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Wie Arbeiterfamilien im Wedding lebten - Quartier Pankstrasse

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Titelfoto Quelle: Mitte Museum, Bezirksamt Mitte von Berlin. Motiv: Alteisen- und Metallwaren-Handlung Max Rochow, Gerichtstreße 52, 1905<br />

Editorial<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Geschichte und Geschichten – nicht zufällig sind beide<br />

Worte ähnlich. In den Geschichten, die sich mit einem<br />

best<strong>im</strong>mten Gebiet verbinden, verbirgt sich auch dessen<br />

Geschichte. Wir gehen in dieser Ausgabe der Geschichte<br />

und den Geschichten des Kiezes nach.<br />

Zum Beispiel in der <strong>Wie</strong>senburg. Während eines Rundgangs<br />

durch die zum großen Teil verfallenen Gebäude<br />

erzählte uns Joach<strong>im</strong> Dumkow, der seit seiner Geburt<br />

in der <strong>Wie</strong>senburg lebt, einiges über deren Entstehung<br />

als Obdachlosenasyl und über ihre weitere wechselhafte<br />

Geschichte. Der <strong>Wedding</strong> war früher bekannt als<br />

eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Dies gründet<br />

<strong>Wedding</strong>Geschichte<br />

Der erste Januar 1861 war ein bedeutender Tag.<br />

Zusammen mit Gesundbrunnen und Moabit wird<br />

der <strong>Wedding</strong> offiziell ein Teil von Berlin. Über 600<br />

Jahre zuvor – 1251 – wurde der <strong>Wedding</strong> erstmals<br />

urkundlich erwähnt. Man muss sich den <strong>Wedding</strong><br />

bis zur Industrialisierung als eine kleine Ansammlung<br />

von Häusern außerhalb der Stadtmauern<br />

Berlins vorstellen. Der <strong>Wedding</strong> galt als notorisch<br />

bedürftig und wenig rentabel, sodass der Landkreis<br />

Niederbarn<strong>im</strong> sich über die Eingemeindung des<br />

<strong>Wedding</strong> in das Stadtgebiet von Berlin erleichtert<br />

zeigte. Auch Berlin hatte lange gezögert, den <strong>Wedding</strong><br />

einzugemeinden. Doch mit der Industrialisierung<br />

änderte sich die Lage.<br />

Berlin war eine Weltstadt geworden. Die Innenstadt<br />

wurde mit Verwaltungs- und Repräsentationsbauten<br />

neu gestaltet. Arbeiter und Angestellte zogen<br />

in die Randbezirke, wo inzwischen Fabriken ihren<br />

Platz fanden. Ernst Schering, Begründer einer der<br />

größten Chemiekonzerne, eröffnete 1871 die »Chemische<br />

Fabrik auf Actien (vormals E. Schering)«.<br />

Der Druckmaschinenhersteller Rotaprint errichtete<br />

seine Fabrik in der Gottschedstraße. Im Osram-<br />

Werk, dem ehemals größten Glühlampenwerk Europas,<br />

wurden bis in die 1980er Jahre Glühlampen<br />

produziert. Der Ingenieur Emil Rathenau gründete<br />

ein Werk, welches später unter dem Namen AEG<br />

(Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) zur größten<br />

Fabrik des <strong>Wedding</strong> in den 1920ern werden sollte.<br />

sich auch in den Wohnverhältnissen der Arbeiter. Wir<br />

geben einen kleinen Einblick, wie die Menschen damals<br />

<strong>lebten</strong>. Und was wissen Sie, die Anwohner, über<br />

die Geschichte des Areals? Unserer Straßenumfrage.<br />

Die Rückseite bietet ein gewohntes, aber auch ganz<br />

neues Bild. Dieses Mal haben wir passend zum Thema<br />

eine historische Karte von 1893 gewählt, auf der Sie<br />

sehr anschaulich nachvollziehen können, wie sich der<br />

Kiez seit damals verändert hat.<br />

Geschichte, das ist der Blick zurück. Damit allein<br />

wollen wir uns nicht zufrieden geben. Deshalb wird<br />

das Thema unserer nächsten Ausgabe „Zukunft“<br />

sein. Wir freuen uns darauf!<br />

Viel Spaß be<strong>im</strong> Lesen wünscht<br />

Ihre Redaktion<br />

Mit den Fabriken kam nicht nur Arbeit, sondern<br />

Armut, Wohnungsnot und soziales Elend. Die Arbeiter<br />

organisierten sich <strong>im</strong> Metallarbeiter-Verband,<br />

Vorgänger der IG Metall. Arbeitskämpfe wurden<br />

erbittert geführt, Streiks organisiert. Der <strong>Wedding</strong><br />

war auch ein Zentrum der Mieterstreikbewegung.<br />

Dazu kamen politischen Auseinandersetzungen<br />

mit den zunehmend auftretenden Nazis und deren<br />

SA. Die NSDAP beschrieb die St<strong>im</strong>mung Ende der<br />

zwanziger Jahre so: »Die verhetzten Marxisten bewarfen<br />

die SA mit Blumen, an denen aber noch die<br />

Töpfe waren.« Doch nach der Machtübernahme<br />

der Nazis 1933 wurden die meisten Kommunisten<br />

und Sozialdemokraten verhaftet, getötet oder in<br />

KZs verschleppt. Trotzdem gab es <strong>im</strong> <strong>Wedding</strong><br />

kommunistische Widerstandsgruppen. Nachdem<br />

man ihre Synagogen zerstörte, wurde die jüdische<br />

Bevölkerung vernichtet; Stolpersteine in den Straßen<br />

erinnern an ihre ehemaligen Wohnorte.<br />

Nach dem Krieg wurde der <strong>Wedding</strong> Teil Westberlins.<br />

Viele Gebäude wurden saniert oder abgerissen<br />

und neugebaut – wie die Ernst-Reuter-Siedlung<br />

oder das Kurt-Schumacher-Haus. Ein Teil der alten<br />

Bausubstanz ist verloren gegangen, neue entstand.<br />

Die <strong>Wie</strong>dervereinigung 1990 hat den <strong>Wedding</strong> aus<br />

dem Grenzgebiet in die Mitte der Stadt geholt. Doch<br />

auch andere Entwicklungen prägen die Gegenwart.<br />

Die Fabriken sind zu. Viele Menschen arbeiten heute<br />

<strong>im</strong> Dienstleistungssektor, andere sind arbeitslos.<br />

Wohin die Entwicklung des <strong>Wedding</strong>, dem ehemaligen<br />

Arbeiterbezirk, geht, wird sich zeigen.<br />

Jakob Hayner<br />

Standpunkt<br />

Geschichte, was sagt uns das noch? Sind Traditionen<br />

und Gedenktage nicht zu Ritualen erstarrt, die wir<br />

über uns ergehen lassen? Heute ist doch angesagt,<br />

sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und zu erleben,<br />

was der Moment bringt. Trotzdem, wer in<br />

einem alten Großstadtbezirk wohnt, stößt überall<br />

auf Spuren der Geschichte. Man fragt sich: Was war<br />

hier, wie ist das entstanden, wie wurde hier gelebt,<br />

was ist hier passiert?<br />

Das alltägliche Leben <strong>im</strong> <strong>Wedding</strong>er <strong>Quartier</strong> ist<br />

