong>ch</strong>ael von Czernigov war einige Jahre lang einer der Vizepräsidenten<br />

der russis<strong>ch</strong>en Bibelgesells<strong>ch</strong>aft.<br />

48<br />

Wassili Mi<strong>ch</strong>ailovit<strong>ch</strong> Drozdov (Filaret) lebte von 1783 bis 1867. Er war Ar<strong>ch</strong>imandrit<br />

und später Bis<strong>ch</strong>of und Metropolit von Moskau, Vizepräsident der Bibelgesells<strong>ch</strong>aft<br />

und an der Herausgabe des russis<strong>ch</strong>-orthodoxen Kate<strong>ch</strong>ismus beteiligt.<br />

172 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


seiner Bü<strong>ch</strong>er ans<strong>ch</strong>affen zu können. Au<strong>ch</strong> außerhalb der orthodoxen<br />

Kir<strong>ch</strong>e wurden Stillings Bü<strong>ch</strong>er gelesen und selbst in den russis<strong>ch</strong>en<br />

Sekten über ihre Inhalte diskutiert. Aus immerhin 58 russis<strong>ch</strong>en<br />

Städten ist dur<strong>ch</strong> erhalten gebliebene Vorbestell-Listen der<br />

Verkauf einer großen Anzahl von Bü<strong>ch</strong>ern Jung-Stillings bekannt –<br />

umso erstaunli<strong>ch</strong>er, wenn man bedenkt, dass Bü<strong>ch</strong>er damals teuer<br />

und fast no<strong>ch</strong> ein Luxusgut waren.<br />

Aber etwa ab 1816, also ungefähr ein Jahr vor Jung-Stillings<br />

Tod, braute si<strong>ch</strong> Unheil zusammen. Zwar s<strong>ch</strong>ätzte Fürst Golicyn,<br />

der Präsident der Bibelgesells<strong>ch</strong>aft, die überkonfessionelle Haltung<br />

Stillings ho<strong>ch</strong> ein. Golicyn war aber au<strong>ch</strong> Minister für Volksaufklärung<br />

und hatte als sol<strong>ch</strong>er daher au<strong>ch</strong> die Verpfli<strong>ch</strong>tung, die Belange<br />

der Orthodoxen zu vertreten. So s<strong>ch</strong>wankte er in seinen Anordnungen<br />

zwis<strong>ch</strong>en »Glaube, Prophetentum und Ma<strong>ch</strong>t« hin und<br />

her, wie es Florovsky 49 ausdrückte. Die orthodoxe Kir<strong>ch</strong>e Russlands<br />

sah voller Mißtrauen in Stillings überkonfessionellen S<strong>ch</strong>riften<br />

eine Gefahr für ihre eigene Vorma<strong>ch</strong>tstellung. Die Bü<strong>ch</strong>er Stillings<br />

waren daher na<strong>ch</strong> ihrer Meinung als »s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>e Bü<strong>ch</strong>er« einzustufen<br />

und zum mindesten ni<strong>ch</strong>t zu fördern. Die forts<strong>ch</strong>rittli<strong>ch</strong>er<br />

eingestellten Männer unter den russis<strong>ch</strong>en Theologe sahen hinwiederum<br />

in Jung-Stilling eine »Gefahr für Literatur und Wissens<strong>ch</strong>aften«<br />

und die Konservativen für<strong>ch</strong>teten insgeheim den Verlust alterprobter<br />

Kir<strong>ch</strong>enweisweiten und bequem gewordener Sitten. Es<br />

entspann si<strong>ch</strong> so na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> ein regelre<strong>ch</strong>ter Kampf gegen die<br />

russis<strong>ch</strong>e Bibelgesells<strong>ch</strong>aft und gegen Jung-Stilling. Der erste<br />

s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Beleg dafür ist ein Beri<strong>ch</strong>t, den im August 1816 Stepan<br />

Smirnow 50 an den Zaren ri<strong>ch</strong>tete. Smirnow hatte eine Entgegnung<br />

auf Stillings »Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« ges<strong>ch</strong>rieben. Seine S<strong>ch</strong>rift trug den<br />

etwas seltsamen Titel: »Die Klage des Weibes mit der Sonne bekleidet«<br />

und war von der Zensur beanstandet worden. Smirnow be-<br />

49<br />

Florovski, G.: Wege der russis<strong>ch</strong>en Theologie (russ.). Paris 1937. Seite 132.<br />

50<br />

Stepan Smirnow war Gouvernements-Sekretär in Moskau und arbeitete als Übersetzer<br />

für die medizinis<strong>ch</strong>-<strong>ch</strong>irurgis<strong>ch</strong>e Akademie.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

173


s<strong>ch</strong>werte si<strong>ch</strong> nun beim Zaren darüber und verwies auf die Druckgenehmigung<br />

für die na<strong>ch</strong> seiner Meinung »s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>en« Stillings<strong>ch</strong>en<br />

Bü<strong>ch</strong>er, die do<strong>ch</strong> sogar als staatsgefährdend einzustufen wären.<br />

Smirnow stufte au<strong>ch</strong> die »Scenen aus dem Geisterrei<strong>ch</strong>e« und<br />

den »Grauen Mann« als ebenso gefährli<strong>ch</strong> ein und bes<strong>ch</strong>wor den<br />

Zaren, einzus<strong>ch</strong>reiten: »Lasse in dem von Gott erretteten Russland<br />

ni<strong>ch</strong>t das Gebot Gesetzloser herrs<strong>ch</strong>en, mit dem Glauben an Gott<br />

vers<strong>ch</strong>windet au<strong>ch</strong> die Treue gegenüber dem bürgerli<strong>ch</strong>en Gesetz.<br />

Das Chaos der Verwirrung und Verni<strong>ch</strong>tung vers<strong>ch</strong>lingt dann das<br />

Wohl des Volkes. Das Ers<strong>ch</strong>einen gotteslästerli<strong>ch</strong>er und empörender<br />

Bü<strong>ch</strong>er erfüllt die Herzen deiner gutgesinnten Untertanen mit<br />

Bitterkeit«.<br />

Nun zog der Feldzug gegen Stillings Bü<strong>ch</strong>er, vor allem gegen<br />

die »Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« weitere Kreise. Die Auseinandersetzungen<br />

spalteten die Geistli<strong>ch</strong>keit bald in zwei Lager. Au<strong>ch</strong> Labzin, der im<br />

»Zionsboten« Jung-Stilling verteidigen wollte, geriet in die Ziellinie<br />

und es wurde das Verbot des »Zionsboten« beantragt. Zum offenen<br />

Bru<strong>ch</strong> kam es 1818, also na<strong>ch</strong> Stillings Tod. Die überkonfessionell<br />

Eingestellten und die Orthodoxen standen si<strong>ch</strong> unversöhnli<strong>ch</strong> gegenüber.<br />

Au<strong>ch</strong> Labzins Einwand, dass Jung-Stilling s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> für<br />

deuts<strong>ch</strong>e Leser und deuts<strong>ch</strong>e Gläubige ges<strong>ch</strong>rieben habe, und ni<strong>ch</strong>t<br />

an eine mögli<strong>ch</strong>e russis<strong>ch</strong>e Übersetzung geda<strong>ch</strong>t habe, nutzte<br />

ni<strong>ch</strong>ts.<br />

Zu dieser Zeit ers<strong>ch</strong>ien au<strong>ch</strong> ein Bu<strong>ch</strong> von Stanevits<strong>ch</strong> 51 , das<br />

den an si<strong>ch</strong> unverfängli<strong>ch</strong>en Titel trug: »Rede am Grabe eines Kindes<br />

über die Unsterbli<strong>ch</strong>keit der Seele«. Das Bu<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> gegen<br />

den Mystizismus. Die Mystiker mit ihren »bösen Geistern«,<br />

also au<strong>ch</strong> Jung-Stilling, vertreten na<strong>ch</strong> der Meinung von Stanevits<strong>ch</strong><br />

»Werke des Teufels, die si<strong>ch</strong> gegen die innere Kir<strong>ch</strong>e« ri<strong>ch</strong>ten.<br />

51<br />

Estafin Stanewits<strong>ch</strong> war Mitarbeiter eines gegen den Mystizismus eingestellten<br />

Staatssekretärs.<br />

174 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Au<strong>ch</strong> ein Ar<strong>ch</strong>imandrit namens Fotij, ein religiöser Eiferer,<br />

s<strong>ch</strong>lug in dieselbe Kerbe und verdammte die Mystizismen, die<br />

na<strong>ch</strong> seiner Meinung von Jung-Stilling vertreten wurden. Er verband<br />

sein Urteil mit einem s<strong>ch</strong>arfen Angriff auf die russis<strong>ch</strong>e Bibelgesells<strong>ch</strong>aft<br />

und auf Golicyn. Fotij ri<strong>ch</strong>tete –mittlerweile s<strong>ch</strong>rieb<br />

man s<strong>ch</strong>on 1824 - einen Brief an den Zaren, in dem er die Bibelgesells<strong>ch</strong>aft<br />

anklagte, eine ganze Reihe von »Lügenpropheten«, darunter<br />

au<strong>ch</strong> Jung-Stilling, zu s<strong>ch</strong>ützen und sogar zu fördern. Besonders<br />

stark muss Fotij au<strong>ch</strong> die Frau von Krüdener gehasst haben.<br />

Es kam zu einem Zusammentreffen von Fotij mit Golicyn, wobei Fotij<br />

diesen mit pathetis<strong>ch</strong>em Gehabe aufforderte, von seinem un<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />

Tun abzulassen. Den Zaren forderte er gar auf, Golicyn<br />

zu entlassen, das Ministerium für geistli<strong>ch</strong>e Angelegenheiten und<br />

die Bibelgesells<strong>ch</strong>aft aufzulösen und den alten Synod wieder einzuführen.<br />

Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> gab der Zar diesen Vors<strong>ch</strong>lägen und Wüns<strong>ch</strong>en<br />

weitgehend na<strong>ch</strong>. Das Ministerium für kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Angelegenheiten<br />

wurde aufgelöst, Fürst Golicyn wurde entlassen und au<strong>ch</strong> die russis<strong>ch</strong>e<br />

Bibelgesells<strong>ch</strong>aft vers<strong>ch</strong>wand zwei Jahre später sang- und<br />

klanglos von de Bildflä<strong>ch</strong>e. Für eins<strong>ch</strong>lägige verbleibende Fragen<br />

wurde das Ministerium für Volksaufklärung unter Admiral S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>kow<br />

52 zuständig. Dieser s<strong>ch</strong>ilderte 1824 dem Zaren die Gefährli<strong>ch</strong>keit<br />

der »s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>en Bü<strong>ch</strong>er« mit drastis<strong>ch</strong>en Worten: »Unterdes<br />

bleiben die Bü<strong>ch</strong>er, die den Unglauben und Zerstörung säen, im<br />

