Swedenborg im Kontext des Leib-Seele-Problems PDF - Orah.ch
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<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong><br />
Thomas Noack
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong><br />
von Thomas Noack<br />
S<strong>ch</strong>on Gerhard Gollwitzer wählte für seine Übersetzung von »De Commercio An<strong>im</strong>ae<br />
et Corporis« den Untertitel »Emanuel <strong>Swedenborg</strong>s Gedanken zum <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem«.<br />
Gollwitzer stellte <strong>Swedenborg</strong>s S<strong>ch</strong>rift also in in den <strong>Kontext</strong> eines der ältesten Probleme<br />
der Philosophie. I<strong>ch</strong> habe diese Anregung übernommen. Daran s<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> nun aber die<br />
Aufgabe an, diesen <strong>Kontext</strong> auszuleu<strong>ch</strong>ten und <strong>Swedenborg</strong>s Standpunkt darin zu best<strong>im</strong>men.<br />
Den Ausgangspunkt müsste die grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Philosophie bilden, insbesondere<br />
Platon und Aristoteles. Dann käme die Zeit <strong>Swedenborg</strong>s, das 17. und 18. Jahrhundert,<br />
die Positionen von Descartes und <strong>Leib</strong>niz. Und dann wäre natürli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Entwicklung<br />
seit <strong>Swedenborg</strong> über Kant bis in die Gegenwart von Interesse. Dieses umfangrei<strong>ch</strong>e<br />
Programm kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t abarbeiten. I<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te aber s<strong>ch</strong>lagli<strong>ch</strong>tartig Antworten auf<br />
die folgenden Fragen geben: Wie ist <strong>Swedenborg</strong>s Standort aus einer heutigen Perspektive<br />
zu bes<strong>ch</strong>reiben? Wel<strong>ch</strong>e Besonderheiten weist seine Konzeption auf? Und wie lässt<br />
si<strong>ch</strong> seine Position weiterentwickeln und in den gegenwärtigen Diskurs einbringen?<br />
Um <strong>Swedenborg</strong>s Standort best<strong>im</strong>men zu können, brau<strong>ch</strong>en wir eine philosophis<strong>ch</strong>e<br />
Landkarte, das heißt eine Übersi<strong>ch</strong>t aller Standpunkte. Diese liefert uns der Philosoph<br />
Ansgar Beckermann, indem er die vier Hauptpositionen zum <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem zusammenstellt:<br />
1. den Substanzdualismus, 2. den Substanzphysikalismus, 3. den Eigens<strong>ch</strong>aftsdualismus<br />
und 4. den Eigens<strong>ch</strong>aftsphysikalismus. Die wesentli<strong>ch</strong>en Inhalte dieser<br />
Positionen sind die folgenden: Der Substanzdualismus behauptet: »Jeder Mens<strong>ch</strong> hat<br />
neben dem Körper au<strong>ch</strong> eine <strong>Seele</strong>; diese <strong>Seele</strong> ist eine <strong>im</strong>materielle, vom Körper unabhängige<br />
Substanz, die das eigentli<strong>ch</strong>e Selbst <strong>des</strong> Mens<strong>ch</strong>en ausma<strong>ch</strong>t und die au<strong>ch</strong> ohne<br />
den Körper na<strong>ch</strong> <strong>des</strong>sen Tod weiter existieren kann.« Der Substanzphysikalismus behauptet:<br />
»Der Mens<strong>ch</strong> ist wie alle anderen Lebewesen ein dur<strong>ch</strong> und dur<strong>ch</strong> physis<strong>ch</strong>es<br />
Wesen; es gibt keine vom Körper unabhängige <strong>im</strong>materielle <strong>Seele</strong>.« Der Eigens<strong>ch</strong>aftsdualismus<br />
behauptet: »Mentale Eigens<strong>ch</strong>aften sind in dem Sinne ontologis<strong>ch</strong> selbstständig,<br />
dass sie weder selbst physis<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aften sind no<strong>ch</strong> auf sol<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aften reduziert<br />
werden können.« Der Eigens<strong>ch</strong>aftsphysikalismus behauptet: »Mentale Eigens<strong>ch</strong>aften<br />
sind allem Ans<strong>ch</strong>ein zum Trotz do<strong>ch</strong> physis<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aften oder auf physis<strong>ch</strong>e<br />
Eigens<strong>ch</strong>aften reduzierbar.« 1 I<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränke mi<strong>ch</strong> auf die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en<br />
Substanzdualismus und Substanzphysikalismus und spre<strong>ch</strong>e daher man<strong>ch</strong>mal au<strong>ch</strong> vereinfa<strong>ch</strong>end<br />
von Dualismus und Physikalismus. Beckermann verwendet den Begriff »Physikalismus«,<br />
ni<strong>ch</strong>t »Materialismus« oder »Naturalismus«. Zur Aufhellung <strong>des</strong> Hintergrunds<br />
sei der Philosoph Geert Keil zitiert: »Physikalismus ist eine Anfang der 30er<br />
Jahre von Mitgliedern <strong>des</strong> Wiener Kreises, vor allem von Carnap und Neurath, vertretene<br />
reduktionistis<strong>ch</strong>e Position, die si<strong>ch</strong> <strong>im</strong> Unters<strong>ch</strong>ied zum klassis<strong>ch</strong>en Materialismus ni<strong>ch</strong>t<br />
als ontologis<strong>ch</strong>e, sondern als spra<strong>ch</strong>theoretis<strong>ch</strong>e versteht. Die zentrale These <strong>des</strong> Physikalismus<br />
ist die der Übersetzbarkeit aller sinnvollen Sätze in eine physikalis<strong>ch</strong>e Universalspra<strong>ch</strong>e<br />
der Wissens<strong>ch</strong>aft.« 2<br />
<strong>Swedenborg</strong> ist angesi<strong>ch</strong>ts dieser mögli<strong>ch</strong>en Positionen ein Vertreter <strong>des</strong> Substanzdu-<br />
1<br />
2<br />
Die vier Zusammenfassungen der Hauptpositionen finden si<strong>ch</strong> in Ansgar Beckermann, Das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem:<br />
Eine Einführung in die Philosophie <strong>des</strong> Geistes, 2008, Seite 20 und 21.<br />
Geert Keil, Kritik <strong>des</strong> Naturalismus, 1993, Seite 33.