überall von Geschichte geprägt: Schüler lernen<br />

in Schulgebäuden aus der Gründerzeit. Neue Unternehmen<br />

richten sich mit ihren Schreibtischen,<br />

Computer und Ateliers dort ein, wo früher an<br />

Werkbänken und Maschinen gearbeitet wurde.<br />

Viele <strong>Wedding</strong>er Wohnungen zeigen in Anlage<br />

und Zuschnitt, wie hier früher gelebt wurde. Hier<br />

kommt ein Lebensgefühl auf, das <strong>im</strong>mer wieder an<br />

die geschichtliche Erinnerung stößt.<br />

Das nachbarschaftliche Leben mit allen Generationen<br />

bewegt sich ständig auf historischen Ebenen.<br />

Ob die Alten von den „guten“ oder „schlechten“<br />

Zeiten sprechen, <strong>im</strong>mer erzählen sie anschaulich,<br />

was sich früher unter Menschen abgespielt hat. Sie<br />

als Zeitzeugen zu befragen, lohnt sich und als Zuhörer<br />

ist man erstaunt, welches riesige Spektrum<br />

an Lebensgeschichten sich in einem Stadtteil in den<br />

wechselnden Zeitläufen angesammelt hat.<br />

<strong>Wie</strong> stark prägt die Geschichte ein <strong>Quartier</strong>? Der<br />

Begriff des „Roten <strong>Wedding</strong>“ ist keine endgültige<br />

Formel für diesen Stadtteil. Damit werden historische<br />

Phasen benannt, die nichts mehr mit der aktuellen<br />

Entwicklung zu tun haben müssen. Migration,<br />

Zuzug neuer sozialer Gruppen und Berufe, die<br />

aktive Bewältigung von Problemen durch engagierte<br />

Leute bringen Bewegung ins <strong>Quartier</strong> und zeigen,<br />

dass soziale Gestaltung in der Stadt möglich ist. Die<br />

Auseinandersetzung mit der Geschichte schafft ein<br />

tieferes Verständnis für die Nachbarschaft. Das<br />

stärkt das Bewusstsein, an einem Ort zu leben, in<br />

dem die Menschen durch Krisen und gute Entwicklungen<br />

einen großen Erfahrungsschatz gesammelt<br />

haben. Und es macht Mut, sich <strong>im</strong>mer wieder den<br />

Herausforderungen zu stellen und die neue Geschichte<br />

des <strong>Quartier</strong>s mitzugestalten.<br />

Ewald Schürmann<br />

Kiez aktuell _ Neuigkeiten aus dem QM-Gebiet Reinickendorfer Straße/Pankstraße<br />

„Du bist das Fest“ am 13. September auf dem<br />

Nettelbeckplatz<br />

„Wir <strong>im</strong> <strong>Quartier</strong>“<br />

Kunst- und Kulturvermittlung als Chance für Bildung<br />

und Image <strong>im</strong> <strong>Quartier</strong> nutzen, das ist die Idee hinter<br />

dem Projekt „Wir <strong>im</strong> <strong>Quartier</strong>“. Das vom <strong>Quartier</strong>smanagement<br />

geförderte Projekt führen die „Kulturermittler“<br />

seit Mitte des Jahres hier durch. Neben<br />

verschiedensten Aktionen und Angeboten für Kinder,<br />

Jugendliche und Erwachsene soll dieses Projekt die<br />

Zusammenarbeit der Kunst- und Kulturschaffenden<br />

mit schulischen und außerschulischen Einrichtungen<br />

fördern. Im Rahmen des Projektes entsteht eine mobile<br />

Infrastruktur, um einen alltäglichen Kunst- und<br />

Kulturbegriff unter die Leute zu bringen. Zentrales<br />

Element ist das QMobil, ein mobiles Atelier mit<br />

Außeneinrichtungen auf drei Rädern. Es enthält Arbeitsmaterialien<br />

etwa für Objektbau, Puppentheater,<br />

oder Fotografie. Im Projekt „Wir <strong>im</strong> <strong>Quartier</strong>“, das<br />

bis Ende 2015 läuft, werden gemeinsam mit den BewohnerInnen<br />

Aktionen erfunden und gestaltet. Ganz<br />

nach dem Motto: „Wir alle sind Künstler!“ Die erste<br />

Aktion war „Du bist das Fest“ während des Kulturfestivals<br />

<strong>Wedding</strong> Moabit. Aus Kartons bauten<br />

Kinder und Erwachsene auf dem Nettelbeckplatz<br />

Stühle, Hocker, Bänke, ja, ein Haus mit Dusche. Die<br />

ca. 100 Teilnehmer waren auf dem Weg, möglichst<br />

viele <strong>im</strong> Kiez zu erreichen, ein toller Erfolg. Weiter<br />

geht’s in der 2. Herbstferienwoche (8.-11.10.2013)<br />

mit der Aktion „Porträtier Dein <strong>Quartier</strong>“ auf vier<br />

Plätzen <strong>im</strong> Kiez. Am 8.10. um 10 Uhr steht der Fotobus<br />

auf dem Nettelbeckplatz. Merken kann man sich<br />

auch den 23.10., denn das ist der zweite der regelmäßigen<br />

Mittwochstermine, an denen von 15 bis 18<br />

Uhr Aktionen für alle <strong>im</strong> Kiez stattfinden. Näheres<br />

dazu jeweils aktuell auf der QM-Website.<br />

Das Teezelt macht be<strong>im</strong> Kulturfestival <strong>Wedding</strong> Moabit<br />