Druck und öffentli<strong>ch</strong>en Verkauf. Die Geistli<strong>ch</strong>keit weiß von ihnen,<br />

und sie s<strong>ch</strong>weigt ni<strong>ch</strong>t nur dazu und versu<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t, dieses Übel<br />

abzuwenden, sondern viele der neuerzogenen Geistli<strong>ch</strong>en befürworten<br />

sie no<strong>ch</strong> unter der Maske des Glaubens … die Bü<strong>ch</strong>er, die zu<br />

Tausenden in den Lehranstalten und dur<strong>ch</strong> die ganze Weite Russlands<br />

verbreitet worden sind, sind s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong> und gefährli<strong>ch</strong>«. In einer<br />

Liste ers<strong>ch</strong>einen dann die »s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>en Bü<strong>ch</strong>er«, wobei Jung-<br />

52<br />

Admiral S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>kow s<strong>ch</strong>rieb ein zweibändiges Bu<strong>ch</strong> mit dem Titel. »Aufzei<strong>ch</strong>nungen,<br />

Meinungen und Briefwe<strong>ch</strong>sel«. Er war ein strenger Gegner des Mystizismus.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

175


Stillings »Siegsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« den ersten Platz einnimmt. Der Metropolit<br />

Serafim wird nun beauftragt, sie zum Teil einzuziehen, zum<br />

Teil für verboten zu erklären. Das zog weite Kreise und erregte im<br />

In- und Ausland Aufsehen. Varnhagen von Ense 53 s<strong>ch</strong>rieb dazu in<br />

seinen Erinnerungen: »Der Kaiser von Russland lässt die Bü<strong>ch</strong>er<br />

Jung-Stillings, … deren Verbreitung er früher förderte, jetzt verbieten<br />

und wegnehmen, Er s<strong>ch</strong>eint si<strong>ch</strong> mehr und mehr dem Einflusse<br />

der eigenen Geistli<strong>ch</strong>keit Russlands fügen zu müssen …«.<br />

So wurden die Bü<strong>ch</strong>er Jung-Stillings in Russland ni<strong>ch</strong>t nur verboten,<br />

sondern sogar verni<strong>ch</strong>tet, soweit sie si<strong>ch</strong> in öffentli<strong>ch</strong>en Bibliotheken<br />

befanden. Damit bestätigten si<strong>ch</strong> die teilweise apokalyptis<strong>ch</strong>en<br />

Erwartungen Stillings, wie sie dieser kurz vor seinem<br />

Tode no<strong>ch</strong> in Briefen gegenüber seinem s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Freund Berling<br />

geäußert hatte.<br />

Aber er hatte au<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>rieben: » … lasse i<strong>ch</strong> den Herrn mit<br />

meinen S<strong>ch</strong>riften s<strong>ch</strong>alten und walten« und: »findet er es nützli<strong>ch</strong>,<br />

daß das Heimweh in die s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e übersetzt werden<br />

soll, so kann er es wohl veranstalten«. Au<strong>ch</strong> sonst war Jung-Stilling<br />

dur<strong>ch</strong>aus gelassen: » … lasst uns ni<strong>ch</strong>t bange für der Zukunft seyn,<br />

gefällt es dem Herrn au<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>werste über uns zu verhängen, so<br />

gibt er gewiß au<strong>ch</strong> Kraft es zu tragen« 54 .<br />

In der Tat hatte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in Jung-Stillings Familie inzwis<strong>ch</strong>en<br />

allerlei Tröstli<strong>ch</strong>es ereignet: Stillings Sohn Friedri<strong>ch</strong> 55 hatte als<br />

Knabe und als Jüngling seinem Vater allerlei Erziehungss<strong>ch</strong>wierigkeiten<br />

gema<strong>ch</strong>t. Stilling mußte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> den 21-jährigen im Jahre<br />

1816 von der Universität nehmen, und zwar wegen »Lei<strong>ch</strong>tsinns<br />

53<br />

Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) studierte zunä<strong>ch</strong>st Medizin an<br />

der Pépinière in Berlin. Dur<strong>ch</strong> seine spätere intensive Bes<strong>ch</strong>äftigung mit Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

und Literatur wurde er zum »deuts<strong>ch</strong>en Chronisten«. Hinterließ 5 Bände,<br />

die na<strong>ch</strong> seinem Tode unter dem Titel »Blätter aus der preußis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te«<br />

ers<strong>ch</strong>ienen.<br />

54<br />

Pfeifer, Klaus: Briefe mit Trost und Rat verfasst. In: Siegerland: Bd. 81, Heft 1.<br />

2004.<br />

55<br />

Friedri<strong>ch</strong> (Fritz) Jung-Stilling (1795–1858).<br />

176 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


und flü<strong>ch</strong>tigen Wesens, bei übertriebener Gutmütigkeit«. Er steckte<br />

ihn in ein ökonomis<strong>ch</strong>es Institut in der Pfalz. Wir wissen aus<br />

man<strong>ch</strong>en Briefen Johann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stillings, daß er seinen<br />

Sohn Fritz sehr liebte und ständig um dessen Wohlergehen und berufli<strong>ch</strong>es<br />

Gedeihen besorgt war. Es muß ihm sehr s<strong>ch</strong>wer geworden<br />

sein, diesen S<strong>ch</strong>ritt gehen zu müssen.<br />

Im Jahr darauf, am 22. März 1817, starb Frau Elise Jung. Jung-<br />

Stilling selbst fühlte s<strong>ch</strong>on seit einiger Zeit, dass es mit seinen<br />

Kräften und mit seiner Gesundheit bergab ging und hatte dies au<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>on mehrfa<strong>ch</strong> in Briefen an seine Freunde mitgeteilt. Etwa 14<br />

Tage na<strong>ch</strong> dem Hins<strong>ch</strong>eiden seiner Frau, am 2. April 1817, versammelte<br />

er morgens seine Kinder an seinem Bett. Sie knien nieder<br />

und empfangen das Abendmahl. Der Greis spri<strong>ch</strong>t selbst ein Gebet<br />

und au<strong>ch</strong> die Worte der Einsetzung. Wenige Stunden dana<strong>ch</strong> stirbt<br />

Johann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling friedli<strong>ch</strong> im Kreise der Familie. Er<br />

verließ diese Welt so in Frieden und ganz na<strong>ch</strong> seiner Vorstellung<br />

in Übereinstimmung mit seinen Worten: Selig sind die das Heimweh<br />

haben, denn sie sollen na<strong>ch</strong> Haus kommen!<br />

Nun war Friedri<strong>ch</strong> verwaist, hätte aber no<strong>ch</strong> einer Führung bedurft.<br />

Da nahm si<strong>ch</strong> überras<strong>ch</strong>end Zar Alexander I. des jungen<br />

Mannes an, vermutli<strong>ch</strong> von Freunden der Familie über die Notwendigkeit<br />

einer Fürsorge für Friedri<strong>ch</strong> unterri<strong>ch</strong>tet. Der Zar holte<br />

Friedri<strong>ch</strong> an seinen Hof na<strong>ch</strong> Petersburg. S<strong>ch</strong>on mit 23 Jahren wurde<br />

Friedri<strong>ch</strong> in den Rang eines russis<strong>ch</strong>en Kollegien-Assessors berufen<br />

und erhielt den erbli<strong>ch</strong>en Adelstitel. Na<strong>ch</strong> der mündli<strong>ch</strong>en<br />

Überlieferung in der Familie derer »von Stilling« und na<strong>ch</strong> den<br />

Aufzei<strong>ch</strong>nungen der Diakonissen-Oberin Elisabeth von Engelhardt<br />

56 soll der Zar beabsi<strong>ch</strong>tigt haben, Friedri<strong>ch</strong> mit einer russis<strong>ch</strong>en<br />

Adeligen zu vermählen. Dazu hätte dieser allerdings zum orthodoxen<br />

Glauben konvertieren müssen, was er abgelehnt habe.<br />

Daher habe man ihn als Postmeister zunä<strong>ch</strong>st na<strong>ch</strong> Mitau und<br />

56<br />

Siehe Fußnote 45.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

177


dann na<strong>ch</strong> Riga versetzt. Diese Position war eine gute Pfründe,<br />

denn ein Postmeister hatte wi<strong>ch</strong>tige Funktionen zu erfüllen, die<br />

au<strong>ch</strong> gut dotiert waren. Er hatte in seinem Amt zunä<strong>ch</strong>st einmal<br />

natürli<strong>ch</strong> für eine ungestörte und reibungslose Postverbindug zu<br />

sorgen und deshalb einen Fuhrpark und größere Stallungen für die<br />

erforderli<strong>ch</strong>en Pferdewe<strong>ch</strong>sel zu unterhalten. Daneben war aber die<br />

Posthalterei au<strong>ch</strong> ein erstklassiges Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten-Zentrum, denn hier<br />

kamen mit den Postkuts<strong>ch</strong>en und ihren Reisenden aus den vers<strong>ch</strong>iedensten<br />

Ri<strong>ch</strong>tungen ni<strong>ch</strong>t nur die Postsendungen, sondern<br />

au<strong>ch</strong> die vielen ges<strong>ch</strong>äftli<strong>ch</strong>en und politis<strong>ch</strong>en Neuigkeiten zusammen<br />

und zwar aus nahen und fernen Ländern. Ein Postmeister<br />

hatte sozusagen Hof zu halten und viele Reisende zu bewirten, bis<br />

si<strong>ch</strong> für sie eine passende Gelegenheit zu weiterer Fahrt ergab. So<br />

kam es, dass eine Posthalterei zum gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Mittelpunkt<br />

wurde und dass ein tü<strong>ch</strong>tiger Postmeister gute Einnahmequellen<br />

hatte. Er konnte lei<strong>ch</strong>t ein Vermögen ansammeln, das den Grundstock<br />

für eine jahrelange Versorgung der Na<strong>ch</strong>kommen bilden<br />

konnte. Allerdings hatte Friedri<strong>ch</strong> von Jung-Stilling nun eben, wie<br />

s<strong>ch</strong>on sein Vater, kein Ges<strong>ch</strong>ick im Umgang mit Geld. Er gab es offenbar<br />

mit lei<strong>ch</strong>ter Hand glei<strong>ch</strong> wieder aus. Als Friedri<strong>ch</strong> 1858<br />

starb, hatte er keinerlei Rücklagen gebildet. Die Familie mußte das<br />

Haus aufgeben, die Dieners<strong>ch</strong>aft entlassen und si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> einem<br />

anderen Broterwerb umsehen. Die älteste To<strong>ch</strong>ter Friedri<strong>ch</strong>s, Elise,<br />

wurde eine bekannte Malerin. Amalie, die zweite To<strong>ch</strong>ter, bestritt<br />

ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerin. Die dritte To<strong>ch</strong>ter, Charlotte,<br />

heiratete einen Sohn der im Baltikum ho<strong>ch</strong> angesehenen Familie<br />

von Engelhardt 57 . Die vierte To<strong>ch</strong>ter Friedri<strong>ch</strong>s, im Familienkreise<br />

nur »die kleine Tante Sophie« genannt, führte einsam und<br />

bes<strong>ch</strong>eiden ein Leben im Haushalt der Familie. Friedri<strong>ch</strong> hatte no<strong>ch</strong><br />

eine fünfte To<strong>ch</strong>ter. Diese, Luise mit Namen, fiel aus dem Rahmen<br />

57<br />

Sie wurde die Mutter der s<strong>ch</strong>on mehrfa<strong>ch</strong> erwähnten Altoberin Elisabeth von Engelhardt.<br />

178 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


der Gewohnheiten »höherer Tö<strong>ch</strong>ter« der damaligen Zeit. Sie war<br />

selbstsi<strong>ch</strong>er, »ungebärdig«, intelligent, energis<strong>ch</strong> und burs<strong>ch</strong>ikos.<br />

Dazu entwickelte sie soziale Interessen und trug au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ihr<br />

Haar kurz ges<strong>ch</strong>nitten. Na<strong>ch</strong> der Gründung einer florierenden Mäd<strong>ch</strong>en-Gewerbe-S<strong>ch</strong>ule<br />

spielte sie aber s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in der Gesells<strong>ch</strong>aft<br />

der Stadt Riga eine allseits gea<strong>ch</strong>tete Rolle. Sie war eben »etwas<br />

Besonderes«. Friedri<strong>ch</strong> von Jung-Stilling hatte außer diesen Tö<strong>ch</strong>tern<br />

no<strong>ch</strong> einen Sohn, den er au<strong>ch</strong> Friedri<strong>ch</strong> genannt hatte. Dieser<br />

nahm eine Stelle in der Verwaltung des Gouvernements Lettland<br />

an. Er wurde sozusagen »das statistis<strong>ch</strong>e Gewissen« der Verwaltung.<br />

Sein Wissen gab er in Bü<strong>ch</strong>ern voll endloser Zahlenkolonnen<br />

heraus. Sie enthielten (in deuts<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e) alle in der Verwaltung<br />

gesammelten demographis<strong>ch</strong>en Daten, von den Geburtenzahlen<br />

und Sterberaten in den einzelnen Gemeinden, über die Entwicklung<br />

der Lohne und Gehälter, bis zu den Preisen für die Lebensunterhaltung<br />

sowie allen Angaben über Verkehrsverbindungen, Straßenbau<br />

und S<strong>ch</strong>iffahrt 58 . Für Regional - Historiker sind diese Bü<strong>ch</strong>er<br />

Friedri<strong>ch</strong> von Jung-Stillings jun. heute no<strong>ch</strong> von hohem Interesse<br />

und eine Fundgrube. Friedri<strong>ch</strong> der Jüngere wiederum hatte<br />

au<strong>ch</strong> nur einen Sohn. Der hieß Roderi<strong>ch</strong> von Jung-Stilling. Er wurde<br />

S<strong>ch</strong>auspieler, was in der Familie »ungeheures Entsetzen« ausgelöst<br />

haben soll. Mit Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Vorurteile der meisten anderen<br />

Familienmitglieder nahm Roderi<strong>ch</strong> von Jung-Stilling daher den<br />

Künstlernamen »Ri<strong>ch</strong>ard Starnberg« an. Er verließ, wie die meisten<br />

Baltendeuts<strong>ch</strong>en, im Zuge der um die Jahrhundertwende heraufziehenden<br />

politis<strong>ch</strong>en Gewitter seine baltis<strong>ch</strong>e Heimat. Ab 1922 arbeitete<br />

und lebte er in Berlin. Seine Ni<strong>ch</strong>te Elisabeth erinnert si<strong>ch</strong><br />

daran, dass sie ihren »Onkel Rodi« des öfteren darauf angespro<strong>ch</strong>en<br />

habe, ob er ni<strong>ch</strong>t do<strong>ch</strong> heiraten und eine Familie gründen wolle, um<br />

58<br />

Erwähnt seien davon nur: a) Riga in den Jahren 1866–1870, b) Beitrag zur Gebäudestatistik<br />

der Stadt Riga für das Jahr 1866, c) Beitrag zur Bevölkerungsstatistik<br />

Livlands und d) Ergebnisse der Rigaer Handelsstatistik aus den Jahren 1866 -<br />

1870.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

179


den Namen derer »von Jung-Stilling« weiter zu geben. Aber Roderi<strong>ch</strong><br />

von Jung-Stilling alias Ri<strong>ch</strong>ard Starnberg blieb ledig und verstarb<br />

kinderlos im Jahre 1944.<br />

Der Prolog des Johannesevangeliums<br />

Exegetis<strong>ch</strong>e Notizen<br />

von Thomas Noack<br />

Übersetzung<br />

1. Im Anfang war der Logos (das Wort), und der Logos war bei 59 Gott,<br />

und Gott war der Logos. 2. Dieser war im Anfang bei Gott. 3. Alles ist<br />

dur<strong>ch</strong> ihn geworden, und ohne ihn ist au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t eines geworden, das<br />

geworden ist 60 . 4. In ihm war Leben 61 , und das Leben war das Li<strong>ch</strong>t der<br />

Mens<strong>ch</strong>en 62 . 5. Und das Li<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>eint in der Finsternis, und die Finsternis<br />

hat es ni<strong>ch</strong>t erfasst 63 .<br />

6. Da war ein Mens<strong>ch</strong>, von Gott gesandt, sein Name war Johannes. 7.<br />

Dieser kam zum Zeugnis, dass er zeugte von dem Li<strong>ch</strong>t, damit alle dur<strong>ch</strong><br />

ihn glaubten. 8. Ni<strong>ch</strong>t er war das Li<strong>ch</strong>t, sondern (er kam), um von dem<br />

Li<strong>ch</strong>t zu zeugen.<br />

9. Er 64 war das wahre Li<strong>ch</strong>t, das jeden Mens<strong>ch</strong>en erleu<strong>ch</strong>tet, der in die<br />

Welt kommt. 65 10. Er war in der Welt, und die Welt ist dur<strong>ch</strong> ihn gewor-<br />

59<br />

Vers 1: Die Präposition pròs mit Akkusativ hat hier die Bedeutung von pròs mit<br />

Dativ. Im Neuen Testament werden Akkusativ und Dativ verwe<strong>ch</strong>selt bzw. ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr klar unters<strong>ch</strong>ieden.<br />

60<br />

Vers 3: Setzt man im gr. Grundtext den Punkt vor ho gégonen dann ergibt si<strong>ch</strong> eine<br />

andere, aber weniger wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e Übersetzung: »… ohne dasselbe ist au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t eines geworden. Was dur<strong>ch</strong> dasselbe geworden ist, war Leben«.<br />

61<br />

Vers 4: Zu »in ihm war Leben«: »Denn wie der Vater in si<strong>ch</strong> Leben hat, so hat er<br />

au<strong>ch</strong> dem Sohn verliehen, in si<strong>ch</strong> Leben zu haben.« (Joh 5,26).<br />

62<br />

Vers 4: Vgl. Joh 8,12: »das Li<strong>ch</strong>t des Lebens«.<br />

63<br />

Vers 5: Gr. »katalambano« kann neben erfassen, begreifen oder annehmen au<strong>ch</strong><br />

überwältigen bedeuten. Daher hat die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ): »Das<br />

Li<strong>ch</strong>t leu<strong>ch</strong>tet in der Finsternis, und die Finsternis hat es ni<strong>ch</strong>t auslös<strong>ch</strong>en können«.<br />

64<br />

Vers 9: Subjekt ist wohl »das Li<strong>ch</strong>t, von dem Johannes Zeugnis ablegte« oder »das<br />

wahre Li<strong>ch</strong>t (tò phôs tò alethinón)« (S<strong>ch</strong>lüssel 523).<br />

65<br />

Vers 9: »Umstritten ist die Beziehung des er<strong>ch</strong>ómenon am Ende des Verses. Soll<br />

180 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


den, und die Welt erkannte ihn ni<strong>ch</strong>t. 11. Er kam in das Seine, und die<br />

Seinen nahmen ihn ni<strong>ch</strong>t auf. 12. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen<br />

gab er die Fähigkeit, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen<br />

glauben, 13. die ni<strong>ch</strong>t aus Blut, au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus dem Willen des Fleis<strong>ch</strong>es<br />

66 , au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus dem Willen des Mannes 67 , sondern aus Gott geboren<br />

sind 68 . 14. Und der Logos wurde Fleis<strong>ch</strong> 69 und wohnte 70 unter uns,<br />

und wir sahen seine Herrli<strong>ch</strong>keit, eine Herrli<strong>ch</strong>keit, wie sie ein Einziggeborener<br />

vom Vater hat, voller Gnade und Wahrheit.<br />

15. Johannes zeugt von ihm und s<strong>ch</strong>reit und sagt: Dieser war es, von dem<br />

i<strong>ch</strong> sagte: Der na<strong>ch</strong> mir kommt, hat mi<strong>ch</strong> übertroffen (= steht über<br />

mir) 71 , denn er war eher als i<strong>ch</strong>.<br />

16. Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und (zwar) Gnade<br />

anstelle von Gnade. 17. Denn das Gesetz wurde dur<strong>ch</strong> Mose gegeben, die<br />

Gnade und die Wahrheit ist dur<strong>ch</strong> Jesus Christus geworden.<br />

man es mit en zu einer conjugatio periphrastica verbinden, oder gehört es als acc.<br />

masc. zu ánthropon (so die Vulgata)?« (S<strong>ch</strong>nackenberg 1,230). ELB 2006 ents<strong>ch</strong>eidet<br />

si<strong>ch</strong> für die erste Mögli<strong>ch</strong>keit und übersetzt: »Das war das wahrhaftige Li<strong>ch</strong>t,<br />

das, in die Welt kommend, jeden Mens<strong>ch</strong>en erleu<strong>ch</strong>tet.«<br />

66<br />

Vers 13: »Wille des Fleis<strong>ch</strong>es« meint na<strong>ch</strong> Lorber »Begierde des Fleis<strong>ch</strong>es« (GEJ<br />

1,2,12).<br />

67<br />

Vers 13: »[A]u<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus dem Willen des Mannes« fehlt im Codex Vaticanus.<br />

»Boismard meint, daß ursprüngli<strong>ch</strong> diese L[es]A[rt] [= ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Blut und<br />

Fleis<strong>ch</strong>] mit der anderen ouk ek thelématos andrós in Konkurrenz stand und beide<br />

