Bildung macht reich - inpact-rlp.de
Bildung macht reich - inpact-rlp.de
Bildung macht reich - inpact-rlp.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Alles Pisa?<br />
Ursula Neumann<br />
3.2 Sprachliche Voraussetzungen<br />
Neuere Untersuchungen zur Sprachvitalität in europäischen Staaten<br />
haben nachgewiesen, dass die Familiensprachen <strong>de</strong>r Zugewan<strong>de</strong>rten<br />
auch 40 Jahre nach Beginn <strong>de</strong>r Gastarbeitereinwan<strong>de</strong>rung<br />
lebendig sind, wozu die Verbreitung technischer Kommunikationsmittel<br />
ebenso wie die erleichterten Möglichkeiten zur persönlichen<br />
Mobilität beitragen. In <strong>de</strong>n Großstädten wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel mehr<br />
als hun<strong>de</strong>rt verschie<strong>de</strong>ne Sprachen von Schulkin<strong>de</strong>rn in die Grundschulen<br />
mitgebracht, darunter auch „kleine Sprachen“ mit beson<strong>de</strong>rs<br />
hoher Sprachvitalität, wie z.B. Romanes in Hamburg (vgl. Fürstenau,<br />
Gogolin & Yagmur 2003). Somit ist langfristig damit zu rechnen,<br />
dass Kin<strong>de</strong>r mit Migrationshintergrund in Formen von Zweisprachigkeit<br />
aufwachsen und leben. Dies stellt jedoch <strong>de</strong>n Stellenwert und<br />
die Funktion <strong>de</strong>s Deutschen als allgemeine Verkehrssprache in<br />
Deutschland nicht in Frage – auch nicht nach Auffassung <strong>de</strong>r<br />
Migranteneltern, die in ihren Familien die Herkunftssprachen pflegen.<br />
Die Forschungslage zum Spracherwerb unter Zweisprachigkeitsbedingungen,<br />
die neuerlich in verschie<strong>de</strong>nen Gutachten und Metaanalysen<br />
zusammengefasst wor<strong>de</strong>n ist (Reich und Roth 2002; Meisel<br />
2003; Thomas und Collier 2002), belegt, dass zweisprachiges Aufwachsen<br />
als solches die Sprachaneignung nicht gefähr<strong>de</strong>t, wohl<br />
aber zu Unterschie<strong>de</strong>n im Sprachbesitz je nach Aneignungssituation<br />
führt. Kommt es im Laufe <strong>de</strong>r Schulzeit zu Gefährdungen <strong>de</strong>r Sprachaneignung,<br />
so sind die Ursachen dafür nicht in <strong>de</strong>r Zweisprachigkeit<br />
als solcher zu suchen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen<br />
sie zustan<strong>de</strong> kommt. Der Spracherwerb in <strong>de</strong>r Migration vollzieht<br />
sich in einer komplexen Konstellation, die bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn zu<br />
einem Sprachbesitz führt, <strong>de</strong>r sich sowohl von <strong>de</strong>n einsprachigen<br />
Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Herkunftslan<strong>de</strong>s als auch von <strong>de</strong>n einsprachig in<br />
Deutschland aufwachsen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ohne Migrationshintergrund<br />
unterschei<strong>de</strong>t. Ingrid Gogolin hat dies mit <strong>de</strong>m Satz „Ihre Muttersprache<br />
ist die Zweisprachigkeit“ gekennzeichnet, um <strong>de</strong>utlich zu<br />
machen, dass die Kin<strong>de</strong>r mehr als zwei Sprachen besitzen, nämlich<br />
eigentümliche sprachliche und kognitive Erfahrungen, aber auch<br />
beson<strong>de</strong>re Fähigkeiten wie das Übersetzen, die bei <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung<br />
sprachlichen Lernens im Elementarbe<strong>reich</strong> und in <strong>de</strong>r Schule berücksichtigt<br />
und genutzt wer<strong>de</strong>n sollten.<br />
In Deutschland liegen nur punktuelle und lokale Studien über die<br />
Wirkungen <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Zweisprachigkeit unter Migrationsbedingungen<br />
vor. Es wird daher häufig auf US-amerikanische Studien<br />
zurückgegriffen, in <strong>de</strong>nen verschie<strong>de</strong>ne Konstellationen zwischen<br />
Zweitsprache und Herkunftssprache im Hinblick auf die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>s sprachlichen und fachlichen Lernens <strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rerkin<strong>de</strong>r<br />
vergleichend untersucht wur<strong>de</strong>n. Betrachtet man allein, wie<br />
gut es gelingt, <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn die Zielsprache (hier meist Englisch in<br />