Station an der Panke<br />

Panke belebt!<br />

Ein neues QM-Projekt rückt die Panke in den Mittelpunkt<br />

seiner Arbeit. „Begegnungsanlässe entlang<br />

der Panke“ heißt es, und eigentlich verrät der Name<br />

schon das zentrale Anliegen der Betreiber. Es geht darum,<br />

das Flüsschen mehr ins Bewusstsein des Kiezes<br />

zu bringen und die dortigen Freizeitmöglichkeiten<br />

dafür zu nutzen, Bewohner aufeinander neugierig zu<br />

machen. Das Projekt wird durchgeführt von „Stadtgeschichen<br />

e.V.“, einem Verein, der Kultur- und Theaterwissenschaften,<br />

Stadtplanung und Stadtsoziologie<br />

zusammen führt. Stadtgeschichten erprobt stets<br />

neue Formen der Beteiligung, um Menschen einzubeziehen<br />

und dabei zu helfen, Vorurteile abzubauen.<br />

Von Juni bis September gab es vier Mal ein Teezelt <strong>im</strong><br />

Kiez – zum letzten Mal während des Kulturfestivals<br />

<strong>Wedding</strong> Moabit neben dem Stattbad. Dort trafen<br />

sich Anwohner aus verschiedenen Generationen,<br />

Ethnien und sozialen Hintergründen. Ein Highlight<br />

war der Besuch einer Gruppe älterer türkischstämmiger<br />

Frauen <strong>im</strong> Stattbad – zwei Sphären, die nicht<br />

zwingend zusammen gedacht werden. So aber konnte<br />

sich dort ein interessanter Austausch anbahnen.<br />

Die nächsten Projekte sind in Vorbereitung. Am 11.<br />

Oktober gibt es „<strong>Wedding</strong> Walking“, einen gemeinsamen<br />

Fitness-Spaziergang entlang der Panke. Zum<br />

Programm gehören Dehnübungen, Tipps für richtiges<br />

Laufen und Gesundheitsberatung. Teilnehmen<br />

werden u.a. auch die über ein QM-Projekt ausgebildeten<br />

Gesundheitsberaterinnen. Treffpunkt ist um<br />

15 Uhr am Haus Bottrop. Zum Abschluss geht es<br />

zu Panke e.V., dem neuen Off-Café an der Panke.<br />

Außerdem ist am 11. November zum Martinstag ein<br />

Laternenumzug mit Kindern aus drei Kitas geplant.<br />

Festivalatmosphäre auf den Straßen in <strong>Wedding</strong> und<br />

Moabit, hier vor dem Stattbad <strong>Wedding</strong><br />

Kultur <strong>im</strong> <strong>Quartier</strong><br />

Vom 13. bis 15.09. fand das erste Kulturfestival<br />

<strong>Wedding</strong> Moabit statt. Das Samenkorn dafür liegt<br />

hier <strong>im</strong> QM-Gebiet, wo in den letzten beiden Jahren<br />

das <strong>Wedding</strong> Kulturfestival stattfand. Nun trat das<br />

neue Festival mit erweitertem Spielraum und verändertem<br />

Konzept auf die Bühne. Anders als zuvor<br />

gab es 2013 keine zentrale Spielstätte, das Festival<br />

fand an den Orten statt, an denen die Kultur hier <strong>im</strong><br />

Stadtgebiet entsteht. Geplant war, einen Überblick<br />

über die mannigfaltige Kulturszene in den beiden<br />

oft unterschätzten Stadtbezirken zu geben. Und der<br />

Start war eindrucksvoll: Trotz kurzer Vorlaufzeit gab<br />

es mehr als 130 Veranstaltungen in ganz <strong>Wedding</strong><br />

und Moabit. In den Ateliers, Werkstätten, Eventräumen<br />

und Galerien überzeugten sich schätzungsweise12.000<br />

Besucher von Qualität und Kreativität<br />

des hier Entstehenden. 2014 wird das <strong>im</strong> Aufbau<br />

befindliche Kulturnetzwerk <strong>Wedding</strong> Moabit die<br />

Ausrichtung des Festivals von der aus dem Stattbad<br />

<strong>Wedding</strong>, dem Kulturnetzwerk <strong>Wedding</strong> und der<br />

Kommunikationsagentur georg+georg bestehenden<br />

Ausrichter-Arbeitsgemeinschaft übernehmen.<br />

Dein Kiez für die Hosentasche<br />

Mit QF2-Mitteln wird bis Ende 2013 ein illustrierter<br />

Kiez-Stadtplan entstehen, auf dem die wichtigsten<br />

Institutionen, Gebäude und Sehenswürdigkeiten des<br />

QM-Gebiets vorgestellt werden. Im Rahmen eines<br />

Workshops können sich Anwohner mit Vorschlägen<br />

für die Auswahl dieser Punkte und für die Gestaltung<br />

der Karte einbringen. Zeitpunkt und Ort dieses<br />

Workshops können Sie in Kürze auf der QM-Website<br />

www.pankstrasse-quartier.de erfahren.<br />

Was weißt Du<br />

über die Geschichte<br />

des Kiezes?<br />

Stefan, 48, wohnt am nördlichen Rand unseres Kiezes.<br />

„Die SPD war hier mal stark in den 30ern. Während der<br />

Spaltung Berlins war <strong>Wedding</strong> ja absolute Randlage. Bis<br />

zum Mauerfall. <strong>Wie</strong> eine Sackgasse. Kann man sich heute<br />

kaum noch vorstellen. Heute hingegen: Offen nach allen<br />

Richtungen: Multikulti! Viel Krach und viel Dreck. Aber die<br />

Mieten sind bezahlbar und es gibt günstige Einkaufsmöglichkeiten.<br />

Und es ist <strong>im</strong>mer was los!“<br />

Knud, 56, Kranfahrer, <strong>Wedding</strong>er, wohnt <strong>im</strong> Kiez. „Immer<br />

dasselbe hier. Hat sich nicht viel getan. Vielleicht, dass man<br />

jetzt überall türkisch und chinesisch essen kann. Deutsche<br />

Kneipen verschwinden dafür. Den Nettelbeckplatz haben sie<br />

2x umgebaut. Kreisverkehr hin, Kreisverkehr weg. Ist schon<br />

ne Weile her. Schön, dass sie am Leopoldplatz endlich mal<br />

was modernisieren. Den Park neu machen. Die letzten zwei,<br />

drei Jahre bewegt sich wieder was. Das freut einen schon!“<br />

Straßenumfrage<br />

Brigitte,67, ist Floristin in Rente. Seit 34 Jahren <strong>im</strong> <strong>Wedding</strong>.<br />

„<strong>Wedding</strong> ist voller Historie! Das Mitte Museum in der<br />

Pankstraße ist eines der ältesten in Berlin. Otto Nagel wohnte<br />

in der Brunnenstraße und das Arbeiterehepaar, das Fallada in<br />

„Jeder stirbt für sich allein“ beschreibt, lebte direkt ums Eck<br />

<strong>im</strong> „<strong>Wedding</strong>er Milieu“. Ich habe kürzlich die Neuauflage gelesen<br />

und zu diesem Anlass auch die Gedenktafel von „Otto<br />

und Elise Hampel“ in der Amsterdamer Str. 10 besucht.“<br />

Mahamed, 44, geboren in Tunesien, Koch, zu Besuch bei<br />

Verwandten <strong>im</strong> Kiez. „Ich finde den <strong>Wedding</strong> <strong>im</strong> Vergleich zu<br />