Formeln dann zu der dreigliedrigen Lesart unserer meisten Hands<strong>ch</strong>riften zusammenflossen.«<br />

(S<strong>ch</strong>nackenburg 1,239).<br />

68<br />

Vers 13: Diese Geburt wird in Joh 3,3.5f. thematisiert. Die Neuoffenbarung dur<strong>ch</strong><br />

Lorber sieht hier »die Wiedergeburt des Geistes dur<strong>ch</strong> die Taufe aus den Himmeln«<br />

(GEJ 1,2,13).<br />

69<br />

Vers 14: Mit Joh 1,14 sollte von der Fleis<strong>ch</strong>werdung Gottes geredet werden, ni<strong>ch</strong>t<br />

von seiner Mens<strong>ch</strong>werdung. Swedenborg: »Gott ist der eigentli<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>.« (GLW<br />

11). Lorber: »So es aber ges<strong>ch</strong>rieben steht, daß Gott den Mens<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> Seinem<br />

Ebenmaße ges<strong>ch</strong>affen hat, was sollte dann Gott anderes sein … als eben au<strong>ch</strong> ein,<br />

aber ganz natürli<strong>ch</strong> vollkommenster Mens<strong>ch</strong>?« (GEJ II,144,4).<br />

70<br />

Vers 14: Wörtli<strong>ch</strong> »zeltete«. Das Fleis<strong>ch</strong> Jesu ist »Zelt der Begegnung« (Ex 40,34f),<br />

in dem die Herrli<strong>ch</strong>keit des Jahwewortes anwesend ist und das Gegenwärtigsein<br />

des unsi<strong>ch</strong>tbaren Gottes bezeugt (bea<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong> Joh 2,21).<br />

71<br />

Vers 15: Zu »übertraf mi<strong>ch</strong>«: Walter Bauer argumentiert für diese Übersetzung mit<br />

den folgenden Worten: »Wollte man émprosthén tinos gínesthai hier zeitli<strong>ch</strong> fassen<br />

= ›früher als jemand sein‹, dann würde das begründende hóti protós mou ên reine<br />

Tautologie ergeben.« (Wörterbu<strong>ch</strong> zum Neuen Testament, 6 1988, 519). Die übli<strong>ch</strong>e<br />

Übersetzung lautet allerdings: »Der na<strong>ch</strong> mir kommt, ist vor mir gewesen« (Joh<br />

1,15 ZUR ).<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

181


18. Niemand hat Gott je gesehen; (der) einziggeborene Gott, der Seiende<br />

72 im S<strong>ch</strong>oß des Vaters, der hat (ihn für uns) dargestellt.<br />

Bemerkungen zum Ganzen<br />

D<br />

er besondere Beginn des Johannesevangeliums. Die Evangelien<br />

na<strong>ch</strong> Matthäus und na<strong>ch</strong> Lukas beginnen mit<br />

Stammbäumen (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38) und Erzählungen rund um<br />

die Geburt Jesu (Mt 1,18-2,23; Lk 1,5-2,40). Diese Beri<strong>ch</strong>te bleiben<br />

im Raum der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te. Der johanneis<strong>ch</strong>e Anfangsberi<strong>ch</strong>t dagegen<br />

übersteigt (transzendiert) diesen Raum und blickt auf den<br />

absoluten Anfang zurück. (Siehe au<strong>ch</strong> Zumstein 94f.).<br />

Zwis<strong>ch</strong>en dem Prolog des Johannesevangeliums und der S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

von Genesis 1 gibt es teils wörtli<strong>ch</strong>e, teils gedankli<strong>ch</strong>e<br />

Gemeinsamkeiten. Von grundlegender Bedeutung ist, dass<br />

sowohl der Prolog als au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te mit den Worten<br />

»im Anfang« beginnen. Das ist »eine klare Anspielung auf Genesis<br />

1,1« (Zumstein 89). Mehr no<strong>ch</strong>: Es bedeutet, dass das Johannesevangelium<br />

die neue Genesis ist, die Genesis des Neuen<br />

Bundes. Denn die ersten Worte eines Bu<strong>ch</strong>es sind in der jüdis<strong>ch</strong>en<br />

Tradition sein Titel. Das Bu<strong>ch</strong> Genesis heißt daher bei den Juden<br />

»Im Anfang« (siehe die Verdeuts<strong>ch</strong>ung der S<strong>ch</strong>rift von Martin Buber<br />

und Franz Rosenzweig). Weitere Beoba<strong>ch</strong>tungen ergänzen diese<br />

S<strong>ch</strong>lüsseleinsi<strong>ch</strong>t. Im S<strong>ch</strong>öpfungsberi<strong>ch</strong>t ist das Spre<strong>ch</strong>en Gottes<br />

die Ursa<strong>ch</strong>e aller Dinge. Im Prolog ist es dementspre<strong>ch</strong>end der<br />

Logos (das Wort). Er wird sogar ausdrückli<strong>ch</strong> als S<strong>ch</strong>öpfungsmittler<br />

thematisiert (Joh 1,3.10). Zu bea<strong>ch</strong>ten ist ledigli<strong>ch</strong>, dass<br />

aus dem Verb legein 73 (spre<strong>ch</strong>en) im Hinblick auf die Personwerdung<br />

des göttli<strong>ch</strong>en Spre<strong>ch</strong>ens in und dur<strong>ch</strong> Jesus Christus das<br />

Substantiv Logos geworden ist. S<strong>ch</strong>auen wir uns die S<strong>ch</strong>öpfungs-<br />

72<br />

Vers 18: In der Septuaginta stellt si<strong>ch</strong> Gott in Exodus 3,14 als »der Seiende« vor.<br />

73<br />

I<strong>ch</strong> beziehe mi<strong>ch</strong> hier auf die Septuaginta, die die Bibel der ersten Christen war.<br />

Dort steht: »Kai eipen ho theos (und Gott spra<strong>ch</strong>)«. Eipon ist der Aorist Aktiv von<br />

lego.<br />

182 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


werke an! Grundlegend ist das Li<strong>ch</strong>t. In der S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

ist es das Werk des ersten und (in Gestalt der Li<strong>ch</strong>tkörper) au<strong>ch</strong><br />

des vierten Tages. Auffallend ist, dass es rein nur das Ergebnis eines<br />

Spre<strong>ch</strong>aktes ist; der sog. Tatberi<strong>ch</strong>t fehlt beim Li<strong>ch</strong>t. Au<strong>ch</strong> im<br />

Prolog spielt das Li<strong>ch</strong>t eine zentrale, tragende Rolle. Und es ist<br />

praktis<strong>ch</strong> mit dem Logos identis<strong>ch</strong>, denn es heißt: »Er (der Logos)<br />

war das wahre Li<strong>ch</strong>t« (Joh 1,9; vgl. au<strong>ch</strong> Joh 1,4 und Joh 8,12).<br />

Wenn man denno<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en Logos und Li<strong>ch</strong>t differenzieren will,<br />

dann wird man wohl sagen können: Das Li<strong>ch</strong>t ist die Ers<strong>ch</strong>einungsform<br />

des Logos. Im S<strong>ch</strong>öpfungsberi<strong>ch</strong>t wird zwis<strong>ch</strong>en dem Li<strong>ch</strong>t<br />

des ersten und dem des vierten Tages unters<strong>ch</strong>ieden. Erst das<br />

Li<strong>ch</strong>t des vierten Tages bringt das Leben hervor, weil es das Ers<strong>ch</strong>einen<br />

des Göttli<strong>ch</strong>en ist; Sonne, Mond und Sterne stehen im Alten<br />

Orient für Götter. So gesehen ist das Li<strong>ch</strong>t des ersten Tages ein<br />

Vorbote der Theophanie. Im Prolog könnte dieses Verhältnis dur<strong>ch</strong><br />

Johannes den Täufer, der vom Li<strong>ch</strong>t zeugen sollte, ohne selbst das<br />

wahre Li<strong>ch</strong>t zu sein (Joh 1,7f.), und dem Logos, dem wahren Li<strong>ch</strong>t,<br />

dargestellt sein. Au<strong>ch</strong> die Unters<strong>ch</strong>eidung von Li<strong>ch</strong>t und Finsternis<br />

tau<strong>ch</strong>t im Prolog auf. Der S<strong>ch</strong>öpfungsberi<strong>ch</strong>t zielt auf den Mens<strong>ch</strong>en,<br />

der das Bild Gottes ist. Der Prolog thematisiert die Geburt<br />

der Kinder Gottes (Joh 1,12f.). Außerdem wird Jesus Christus als<br />

der Interpret des unsi<strong>ch</strong>tbaren Gottes im Kosmos eingeführt (Joh<br />

1,18). Es liegt auf der Linie dieser johanneis<strong>ch</strong>en Theologie, wenn<br />

Jesus bei Paulus das »Bild Gottes« (2Kor 4,4) oder im Kolosserbrief<br />

das »Bild des unsi<strong>ch</strong>tbaren Gottes« (Kol 1,15) genannt wird.<br />

»Himmel und Erde« (Gen 1,1) sind im Prolog als Kosmos gegenwärtig.<br />

Es passt in dieses Bild, dass Mose und Christus gegenübergestellt<br />

werden (Joh 1,17).<br />

Bei allen Parellelen zwis<strong>ch</strong>en der S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te und<br />

dem Prolog besteht aber au<strong>ch</strong> ein fundamentaler Unters<strong>ch</strong>ied. In<br />

der ersten S<strong>ch</strong>öpfung stehen si<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>öpfer und S<strong>ch</strong>öpfung gegenüber.<br />

Demgegenüber zeigt die Fleis<strong>ch</strong>werdung des Logos, dass die<br />

zweite S<strong>ch</strong>öpfung dur<strong>ch</strong> das Hineingehen des S<strong>ch</strong>öpfers in die erste<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

183


S<strong>ch</strong>öpfung verwirkli<strong>ch</strong>t werden soll, indem im Kosmos der Sünde<br />

(Joh 1,29) und somit des Todes (Joh 8,21.24) das Leben zugängli<strong>ch</strong><br />

und errei<strong>ch</strong>bar wird (Joh 5,24). Die neue S<strong>ch</strong>öpfung ist die Lebendigma<strong>ch</strong>ung<br />

der alten. Während in Genesis 1 dem ersten Spre<strong>ch</strong>en<br />

Gottes unmittelbar das Li<strong>ch</strong>t folgt (Gen 1,3), betont der Prolog,<br />

na<strong>ch</strong>dem er den Logos als S<strong>ch</strong>öpfungsmittler vorgestellt hat (Joh<br />

1,3), daß dieser S<strong>ch</strong>öpferlogos zunä<strong>ch</strong>st und vor allem der Ort des<br />