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 2<br />
alismus. Denn »die <strong>Seele</strong> ist eine geistige Substanz (substantia spiritualis)« 3 oder, wie<br />
man au<strong>ch</strong> sagt, eine <strong>im</strong>materielle Substanz. Und der Körper ist »eine materielle Substanz<br />
(substantia materialis)« 4 . Der Mens<strong>ch</strong> wird na<strong>ch</strong> dem Tode fortleben, denn hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
seiner <strong>Seele</strong> ist er »unsterbli<strong>ch</strong> (<strong>im</strong>mortalis)« 5 . <strong>Swedenborg</strong> befindet si<strong>ch</strong> mit<br />
dieser Position in Übereinst<strong>im</strong>mung mit seiner Zeit, denn in der frühen Neuzeit, der Zeit<br />
zwis<strong>ch</strong>en Descartes und Kant, ist der Substanzdualismus vorherrs<strong>ch</strong>end.<br />
Innerhalb der dualistis<strong>ch</strong>en Position muss man si<strong>ch</strong> für eine von drei oder vier Unterpositionen<br />
ents<strong>ch</strong>eiden, je na<strong>ch</strong> der Antwort auf die Frage, wel<strong>ch</strong>e Beziehung zwis<strong>ch</strong>en<br />
der ni<strong>ch</strong>t-physis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und dem physis<strong>ch</strong>en <strong>Leib</strong> besteht. 6 Die Zeitgenossen <strong>Swedenborg</strong>s<br />
diskutierten drei Antworten. I<strong>ch</strong> präsentiere sie hier anhand einer Zusammenfassung<br />
<strong>des</strong> lutheris<strong>ch</strong>en Theologen Johann Georg Abi<strong>ch</strong>t (1672–1740), der 1729 seine<br />
»Disputatio De Commercio An<strong>im</strong>ae Et Corporis« herausgab. Sie beginnt mit den folgenden<br />
Worten:<br />
»Fest steht, dass von den Gelehrten sehr viele Abhandlungen über die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Seele</strong> und Körper angefertigt worden sind, deren Bespre<strong>ch</strong>ung i<strong>ch</strong> (hier) für überflüssig era<strong>ch</strong>te.<br />
Einige glaubten: Weder sei die <strong>Seele</strong> <strong>im</strong> Körper tätig, no<strong>ch</strong> der Körper in der <strong>Seele</strong>, aber die <strong>Seele</strong><br />
gebe wenigstens die Gelegenheit (occasionem), damit Gott <strong>im</strong> Körper (das) ma<strong>ch</strong>e, was sie will,<br />
und der Körper gebe die Gelegenheit (occasionem), damit Gott dem Gemüt (menti) bekannt ma<strong>ch</strong>e,<br />
was <strong>im</strong> Körper ges<strong>ch</strong>ehe. Daher ist das System der Gelegenheitsursa<strong>ch</strong>en (systema Causarum occasionalium)<br />
entstanden, das Descartes zuges<strong>ch</strong>rieben wird. Andere meinten: Die <strong>Seele</strong> beeinflusse<br />
den Körper und der Körper die <strong>Seele</strong>, und dur<strong>ch</strong> die physis<strong>ch</strong>e Bewegung beider werden die Tätigkeiten<br />
hervorgebra<strong>ch</strong>t. Das nannten sie das System <strong>des</strong> Einflusses (systema influxus), sein Urheber<br />
ist Aristoteles. Wieder andere haben s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> das System der prästabilierten Harmonie (systema<br />
Harmoniae praestabilitae) erda<strong>ch</strong>t und gelehrt, wona<strong>ch</strong> weder die <strong>Seele</strong> <strong>im</strong> Körper no<strong>ch</strong> der<br />
Körper in der <strong>Seele</strong> tätig sei, sondern der Körper na<strong>ch</strong> den Gesetzen der Wirkursa<strong>ch</strong>en bewegt werde<br />
und die <strong>Seele</strong> na<strong>ch</strong> den logis<strong>ch</strong>-sittli<strong>ch</strong>en Gesetzen und aus den allerweisesten Bes<strong>ch</strong>lüssen Gottes<br />
tätig sei, und die Willensakte der <strong>Seele</strong> harmonis<strong>ch</strong> auf die Tätigkeiten und Empfindungen <strong>des</strong><br />
Körpers antworten. Diese Hypothese hat <strong>Leib</strong>niz eingeführt.«<br />
Abi<strong>ch</strong>t nennt also »das System der Gelegenheitsursa<strong>ch</strong>en« na<strong>ch</strong> Descartes, »das System<br />
<strong>des</strong> Einflusses« na<strong>ch</strong> Aristoteles und »das System der prästabilierten Harmonie«<br />
na<strong>ch</strong> <strong>Leib</strong>niz.<br />
Aus heutiger Si<strong>ch</strong>t sind vier Theorien zu nennen: 1. der interaktionistis<strong>ch</strong>e Dualismus<br />
oder kurz der Interaktionismus 2. der Parallelismus, 3. der Okkasionalismus und 4. der<br />
Epiphänomenalismus, der erst <strong>im</strong> 19. Jahrhundert unter dem Eindruck neuer Ergebnisse<br />
in den Naturwissens<strong>ch</strong>aften entstand. Die wesentli<strong>ch</strong>en Inhalte dieser Theorien sind die<br />
folgenden: Der Interaktionismus behauptet: »Physis<strong>ch</strong>e Zustände (z.B. Gewebeverletzungen)<br />
verursa<strong>ch</strong>en mentale Zustände (z.B. S<strong>ch</strong>merzen), aber au<strong>ch</strong> mentale Zustände<br />
(z.B. Wüns<strong>ch</strong>e) verursa<strong>ch</strong>en physis<strong>ch</strong>e Zustände (z.B. Körperbewegungen).« Der Parallelismus<br />
behauptet: »Es gibt einen systematis<strong>ch</strong>en Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en physis<strong>ch</strong>en<br />
und mentalen Zuständen; aber dieser Zusammenhang beruht ni<strong>ch</strong>t auf einer Kausalbeziehung,<br />
sondern auf einer ›prästabilierten Harmonie‹. Gott hat es so eingeri<strong>ch</strong>tet, dass<br />
Zuständen <strong>im</strong> Körper Zustände <strong>im</strong> Geist entspre<strong>ch</strong>en und umgekehrt, so wie ein Uhrma<strong>ch</strong>er,<br />
der zwei Uhren syn<strong>ch</strong>ronisiert, dafür sorgt, dass sie beide dieselbe Zeit anzeigen,<br />
ohne dass zwis<strong>ch</strong>en ihnen ein kausaler Zusammenhang bestünde.« Der Okkasionalismus<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 1.<br />
H<strong>im</strong>mlis<strong>ch</strong>e Gehe<strong>im</strong>nisse 3726.<br />
H<strong>im</strong>mlis<strong>ch</strong>e Gehe<strong>im</strong>nisse 8944.<br />
Siehe Ansgar Beckermann: »Jeder, der die Auffassung vertritt, dass Mens<strong>ch</strong>en außer einem Körper au<strong>ch</strong> einen<br />
von allen körperli<strong>ch</strong>en Dingen vers<strong>ch</strong>iedenen ni<strong>ch</strong>t-physis<strong>ch</strong>en Geist besitzen, muss die Frage beantworten,<br />
wel<strong>ch</strong>e Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Geist und Körper besteht.« (Das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem: Eine Einführung in die Philosophie<br />
<strong>des</strong> Geistes, 2008, Seite 38).