Schöneberg unaufgeräumt und chaotisch. Viel Polizei. Sehr<br />

quirlig alles. Mir ist das zu viel. Ich brauche es ruhiger, bürgerlicher.<br />

Nicht mein Bezirk. Im alten Schw<strong>im</strong>mbad (heute<br />

Stattbad Anm. d. Redaktion) wurde doch in den 50ern der<br />

Film „Die Halbstarken“ gedreht. Das ist allerdings ein klasse<br />

Streifen!“<br />

DJ Arab, 28, Musiker, Eltern Libanesen, geboren in Berlin-<strong>Wedding</strong>.<br />

„<strong>Wedding</strong> ist ne Klasse für sich! Eine tolle<br />

Internationalität. Viele unterschiedliche Mentalitäten. Ich<br />

komme mit allen klar. Für mich sind die Boatengs <strong>Wedding</strong>-Geschichte.<br />

Hier aufgewachsen und <strong>im</strong> Käfig kicken<br />

gelernt! Krass was die jetzt sind: Weltklasse-Fußballer! Und<br />

jetzt hat der kleine Jerome <strong>im</strong> Bundesliga-Bruderkampf<br />

dem älteren Bruder Kevin-Prince auf die Mütze gegeben.“<br />

Georg, 57, Industriekaufmann, momentan arbeitssuchend,<br />

wohnt seit 4 Jahren <strong>im</strong> Kiez.„<strong>Wedding</strong>? Geschichte?<br />

Ernst Busch! Roter <strong>Wedding</strong>! Die Musik war von Hanns<br />

Eisler: >Die Arbeiterklasse marschiert. Wir fragen euch<br />

nicht nach Verband und Partei / Seid ihr nur ehrlich <strong>im</strong><br />

Kampf mit dabei / Gegen Unrecht und Reaktion.< Die Arbeiterbewegung<br />

zur Jahrhundertwende ist für mich DAS<br />

historische Ereignis, das ich mit dem <strong>Wedding</strong> verbinde.“<br />

Ralph, 60, Gesinnungsberliner seit 1978. „Verschiedene<br />

Etappen: Der Rote <strong>Wedding</strong>! SPD und <strong>Wedding</strong> gehören dicht<br />

zusammen. Willi Brand hatte hier seine Parteizentrale. Das<br />

Kurt Schumacher-Haus gibt es ja <strong>im</strong>mer noch. Und Steinbrück<br />

wohnt da am Kanal in Eva Högels Haus. Der <strong>Wedding</strong> hat sich<br />

ziemlich von dem weg entwickelt, für das er mal stand. Wir<br />

haben jetzt die 5. Mieterhöhung in 5 Jahren erhalten. Am bösen<br />

Wort >Gentrifizierung< kommt man nicht mehr vorbei.“<br />

Markus, 27. „Ich bin vor einem Jahr hierher gezogen und<br />

kenne mich nicht so aus, bemerke aber Tendenzen der<br />

Gentrifizierung. Ich glaube eher an eine langsame Wandlung<br />

des <strong>Wedding</strong>, nicht so rasant wie in Neukölln. Ich liebe<br />

die bunte Mischung und Vielfalt und hoffe, dass sie uns<br />

möglichst lange erhalten bleibt. Meinen Besuch aus Köln<br />

schicke ich heute ins >Pr<strong>im</strong>e T<strong>im</strong>e TheaterHouse of Nations>, <strong>im</strong> Ernst-Reuter Haus, einem Wohnhe<strong>im</strong><br />

um die Ecke. Das hat mich <strong>im</strong> Grunde in den Kiez<br />

geführt. Finde die zentrale Lage innerhalb Berlins und auch<br />

die Verkehrsanbindung mit U9, U6 und Ringbahn phantastisch.<br />

Über die Historie weiß ich nicht viel, außer, dass hier<br />

ehemals eine Hochburg der Sozialdemokratie war.“<br />

Ausgabe 3/2013<br />

Die <strong>Wie</strong>senburg _ Geschichte des Obdachlosenasyls in der <strong>Wie</strong>senstraße 55<br />

<strong>Wie</strong> <strong>Arbeiterfamilien</strong> <strong>im</strong> <strong>Wedding</strong> <strong>lebten</strong><br />

Ein Gespräch mit Joach<strong>im</strong> Wolfgang Dumkow,<br />

46. Der Enkel des ehemaligen Asyl-Koches ist examinierter<br />

Krankenpfleger, sowie Filmemacher und<br />

Schauspieler. Er lebt seit seiner Geburt <strong>im</strong> „Beamtenwohnhaus“<br />

der <strong>Wie</strong>senburg. Seit 13 Jahren arbeitet<br />

er an der Chronik des Obdachlosenasyls.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts wurde Obdachlosigkeit<br />

in Berlin zum gesellschaftlichen Problem. Neben<br />

städtischen und kirchlichen Asylen gab es private,<br />

die etwas mehr Komfort boten. So unterhielt der<br />

Berliner Bürgerverein ein Männerasyl in der Fröbelstraße.<br />

Als dieses zu klein wurde, brauchte man ein<br />

weiteres. Der Berliner Asylverein für Obdachlose<br />

<strong>im</strong> <strong>Wedding</strong> wurde gegründet und die <strong>Wie</strong>senburg<br />