Lebens ist, und erst dieses Leben wird dem Mens<strong>ch</strong>en als das<br />

Li<strong>ch</strong>t (des Lebens, Joh 8,12) si<strong>ch</strong>tbar (Joh 1,4), so daß das Li<strong>ch</strong>t<br />

eigentli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts anderes als die Offenbarungsgestalt des Lebens<br />

ist. Das Leben ist das Innere des Logos, und das Li<strong>ch</strong>t das Äußere,<br />

die Ers<strong>ch</strong>einungsform des lebendigen Logos. Dur<strong>ch</strong> seine Fleis<strong>ch</strong>werdung<br />

steht er seiner S<strong>ch</strong>öpfung ni<strong>ch</strong>t mehr gegenüber, sondern<br />

ist ein Teil derselben geworden. Zuglei<strong>ch</strong> ist damit das Leben in<br />

den Innenraum eines Kosmos eingedrungen, der dem Teufel, dem<br />

Herrs<strong>ch</strong>er dieser Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11), der Sünde und<br />

dem Tod untersteht. Die zweite S<strong>ch</strong>öpfung bekommt von daher lebenss<strong>ch</strong>öpferis<strong>ch</strong>e,<br />

soteriologis<strong>ch</strong>e Qualität, der S<strong>ch</strong>öpferlogos wird<br />

zum »Retter der Welt« (Joh 4,42).<br />

Exegetis<strong>ch</strong>e Notizen zu den einzelnen Versen<br />

Exegetis<strong>ch</strong>e Notizen waren bereits in den Fußnoten zur Übersetzung<br />

des Prologs zu finden. Im Folgenden sind weitere Beoba<strong>ch</strong>tungen<br />

zu Worten, Versteilen oder Versen lose zusammengestellt.<br />

Es geht mir hier ni<strong>ch</strong>t um eine zusammenhängede Auslegung des<br />

Prologs, sondern um Bausteine für eine sol<strong>ch</strong>e.<br />

Vers 1: »Im Anfang«. Die ersten Worte des Prologs sind, wie<br />

s<strong>ch</strong>on gesagt, »eine klare Anspielung auf Genesis 1,1« (Zumstein<br />

89). »Im Anfang«, die Vulgata hat »in principio«, meint »[i]m Urgrunde,<br />

oder au<strong>ch</strong> in der Grundursa<strong>ch</strong>e (alles Seins)« (GEJ 1,1,6).<br />

Es geht hier also ni<strong>ch</strong>t um den zeitli<strong>ch</strong>en Anfang, sondern um das<br />

Prinzip, das der ganzen S<strong>ch</strong>öpfung zugrunde liegt. Dieses Prinzip<br />

ist das Wort, weswegen die S<strong>ch</strong>öpfung »im Prinzip« eine geistige<br />

184 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


S<strong>ch</strong>öpfung ist. Da die grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Worte des Grundtextes »en ar<strong>ch</strong>e«<br />

lauten, weise i<strong>ch</strong> darauf hin, dass das Hauptproblem der vorsokratis<strong>ch</strong>en<br />

Philosophie »die Frage na<strong>ch</strong> der Ar<strong>ch</strong>e oder dem Prinzip<br />

aller Dinge« bildete 74 .<br />

Vers 1: »ho lógos«. Logos bedeutet Wort. Weil Logos maskulin<br />

ist, das deuts<strong>ch</strong>e Äquivalent »Wort« hingegen sä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, habe i<strong>ch</strong> in<br />

der Übersetzung Logos vorgezogen. Denn gewiss soll die männli<strong>ch</strong>e<br />

Form das Auftreten Jesu Christi vorbereiten. Zur Bedeutung<br />

des johanneis<strong>ch</strong>en Logos: Swedenborg: »›Das Wort‹ war das Göttli<strong>ch</strong>-Wahre<br />

und somit der Herr selbst hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Göttli<strong>ch</strong>-<br />

Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en (›Verbum‹ erat Divinum Verum, ita Ipse Dominus<br />

quoad Divinum Humanum)« (HG 3195). Na<strong>ch</strong> Lorber hat Logos die<br />

Bedeutung »das Li<strong>ch</strong>t (der große heilige S<strong>ch</strong>öpfungsgedanke, die<br />

wesenhafte Idee)« (GEJ 1,1,6). Na<strong>ch</strong> GS 1,51,23 verhalten si<strong>ch</strong><br />

»Gott und das Wort« wie »Vater und Sohn« oder »Liebe und Weisheit«.<br />

Rael empfing in Ägypten die Weissagung: »Der Geist der<br />

Weisheit steigt hernieder, gesandt von der ewigen Liebe, und wird<br />

austreuen das hellste Li<strong>ch</strong>t.« (GEJ 11,20,13). Die »stärksten sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Parallelen« des johanneis<strong>ch</strong>en Logosbegriffs liegen »in der<br />

jüdis<strong>ch</strong>en Weisheitsspekulation« (S<strong>ch</strong>nackenburg 1,257). »Der joh.<br />

Logos hat dieselben Charakteristika und lädt dasselbe S<strong>ch</strong>icksal<br />

auf si<strong>ch</strong> wie die personifizierte Weisheit. Wer die fünf grossen<br />

Haupttexte Prov 8,22-31, Hi 28, Bar 3,9-4,4, Sir 24 und Sap 6-9<br />

kennt, dem springen die Ähnli<strong>ch</strong>keiten ins Auge.« (Zumstein 89f.).<br />

Gerade vor diesem geistesges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Hintergrund fällt jedo<strong>ch</strong><br />

auf, dass der Evangelist ni<strong>ch</strong>t »Weisheit« (he sophia), sondern<br />

»Wort« (ho logos) verwendet. Gründe für die Wahl des Logostitel<br />

sind »vor allem die Bedeutung des ›Wortes Gottes‹ in der Bibel und<br />

die Verwendung der (absoluten) Logos-Bezei<strong>ch</strong>nung im jüdis<strong>ch</strong>en<br />

Hellenismus (vgl. Philo). Hinzukommen mag der einfa<strong>ch</strong>e Grund,<br />

daß dem Evangelisten (bzw. dem Hymnendi<strong>ch</strong>ter) der männli<strong>ch</strong>e<br />

74<br />

Johannes Hirs<strong>ch</strong>berger, Kleine Philosophieges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, 1992, 14.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

185


Logos passender ers<strong>ch</strong>ien als die weibli<strong>ch</strong>e Sophia, um seinen<br />

präexistenten und inkarnierten Christus einzuführen.« (S<strong>ch</strong>nackenburg<br />

268).<br />

Dur<strong>ch</strong> die Wahl von Logos zur Erhellung des Hintergrundes des<br />

ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Wirkens Jesu wird das Erlösungswerk in einen<br />

s<strong>ch</strong>öpfungstheologis<strong>ch</strong>en Zusammenhang gestellt. Zu fragen ist<br />

daher na<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>öpfungsdimension des Werkes des »Retter[s]<br />

der Welt« (Joh 4,42). Interessante Antworten sind beim Gekreuzigten<br />

und Auferstandenen zu finden. Jesus, der S<strong>ch</strong>öpfer des Lebens,<br />

hau<strong>ch</strong>te seinen Geist ni<strong>ch</strong>t aus, sondern der Gemeinde des Geliebten,<br />

am Kreuz anwesend (Joh 19,25-27), ein. Bis in den Nahberei<strong>ch</strong><br />

des neuen Lebens ist nur der Geliebte vorgedrungen und die seiner<br />

Obhut anvertraute Maria, als Symbol der Gemeinde. Die Fru<strong>ch</strong>t des<br />

am Kreuz errungenen Sieges, der Atem des Lebens, wird na<strong>ch</strong><br />

Ostern au<strong>ch</strong> den übrigen Jüngern eingehau<strong>ch</strong>t. Der in Joh 20,22<br />

ges<strong>ch</strong>ilderte Vorgang erinnert an Genesis 2,7 (au<strong>ch</strong> an Ez 37,9)<br />

und bestätigt, daß die Gabe des Lebens die neue S<strong>ch</strong>öpfung ist, die<br />

im Raum der Glaubenden erstehen wird. 75<br />

Die Unters<strong>ch</strong>eidung von Gott und Logos gibt dem Anliegen einer<br />

immanenten Trinitätslehre ein gewisses Re<strong>ch</strong>t, wennglei<strong>ch</strong><br />

man hier no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von Personen spre<strong>ch</strong>en sollte. Jesus Christus<br />

ist die einzige Person Gottes.<br />

Vers 1: »und Gott war das Wort (gr. kai theós en ho lógos)«.<br />

»Gott« ist, weil es hier ohne Artikel steht, Prädikatsnomen<br />

(S<strong>ch</strong>lüssel 523). Daher übersetzt ZUR 2007 : »und von Gottes Wesen<br />

war der Logos« (die Übersetzer haben allerdings – wie der Begriff<br />

»Wesen« zeigt – die nizänis<strong>ch</strong>e Trinitätslehre im Kopf).<br />

Das Gottsein des Logos bzw. Jesu Christi rahmt sowohl den Prolog<br />

(siehe die Verse 1 und 18: »einziggeborener Gott«) als au<strong>ch</strong> das<br />

75<br />

»Daß Joh hier an ein bedeutsames Ereignis da<strong>ch</strong>te, das in Parallele zur ersten Ers<strong>ch</strong>affung<br />

des Mens<strong>ch</strong>en steht, kann ni<strong>ch</strong>t bezweifelt werden; dies war der Anfang<br />

der neuen S<strong>ch</strong>öpfung.« (Charles Kingsley Barrett, Das Evangelium na<strong>ch</strong> Johannes,<br />

1990, 546).<br />

186 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Evangelium, indem dieses mit dem Thomasbekenntnis s<strong>ch</strong>ließt<br />

(Joh 20,28). Dazu Jean Zumstein: »Die grundlegende Inklusion, die<br />

das Joh umrahmt und dessen hohe Christologie programmatis<strong>ch</strong><br />

darlegt, setzt si<strong>ch</strong> aus der Beteuerung der Göttli<strong>ch</strong>keit des Christus-Logos<br />

in 1,1 (kaì theòs ên ho lógos) und aus dem Thomasbekenntnis<br />

in 20,28 (ho kyriós mou ho theós mou) zusammen. So<br />

wird die ents<strong>ch</strong>eidende Identität des Sohnes symmetris<strong>ch</strong> zu Beginn<br />

des Evangeliums verkündigt und an dessen Ende in ein Bekenntnis<br />

gefasst.« (Zumstein 126).<br />

Vers 3: »Alles ist dur<strong>ch</strong> ihn geworden«. Hier wird der Logos als<br />

S<strong>ch</strong>öpfungsmittler eingeführt. Ähnli<strong>ch</strong>e Aussagen stehen im Kolosserbrief:<br />