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 3<br />
behauptet: »Der systematis<strong>ch</strong>e Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en physis<strong>ch</strong>en und mentalen Zuständen<br />
beruht weder auf einer direkten Kausalbeziehung no<strong>ch</strong> auf einer ›prästabilierten<br />
Harmonie‹, sondern darauf, dass Gott jeweils anlässli<strong>ch</strong> best<strong>im</strong>mter Zustände <strong>im</strong> Körper<br />
die entspre<strong>ch</strong>enden Zustände <strong>im</strong> Geist hervorbringt bzw. anlässli<strong>ch</strong> best<strong>im</strong>mter Zustände<br />
<strong>im</strong> Geist die entspre<strong>ch</strong>enden Zustände <strong>im</strong> Körper verursa<strong>ch</strong>t.« Der Epiphänomenalismus<br />
behauptet: »Zustände <strong>im</strong> Geist einer Person werden zwar dur<strong>ch</strong> Zustände <strong>im</strong> Körper<br />
verursa<strong>ch</strong>t, haben aber selbst niemals Wirkungen auf ihren Körper.« 7 Das Bewusstsein<br />
ist nur eine Begleiters<strong>ch</strong>einung – ein Epiphänomen – der Vorgänge <strong>im</strong> Gehirn.<br />
Au<strong>ch</strong> <strong>Swedenborg</strong> fasste die Diskussion zusammen, indem er seine Publikation von<br />
1769 mit dem Worten beginnen lässt: »Über die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und<br />
Körper, das heißt über die Tätigkeit <strong>des</strong> einen <strong>im</strong> anderen und <strong>des</strong> einen mit dem anderen,<br />
gibt es drei Ansi<strong>ch</strong>ten und Überlieferungen, die Hypothesen sind: den physis<strong>ch</strong>en<br />
Einfluss, den geistigen Einfluss und die prästabilierte Harmonie.« 8 Innerhalb dieser Aufbereitung<br />
und Darstellung der Diskussionslage ents<strong>ch</strong>ied er si<strong>ch</strong> bekanntli<strong>ch</strong> für den<br />
geistigen Einfluss.<br />
Da dieselben Si<strong>ch</strong>tweisen zum Teil unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Namen bei Abi<strong>ch</strong>t, Beckermann<br />
und <strong>Swedenborg</strong> haben, muss zunä<strong>ch</strong>st auf die folgende Beziehung hingewiesen werden:<br />
1. Das »System <strong>des</strong> Einflusses« bei Abi<strong>ch</strong>t, der »Interaktionismus« bei Beckermann<br />
und der »physis<strong>ch</strong>e Einfluss« bei <strong>Swedenborg</strong> sind identis<strong>ch</strong>. 2. Das »System der prästabilierten<br />
Harmonie« bei Abi<strong>ch</strong>t, der »Parallelismus« bei Beckermann und die »prästabilierte<br />
Harmonie« bei <strong>Swedenborg</strong> sind ebenfalls identis<strong>ch</strong>. 3. Und au<strong>ch</strong> das »System der<br />
Gelegenheitsursa<strong>ch</strong>en« bei Abi<strong>ch</strong>t, der »Okkasionalismus« bei Beckermann und der<br />
»geistige Einfluss« bei <strong>Swedenborg</strong>, von dem er selbst sagt, dass er von einigen au<strong>ch</strong><br />
okkasionaler genannt wird 9 , sind identis<strong>ch</strong>.<br />
Diese Beziehungen bestehen ganz offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, glei<strong>ch</strong>wohl gilt die Identität, insbesondere<br />
was <strong>Swedenborg</strong> angeht, nur mit Eins<strong>ch</strong>ränkungen. Denn pr<strong>im</strong>är ist seine Darstellung<br />
ni<strong>ch</strong>t als eine Bes<strong>ch</strong>reibung fremder Ideen anzusehen, sondern als eine eigene<br />
Systematisierung 10 , freili<strong>ch</strong> auf der Grundlage der zeitgenössis<strong>ch</strong>en Diskussion wie sie<br />
etwa von Abi<strong>ch</strong>t zusammengefasst worden ist. Friedemann Stengel hat daher zu Re<strong>ch</strong>t<br />
darauf aufmerksam gema<strong>ch</strong>t, dass bei den von <strong>Swedenborg</strong> genannten Modellen »bereits<br />
Interpretationen und Modifikationen vorliegen. So ist der aristotelis<strong>ch</strong>e influxus physicus<br />
zeitgenössis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nur in einer Ri<strong>ch</strong>tung verstanden worden, sondern als ein we<strong>ch</strong>selseitiger<br />
Einfluss … Ebenso wenig kann <strong>im</strong> cartesianis<strong>ch</strong>en Okkasionalismus ohne weiteres<br />
von einem influxus spiritualis in der von <strong>Swedenborg</strong> dargestellten Weise die Rede<br />
sein. Die beiden Substanzen Körper und Geist liegen vielmehr so weit auseinander, dass<br />
nur der Eingriff Gottes für ihr Zusammenwirken sorgen kann … Aber au<strong>ch</strong> <strong>Leib</strong>niz' prästabilierte<br />
Harmonie wird von <strong>Swedenborg</strong> nur verkürzt wiedergegeben, wenn unerwähnt<br />
bleibt, dass die Einheit von Körper und Geist na<strong>ch</strong> <strong>Leib</strong>niz von Beginn der S<strong>ch</strong>öpfung<br />
an besteht, das <strong>im</strong>mer wieder ges<strong>ch</strong>ehene Wunder bei Descartes also auf den Zeitpunkt<br />