nach weniger als einem Jahr Bauzeit 1896 eröffnet.<br />

Grund für dieses rasante Bautempo war ein Ult<strong>im</strong>atum<br />

des damalige Polizeichefs. Er hatte den Bau dieses<br />

„Ortes der Verfehlung“ verhindern wollen, um<br />

eine Verbrüderung der „assozialen und vagabundierenden<br />

Kräfte“ zu unterbinden. Es drohte ein Entzug<br />

des Grundstückes, sollte der Bau nicht binnen<br />

12 Monaten abgeschlossen sein. Die Architekten<br />

Toebelmann und Schnock, Schüler des Baumeisters<br />

Schinkel, setzten die Pläne mit mehr als 400 Handwerkern<br />

auf 6.684 qm bebauter Fläche inklusive<br />

6.600 qm funktionaler Kellergewölbe um. Mit ihrer<br />

Kapazität für 700 Männer war die <strong>Wie</strong>senburg<br />

mit ihren ausgeklügelten Hygieneinstrumentarien<br />

wie 60 beheizbaren Duschen, 40 Desinfektionsbadewannen,<br />

einem Autoklaven (Überdruckreiniger),<br />

Wäscherei und Küche ein hochmodernes, funktionelles<br />

Asyl. Die Betten mit metallenen Rosten stellten<br />

aus hygienischer Sicht einen großen Fortschritt<br />

gegenüber den bis dato verwendeten Holzkonstruktionen<br />

in den „Läusepennen“ dar. Es gab um die 30<br />

Festangestellte in Hausmeisterei, Küche, Wäscherei<br />

und Werkstätten. Asylhausknechte waren „Allrounder“,<br />

die unterschiedlichste Aufgaben übernahmen.<br />

Finanziert wurden Bau und Betrieb der <strong>Wie</strong>senburg<br />

durch ein Konglomerat Berliner Bürgerlicher um<br />

den jüdischen Damenmantelfabrikanten und Sozialisten<br />

Paul Singer, Kurator des Asyls, den Gehe<strong>im</strong>rat<br />

Prof. Dr. Rudolf Virchow, Hygienebeauftragter und<br />

den Bankier Gustav Tölde, Vorstand und Verwaltungsrat.<br />

Speisen waren oft Spenden z.B. von der<br />

Molkerei Karl Bolle.<br />

Obdachlose, die in der <strong>Wie</strong>senburg Asyl suchten,<br />

waren von der Meldepflicht befreit. Pflichtangaben<br />

waren nur, woher man kam und welchen Beruf<br />

man hatte. Niemand durfte öfter als 4x <strong>im</strong> Monat<br />

hier nächtigen. Um 18 Uhr öffnete die <strong>Wie</strong>senburg:<br />

Zuerst wurde der „Asylist“ in „Augenschein“ genommen.<br />

Falls nötig, wurde parasitär befallene<br />

Kleidung gewaschen, ihr Träger bekam ein Desinfektionsbad.<br />

Anschließend gab es Abendbrot: eine<br />

Reis- oder Mehlsuppe und 1/7 Laib Brot. Nachtruhe<br />

war um 22 Uhr. Rauchen, Alkohol und „Lärmen“<br />

waren absolut verboten. Nach einem „Napf<br />

Milchkaffe und einer Schrippe“ musste das Asyl um<br />

6 Uhr morgens verlassen werden.<br />

Joach<strong>im</strong> Dumkow: „Beten musstest Du nicht, Du<br />

musstest kein Parteibuch haben, hier warst Du frei.<br />

Daher war die <strong>Wie</strong>senburg so beliebt bei Vagabunden,<br />

Obdachlosen, Streunern, Wanderarbeitern,<br />

Erntehelfern und Dienstmädchen.“ Und bis 1910<br />

hatte die Berliner Polizei kein Zutrittsrecht. 1907<br />

wurde das Asyl um 400 Schlafplätze für Frauen erweitert.<br />

1910 starb Paul Singer. Damit versiegte eine<br />

wichtige Geldquelle und läutete den allmählichen<br />

Verfall ein. Auch aufgrund der neuen Steuerpflicht<br />

wurde von nun an eine Gebühr von 10 Pfennig pro<br />

Nacht und Gast erhoben.<br />

Als <strong>im</strong> ersten Weltkrieg Soldaten oft verletzt von<br />

der Front he<strong>im</strong>kehrten, hatte das Asyl besonders<br />

hohen Zulauf und verzeichnete <strong>im</strong> Jahre 1915 einen<br />

Rekord mit 256.680 Übernachtungen. In den 20er<br />

Jahren besuchten viele Literaten die <strong>Wie</strong>senburg,<br />

zumeist für Milieustudien: Rosa Luxemburg, Hans<br />

Fallada, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich<br />

Kästner, Heinrich Zille, ... Einige ihrer Geschichten<br />

spielen hier. 1931 dreht Fritz Lang den Film „M -<br />

Eine Stadt sucht einen Mörder“ auf dem Gelände.<br />

Von dem Geld, das man dafür erhielt, wurden die<br />

letzten Investitionen getätigt. Seit den1920er Jahren<br />

bis 1933 nutzte die jüdischen Gemeinde die <strong>Wie</strong>senburg<br />

als He<strong>im</strong>. 1933 schlossen die Nazis das Asyls<br />

und missbrauchten es als Fahnendruckerei des NS-<br />

Reg<strong>im</strong>es. Insgesamt nächtigten bis zu diesem Jahre<br />

über 2,4 Millionen Menschen in der <strong>Wie</strong>senburg.<br />

1944/45 wurde die <strong>Wie</strong>senburg durch Bombenangriffe<br />

weitgehend zerstört.<br />

Das Gebäude wurde nach dem Krieg „enttrümmert“<br />

und lange als Notquartier von Leuten, die<br />

keine eigene Bleibe besaßen, genutzt. Noch heute<br />

finden sich bauliche Spuren einer Zwischennutzung,<br />

z.B. eingezogene Wände, alte Öfen, Hängevorrichtungen<br />

für Vorhänge u.v.m. Daneben diente<br />

die <strong>Wie</strong>senburg oft als Kulisse für Film- und Fernsehproduktionen,<br />

