diagonal 2007-3 (pdf, 1Mb) - Psychiatrie Baselland PBL
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Früherkennung Externe Psychiatrische Dienste<br />
Fünf Jahre Spezialsprechstunde Bruderholz:<br />
wie sinnvoll ist die frühe Erkennung<br />
psychotischer Störungen?<br />
Seit fünf Jahren besteht in den Externen Psychiatrischen Diensten Bruderholz das Dienstleistungsangebot,<br />
beginnende Psychosen frühzeitig zu erfassen und bei Bedarf entsprechende<br />
Behandlungsmassnahmen in die Wege zu leiten. Für die ganze Schweiz einzigartig ist,<br />
dass bei der Früherkennung ein jugend- und ein erwachsenenpsychiatrischer Dienst in der Patientenabklärung<br />
zusammenarbeiten. Der Leiter der Spezialsprechstunde zieht eine eindrückliche Bilanz.<br />
Wer die Entwicklung der moderneren <strong>Psychiatrie</strong> in den<br />
letzten Jahren verfolgt hat, hat wohl festgestellt, dass die<br />
Früherkennung psychotischer Erkrankungen ein besonders<br />
attraktives Forschungsgebiet ist. Der zweijährlich stattfindende<br />
Internationale Früherkennungskongress ist mit weit über<br />
tausend Teilnehmern zu einem der bestbesuchten Kongresse<br />
im Bereich der <strong>Psychiatrie</strong> angewachsen und lässt in den wissenschaftlichen<br />
Poster-Sitzungen und den «abstract books»<br />
die weltweit grosse Zahl der entsprechenden Dienstleistungsangebote<br />
und Forschungsprojekte erkennen.<br />
Persönlich kenne ich kaum ein anderes Gebiet, auf dem<br />
mit so viel Enthusiasmus geforscht wird. Ich habe mich<br />
in den letzten Jahren oft gefragt, woher diese Begeisterung<br />
stammt. Es gibt natürlich die sachlichen Gründe: Dass<br />
die Früherkennung in der gesamten Medizin ein zentrales<br />
Thema geworden ist, zeigen die vielen sehr sinnvollen Präventionskampagnen<br />
(Brustkrebs, HIV etc.). Auch hat die<br />
massive Bettenreduktion in den psychiatrischen Kliniken<br />
seit den 70er-Jahren den Ausbau des ambulanten Versorgungssystems<br />
notwendig gemacht, um nicht nur Rückfälle<br />
psychischer Störungen zu verhindern, sondern eben<br />
auch um Erstmanifestationen psychischer Erkrankungen<br />
frühzeitig erkennen und eine stationäre Behandlung vermeiden<br />
zu können. Schliesslich ist gut dokumentiert, dass<br />
chronifizierte psychotische Störungen wie die Schizophrenien<br />
zu den teuersten Krankheiten überhaupt gehören und<br />
mit einer Frühbehandlung möglicherweise Kosten für das<br />
Gesundheitssystem reduziert werden könnten.<br />
Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Grund für das<br />
grosse Engagement in der Früherfassung von Psychosen:<br />
Viele der in diesem Gebiet tätigen Kliniker und Forscher<br />
haben jahrelang in Kliniken mit chronisch erkrankten Psychotikern<br />
gearbeitet. Wer diese Erfahrung teilt, wird bestätigen,<br />
dass die Leidensgeschichten dieser Patientinnen<br />
und Patienten und ihre oftmals erheblichen Defizitzustände<br />
«unter die Haut gehen». Die Arbeit mit Angehörigen<br />
verstärkt die Betroffenheit, und der grosse Einsatz für die<br />
frühzeitige Erfassung und Behandlung von Psychosen erscheint<br />
auf diesem Hintergrund als nichts anderes als ein<br />
Versuch, das enorme Leiden von den Patienten und ihren<br />
Familien abzuwenden oder es für sie zu erleichtern.<br />
Unterschiedliche Kriterien für die Früherkennung<br />
Kann es gelingen, Psychosen frühzeitig zu erkennen? Wer<br />
an einem der internationalen Früherkennungs-Kongresse<br />
teilnimmt, wird dazu neigen, die Frage zu bejahen. Wer<br />
jahrelang in diesem Bereich klinisch und wissenschaftlich<br />
gearbeitet und die entsprechende Literatur verfolgt hat,<br />
antwortet wohl eher zurückhaltender.<br />
Weshalb? Stellen Sie sich zwei Pyramiden vor, die beide<br />
Früherkennungssysteme repräsentieren: eine hohe,<br />
schmale, und eine etwas breitere. Im ersten System wollen<br />