der S<strong>ch</strong>öpfung zurückverlegt worden ist.« 11<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Ansgar Beckermann, Das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem: Eine Einführung in die Philosophie <strong>des</strong> Geistes, 2008, Seite 42f.<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 1.<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 1.<br />
Das systematisierende Interesse wird am Ende von We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 1 deutli<strong>ch</strong>. Dort<br />
heißt es: »Außer diesen drei Meinungen über die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper ist keine vierte<br />
denkbar, denn entweder ist die <strong>Seele</strong> <strong>im</strong> Körper oder der Körper in der <strong>Seele</strong> tätig oder beide sind <strong>im</strong>mer zuglei<strong>ch</strong><br />
tätig.« Diese drei Positionen sind systematis<strong>ch</strong> vollständig, wenn man davon ausgeht, dass der Einfluss<br />
nur in eine Ri<strong>ch</strong>tung gehen kann. Andernfalls wäre au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die Meinung denkbar, dass sowohl die <strong>Seele</strong> <strong>im</strong><br />
Körper als au<strong>ch</strong> der Körper in der <strong>Seele</strong> tätig ist. Das wäre der Interaktionismus.<br />
Friedemann Stengel, <strong>Swedenborg</strong> als Rationalist, in: Aufklärung und Esoterik: Rezeption – Integration – Konfron-
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 4<br />
<strong>Swedenborg</strong>s Standpunkt <strong>im</strong> Meinungsspektrum <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> ist na<strong>ch</strong> alledem<br />
also so zu best<strong>im</strong>men: Er ist ein Vertreter <strong>des</strong> Substanzdualismus, der die Position<br />
eines geistigen Einflusses vertritt.<br />
Dabei empfindet er offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> keinen Widerspru<strong>ch</strong> zum Okkasionalismus, denn er<br />
s<strong>ch</strong>reibt ja, dass der geistige Einfluss »von einigen au<strong>ch</strong> okkasionaler« 12 genannt wird.<br />
Vermutli<strong>ch</strong> denkt er hierbei an das relative Eigenleben <strong>des</strong> physis<strong>ch</strong>en Organismus, das<br />
dem geistigen Einfluss die Gelegenheiten darbietet, um in die äußere Wirkli<strong>ch</strong>keit übergehen<br />
zu können. Bea<strong>ch</strong>tenswert ist eine Aussage in Wahre Christli<strong>ch</strong>e Religion 154.<br />
<strong>Swedenborg</strong> ergänzt dort das »commercium an<strong>im</strong>ae et corporis« um das Adjektiv<br />
»mutuum«, das heißt »we<strong>ch</strong>selseitig«. Und was damit gemeint ist, sagt er glei<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>ließend:<br />
»Die <strong>Seele</strong> wirkt <strong>im</strong> <strong>Leib</strong> (in corpore) und auf den <strong>Leib</strong> (in corpus), aber<br />
ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> den <strong>Leib</strong> (per corpus). Der <strong>Leib</strong> hingegen wirkt aus si<strong>ch</strong> von der <strong>Seele</strong> her<br />
(ex se ab an<strong>im</strong>a).« Diese Aussage lässt Raum für die organis<strong>ch</strong>e Eigentätigkeit <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>es.<br />
Bemerkenswert ist au<strong>ch</strong>, was der ehemalige Gehirnfors<strong>ch</strong>er in We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Seele</strong> und Körper 12 s<strong>ch</strong>reibt: »Dem unversehrten oder krankhaft veränderten Zustand<br />
dieser Gehirnteile gemäß denkt und will der Mens<strong>ch</strong> gesund oder ungesund; vernünftig<br />
und moralis<strong>ch</strong> ist er daher je na<strong>ch</strong> der organis<strong>ch</strong>en Bildung seines Mentalberei<strong>ch</strong>s.«<br />
Das Physis<strong>ch</strong>e übt somit einen sehr ents<strong>ch</strong>eidenden »Einfluss« auf das Ni<strong>ch</strong>t-<br />
Physis<strong>ch</strong>e aus. Diese Feststellung hat Konsequenzen in Bezug auf die Auseinandersetzung<br />
mit den Ergebnissen der Gehirnfors<strong>ch</strong>ung.<br />
Der Begriff »Dualismus« ruft dem Wortsinne entspre<strong>ch</strong>end die Vorstellung einer<br />
Zweiheit hervor. Diese Zweiheit tau<strong>ch</strong>t <strong>im</strong> Titel <strong>des</strong> Werkes in Gestalt von <strong>Seele</strong> und<br />
Körper auf. Wenn man das Werk dann aber liest, dann bemerkt man sehr s<strong>ch</strong>nell, das<br />
wenigstens no<strong>ch</strong> ein drittes Element eine ganz ents<strong>ch</strong>eidende Rolle spielt, es heißt<br />
»Mens«. I<strong>ch</strong> habe es in meiner Übersetzung von »De Commercio« mit »das Mentale« und<br />