so z.B. der Verfilmung von Falladas<br />

Buch „Ein Mann will nach oben“ (1978), bei<br />

Schlöndorffs „Blechtrommel“( 1979) oder Fassbinders<br />

„Lili Marleen“ (1981).<br />

Seit vielen Jahren versucht Joach<strong>im</strong> Dumkow, die<br />

<strong>Wie</strong>senburg in ihren Originalzustand zurückzuführen.<br />

„Das ist mühevolle Kleinarbeit, manchmal<br />

komme ich mir vor, als räumte ich den Dreck von<br />

einer Seite auf die andere.“<br />

Heute ist die <strong>Wie</strong>senburg inspirierender Ort für<br />

Künstler, Musiker und Handwerker: Maler, Tischler,<br />

Metallarbeiter agieren hier. Es gibt ein Tonstudio,<br />

mehrere Proberäume für Bands und eine mit<br />

<strong>Quartier</strong>smanagement-Mitteln modern ausgebaute<br />

Tanzhalle, in der unterschiedlicher Projekte stattfinden.<br />

In Ruinen und Gärten gibt es Workshops und<br />

naturnahe Projekte für Kinder. Sogar ein Imker arbeitet<br />

auf dem Gelände. „Der Honig ist jetzt schon<br />

sehr lecker und wird von Jahr zu Jahr besser!“<br />

Volker Kuntzsch<br />

Der sozialkritische Zeichner, Maler und Fotograf<br />

Heinrich Zille klagte die katastrophalen Wohnverhältnisse<br />

in den Berliner Arbeiterquartieren um<br />

1900 mit dem drastischen Vergleich an, dass eine<br />

schlechte Wohnung einen Menschen totschlagen<br />

kann. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky nannte<br />

die Wohnungen in den grauen Mietskasernen<br />

und Hinterhöfen „finstere Löcher“ und befand,<br />

dass in der <strong>Wedding</strong>er Ackerstraße geboren zu<br />

sein, ein „Fluch“ wäre. Und wie depr<strong>im</strong>iert Menschen<br />

in solchen engen Behausungen existieren,<br />

zeigt die Szene in dem Film „Kuhle Wampe“ von<br />

Bertold Brecht und Slátan Dudow (1932), in der<br />

sich ein junger Arbeitsloser verzweifelt aus dem<br />

Küchenfenster in den Hinterhof stürzt. Neben<br />

Zille haben sich die Berliner Künstler Otto Nagel,<br />

Hans Baluschek, Käthe Kollwitz und andere in<br />

eindringlich realistischen Bilddarstellungen über<br />

die Wohnsituation der <strong>Arbeiterfamilien</strong> kritisch<br />

und anklagend mit den Lebenssituationen und<br />

sozialen Zuständen auseinandergesetzt.<br />

Der <strong>Wedding</strong> erlebte als Berliner Arbeiterbezirk<br />

eine starke Dynamik in der Ansiedlung von Industrie<br />

und Wohnungsbau. Noch bis zur Hälfte<br />

des 19. Jahrhundert weitgehend Brachland, bauten<br />

nach der Eingemeindung des <strong>Wedding</strong> in die<br />

Stadt Berlin ab 1860 hier <strong>im</strong>mer mehr Unternehmen<br />

Fabriken auf. Die Konzerne der Chemie-,<br />

Maschinenbau- und Elektroindustrie Schering,<br />

Schwartzkopff, Deutsche Edison Gesellschaft<br />

(AEG) und Bergmann AG (Osram) boten in ihren<br />

Massenproduktionsstätten für Tausende Menschen<br />

Arbeitsplätze, allerdings unter den Bedingungen<br />

von Hungerlöhnen und inhumanen Arbeitsbedingungen.<br />

Die auf effektive Produktivität<br />

angelegten Fabrikbauten mit ihren langgestreckten<br />

Hallen gaben das Muster für die Anlage der<br />

Wohnquartiere in der Nähe der Arbeitsstätten:<br />

Stadtbaurat James Hobrecht baute ab 1862 nach<br />

einem Flächennutzungsplan ein Straßengeflecht<br />

wie mit dem Lineal gezogen. Ebenso monoton<br />

wurden Mietskasernen als Massenquartiere gebaut,<br />

um Wohnraum für die rasant anwachsende<br />

Bevölkerung zur Verfügung zu stellen: Zwischen<br />

1850 bis 1867 stieg die Bewohnerschaft des <strong>Wedding</strong><br />

von 3.000 auf 16.000 und erreichte die Hunderttausend<br />

<strong>im</strong> Jahr 1890.<br />

Preußisch schlicht und gerade, nur sparsam mit<br />

Stuck verzierte Häuserfassaden kennzeichnen<br />

die Reihen von vier- bis fünfstöckigen Wohnhäusern<br />

zur Straßenseite hin. Nach hinten sind meist<br />

drei bis vier quadratische Hinterhöfe angelegt,<br />

in deren Wohnungen kaum Tageslicht durch die<br />

schmalen Lichtschächte gelangt. In den kleinen<br />

Arbeiterwohnungen <strong>lebten</strong> zwischen acht und<br />

zwölf Menschen. Oft mussten die Familien auch<br />

noch Untermieter aufnehmen, für die als „Schlafburschen“<br />

ein Bett zur Verfügung gestellt wurde.<br />

Während die Männer am Fließband arbeiteten,<br />

verdienten sich viele Frauen durch He<strong>im</strong>arbeit<br />

als Näherinnen einen kleinen Zuverdienst und<br />

die Kinder trugen Zeitungen aus oder verrichteten<br />

andere Hilfsarbeiten in Kneipen oder anderswo.<br />

In den überbelegten Wohnungen grassierten<br />

Krankheiten durch schlechte Hygiene. Die Gemeinschaftstoiletten<br />

auf dem Treppenpodest oder<br />

<strong>im</strong> Hof wurden durchschnittlich von vierzig Menschen<br />

frequentiert. In den überbelegten Häusern<br />

stank es nach Körpergerüchen und Kochdunst, es<br />

war laut durch schreiende Kinder und das aus den<br />

Wohnungen dringende St<strong>im</strong>mengewirr. Feuchtigkeit,<br />

abbröckelnder Putz, Rattenplage, knappe<br />

Lebensmittel und andere Mängel vor allem nach<br />

dem Ersten Weltkrieg waren Ursachen für Kinderkrankheiten<br />

und hohe Kindersterblichkeit. In<br />

Klaus Kordons Roman „Die roten Matrosen oder<br />

ein vergessener Winter“ wird die <strong>Wedding</strong>er Situation<br />

dieser Zeit anschaulich beschrieben.<br />

Schon früh traten engagierte Bürger mit Initiativen<br />

gegen die sozialen Missstände auf, so der<br />

Berliner Asylverein von 1868, der die <strong>Wie</strong>senburg<br />

als Einrichtung für Obdachlose betrieb. Weiterhin<br />

entstanden Vereine der Sozialdemokraten<br />

und Kommunisten, die in Selbsthilfe die verschiedensten<br />

Angebote von der Gesundheitspflege bis<br />

zum Kulturleben organisierten. Damit ging auch<br />

eine Politisierung der Arbeiterschaft einher, die<br />

den Ruf des „Roten <strong>Wedding</strong>“ begründete.<br />

Ewald Schürmann<br />

Darstellung der beengten Wohnverhältnisse in<br />

einer typischen <strong>Wedding</strong>er Wohnung <strong>im</strong> Mitte<br />

Museum<br />

<strong>Wedding</strong>er Geschichte <strong>im</strong> Mitte-Museum<br />

Das Mitte-Museum in der Pankstraße gibt in einer<br />

Dauerausstellung eine anschauliche Vorstellung<br />

von den Wohnverhältnissen der <strong>Arbeiterfamilien</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Wedding</strong>. Detailgetreu sind Wohnelemente mit<br />

Z<strong>im</strong>mereinrichtungen rekonstruiert, wobei die Enge<br />

der Raumzuschnitte als bedrückende Lebensrealität<br />

auffällt. Das Museum greift seit 1989 <strong>im</strong>mer wieder<br />

historische Themen aus dem <strong>Wedding</strong> auf und<br />

präsentiert sie in Sonderausstellungen. Dazu gibt<br />

es auch entsprechend fundierte Publikationen. Ein<br />

Besuch ist für Geschichtsinteressierte ein Muss.<br />

Pankstraße 47, So – Mi 10 – 17, Do 10 – 20 Uhr<br />

www.mittemuseum.de


Die Kinder erziehen, sparsam und effizient den Haushalt führen, dem<br />

Partner den Rücken frei halten: Früher fielen diese Aufgaben nahezu ausschließlich<br />

in die Zuständigkeit der Frauen. Und in den Jahren des Nationalsozialismus<br />

wurden sie ideologisch überhöht als Dienst der Frauen am<br />

Vaterland und zum Erhalt der „arischen Rasse“. Zu diesem Zweck gab<br />

es hier <strong>im</strong> Kiez ab 1936 die Reichsmütterschule an der Ecke Ruheplatz-/<br />