Sie eine möglichst hohe «Trefferquote» erzielen, d.h.<br />
sie halten Ausschau nach Patienten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
ein Risiko haben, eine Psychose zu entwickeln.<br />
Sie suchen Patienten, die «harte» Kriterien erfüllen:<br />
gelegentlich Stimmen hören, wahnhaft anmutende Ideen<br />
haben oder bizarres Verhalten zeigen. In wissenschaftlichen<br />
und gesundheitspolitischen Diskussionen könnten Sie sich<br />
dann rühmen, äusserst exakte Kriterien für die Früherkennung<br />
zu besitzen. Wer sagt Ihnen aber, dass Patienten, die<br />
vielleicht eine ganze Reihe anderer, «weicherer» Kriterien<br />
erfüllen, nicht gleichermassen gefährdet sind? Schliesslich<br />
ist aus der Literatur bekannt, dass die ersten Anzeichen einer<br />
möglichen beginnenden Psychose oft nicht die «harten»<br />
Kriterien sind, sondern ganz andere, wie zum Beispiel der<br />
soziale Rückzug und der Leistungsabfall, insbesondere im<br />
Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Solche Patienten<br />
erfassen Sie nur, wenn Sie das zweite, breitere und offenere<br />
Früherkennungssystem wählen. Die Gefahr, die dieses System<br />
aber birgt, ist der Einschluss zahlreicher Patienten ohne<br />
eigentliches Psychose-Risiko. Diese Erfahrung blieb uns in<br />
der Spezialsprechstunde nicht erspart. Einerseits wollen wir<br />
keine falschen Prognosen machen, andererseits wollen wir<br />
vermeiden, dass Angehörige und Patienten uns erst dann<br />
kontaktieren können, wenn schon eine Psychose manifest<br />
ist. Kritiker werfen einem solchen System vor, für mehr<br />
Unruhe als Ruhe zu sorgen. Das Gegenteil ist aber der Fall:<br />
Patienten kommen in ein offenes Früherkennungssystem,<br />
weil sie unter grossem Leidensdruck stehen und Hilfe suchen.<br />
Oftmals gehen den Abklärungen lange Leidensgeschichten<br />
voraus, Ängste und Verunsicherung, Monate mit<br />
belastenden Situationen für die Familien. In aller Regel<br />
werden Menschen nur dann auf einen offenen, niederschwelligen<br />
Früherkennungsdienst aufmerksam, wenn sie<br />
sich schon mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob bei<br />
ihnen vielleicht «etwas Ähnliches» vorliege.<br />
Während das «geschlossenere» System den Vorteil bietet,<br />
kaum Patienten zu erfassen, bei denen gar kein Psychose-<br />
Risiko besteht, so liegt der Vorteil beim «offeneren», niederschwelligen<br />
Früherkennungs-System darin, dass es sich<br />
stark nach den Bedürfnissen der Patienten richtet.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie haben seit zwei Jahren ein Muttermal,<br />
das immer grösser wird. Sie gehen zum Hausarzt,<br />
der Ihnen mitteilt, dass Sie doch noch mit dem Besuch<br />
des Hautarztes zuwarten sollen, bis das Muttermal wirklich<br />
dick und hart geworden ist und möglichst noch heftig juckt<br />
und sich entzündet, weil der Hautarzt Sie erst dann empfangen<br />
kann, wenn ein «klarer Fall» vorliegt. Wünschten<br />
Sie das? Für sich und Ihre Angehörigen? Im Idealfall sollte<br />
doch eher eine frühe, rasche Zuweisung zum Hautarzt erfolgen,<br />
der Ihnen auf der Stelle kompetent mitteilen kann,<br />
ob nun etwas zu tun sei oder nicht – wobei meistens nichts<br />
zu tun und die Sache zu vergessen ist.<br />
Genauso ist es in unserer Spezialsprechstunde. Wir sehen<br />
viele Patienten, bei denen wir nicht nur ein ganzes Familiensystem<br />
beruhigen können, sondern auch dann frühzeitig<br />
weitertriagieren können, wenn z.B. eine depressive Störung<br />
oder eine Angststörung vorliegt. Denn auch bei diesen<br />
Störungen ist eine möglichst frühzeitige Behandlung<br />
auf jeden Fall sinnvoll und empfehlenswert. Dass unsere<br />
«Trefferquote», d.h. die Übergangsrate in eine tatsächliche<br />
Psychose, im Vergleich zur Literatur eher klein ist, bereitet<br />