»der Mentalberei<strong>ch</strong>«, gelegentli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> mit »der (mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e) Geist« oder »das Gemüt«<br />
wiedergegeben. Das Mentale steht zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper als vermittelnde Instanz.<br />
<strong>Swedenborg</strong> s<strong>ch</strong>reibt: »Jeder Mens<strong>ch</strong> besteht aus <strong>Seele</strong>, Mentalberei<strong>ch</strong> und Körper. Die<br />
<strong>Seele</strong> ist sein Innerstes, das Mentale ist das Mittlere (medium) und der Körper das Äußerste.«<br />
13 Der Einfluss ergießt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unmittelbar von der <strong>Seele</strong> in den Körper, sondern<br />
nur mittelbar dur<strong>ch</strong> den Mentalberei<strong>ch</strong>. No<strong>ch</strong>mal <strong>Swedenborg</strong>: »Der von Gott kommende<br />
Einfluss ergießt si<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st in die <strong>Seele</strong>, dann dur<strong>ch</strong> sie in das rationale Mentale<br />
und dadur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in das, was den Körper bildet.« 14 Das Mentale ist eng mit dem<br />
Gehirn verbunden, das sein Sitz ist, was <strong>Swedenborg</strong> an mehreren Stellen au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />
seines theologis<strong>ch</strong>en Werkes ausdrückli<strong>ch</strong> sagt. 15 Er kann sogar sagen: »Vom Gehirn<br />
leitet si<strong>ch</strong> der Ursprung <strong>des</strong> gesamten Lebens eines Mens<strong>ch</strong>en her« 16 . Die Herausarbeitung<br />
der vermittelnden Funktion <strong>des</strong> Mentalberei<strong>ch</strong>s dürfte daher auf seine überaus<br />
gründli<strong>ch</strong>e Gehirnfors<strong>ch</strong>ung zurückgehen. Es wäre zu untersu<strong>ch</strong>en, inwiefern »Mens«<br />
bereits in den zeitgenössis<strong>ch</strong>en Abhandlungen über das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem eine Rolle<br />
spielte.<br />
<strong>Swedenborg</strong> s<strong>ch</strong>reibt sein Werk über »die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper«<br />
in seiner Zeit als Visionär und Theologe. Das hebt es weit über ein nur psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>es<br />
oder philosophis<strong>ch</strong>es hinaus. Der Visionär spri<strong>ch</strong>t dort, wo von der geistigen Welt,<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
tation, Herausgegeben von Monika Neugebauer-Wölk, 2008, Seite 150f.<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 1.<br />
Eheli<strong>ch</strong>e Liebe 158.<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper 8.<br />
H<strong>im</strong>mlis<strong>ch</strong>e Gehe<strong>im</strong>nisse 4054, Göttli<strong>ch</strong>e Liebe und Weisheit 273, Wahre Christli<strong>ch</strong>e Religion 351.<br />
Enthüllte Offenbarung 347.
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 5<br />
der geistigen Sonne und den Graden die Rede ist; au<strong>ch</strong> die Denkwürdigkeit am Ende <strong>des</strong><br />
Werkes geht auf das Konto <strong>des</strong> Visionärs. Und der Theologe spri<strong>ch</strong>t dort, wo Gott als<br />
integraler Bestandteil <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> thematisiert wird. Hervorzuheben ist insbesondere<br />
die Erkenntnis, dass der allereigentli<strong>ch</strong>ste Ursprung <strong>des</strong> geistigen Einflusses<br />
keineswegs die <strong>Seele</strong> ist. Diese ist au<strong>ch</strong> nur ein aufnehmen<strong>des</strong> Wesen für den von Gott<br />
ausgehenden Strom <strong>des</strong> Lebens. <strong>Swedenborg</strong> erblickt darin eine besondere Note seines<br />
Werkes, denn er s<strong>ch</strong>reibt: »Ein geistiger Einfluss von der <strong>Seele</strong> in den Körper ist uns<br />
bereits von s<strong>ch</strong>arfsinnigen Geistern überliefert, ni<strong>ch</strong>t aber ein Einfluss in die <strong>Seele</strong> und<br />
dur<strong>ch</strong> sie in den Körper« 17 . Das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem ist somit in den großen Lebenszusammenhang<br />
eingebunden, der ausgehend von Gott gewebt wird, und daher theologis<strong>ch</strong><br />
qualifiziert ist. Bezei<strong>ch</strong>nend für den theologis<strong>ch</strong>en Charakter <strong>des</strong> Werkes ist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>lusssequenz. <strong>Swedenborg</strong> beri<strong>ch</strong>tet, dass er einst gefragt wurde, wie er von<br />
einem Philosophen zu einem Theologen geworden sei. Am Ende dieser Ausführungen<br />
und damit au<strong>ch</strong> <strong>des</strong> gesamten Werkes benennt er die beiden Prinzipien seiner Theologie.<br />
Ein merkwürdiges S<strong>ch</strong>lusswort für ein Werk über das <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-Problem! Dabei muss<br />