<strong>de</strong>r Konstellation Spanisch-Englisch) zu vermitteln, so schnei<strong>de</strong>n<br />
konsequent bilinguale Mo<strong>de</strong>lle mit einem kontinuierlichen Unterricht<br />
in bei<strong>de</strong>n Sprachen am besten ab. Allerdings ist dafür je nach<br />
Voraussetzungen <strong>de</strong>r Schülerinnen und Schüler ein Zeitrahmen von<br />
fünf bis zehn Jahren notwendig. Die Wirkung auf die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Zweisprachigkeit ist dann nachhaltiger, wenn <strong>de</strong>r Unterricht <strong>de</strong>n<br />
Spracherwerb an die Aneignung von Fachinhalten koppelt („Content<br />
Based Language Learning“), also kein reiner Sprachunterricht ist.<br />
Auch die Qualität <strong>de</strong>s Unterrichts in <strong>de</strong>r Herkunftssprache ist entschei<strong>de</strong>nd.<br />
Dies sollte uns für Deutschland<br />
zu <strong>de</strong>nken geben, wo wir meistens die Lehrkräfte<br />
dafür aus <strong>de</strong>m Ausland geholt und nur<br />
wenig fortgebil<strong>de</strong>t haben. Insbeson<strong>de</strong>re die<br />
Koordination <strong>de</strong>s Unterrichts mit <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>utscher<br />
Sprache wäre für seinen Erfolg nötig.<br />
Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse haben<br />
in jüngerer Zeit dazu geführt, dass in Deutschland<br />
bilinguale Grundschulen gegrün<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. In Wolfsburg, Köln, Frankfurt, Berlin<br />
und Hamburg lernen einsprachig <strong>de</strong>utsche<br />
und zweisprachige Kin<strong>de</strong>r mit Migrationshintergrund<br />
in einer Partnersprache und in<br />
Deutsch Lesen und Schreiben, natur- und<br />
sozialwissenschaftliche Inhalte o<strong>de</strong>r auch<br />
Mathematik. Der Vorteil solcher bilingualen<br />
Mo<strong>de</strong>lle liegt neben <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>s<br />
Deutscherwerbs und einem systematischen<br />
Wissen über die Strukturen dieser Sprache<br />
darin, dass die gesellschaftlich wichtige Ressource<br />
Mehrsprachigkeit ausgeschöpft und<br />
ausgebaut wird.<br />
In <strong>de</strong>n großstädtischen Normalsituationen mit<br />
Grundschulklassen, in <strong>de</strong>nen ein hoher Prozentsatz<br />
<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Sprachen als<br />
Deutsch in ihren Familien aufwachsen, es sich<br />
dabei aber um fünf und mehr verschie<strong>de</strong>ne<br />
han<strong>de</strong>lt, wären auch Konsequenzen zu ziehen,<br />
die die Herkunftssprachen in <strong>de</strong>n Erwerb<br />
<strong>de</strong>s Deutschen einbeziehen. Ansätze dazu<br />
gibt es in Deutschland noch wenige; Vorbil<strong>de</strong>r<br />
gibt es vor allem in <strong>de</strong>r Schweiz (Scha<strong>de</strong>r;<br />
QUIMS).<br />
Die besseren Erfolge <strong>de</strong>r Grundschule im Hinblick<br />
auf <strong>de</strong>n Umgang mit einer pluralen<br />
Schülerschaft können möglicherweise auch<br />
darauf hin<strong>de</strong>uten, dass die methodischen<br />
Settings <strong>de</strong>s Grundschulunterrichts geeigneter<br />
sind, auf die Diversität <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r einzugehen,<br />
als die in <strong>de</strong>r Sekundarstufe üblichen.<br />
Wenn die weiteren Auswertungen von IGLU<br />
diese Annahme bestätigen, müsste geprüft<br />
wer<strong>de</strong>n, welche Merkmale diese Metho<strong>de</strong>n<br />
aufweisen und welche Möglichkeiten für eine<br />
Implementierung in die Sekundarstufe gegeben<br />
sind.<br />
Der enge Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n mathematischen<br />
und naturwissenschaftlichen<br />
Leistungen und <strong>de</strong>r Lesekompetenz von Kin<strong>de</strong>rn<br />
mit Migrationshintergrund in <strong>de</strong>r Grundschule,<br />
<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Sekundarstufe noch zunimmt,<br />
verweist darauf, dass es offensichtlich<br />
einen Mangel in <strong>de</strong>r sprachlichen Vermittlung<br />
in diesen Unterrichtsfächern gibt.<br />
Wahrscheinlich wird <strong>de</strong>r sprachliche Anteil <strong>de</strong>r<br />
25