uns indes keine Bauchschmerzen. Wir sind froh um jeden<br />
Patienten, bei dem wir kein Psychose-Risiko und keine Psychose<br />
feststellen können. Und wir können auch ohne eine<br />
hohe Übergangsrate ausgezeichnete Forschung betreiben.<br />
Sorgfältige diagnostische Abklärung unabdingbar<br />
Ein niederschwelliges, «offenes» Früherkennungsangebot<br />
verpflichtet natürlich auch: Psychose-ähnliche Symptome<br />
sind gar nicht so selten in der Allgemeinbevölkerung und<br />
führen längst nicht bei allen Patientinnen und Patienten<br />
zum Bedarf einer Behandlung. Insbesondere bei Jugendlichen<br />
können Psychose-ähnliche Symptome transitorisch,<br />
also vorübergehend, auftreten und Ausdruck eines normativen<br />
Prozesses sein. Solche Patienten würden in einem<br />
«geschlosseneren» Früherkennungssystem sehr rasch als<br />
psychotisch beurteilt und möglicherweise zu Unrecht behandelt<br />
werden. Das Angebot einer niederschwelligen<br />
Abklärung verpflichtet zur steten, äusserst sorgfältigen<br />
differenzial-diagnostischen Abwägung, zum Einbezug<br />
psychodynamischer und systemischer Aspekte und zur<br />
Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Besonderheiten.<br />
Ich denke, dass wir in den vergangenen fünf Jahren<br />
Bruderholz-Studie im professionellen Wissen um die diagnostische<br />
Einschätzung dieser möglichen psychotischen<br />
Frühphasen ein ganzes Stück vorangekommen sind. Der<br />
bedeutsamste Meilenstein im Laufe dieser fünf Jahre war<br />
der Beginn der Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen<br />
Dienst (KJPD) im Mai 2004. Bis heute<br />
ist die Bruderholz-Studie in der ganzen Schweiz die einzige<br />
ihrer Art, in der ein jugend- und ein erwachsenenpsychiatrischer<br />
Dienst in der Patientenabklärung zusammenarbeiten.<br />
Auch über die Landesgrenzen hinaus gibt es nur<br />
wenige solcher Kooperationen. Ich denke, dass mich diese<br />
Zusammenarbeit mit Jugendlichen bezüglich früher Erkennung<br />
kritischer, aber auch offener gemacht hat.<br />
Die Früherkennung von Psychosen ist ein Spezialgebiet<br />
innerhalb des medizinischen Spezialgebiets <strong>Psychiatrie</strong>.<br />
Während die Neuerkrankungsrate in der Schweiz jährlich<br />
schätzungsweise zwischen 700 und 2000 Patienten und Patientinnen<br />
beträgt und die Häufigkeit in der Gesamtbevölkerung<br />
bei etwa 1 Prozent (!) liegt, entfallen auf einen einzelnen<br />
Hausarzt jährlich nur sehr wenige solcher Patienten<br />
(1–2). Wir wissen aus eigenen Studien, die ich in insgesamt<br />
acht Ländern geleitet habe, dass Hausärzte in der Erkennung<br />
psychotischer Frühphasen Defizite aufweisen. Wenn<br />
es darum geht, die bekannten Kollateralschäden psychotischer<br />
Erkrankungen zu verhindern und möglichst früh<br />
abzuklären, ob eine Psychose vorliegt, so kann ein spezialisiertes<br />
Früherkennungsangebot nicht als sekundärmedizinische<br />
Versorgung, sondern nur als Dienstleistungsangebot<br />
mit Primärversorgungscharakter verstanden werden. Eine<br />
patientengerechte Früherkennung von Psychosen setzt regelmässigen<br />
Kontakt mit solchen Patienten und Patientinnen<br />
und mit entsprechenden Fragestellungen voraus. Nur<br />
dann ist sie sinnvoll, für die Patienten und Patientinnen,<br />
ihre Familien und für das Gesundheitswesen. Über 500-<br />
mal wurde die Spezialsprechstunde der EPD Bruderholz<br />
seit ihrem Bestehen kontaktiert. Über 350 Patienten und<br />
Patientinnen wurden abgeklärt und 200 Patienten und Patientinnen<br />
in eine Verlaufsstudie aufgenommen. ■<br />
Dr. med. Andor Simon,<br />
Oberarzt Externe Psychiatrische Dienste Bruderholz<br />
Das Forschungsteam v.l.n.r.:<br />
Oben: Andor Simon, Kathrin Stöcklin, Binia Roth<br />
12 Unten: Kerstin Gruber, Solange Zmilacher, Michelle Buergisser<br />
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