Schulstraße. In Kursen erwarben Frauen praktisches Wissen zu Haushalt,<br />

Hygiene und Babypflege, wurden aber auch massiv ideologisch indoktriniert.<br />

Dieser <strong>im</strong> Krieg zerstörten Schule widmet sich noch bis August 2014<br />

eine sehr sehenswerte Ausstellung <strong>im</strong> Mitte Museum unter dem Titel „Frau<br />

Familie Volk Rasse“. Gezeigt werden Exponate, welche die Geschichte<br />

der Institution und den ideologischen Hintergrund beleuchten. Die Ausstellung<br />

findet <strong>im</strong> Rahmen des Berliner Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“<br />

statt. www.mittemuseum.de<br />

Alte Schriftzüge an Häuserwänden, in Hinterhöfen oder an Geschäften<br />

sind Spuren der Geschichte, die man be<strong>im</strong> Gang durch die Straßen des<br />

<strong>Quartier</strong>s entdecken kann. Sie sind beliebte Fotomotive. Diese an vielen<br />

Stellen erhaltenen historischen Spuren sind eine Attraktion Berlins, weil<br />

sie in anderen Städten kaum noch zu finden sind.<br />

QM<br />

Auf Friedhöfen lässt sich Geschichte ganz persönlich erfahren. Einfache<br />

Gräber bis aufwändig gestaltete Grabanlagen nennen Namen mit Berufen<br />

und Lebensdaten von Personen und Familien. Der „Urnenfriedhof Gerichtstraße“<br />

besteht seit 1828 und hieß ursprünglich „Ruheplatz“ (heute noch:<br />

Ruheplatzstraße). Ab 1912 wurde das Krematorium mit der Urnenhalle<br />

und dem Kolumbarium zur Aufstellung der Urnen errichtet. Die Anlage wird<br />

gegenwärtig zu einem Zentrum für Kunst und Kultur umgebaut. Auf dem<br />

Friedhof befinden sich Gräber und Urnen bekannter Persönlichkeiten:<br />

Der Begründer der Dresdner Bank Eugen Gutmann und seiner Familie (s.<br />

Foto), Schauspieler Rudolf Platte, Bildhauer Louis Tuaillon, Innenminister<br />

Hugo Preuss, Gründer des philharmonischen Chors Siegfried Ochs, Direktor<br />

des Burgtheaters Paul Schleuther, Mediziner August von Wassermann<br />

und anderen.<br />

Karte des heutigen <strong>Wedding</strong>er Stadtgebietes von 1857. Gut zu erkennen ist der bis heute gleich gebliebene Verlauf der Müllerstraße<br />

von Nordwest (oben links) nach Südost (Mitte unten). Viele große Straßen sind bereits angelegt. Wo heute der Humboldthain<br />

ist, wurde damals der Galgenberg eingetragen. Der „kleine <strong>Wedding</strong>“ liegt am heutigen <strong>Wedding</strong>platz. Die ganze<br />

Gegend ist spärlich bebaut und wird vor allem landwirtschaftlich genutzt. Eine sehr schöne Karte aus dem Jahr 1827 kann als<br />

Nachdruck übrigens <strong>im</strong> Mitte Museum erworben werden. Dort ist die landwirtschaftliche Prägung des Gebiets noch deutlicher.<br />

Der „Rote <strong>Wedding</strong>“ konzentrierte sich in der We<strong>im</strong>arer Republik in der<br />

Kösliner Straße. Die „rote Gasse“ war eine Hochburg der Kommunistischen<br />

Partei. Hier lag ein <strong>Quartier</strong> der Armut und des Protestes an den<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen, denn 2.500 Menschen drängten sich in<br />

24 Wohnhäusern. Ab dem 1. Mai 1929 spitzte sich ein Konflikt zwischen<br />

kommunistischen Demonstranten und der Polizei zu, die wegen eines Demonstrationsverbotes<br />

auf Arbeiter schoss. Es gab 19 tote Zivilisten und<br />

250 Verletzte. Der große Gedenkstein an der <strong>Wie</strong>sen-, Ecke Uferstraße<br />

erinnert an das Ereignis. Mehr über den sogenannten Blutmai kann man<br />

in der vom Mitte Museum 2009 <strong>im</strong> Rahmen einer Ausstellung herausgegebenen<br />

Publikation „Berliner Blutmai 1929. Eskalation der Gewalt oder<br />

Inszenierung eines Medienereignisses“ erfahren.<br />

Das Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte ist auch eine Frage des<br />

Verhältnisses zu den vorigen Generationen. Wenn wir über die Geschichte<br />

der Stadt sprechen, müssen wir uns auch fragen: Was passiert mit den<br />

älteren Mitmenschen <strong>im</strong> Kiez? <strong>Wie</strong> sprechen wir über sie? Nur als Ballast<br />

vergangener Tage, als Demografie-Falle? Die SeniorInnenvertretung Mitte<br />

wehrt sich gegen diese Wahrnehmung und Behandlung von Menschen<br />

<strong>im</strong> Alter. »Die Alten müssen aus der Unsichtbarkeit geholt werden.«, sagt<br />

die Vorsitzende Elke Schilling (Bild Mitte mit blauer Bluse) . »Unsichtbarkeit<br />

meint, dass die Belange von älteren Menschen öffentlich nicht wahrgenommen<br />

werden.« Dass die Stadt auch für ältere Menschen lebenswert<br />

ist und bleibt, ist dabei ein Hauptanliegen der SeniorInnenvertretung. Dabei<br />

geht es nicht um einen Blick in die Vergangenheit, sondern um die<br />

aktive Gestaltung der Zukunft. »Letztes Jahr wurde nur eine statt den angekündigten<br />

zwei Begegnungsstätten geschlossen, das war schon auch<br />

ein Erfolg. Wir haben gezeigt: Mit uns nicht. Da machen wir Rabatz.«, sagt<br />

Elke Schilling. Auf die Frage, was die Themen der näheren Zukunft sind,<br />

lautet die Antwort: »Steigende Mieten, Gentrifizierung und Altersarmut.«<br />

Alte Menschen sind von diesen Prozessen besonders betroffen. Sind<br />

sie aufgrund steigender Mieten und der noch unter Hartz IV liegenden<br />

Grundsicherung gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen, so werden sie<br />

ihrem Umfeld entrissen, in die soziale Isolation getrieben. Neue Kontakte<br />

zu knüpfen ist schwierig <strong>im</strong> Alter. Es zeigt sich: das Verhältnis zur eigenen<br />

Geschichte und zu den Älteren wird in der Gegenwart gestaltet. Das hat<br />

sich die SeniorInnenvertretung zur Aufgabe gemacht.<br />

www.seniorinnenvertretung-mitte.de<br />

...eine Chance durch Europa!<br />

Berlin ist für die Großstadtliteratur ein unerschöpflicher Themenraum. In der<br />