»(15) Er ist das Ebenbild des unsi<strong>ch</strong>tbaren Gottes, der<br />

Erstgeborene vor aller S<strong>ch</strong>öpfung. (16) Denn in ihm wurde alles<br />

ges<strong>ch</strong>affen im Himmel und auf Erden, das Si<strong>ch</strong>tbare und das Unsi<strong>ch</strong>tbare,<br />

ob Throne oder Heers<strong>ch</strong>aren, ob Mä<strong>ch</strong>te oder Gewalten;<br />

alles ist dur<strong>ch</strong> ihn und auf ihn hin ges<strong>ch</strong>affen. (17) Und er ist vor<br />

allem, und alles hat in ihm seinen Bestand.« (Kol 1,15-17 ZUR ). Und<br />

im Hebräerbrief: »(1) Na<strong>ch</strong>dem Gott vor Zeiten vielfa<strong>ch</strong> und auf<br />

vielerlei Weise zu den Vätern geredet hatte dur<strong>ch</strong> die Propheten,<br />

(2) hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet dur<strong>ch</strong> den Sohn, den<br />

er eingesetzt hat zum Erben aller Dinge und dur<strong>ch</strong> den er die Welten<br />

ges<strong>ch</strong>affen hat. (3) Er, der Abglanz seiner Herrli<strong>ch</strong>keit und Abbild<br />

seines Wesens ist, der das All trägt mit dem Wort seiner<br />

Ma<strong>ch</strong>t …« (Hebr 1,1-3 ZUR ). Au<strong>ch</strong> Swedenborg thematisiert die<br />

S<strong>ch</strong>öpfungsmittlers<strong>ch</strong>aft der göttli<strong>ch</strong>en Weisheit: Die S<strong>ch</strong>öpfung<br />

(creatio) muss »von der göttli<strong>ch</strong>en Liebe dur<strong>ch</strong> die göttli<strong>ch</strong>e Weisheit«<br />

abgeleitet werden (WCR 13). Gott hat das Universum (universum)<br />

»aus der Liebe dur<strong>ch</strong> die Weisheit ers<strong>ch</strong>affen« (WCR 37).<br />

Die Liebe ist der S<strong>ch</strong>öpfer, die Weisheit aber ist seine S<strong>ch</strong>öpfungsmittlerin:<br />

»Wie ein Bräutigam und Gatte bringt die Liebe alle Formen<br />

hervor oder erzeugt sie, aber dur<strong>ch</strong> die Weisheit wie dur<strong>ch</strong> die<br />

Braut oder Gattin« (WCR 37).<br />

Vers 6: Johannes der Täufer stellt »den Herrn als das Wort<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

187


(Dominum quoad Verbum)« dar (HG 9372). »… und in sol<strong>ch</strong> einer<br />

Wüste der Mens<strong>ch</strong>en tritt Johannes wie ein erwa<strong>ch</strong>tes Gewissen,<br />

das er in rein geistiger Beziehung au<strong>ch</strong> vorstellt, auf und predigt<br />

Buße zur Vergebung der Sünden und bereitet also dem Herrn den<br />

Weg zu den Herzen ganz wüste gewordener Mens<strong>ch</strong>en.« (GEJ<br />

1,5,7). Man kann beide Deutungen verbinden: Aus dem äußeren<br />

S<strong>ch</strong>riftwort bildet si<strong>ch</strong> das verinnerli<strong>ch</strong>te Wort, das heißt das Gewissen<br />

(die innere Stimme).<br />

Vers 10: Zum johanneis<strong>ch</strong>en Kosmosbegriff. Das Johannesevangelium<br />

»versteht unter kósmos … bald die Gesamtheit des Ges<strong>ch</strong>affenen<br />

(1,10 ho kósmos = 1,3 pánta; 6,12; 13,1; 17,5), bald wenigstens<br />

die Summe aller Erdenbewohner, unter denen zu wirken der<br />

Logos Fleis<strong>ch</strong> geworden ist (1,29; 3,17; 7,4; 12,19; 14,19;<br />

17,6.18). Sofern die Gläubigen Kern und Zweckursa<strong>ch</strong>e aller übrigen<br />

S<strong>ch</strong>öpfung bilden, heißen au<strong>ch</strong> sie ›Welt‹ (4,42; 6,33.51;<br />

12,47) und kann diese Gegenstand der Liebe Gottes sein (3,16 …).<br />

In der Regel freili<strong>ch</strong> greift eine ganz andere Beurteilung des<br />

kósmos Platz. Dann ers<strong>ch</strong>eint er als der Gegensatz zu Gott (1Joh<br />

2,16; [1Joh] 4,4.5), als die Finsternis (1,9; 8,12), ja das Gottesfeindli<strong>ch</strong>e,<br />

die ganz und gar vom Satan beherrs<strong>ch</strong>te Sphäre (12,31;<br />

14,30; 16,11; 1Joh 5,19). Er hat weder Verständnis für den Logos<br />

(1,10) no<strong>ch</strong> Sympathie für seine Anhänger (16,20). Vielmehr haßt<br />

er alles, was ni<strong>ch</strong>t von seiner Art ist (7,7; 15,18.19; 17,14) und<br />

wird deshalb ausdrückli<strong>ch</strong> vom Kreise derer ausges<strong>ch</strong>lossen, für<br />

die Christus bittet (17,9). Für die abs<strong>ch</strong>ätzige Bewertung des<br />

Kosmos ist es bezei<strong>ch</strong>nend, daß er ›diese‹ Welt heißt und so in Gegensatz<br />

zu einer anderen tritt (8,23; 9,39; 12,25.31; 13,1; 16,11;<br />

18,36; 1Joh 4,17). In ›dieser‹ Welt sein bedeutet ›auf der Erde‹<br />

(17,4; 12,32), ›von unten‹ (8,23) sein, während alles Göttli<strong>ch</strong>e<br />

›oben‹ wohnt und vom Himmel her kommt (1,32.51; 3,13.31; 6,62;<br />

8,23; 13,3; 14,2; 16,28; 17,3; 3,3).« (Walter Bauer, Das Johannesevangelium,<br />

1933, 19f). Au<strong>ch</strong> die Neuoffenbarung dur<strong>ch</strong> Lorber betont,<br />

»daß hier unter ›Welt‹ ni<strong>ch</strong>t die Erde als die Trägerin geri<strong>ch</strong>te-<br />

188 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


ter Seelen …, sondern bloß nur die Mens<strong>ch</strong>en … zu verstehen sind«<br />

(GEJ 1,2,6). Genauer gesagt ist hier »von den verfinsterten Mens<strong>ch</strong>en«<br />

die Rede (GEJ 1,2,6). Au<strong>ch</strong> das hebr. erez' kann die Erdbewohner<br />

meinen (Gen 11,1). »Die Alten nannten den Mens<strong>ch</strong>en eine<br />

kleine Welt (microcosmos), und zwar deshalb, weil er ein Ebenbild<br />

der großen Welt (macrocosmos), des Universums in seinem Gesamtumfang,<br />

darstellt.« (GLW 319).<br />

Vers 14: Herrli<strong>ch</strong>keit hängt im Kern mit Li<strong>ch</strong>t zusammen:<br />

»Dass Herrli<strong>ch</strong>keit vom Göttli<strong>ch</strong>-Wahren [Logos], das vom Göttli<strong>ch</strong>-<br />

Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en des Herrn (ausgeht), ausgesagt und dem Herrn als<br />

König beigelegt wird, geht aus Joh 1,14 hervor.« (HG 5922). Zu Joh<br />

1,1.9.14: »›Das Wort‹ ist das Göttli<strong>ch</strong>e Wahre, und au<strong>ch</strong> ›das Li<strong>ch</strong>t‹<br />

[hat diese Bedeutung]; und Herrli<strong>ch</strong>keit ist alles, was vom Herrn<br />

her in diesem Li<strong>ch</strong>te zur Ers<strong>ch</strong>einung kommt.« (HG 10574). »›Herrli<strong>ch</strong>keit‹<br />

ist alles, was zum Li<strong>ch</strong>t gehört, somit alles, was aus dem<br />

Göttli<strong>ch</strong>-Wahren hervorgeht« (HG 10574). Zur Verbindung von<br />

Herrli<strong>ch</strong>keit und Li<strong>ch</strong>t siehe au<strong>ch</strong> Jes 60,1; Offb 21,23. • Die Herrli<strong>ch</strong>keit<br />

wird dur<strong>ch</strong> Zei<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong>tbar (Joh 2,11; 11,40). • Dóxa<br />

(Herrli<strong>ch</strong>keit) geht über die Septuaginta auf hebr. kabod zurück. •<br />

Zur Verbindung von Herrli<strong>ch</strong>keit und wohnen (bzw. zelten): »Da<br />

bedeckte die Wolke das Zelt der Begegnung, und die Herrli<strong>ch</strong>keit<br />

des Herrn erfüllte die Wohnung.« (Ex 40,34 ZUR ). »Als aber die Priester<br />

aus dem Heiligtum kamen, erfüllte die Wolke das Haus des<br />

HERRN, und angesi<strong>ch</strong>ts der Wolke konnten die Priester ni<strong>ch</strong>t hinzutreten,<br />

um den Dienst zu verri<strong>ch</strong>ten, denn die Herrli<strong>ch</strong>keit des<br />

HERRN erfüllte das Haus des HERRN.« (1Kön 8,10f. ZUR ). »HERR, i<strong>ch</strong><br />

liebe die Stätte deines Hauses, den Ort, da deine Herrli<strong>ch</strong>keit<br />

wohnt.« (Ps 26,8 ZUR ). Im Zeitalter des Neuen Bundes ist Jesus<br />

Christus der Tempel (Joh 2,21) und somit der Ort des Wohnens der<br />

Herrli<strong>ch</strong>keit des Herrn bei uns.<br />

Vers 14: Gr. hos monogenoûs parà patrós (als eines Einziggeborenen<br />

vom Vater). Unter dem monogenés (dem einzigen Kind) ist<br />

das Göttli<strong>ch</strong>-Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e zu verstehen: »Das Göttli<strong>ch</strong>-Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

189


des Herrn ist von JHWH ni<strong>ch</strong>t nur empfangen, sondern au<strong>ch</strong> geboren<br />

worden, weswegen der Herr hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> seines Göttli<strong>ch</strong>-<br />

Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Sohn Gottes und Einziggeborener (Unigenitus)<br />

heißt.« (HG 2628). Bei Lorber finden wir daher im Ans<strong>ch</strong>luss an<br />

Luther »des eingeborenen Sohnes« (GEJ 1,3,1). S<strong>ch</strong>nackenburg erhellt<br />

den hebräis<strong>ch</strong>en Hintergrund: »Für monogenés bildet wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />

das hebr. ja<strong>ch</strong>id die Grundlage« (1,246). »Im Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />

der LXX wird ja<strong>ch</strong>id sowohl mit monogenés als au<strong>ch</strong> mit<br />

agapetós übersetzt« (1,246). Der einzige ist demna<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> der geliebte<br />

