Bildung macht reich - inpact-rlp.de
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Im Dickicht von Curriculum und Institution<br />
Franz Hamburger<br />
sagt, dass die ausländischen Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Lernfortschritt <strong>de</strong>r Klasse<br />
beeinträchtigen. Nun ist <strong>de</strong>r Lernprozess einer Klasse ein komplexes<br />
Geschehen und lässt sich nicht einfach untersuchen. Nimmt<br />
man aber die Aufmerksamkeit in einer Klasse, die eine zentrale<br />
Voraussetzung für <strong>de</strong>n Lernprozess darstellt, als „Zielvariable“ und<br />
untersucht, wie sich die Zusammensetzung <strong>de</strong>r Klasse auf diese<br />
Variable auswirkt (bzw. vorsichtiger: welches Verhältnis zwischen<br />
diesen bei<strong>de</strong>n Variablen besteht), dann zeigt sich eine Relation, die<br />
das genaue Gegenteil <strong>de</strong>s Stereotyps zum Ausdruck bringt. Paul<br />
Walter hat in seiner Studie über <strong>de</strong>n „interkulturellen Unterricht“<br />
diesen Zusammenhang aufge<strong>de</strong>ckt.<br />
Und ein an<strong>de</strong>res Ergebnis aus dieser Studie soll erwähnt wer<strong>de</strong>n.<br />
Paul Walter hat die Bereitschaft von <strong>de</strong>utschen, marokkanischen,<br />
türkischen (und „sonstigen“) Kin<strong>de</strong>rn getestet, aggressive<br />
Strebungen gegen sich selbst bzw. nach außen zu richten. Dabei<br />
hat sich gezeigt, dass sich bei <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Schülern aggressive<br />
Impulse eher nach außen als gegen sich selbst richten, während es<br />
sich bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren und beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich bei <strong>de</strong>n türkischen<br />
Schülern umgekehrt verhält. In <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>r Lehrer/innen<br />
sind dagegen die <strong>de</strong>utschen Schüler wesentlich weniger auffällig<br />
als die türkischen. Nur bei <strong>de</strong>n marokkanischen und <strong>de</strong>n „sonstigen“<br />
Schülern stimmen Lehrerurteil und Testergebnis überein, während<br />
bei <strong>de</strong>n türkischen Schülern Lehrerurteil und Testergebnis<br />
beson<strong>de</strong>rs weit auseinan<strong>de</strong>r gehen. Die in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit tagtäglich<br />
erzeugte und ständig wie<strong>de</strong>rholte Behauptung, das „Auslän<strong>de</strong>rproblem“<br />
(dieser Begriff beinhaltet schon die ganze<br />
Verkehrtheit einer Zuschreibung) sei ein „Türkenproblem“ und die<br />
verbreitete Lehrerzuschreibung von Schul- und Unterrichtsproblemen<br />
hinterlassen tiefe Spuren und behaupten sich gegen die<br />
Realität auf bemerkenswerte Weise.<br />
Man muss an dieser Stelle auch festhalten, dass viele Lehrkräfte<br />
eine differenziertere Wahrnehmung entwickelt haben. Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />
aber wäre, dass die Wahrnehmung im Unterricht und im<br />
<strong>Bildung</strong>ssystem insgesamt in einer Weise entkategorisiert wür<strong>de</strong>,<br />
dass Individuen wahrgenommen und kollektivieren<strong>de</strong> Zuschreibungen<br />
vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Vorurteile entstehen nämlich nicht<br />
durch ihren Inhalt, über <strong>de</strong>n man lange streiten kann, son<strong>de</strong>rn durch<br />
ihre Form <strong>de</strong>r entindividualisieren<strong>de</strong>n und i<strong>de</strong>ntifizieren<strong>de</strong>n Verallgemeinerung.<br />
Aber auch die stereotypisieren<strong>de</strong> Form <strong>macht</strong> ein<br />
Urteil noch nicht zu einem Vorurteil, son<strong>de</strong>rn es bedarf zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Funktion für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Vorurteile braucht, sei es um seine Angst zu<br />
bändigen, seine ungerechten Praktiken zu legitimieren o<strong>de</strong>r seinen<br />
aggressiven Impulsen eine Richtung zu geben.<br />
Die Untersuchung von Walter hat über die Einzelergebnisse hinaus<br />
ein interessantes Gesamtergebnis: Das allgemeine Unterrichtskonzept<br />
<strong>de</strong>r Lehrkräfte ist auch entschei<strong>de</strong>nd für <strong>de</strong>n Lernforschritt<br />
<strong>de</strong>r Migrantenkin<strong>de</strong>r. Wenn Lehrer/innen nicht die Verschie<strong>de</strong>nheit,<br />
son<strong>de</strong>rn die Gleichheit aller Schüler/innen in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stellen,<br />