man allerdings bedenken, dass es zwis<strong>ch</strong>en der »Kurzen Darstellung der Lehre der neuen<br />
Kir<strong>ch</strong>e« und der »Wahren Christli<strong>ch</strong>en Religion« herausgegeben worden ist. <strong>Swedenborg</strong><br />
war eigentli<strong>ch</strong> in dieser Zeit damit bes<strong>ch</strong>äftigt, eine apologetis<strong>ch</strong> zugespitze Zusammenfassung<br />
seiner Theologie zu verfassen.<br />
<strong>Swedenborg</strong> hat den Standpunkt <strong>des</strong> Physikalismus ni<strong>ch</strong>t in seine Zusammenstellung<br />
aller denkbaren Meinungen, die am Anfang seines Werkes über die »We<strong>ch</strong>selwirkung<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper« steht, aufgenommen. Er kommt aber <strong>im</strong> weiteren Verlauf<br />
dieses Werkes zum Vors<strong>ch</strong>ein. Jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unter Verwendung <strong>des</strong> Begriffs »Physikalismus«,<br />
sondern unter Verwendung <strong>des</strong> Begriffs »Naturalismus« 18 . Von ihm sagt <strong>Swedenborg</strong>,<br />
dass er »heute herrs<strong>ch</strong>end« sei 19 , wobei »heute« auf das 18. Jahrhundert zu<br />
beziehen ist. »Der Naturalismusbegriff … hat seine Konturen <strong>im</strong> 17. Jahrhundert zunä<strong>ch</strong>st<br />
auf der Grundlage einer Opposition zu den supranaturalistis<strong>ch</strong>en Grundzügen der<br />
<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>-mittelalterli<strong>ch</strong>en Metaphysik erhalten.« 20 In diesem Sinne tau<strong>ch</strong>t er mehrmals<br />
in den S<strong>ch</strong>riften <strong>Swedenborg</strong>s auf, – expressis verbis 21 oder aber zumin<strong>des</strong>t der Sa<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong>. <strong>Swedenborg</strong> umreißt die Position der Naturalisten so: Sie sehen die S<strong>ch</strong>öpfung für<br />
ein Werk der Natur an und behaupten, Gott sei ni<strong>ch</strong>ts anderes als die Natur. 22<br />
Der Naturalismus oder Materialismus wurde <strong>im</strong> 17. und 18. Jahrhundert von dem<br />
Engländer Thomas Hobbes (1588–1679) 23 und der Französis<strong>ch</strong>en Aufklärung unter Füh-<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und <strong>Leib</strong> 8.<br />
Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und <strong>Leib</strong> 9, 16. Siehe au<strong>ch</strong> »Naturalist« (10) und und »naturalistis<strong>ch</strong>er Atheist«<br />
(3). Es sei darauf hingewiesen, dass die Begriffe »Physikalismus« und »Naturalismus«, obglei<strong>ch</strong> sie in vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Umgebungen entstanden sind, etymologis<strong>ch</strong> verwandt sind, denn grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong> »physis« und lateinis<strong>ch</strong><br />
»natura« haben dieselbe Bedeutung, nämli<strong>ch</strong> Natur.<br />
Wahre Christli<strong>ch</strong>e Religion 4, 173, 339.<br />
Peter Jani<strong>ch</strong> (Hrsg.), Naturalismus und Mens<strong>ch</strong>enbild, 2008, Seite 242.<br />
Göttli<strong>ch</strong>e Liebe und Weisheit 69, Wahre Christli<strong>ch</strong>e Religion 339.<br />
Siehe Wahre Christli<strong>ch</strong>e Religion 35: »Einst da<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> mit Erstaunen über die große Zahl von Mens<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong>,<br />
wel<strong>ch</strong>e die S<strong>ch</strong>öpfung, das heißt alles unterhalb und oberhalb der Sonne, der Natur zus<strong>ch</strong>reiben und <strong>im</strong>mer,<br />
wenn sie etwas Neues sehen, dies voller Überzeugung für ein Werk der Natur ansehen. Wenn man diese Mens<strong>ch</strong>en<br />
fragt, warum sie derglei<strong>ch</strong>en der Natur und ni<strong>ch</strong>t Gott zus<strong>ch</strong>reiben, obglei<strong>ch</strong> sie do<strong>ch</strong> zuweilen zusammen<br />
mit der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Gemeinde bekennen, Gott habe die Natur ges<strong>ch</strong>affen, sie also das Wahrgenommene min<strong>des</strong>tens<br />
ebenso gut Gott wie der Natur zus<strong>ch</strong>reiben könnten, so antworten sie mit verhaltener, beinahe unvernehmli<strong>ch</strong>er<br />
St<strong>im</strong>me: ›Was ist Gott anderes als die Natur?‹«<br />
Dass <strong>Swedenborg</strong> Hobbes kannte, geht aus folgender Notiz hervor: »Those philosophers are called Materialists<br />
who admit the existence of nothing more than material entities or bodies. Su<strong>ch</strong> a materialist was Hobbes, the English<br />
philosopher, [who now has many followers, eminent among whom are] Toland and Coward (n. 33).« (Emanuel<br />
<strong>Swedenborg</strong>, A Philosopher's Note Book, 1931, Seite 371).