Sohn, womit Mk 1,11 in die Nähe von Joh 1,14 rückt: »Du<br />

bist mein geliebter Sohn, an dir habe i<strong>ch</strong> Wohlgefallen.«<br />

Vers 14: Gnade meint hier »Gottes Li<strong>ch</strong>t[…]« (GEJ 1,3,1). Au<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> HGt 1,64,12 ist »die göttli<strong>ch</strong>e Gnade im Mens<strong>ch</strong>en« glei<strong>ch</strong>bedeutend<br />

mit »[dem] geistigen Li<strong>ch</strong>t[…]«. »Darum gebe I<strong>ch</strong> aller<br />

Liebe zu Mir na<strong>ch</strong> dem Grade ihrer Größe au<strong>ch</strong> alsoglei<strong>ch</strong> den gere<strong>ch</strong>ten<br />

Anteil des Li<strong>ch</strong>tes hinzu, und das ist ein Ges<strong>ch</strong>enk und<br />

heißt die Gnade« (HGt 1,4,7). »Die Weisheit ist das helle S<strong>ch</strong>auen<br />

der ewigen Ordnung Gottes in si<strong>ch</strong>, und die Gnade ist das ewige<br />

Liebeli<strong>ch</strong>t, dur<strong>ch</strong> das alle die endlosen und zahllosen Dinge, ihre<br />

Verhältnisse und Wege erleu<strong>ch</strong>tet werden!« (JJ 299,15). Daher<br />

heißt die Gottessonne im Lorberwerk au<strong>ch</strong> »Gnadensonne«. • »Weil<br />

Gnade die Neigung zum und die Freude am Wahren ist, deswegen<br />

heißt es [in Joh 1,14] ›Gnade und Wahrheit‹« (OE 22). • Zur Verbindung<br />

»Gnade und Wahrheit«: »Die Doppelwendung <strong>ch</strong>áris kaì<br />

alétheia ist ungrie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>, findet dagegen eine breite Grundlage im<br />

AT. Huld und Bundestreue (<strong>ch</strong>esed w e ’emet) werden oft zusammen<br />

genannt, so s<strong>ch</strong>on bei der Bundess<strong>ch</strong>ließung Ex 34,6, aber au<strong>ch</strong><br />

sonst.« (S<strong>ch</strong>nackenburg 1,248).<br />

Vers 16: Zu »Gnade um Gnade«: »Das Urleben in jedem Mens<strong>ch</strong>en<br />

ist … eine erste Gnade Gottes … Da sona<strong>ch</strong> diese erste Gnade<br />

im Mens<strong>ch</strong>en nahe völlig untergehen wollte, so kam das Urli<strong>ch</strong>t<br />

selbst in die Welt und lehrte die Mens<strong>ch</strong>en dahin, daß sie diese erste<br />

Gnade dem Urli<strong>ch</strong>te wieder anheimstellen oder eigentli<strong>ch</strong> in<br />

190 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


dies Ursein völlig zurücktreten sollen und allda nehmen für das alte<br />

Li<strong>ch</strong>t ein neues Leben, und dieser Umtaus<strong>ch</strong> ist das Nehmen der<br />

Gnade um Gnade« (GEJ 1,3,5). Die Interpretation der zwei Gnadengaben<br />

muss im Zusammenhang mit Vers 17 erfolgen.<br />

Vers 17: Für das Johannesevangelium besteht »zwis<strong>ch</strong>en Moses,<br />

der (im Auftrag Gottes!) das Gesetz gab, und Jesus Christus,<br />

der Gnade und Wahrheit bra<strong>ch</strong>te, kein absoluter Gegensatz.«<br />

(S<strong>ch</strong>nackenburg 1,252; dort findet man au<strong>ch</strong> die ents<strong>ch</strong>eidenden<br />

Beoba<strong>ch</strong>tungen). Die johanneis<strong>ch</strong>e Gedankenwelt kennt den Gegensatz<br />

zwis<strong>ch</strong>en Gesetz und Evangelium ni<strong>ch</strong>t. Daher kann im<br />

Sinne einer kontextuellen Deutung die erste Gnade mit dem Gesetz<br />

in Verbindung gebra<strong>ch</strong>t werden und die zweite mit dem Evangelium<br />

bzw. dem Erlösungswerk dur<strong>ch</strong> Jesus Christus.<br />

Vers 18: Man<strong>ch</strong>e Übersetzungen haben »der eingeborene Sohn«<br />

(z.B. Luther 1545/46, ELB). Der Text von NTGraece 27 hat monogenès<br />

theòs (einziggeborener Gott). Begründung: »With the acquisition<br />

of P66 and P75, both of whi<strong>ch</strong> read theós, the external support<br />

of this reading has been notably strengthened. A majority of the<br />

Committee regarded the reading monogenès hyiós … to be the result<br />

of scribal assimilation to Jn 3,16.18; 1Jn 4,9.« 76 In der Regel<br />

versteht man aber »Gott« als Apposition, was zu einer Übersetzung<br />

wie in der Zür<strong>ch</strong>er Bibel 2007 führt: »Als Einziggeborener, als Gott,<br />

der jetzt im S<strong>ch</strong>oss des Vaters ruht, hat er Kunde gebra<strong>ch</strong>t.«<br />

Vers 18: Kólpos (Brust oder S<strong>ch</strong>oß) kommt im Johannesevangelium<br />

außer in Joh 1,18 nur no<strong>ch</strong> in Joh 13,23. Im Prolog (Joh 1,18)<br />

drückt es die intime Verbundenheit Jesu mit seinem Vater und daher<br />

die vertraute Kenntnis seines Ursprungs in Gott aus. Jesu Sein<br />

wurzelt im S<strong>ch</strong>oße des Vaters. In Joh 13,23 drückt es analog die<br />

intime Nähe des Lieblingsjüngers zu Jesus aus. Sie befähigt ihn<br />

zum Interpreten des innersten Geheimnisses der Person Jesu. Der<br />

76<br />

Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, 1998,<br />

169.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

191


Gesandte des Vaters fand im Lieblingsjünger den Gesandten (Apostel)<br />

und Herzenskenner des Sohnes. Wie der einziggeborene Sohn<br />

an der Brust des Vaters ruht (Joh 1,18), so der Lieblingsjünger an<br />

der Brust Jesu (Joh 13,23). Somit ist eine exegetis<strong>ch</strong>e Linie vom<br />

Vater über den Sohn als den Interpreten des Vaters bis zum »Jünger,<br />

den Jesus liebte« als den Interpreten des Sohnes zu ziehen.<br />

Dieser Name in Verbindung mit der dargestellten zweimaligen<br />

Verwendung von kólpos im Johannesevangelium soll sagen, daß<br />

die Liebe derjenige Hermeneut des gesandten Wortes ist, der dessen<br />

Tiefen erfassen kann.<br />

Vers 18: Das gr. Verb exegéomai bedeutet auseinandersetzen,<br />

erzählen, darstellen, beri<strong>ch</strong>ten, bes<strong>ch</strong>reiben. Daher könnte man<br />

au<strong>ch</strong> übersetzen: »… der hat (uns von ihm) erzählt.« Allerdings<br />

kommt bei dieser Übersetzung ni<strong>ch</strong>t die für die johanneis<strong>ch</strong>e Theologie<br />

<strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>e Anwesenheit Gottes in Jesus Christus zum<br />

Ausdruck (Joh 10,30; 14,9). Jesus »erzählt« vom Vater dur<strong>ch</strong> seine<br />

gesamte Existenz, dur<strong>ch</strong> seine Person, seine Worte und Werke. Jesus<br />

ist der Darsteller oder Repräsentant des unsi<strong>ch</strong>tbaren Gottes in<br />

der si<strong>ch</strong>tbaren Welt. Logos und erzählen passen zusammen: Der<br />

Logos erzählt uns von Gott.<br />

Literaturverzei<strong>ch</strong>nis<br />

Novum Testamentum Graece, hg. v. Kurt Aland u.a., 27. revidierte Auflage 1999.<br />

= NTGraece 27<br />

Elberfelder Bibel, 1. Auflage der Standardausgabe 2006. = ELB 2006<br />

Zür<strong>ch</strong>er Bibel 2007. = ZUR 2007<br />

Das Neue Testament Deuts<strong>ch</strong> von D. Martin Luther. Ausgabe letzter Hand<br />

1545/46. Unveränderter Text in modernisierter Orthographie. Stuttgart: Deuts<strong>ch</strong>e<br />

Bibelgesells<strong>ch</strong>aft 1982. = Luther 1545/46<br />

Wilfrid Haubeck, Heinri<strong>ch</strong> von Siebenthal, Neuer spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>lüssel zum<br />

grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Neuen Testament, Gießen: Brunnen Verlag 2007. = S<strong>ch</strong>lüssel.<br />

Rudolf S<strong>ch</strong>nackenburg, Das Johannesevangelium, 1. bis 4. Teil, Freiburg im<br />

Breisgau: Verlag Herder, 1971, 1975, 1979, 1984, Sonderausgabe 2001. =<br />

S<strong>ch</strong>nackenburg.<br />

192 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Jean Zumstein, Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium,<br />

Züri<strong>ch</strong>: Pano Verlag, 1999. = Zumstein.<br />

De Deo Uno et Trino<br />

Bildprogramme barocker Dreifaltigkeitskir<strong>ch</strong>en<br />

Bu<strong>ch</strong>bespre<strong>ch</strong>ung von Thomas Noack<br />

T<br />

rinitätstheologie ist ein zentrales Thema der Neuen Kir<strong>ch</strong>e.<br />

Bekanntli<strong>ch</strong> hat Swedenborg die Rede von drei Personen als<br />

besonders missli<strong>ch</strong> empfunden. S<strong>ch</strong>on Augustin empfand das so<br />

und in neuerer Zeit der katholis<strong>ch</strong>e Theologe Karl Rahner und sein<br />

evangelis<strong>ch</strong>-reformierter Kollege Karl Barth. Jedo<strong>ch</strong> blieb es Swedenborg<br />

vorbehalten, eine ebenso einfa<strong>ch</strong>e, wie biblis<strong>ch</strong> begründete<br />

bessere Lehre zu entwickeln. Ihr Kernsatz lautet: »Gott ist<br />

dem Wesen (essentia) und der Person (persona) na<strong>ch</strong> Einer« (WCR<br />