wenn in <strong>de</strong>r Klasse mehr Mädchen und ein größerer Anteil von<br />
Migranten (30-60%) sind, wenn die soziometrischen Beziehungen<br />
„kulturübergreifend“ verlaufen, wenn das Unterrichtskonzept auf<br />
Abwechslungen Wert legt und verschie<strong>de</strong>ne Unterrichtsmaterialen<br />
bereit hält, dann fin<strong>de</strong>t man erfolg<strong>reich</strong>e Klassen mit hoher Aufmerksamkeit.<br />
Die Grundlage für guten Unterricht bil<strong>de</strong>t eine Lehrerorientierung,<br />
die an alle Schüler hohe Erwartungen richtet, auf<br />
Gleichheit und Integration achtet. Je mehr Gleichheit tatsächlich<br />
besteht, <strong>de</strong>sto mehr Differenz kann man sich leisten – diese Schlussfolgerung<br />
wür<strong>de</strong> ich daraus ziehen.<br />
Kind – Familie – Kita – Schule<br />
Aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r sind die Übergänge<br />
zwischen <strong>de</strong>n Sozialisationsinstanzen<br />
Familie, Vorschulische Einrichtung und Schule<br />
lebensgeschichtlich be<strong>de</strong>utsam und die Art<br />
ihrer Erfahrung wirkt sich auf die Bewältigung<br />
<strong>de</strong>r institutionenspezifischen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
aus. Gleichzeitig soll je<strong>de</strong> Institution<br />
auf die Beson<strong>de</strong>rheit ihrer jeweiligen<br />
sozialisatorischen Logik achten und sich <strong>de</strong>utlich,<br />
d.h. für das Kind erkennbar, von <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren Institutionen absetzen. Genau dies<br />
ist für die De-Zentrierung <strong>de</strong>s beim Kind entstehen<strong>de</strong>n<br />
Weltbil<strong>de</strong>s und für das Leben in<br />
einer mo<strong>de</strong>rnen Welt wichtig. Die beteiligten<br />
Personen sollen sich <strong>de</strong>shalb in ihrer Verschie<strong>de</strong>nheit<br />
anerkennen und gleichzeitig –<br />
kindbezogen – kooperieren. Kooperation bewegt<br />
sich dabei zwischen familialistischer<br />
Distanzlosigkeit und institutionalistischer<br />
Unpersönlichkeit.<br />
Bei dieser Kooperation kommt es darauf an,<br />
die an<strong>de</strong>ren Personen in ihrer Unterschiedlichkeit<br />
wahrzunehmen und sie durch Zuschreibungsverzicht<br />
zu individualisieren, <strong>de</strong>n<br />
Modus <strong>de</strong>r sachlichen Information zu pflegen,<br />
die in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Praxis<br />
immer schon entstan<strong>de</strong>nen und immer wie<strong>de</strong>r<br />
verstärkten Schwellen zu berücksichtigen und<br />
sich Offenheit zu bewahren. Anstatt beispielsweise<br />
in einen interkulturellen Aktivismus zu<br />
verfallen, ist es wichtig, dass Schule und ihre<br />
Lehrer/innen allen Eltern gegenüber Anerkennung<br />
und eine akzeptieren<strong>de</strong> Haltung zum<br />
Ausdruck zu bringen. Erst wenn die Prinzipien<br />
<strong>de</strong>r Gleichheit und Gleichberechtigung<br />
wirksam zur Geltung kommen, können Differenzen<br />
kultiviert wer<strong>de</strong>n. Im an<strong>de</strong>ren Fall<br />
stellt sich grundsätzlich die Gefahr ein, dass<br />
die Betonung von Differenz die vorhan<strong>de</strong>ne<br />
Ungleichheit verstärkt. Zur uneingeschränkten<br />
Geltung <strong>de</strong>r Gleichheitsprinzipien gehört<br />
es aber, alle Personen nach <strong>de</strong>nselben Kriterien<br />
wahrzunehmen; dies schließt ein, auch<br />
ihre Unterschie<strong>de</strong> zu erkennen und zu berücksichtigen<br />
wie zum Beispiel in Bezug auf<br />
Ein- und Zweisprachigkeit o<strong>de</strong>r auf unterschiedlichen<br />
Rechts- und Bürgerstatus usw.<br />
Die Anerkennung <strong>de</strong>r Differenz setzt die Geltung<br />
<strong>de</strong>s Gleichheitsprinzips voraus. Dies be<strong>de</strong>utet,<br />
dass Personen mit ungleichen Ausgangsbedingungen<br />
für ihre spezifische<br />
<strong>Bildung</strong>slaufbahn auch ungleich behan<strong>de</strong>lt<br />
wer<strong>de</strong>n können bzw. ihnen beson<strong>de</strong>re För<strong>de</strong>rung<br />
zuteil wer<strong>de</strong>n soll. Diese För<strong>de</strong>rung<br />
wird nicht mit <strong>de</strong>m Migranten- o<strong>de</strong>r einem<br />
an<strong>de</strong>ren Status zu begrün<strong>de</strong>n sein, son<strong>de</strong>rn<br />
mit <strong>de</strong>m Ausmaß <strong>de</strong>r tatsächlichen Benachteiligung.<br />
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