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt dabei der <strong>Wedding</strong> vor allem<br />

als Kiez der Arbeiter und kleinen Leute mit ihrem Situations- und Sprachwitz<br />

aber auch mit ihren existentiellen Problemen vor. Echtes <strong>Wedding</strong>er<br />

„Milieu“ erzählt Jonny Liesegang, der in der Pankstraße wohnte, in seinen<br />

Geschichten von „Det fiel mir uff“ und drei weiteren Büchern. Das Elend<br />

der Erwerbslosen beschreibt Otto Nagel, der in der Reinickendorfer Straße<br />

geboren wurde, in Szenen einer „Pennerkneipe“ in dem Roman „Die<br />

weiße Taube oder Das nasse Dreieck“. Theodor Plivier war das 13. Kind<br />

einer Arbeiterfamilie aus der <strong>Wie</strong>senstraße und schrieb als Schriftsteller<br />

eine große Romantrilogie über den Zweiten Weltkrieg. Der <strong>Wedding</strong> bot<br />

auch literarischen Stoff: So der authentische private Kampf gegen das<br />

Hitlerreg<strong>im</strong>e eines Ehepaares aus der Amsterdamer Straße, der von Hans<br />

Fallada <strong>im</strong> Roman „Jeder stirbt für sich allein“ gestaltet wurde. Ein anderes<br />

Beispiel ist eine kurze Episode in Erich Kästners Roman „Fabian“, die in<br />

der Müllerstraße spielt.<br />

gefördert aus Mitteln der Europäischen Union<br />

(Europäischer Fonds für regionale Entwicklung),<br />

der Bundesrepublik Deutschland und des Landes<br />

Berlin <strong>im</strong> Rahmen des Programms „Soziale Stadt“<br />

Impressum<br />

Herausgeber: L.I.S.T. GmbH - <strong>Quartier</strong>smanagement<br />

Reinickendorfer Straße | Pankstraße<br />

V.i.S.d.P: Johannes Hayner | Volker Kuntzsch<br />

Redaktion: georg+georg | Ewald Schürmann<br />

So sieht die <strong>Wie</strong>senburg heute aus. Aus den verfallenen Gebäuden<br />

wachsen Bäume.<br />

Illustrierend zum Artikel auf der Vorderseite hier ein historisches Foto aus<br />

der <strong>Wie</strong>senburg. Es zeigt den Schlafsaal 29 für Männer.<br />

Grafik und Satz: georg+georg | www.georg-georg.de<br />

<strong>Quartier</strong>smanagement, Prinz-Eugen-Str. 1, 13347 Berlin<br />

Tel: 030 74 74 63 47 | Fax: 030 74 74 63 49<br />

qm-pank@list-gmbh.de | www.pankstrasse-quartier.de<br />

www.facebook.com/QM.<strong>Pankstrasse</strong><br />

http://twitter.com/QM_<strong>Pankstrasse</strong><br />

Der Nettelbeckplatz wurde1884 eröffnet und nach<br />

dem Seefahrer Joach<strong>im</strong> Nettelbeck benannt, der<br />

durch autobiografischen Schriften Bekanntheit erlangte.<br />

Im 20. Jahrhundert wurde der Platz den Anforderungen<br />

des Autoverkehrs unterworfen. Bis in<br />

die späten 1980er Jahre war der Platz von einem<br />

Kreisverkehr umgeben, vom Verkehr umflutet. Erst<br />

eine Umgestaltung, die mit der Neueröffnung des<br />

Platzes 1987 endete, grenzte den Platz mit Neubauten<br />

ab. In der Mitte des Platzes befindet sich<br />

nun ein Brunnen der Künstlerin Ludmila Seefried-<br />

Matejkova. Zu sehen sind junge Menschen, die auf<br />

einem Vulkan ausgelassen zur Musik eines Piano-<br />

Spielers tanzen. Ein genauer Blick auf den linken<br />

Fuß des Pianisten, der sich plötzlich als Teufel erweist,<br />

gibt dem unbeschwerten Spiel eine gefährliche<br />

Note. Die nächste Umgestaltung des Platzes<br />

folgte in den Jahren 2005 und 2006 mit QM-Mitteln,<br />

als der Platz unter Beteiligung der Anwohner<br />

freundlicher gestaltet wurde – mit neuen Sitzgruppen<br />

und einer stärkeren Betonung der ganz eigenen<br />

dreieckigen Form, die einen Kreis in sich fasst.<br />

Die formatfüllende Karte auf dieser Seite entstammt einem Straube-Stadtplan Berlin aus dem Jahr 1893. Viel hat sich<br />

getan seit 1857 (kleiner Plan oben), aber man sieht <strong>im</strong>mer noch viele Straßen, die nur angelegt, aber noch nicht bebaut<br />

sind. Interessant sind auch abweichende Straßenführungen etwa am Nettelbeckplatz.<br />

Schilder und Tafeln an Hauseingängen erinnern an best<strong>im</strong>mten Orten <strong>im</strong><br />

<strong>Quartier</strong> an Menschen, die dort gelebt haben. Nachbarn und Passanten<br />

werden so direkt vor Ort mit Geschichte konfrontiert. Meist lassen sich<br />

über die kurzen Texte hinaus <strong>im</strong> Internet weitere Angaben finden. Erinnert<br />

wird an unterschiedliche Personen. So gibt es z.B. einen Stolperstein vor<br />

dem Haus Maxstraße 12, der an den Widerstandskämpfer gegen den<br />

Nationalsozialismus Willi Bolien erinnert. Die Gedenktafel <strong>im</strong> Bild wurde<br />

für den Clown Onkel Pelle, ein Berliner Original, auf dem Platz vor dem<br />

Rathaus <strong>Wedding</strong> errichtet.<br />

Die Straßen <strong>im</strong> <strong>Wedding</strong> hatten nach ihrer Erbauung zunächst nur einfache<br />

Ziffern. So die Straße Nr. 51, die 1889 in Prinz-Eugen-Straße umbenannt<br />

wurde. Der Magistrat von Berlin best<strong>im</strong>mte damals, dass auch<br />

weitere Straßen nach Ereignisse und Persönlichkeiten des Spanischen<br />

Erbfolgekrieges (1701 – 1714) benannt wurden, so nach den Schlachten<br />

bei Turin, Höchstedt, Oudenaarde und Malplaquet. Die Gerichtstraße ist<br />

seit 1827 bekannt, weil dort ein Hochgericht mit einer Hinrichtungsstätte<br />

mit einem Galgen befand. Auf der Müllerstraße gab es noch Anfang des<br />

19. Jahrhunderts 25 Müller. Wer sich für die Bedeutung der Straßennamen<br />

interessiert, kann ausführliche Erklärungen hier finden:<br />

www.luise-berlin.de/strassen

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