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 6<br />
rung von Denis Diderot (1713–1784) propagiert. 24 <strong>Swedenborg</strong> verstand sein Werk als<br />
ein Bollwerk gegen die drohende totale Übers<strong>ch</strong>wemmung <strong>des</strong> Geisteslebens dur<strong>ch</strong> den<br />
Materialismus und den Sensualismus, der si<strong>ch</strong> <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Gefolge der Verdunklung alles<br />
Geistigen befindet. <strong>Swedenborg</strong> erkannte, dass das Starkwerden <strong>des</strong> Materialismus die<br />
direkte Folge <strong>des</strong> S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>werdens <strong>des</strong> Gottesglaubens ist, wobei die innerste Ursa<strong>ch</strong>e<br />
dieses S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>werdens die dreipersönli<strong>ch</strong>e Trinitätslehre ist, denn ein einziger Gott und<br />
zuglei<strong>ch</strong> drei Personen, das ist unvorstellbar, undenkbar. Daher blieb dem denkenden<br />
Geist gar ni<strong>ch</strong>ts anderes übrig als si<strong>ch</strong> von diesem heiligen Unsinn abzuwenden und si<strong>ch</strong><br />
anderen Quellen der Erkenntnis zuzuwenden. Diese anderen Quellen sind die fünf Sinne.<br />
Sie verspre<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong>ere Erkenntnis, bes<strong>ch</strong>ränken aber die Weltsi<strong>ch</strong>t auf das empiris<strong>ch</strong><br />
Erfahrbare, von dem sie behaupten, dass es die ganze Wirkli<strong>ch</strong>keit sei. Vermutli<strong>ch</strong><br />
wird man geistesges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> sagen können, dass <strong>Swedenborg</strong>s Gegenwehr <strong>im</strong> deuts<strong>ch</strong>en<br />
Ideal<strong>im</strong>us eine gewisse Wirkung entfaltete. Jedo<strong>ch</strong> war der Dammbru<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr zu verhindern. Na<strong>ch</strong> dem Tod Hegels überfluteten der philosophis<strong>ch</strong>e und naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Materialismus das Denken der gottentfremdeten Gemüter, und das<br />
hatte Wirkungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der Philosophiehistoriker Johannes<br />
Hirs<strong>ch</strong>berger meinte, dass der Materialismus »das s<strong>ch</strong>werste Erbe ist, das uns das 19.<br />
Jahrhundert mit auf den Weg gegeben hat.« 25 Und obwohl man sagen kann, dass er<br />
dur<strong>ch</strong> die Erkenntnisse gerade der Physik theoretis<strong>ch</strong> überwunden ist, beherrs<strong>ch</strong>t er<br />
praktis<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> das Denken der Masse. Und bezogen auf die Philosophie <strong>des</strong> Geistes<br />
ist festzustellen: »Das Gros der heutigen westli<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aftler, die si<strong>ch</strong> mit Bewusstseinsfors<strong>ch</strong>ung<br />
befassen, wie Gehirnfors<strong>ch</strong>er, Psy<strong>ch</strong>ologen, Psy<strong>ch</strong>iater und Philosophen,<br />
ist der Meinung, dass si<strong>ch</strong> das Bewusstsein materialistis<strong>ch</strong> und reduktionistis<strong>ch</strong><br />
erklären lässt«. 26<br />
Dessen ungea<strong>ch</strong>tet müssen <strong>Swedenborg</strong>ianer den dualistis<strong>ch</strong>en Ansatz weiterentwickeln.<br />
Wel<strong>ch</strong>e Arbeitsfelder sind zu bearbeiten? Erstens: Die historis<strong>ch</strong>e Bedingtheit <strong>des</strong><br />
Materialismus müsste dargestellt werden. Seine Vereinnahmung <strong>des</strong> Wissens<strong>ch</strong>aftsbegriffs<br />
wäre zu problematisieren. Wissens<strong>ch</strong>aft muss ni<strong>ch</strong>t per se materialistis<strong>ch</strong> sein.<br />
Zumal der Materialismus theoretis<strong>ch</strong> überwunden ist, denn mit Karl Ra<strong>im</strong>und Popper<br />
kann man sagen, »daß die Ergebnisse der modernen Physik es nahelegen, die Vorstellung<br />
[von Materie als] von einer Substanz oder einem Wesen aufzugeben … Mit dem<br />
Programm, die Struktur der Materie zu erklären, war die Physik gezwungen, über den<br />
Materialismus hinauszugehen.« 27 Und der Physiker und Heisenbergs<strong>ch</strong>üler Hans-Peter<br />
Dürr meint sogar: »Die Grund-Wirkli<strong>ch</strong>keit hat mehr Ähnli<strong>ch</strong>keit mit dem unfassbaren,<br />
lebendigen Geist als mit der uns geläufigen greifbaren stoffli<strong>ch</strong>en Materie. Die Materie<br />
ers<strong>ch</strong>eint mehr als eine ›Kruste‹ <strong>des</strong> Geistes.« 28 Anzustreben ist eine Wissens<strong>ch</strong>aft, die<br />
si<strong>ch</strong> aus der ideologis<strong>ch</strong>en Umklammerung dur<strong>ch</strong> den Materialismus befreit hat. In diesem<br />
Zusammenhang könnten sehr bea<strong>ch</strong>tenswerte erkenntnistheoretis<strong>ch</strong>e Überlegungen<br />
24<br />
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Denis Diderot »wurde zum Führer der materialistis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ule der französis<strong>ch</strong>en Aufklärung … Es gehören<br />
hierher Julien de La Mettrie (gest. 1751) mit seinem Bu<strong>ch</strong> L'homme ma<strong>ch</strong>ine (1748), Paul-Henri Holba<strong>ch</strong><br />
(gest. 1789) mit seinem Système de la nature (1770), Claude-Adrien Helvetius (gest. 1771) mit seinem Entrüstung<br />
hervorrufenden Bu<strong>ch</strong> Sur l'esprit (1758), der Sensualist Etienne Bonnot de Condillac (gest. 1780) mit seinem<br />
Traité <strong>des</strong> sensations (1754) und der radikalste dieser materialistis<strong>ch</strong>en Psy<strong>ch</strong>ologen Georges Cabanis<br />
(gest. 1808), der s<strong>ch</strong>lankweg erklärte: Körper und Geist sind unbedingt ein und dasselbe … Er ist der unmittelbare<br />
Vorläufer der Psy<strong>ch</strong>ophysik wie <strong>des</strong> modernen Monismus.« (Johannes Hirs<strong>ch</strong>berger, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Philosophie,<br />
Band 2: Neuzeit und Gegenwart, 1991, Seite 249f.).<br />
Johannes Hirs<strong>ch</strong>berger, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Philosophie, Band 2: Neuzeit und Gegenwart, 1991, Seite 468.<br />
P<strong>im</strong> van Lommel, Endloses Bewusstsein: Neue medizinis<strong>ch</strong>e Fakten zur Nahtoderfahrung, 2011, Seite 259.<br />
Karl R. Popper, John C. Eccles, Das I<strong>ch</strong> und sein Gehirn, 1991, Seite 26.<br />
Hans-Peter Dürr, Au<strong>ch</strong> die Wissens<strong>ch</strong>aft spri<strong>ch</strong>t nur in Glei<strong>ch</strong>nissen: Die neue Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Religion und<br />
Naturwissens<strong>ch</strong>aften, 2008, Seite 29.