2). Dieser Satz ist in Abgrenzung gegenüber der altkir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>regelung formuliert. Um seine volle Bedeutung erfassen zu<br />

können, muss man daher den trinitätstheologis<strong>ch</strong>en Hintergrund<br />

kennen. Swedenborgs Lehre von der göttli<strong>ch</strong>en Dreieinheit überwindet<br />

die Unans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>keit des alten Konstruktes. Denn nunmehr<br />

ist der Kyrios in seiner Ans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>keit der alles umfassende<br />

Inbegriff des trinitaris<strong>ch</strong>en Denkens. Wer si<strong>ch</strong> die Trinität, das<br />

zentrale Glaubensgeheimnis des Christentums, vorstellen will, der<br />

stelle si<strong>ch</strong> nun also Jesus Christus vor, und damit hat er das ganze<br />

Geheimnis mit den Augen seines Geistes ers<strong>ch</strong>aut.<br />

Das Bu<strong>ch</strong> »De Deo Uno et Trino« (Über den Einen und Dreieinen<br />

Gott) von Katharina Herrmann kann i<strong>ch</strong> allen Lesern empfehlen,<br />

die si<strong>ch</strong> mit dem altki<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Hintergrund der neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Trinitätslehre eingehender befassen wollen. Der Leser erhält eine<br />

kurze Einführung in die klassis<strong>ch</strong>e Trinitätstheologie und Trinitätsverehrung.<br />

Ans<strong>ch</strong>ließend – und das ist der S<strong>ch</strong>werpunkt der<br />

Arbeit – untersu<strong>ch</strong>t die Autorin die Bildprogramme fünf barocker<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

193


Dreifaltigkeitskir<strong>ch</strong>en in Bayern und Österrei<strong>ch</strong>. Und zwar die<br />

Priesterseminarkir<strong>ch</strong>e zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Salzburg (Johann<br />

Mi<strong>ch</strong>ael Rottmayr), die Votiv- und Klosterkir<strong>ch</strong>e zur Allerheiligsten<br />

Dreifaltigkeit in Mün<strong>ch</strong>en (Cosmas Damian Asam), die<br />

Pfarr- und Wallfahrtskir<strong>ch</strong>e zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit in<br />

Stadl Paura (Carlo I. Carlone), die Pfarr- und Wallfahrtskir<strong>ch</strong>e zur<br />

Heiligsten Dreifaltigkeit auf dem Sonntagberg (Daniel Gran) sowie<br />

die Pfarr- und Wallfahrtskir<strong>ch</strong>e zur Heiligsten Dreifaltigkeit von<br />

Gößweinstein (die Konzepte von Pater Deinhard und Johann Jakob<br />

Mi<strong>ch</strong>ael Kü<strong>ch</strong>el). Der Leser bekommt so einen äußerst aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong>en<br />

und fundierten Einblick in die Versu<strong>ch</strong>e der bildli<strong>ch</strong>en Darstellung<br />

des Geheimnisses der Trinität. Die Fülle der Formen und<br />

Gestalten ma<strong>ch</strong>t das Bu<strong>ch</strong> zu einem Kompendium der trinitaris<strong>ch</strong>en<br />

Theologie- und Frömmigkeitsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te.<br />

Alle Beispiele stammen aus der Lebenszeit Swedenborgs. Im<br />

Barock des späten 17. und 18. Jahrhunderts ist eine vermehrte<br />

Hinwendung zur Trinität zu beoba<strong>ch</strong>ten. Glei<strong>ch</strong>zeitig aber stellten<br />

aufgeklärte Geister das undur<strong>ch</strong>dringli<strong>ch</strong>e Mysterium in Frage.<br />

Au<strong>ch</strong> vor diesem zeitges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Hintergrund muss man Swedenborgs<br />

Neufassung der alten Lehre sehen und verstehen lernen.<br />

Die Autorin studierte Kunstges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, mittelalterli<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

und klassis<strong>ch</strong>e Philologie (Altgrie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>) an den Universitäten<br />

Freiburg im Breisgau und Wien. Das befähigte sie, diesen<br />

einzigartigen, ikonographis<strong>ch</strong>en Zugang zu s<strong>ch</strong>affen. Ein umfangrei<strong>ch</strong>er<br />

Bildteil vervollständigt das Bu<strong>ch</strong> und erlei<strong>ch</strong>tert zuglei<strong>ch</strong><br />

den Na<strong>ch</strong>vollzug der Ausführungen im Textteil. Das Bu<strong>ch</strong><br />

ist ni<strong>ch</strong>t bei Swedenborg Verlag erhältli<strong>ch</strong>, sondern nur direkt<br />

beim Bu<strong>ch</strong>handel.<br />

Katharina Herrmann, De Deo Uno et Trino: Bildprogramme barocker Dreifaltigkeitskir<strong>ch</strong>en<br />

in Bayern und Österrei<strong>ch</strong>, Regensburg: S<strong>ch</strong>nell & Steiner,<br />

<strong>2010</strong>.<br />

194 OFFENE TORE 3/10<br />

1/201O<strong>Offene</strong>Offfene<strong>Offene</strong><br />

0


Swedenborgs Jenseitss<strong>ch</strong>au<br />

für esoteris<strong>ch</strong>e Kreise<br />

von Thomas Noack<br />

M<br />

it einem oft zitierten Wort vom Alfons Rosenberg sehen<br />

wir in Emanuel Swedenborg »einen Fürsten unter den<br />

Jenseitskundigen« 32 . Sein Werk »Vom Himmel und seinen Wundern<br />

und von der Hölle«, ein Erfahrungsberi<strong>ch</strong>t aus der anderen<br />

Welt »ex auditis et visis« (na<strong>ch</strong> Gehörtem und Gesehenem), wurde<br />

in alle wi<strong>ch</strong>tigen Weltspra<strong>ch</strong>en übersetzt. In neuerer Zeit hat der<br />

Religionswissens<strong>ch</strong>aftler Bernhard Lang eindrückli<strong>ch</strong> die historis<strong>ch</strong>e<br />

Bedeutung der empiris<strong>ch</strong> begründeten Jenseitskonzeption<br />

Swedenborgs dargestellt. Mit ihm vollziehe si<strong>ch</strong> der Übergang<br />

vom theozentris<strong>ch</strong>en zum mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Himmel. Diese Si<strong>ch</strong>t »gewinnt<br />

im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert - zumeist im<br />

Zei<strong>ch</strong>en der Romantik – einen weltweiten Einfluß.« 77<br />

Neben der wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Aufarbeitung der Stellung Swedenborgs<br />

in der Geistesges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te s<strong>ch</strong>reitet aber au<strong>ch</strong> seine Rezeption<br />

in spirituell interessierten oder esoteris<strong>ch</strong>en Kreisen voran.<br />

Vor einiger Zeit konnten wir darauf hinweisen, dass sein Werk<br />

über den Himmel und die Hölle erstmals seit langer Zeit au<strong>ch</strong> wieder<br />

außerhalb des Swedenborg Verlags ers<strong>ch</strong>ienen ist. Der Marix<br />

Verlag in Wiesbaden bietet seit 2005 »Himmel und Hölle« mit einem<br />

Kommentar des Skandinavisten Hans-Jürgen Hube an. 78<br />

Seit kurzem ist der Altmeister der Jenseitskunde nun au<strong>ch</strong> im<br />

Aquamarin Verlag angekommen, der seit 1981 Literatur aus den<br />

spirituellen Traditionen von Ost und West veröffentli<strong>ch</strong>t. Die Er-<br />

77<br />

Bernhard Lang, Himmel und Hölle: Jenseitsglaube von der Antike bis heute, 2003,<br />

Seite 80. Ausführli<strong>ch</strong>er dargestellt in: Bernhard Lang und Colleen McDannell, Der<br />

Himmel: Eine Kulturges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des ewigen Lebens, 1990. Darin wird Swedenborgs<br />

Anteil an der »Geburt des modernen Himmels« eingehend bes<strong>ch</strong>rieben.<br />

78<br />

Siehe OT 1 (2006) 42 -44 und OT 1 (2007) 7 -33.<br />

OFFENE TORE 3/10<br />

195


nährungsberaterin und Heilpraktikertin Gertraud Radke stieß na<strong>ch</strong><br />

dem Tod ihres Ehemannes Baron Eberhard von Gemmingen (gest.<br />

am 7. März 2006) auf Swedenborg. Sie s<strong>ch</strong>reibt:<br />

»Der Verlust meines Seelenfreundes dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nitt mein Innerstes. I<strong>ch</strong> war<br />

gefangen in meiner Traurigkeit, die Außenwelt war allenfalls auf einsamen<br />

Spaziergängen erträgli<strong>ch</strong>. In dieser Verzweiflung errei<strong>ch</strong>te mi<strong>ch</strong><br />

der Rat einer spirituellen Freundin, Emanuel Swedenborgs Bü<strong>ch</strong>er zu lesen.<br />

Und i<strong>ch</strong> las. Na<strong>ch</strong>t für Na<strong>ch</strong>t. War berührt, war begeistert. Vergaß<br />

für Stunden den S<strong>ch</strong>merz. Am Tag erwa<strong>ch</strong>te aus diesen inspirierten<br />

›Nä<strong>ch</strong>ten mit Swedenborg‹ mein Verantwortungsgefühl: I<strong>ch</strong> wollte,<br />

musste mein Erleben weitergeben.« 79<br />

Aus dieser persönli<strong>ch</strong>en Betroffenheit entstand ein Bu<strong>ch</strong>, das<br />

Swedenborgs Jenseitss<strong>ch</strong>au in esoteris<strong>ch</strong>en Kreisen bekannter ma<strong>ch</strong>en<br />

kann. Sein Titel lautet: »Das Leben na<strong>ch</strong> dem Tod aus der<br />

Si<strong>ch</strong>t Emanuel Swedenborgs«. Es bietet na<strong>ch</strong> einer kurzen Lebensbes<strong>ch</strong>reibung<br />

Swedenborgs eine auf das Wesentli<strong>ch</strong>e reduzierte<br />

Zusammenfassung seiner Jenseitslehre anhand von Auszügen aus<br />

»Himmel und Hölle«. Der Klappentext rühmt den einst als Geisterseher<br />

vers<strong>ch</strong>rieenen S<strong>ch</strong>weden als einen »der größten Mystiker der<br />

abendländis<strong>ch</strong>en Geistesges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te« und sein Werk über das Jenseits<br />

als »ein Juwel der spirituellen Literatur«. Möge daher Gertraud<br />

Radkes Bu<strong>ch</strong> den Weg zu vielen su<strong>ch</strong>enden und aufges<strong>ch</strong>lossenen<br />

Herzen finden.<br />

79<br />

Gertraud Radke, Das Leben na<strong>ch</strong> dem Tod aus der Si<strong>ch</strong>t Emanuel Swedenborgs,<br />

2007, Seite 11.<br />

196 OFFENE TORE 3/10<br />

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