<strong>Swedenborg</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>des</strong> <strong>Leib</strong>-<strong>Seele</strong>-<strong>Problems</strong> 7<br />
<strong>Swedenborg</strong>s für die Gegenwart fru<strong>ch</strong>tbar gema<strong>ch</strong>t werden. I<strong>ch</strong> denke beispielsweise an<br />
seine Ausführungen am Anfang seiner »Principia Rerum naturalium«. Das erste Kapitel<br />
»handelt von den Mitteln, die zur wahren Philosophie führen«. Er nennt drei, »die empiris<strong>ch</strong>e<br />
Erfahrung (experientia), die Geometrie (geometria) und die Fähigkeit zur vernünftigen<br />
Beurteilung (facultas ratiocinandi)«. <strong>Swedenborg</strong> sah si<strong>ch</strong> zwei großen erkenntnistheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Systemen gegenüber, dem Empirismus (a posteriori) und dem<br />
Rational<strong>im</strong>us (a priori), und interessanterweise vereinigt er in seinem Geiste die Stärken<br />
beider Ansätze. Wahre Wissens<strong>ch</strong>aft sollte – dieser Spur folgend – ni<strong>ch</strong>t nur beoba<strong>ch</strong>ten<br />
und bes<strong>ch</strong>reiben, sondern au<strong>ch</strong> denken und auswerten, zu den Ursa<strong>ch</strong>en und der quinta<br />
essentia der Datenflut vordringen. Zweitens: Es läge ganz auf der Linie <strong>Swedenborg</strong>s, die<br />
Erkenntnisse der Gehirnfors<strong>ch</strong>ung bzw. Neurowissens<strong>ch</strong>aften aufzunehmen. Die gegenwärtige<br />
Situation bes<strong>ch</strong>reibt der niederländis<strong>ch</strong>e Kardiologe P<strong>im</strong> van Lommel so: »Die<br />
meisten Gehirnfors<strong>ch</strong>er vertreten einen materialistis<strong>ch</strong>en Ansatz. Sie gehen von der Annahme<br />
aus, dass si<strong>ch</strong> Gedanken, Gefühle und Erinnerungen inhaltli<strong>ch</strong> ganz und gar aus<br />
den messbaren Aktivitäten <strong>des</strong> Gehirns herleiten lassen. Die Hypothese, dass Bewusstsein<br />
und Erinnerungen auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in unserem Gehirn erzeugt und gespei<strong>ch</strong>ert werden,<br />
ist jedo<strong>ch</strong> <strong>im</strong>mer no<strong>ch</strong> unbewiesen.« 29 Dass eine dualistis<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>t mit den Fakten<br />
vereinbar ist, zeigte exemplaris<strong>ch</strong> Sir John Eccles (1903–1997), der 1963 den Medizin-<br />
Nobelpreis erhalten und zusammen mit dem Philosophen Karl Popper ein Bu<strong>ch</strong> mit dem<br />
bezei<strong>ch</strong>nenden Titel »Das I<strong>ch</strong> und sein Gehirn« ges<strong>ch</strong>rieben hatte. Darin tritt er sowohl<br />
für die <strong>im</strong>materielle Wesenheit <strong>des</strong> Geistes als au<strong>ch</strong> für die Objektivität der materiellen<br />
Welt ein, also für eine dualistis<strong>ch</strong>e Weltsi<strong>ch</strong>t. Drittens: <strong>Swedenborg</strong>s Position erhält seit<br />
mehreren Jahrzehnten Unterstützung dur<strong>ch</strong> die Ergebnisse der Nahtod-Fors<strong>ch</strong>ung. P<strong>im</strong><br />
van Lommel beispielsweise vertritt – gestützt auf wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Langzeitstudien –<br />
die These: Das Bewusstsein hört na<strong>ch</strong> dem Tod ni<strong>ch</strong>t auf zu existieren, es besteht weiter<br />
und ist unabhängig von Gehirnfunktionen. Das Gehirn s<strong>ch</strong>eint nur ein Empfangsmodul<br />
zu sein, verglei<strong>ch</strong>bar einem Radio oder Fernsehgerät. Niemand würde behaupten, die<br />
Bilder und Töne hätten ihren Ursprung in diesen Apparaten. Jedem ist klar, dass sie aus<br />
einem anderen Raum stammen und von diesen Geräten ledigli<strong>ch</strong> empfangen werden.<br />
<strong>Swedenborg</strong> ist ein Substanzdualist, der einen geistigen Einfluss lehrt, der allerdings<br />
ni<strong>ch</strong>t erst bei der <strong>Seele</strong>, sondern s<strong>ch</strong>on bei Gott beginnt. Inwieweit si<strong>ch</strong> dieser Einfluss<br />
allerdings auf der organis<strong>ch</strong>en Ebene zeigen kann, hängt au<strong>ch</strong> von der Verfassung der<br />
entspre<strong>ch</strong>enden Organe ab, vor allem <strong>des</strong> Gehirns. Insofern ist in <strong>Swedenborg</strong>s Theorie<br />
ein interaktionistis<strong>ch</strong>es Element enthalten. Seine Gesamts<strong>ch</strong>au der Wirkli<strong>ch</strong>keit hatte<br />
interessanterweise eine empiris<strong>ch</strong>e Grundlage, denn zum einen kam er aus der Wissens<strong>ch</strong>aft,<br />
war einer ihrer hervorragensten Vertreter, und zum anderen s<strong>ch</strong>rieb er später<br />
viele Werke »ex auditis et visis«, das heißt na<strong>ch</strong> Gehörtem und Gesehenem. Er konnte<br />
daher den Grundstein für eine Wissens<strong>ch</strong>aft legen, in der H<strong>im</strong>mel und Erde versöhnt<br />
sind: Psy<strong>ch</strong>e und Physis.<br />
Abges<strong>ch</strong>lossen <strong>im</strong> Mai 2011<br />
29<br />
P<strong>im</strong> van Lommel, Endloses Bewusstsein: Neue medizinis<strong>ch</strong>e Fakten zur Nahtoderfahrung, 2011, Seite 192.
Essay für die Übersetzung von <strong>Swedenborg</strong>s Werk »Die We<strong>ch</strong>selwirkung<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Seele</strong> und Körper«, Züri<strong>ch</strong> 2011