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Virtuelle<br />
Nächstenliebe<br />
Das „Internetgericht“ des Monats<br />
Foto: Fotolia.com © momius<br />
Wie der Religionsunterricht lehrt und einschlägige<br />
Online-Lexika behaupten, beschränkt<br />
sich das christlich-jüdische<br />
Konzept der Nächstenliebe nicht auf das Gefühl der<br />
Sympathie, bei dem es bei einer emotionalen Anwandlung<br />
bleibt, sondern fordert die Bereitschaft<br />
zu handeln, also anderen tatkräftig zu helfen. Sicherlich<br />
wäre es falsch, dabei moderne Überlegungen<br />
zur Berechnung der Quantität geübter Nächstenliebe<br />
anzustellen, etwa in dem Sinne, dass größerer<br />
körperlicher Einsatz mehr Barmherzigkeit erzeugt.<br />
Dennoch stellte sich die geneigte Surferin kürzlich<br />
beim Sandsackbefüllen an der Elbe die Frage, ob<br />
es zulässig sei, tätige Liebe zu den Mitmenschen<br />
auf virtuelle Dienste zu beschränken – so man denn<br />
Ambitionen in diese Richtungen hegt.<br />
Ist es eine Handlung, eine Spende für die Flutopfer<br />
der vergangenen Wochen via Onlinebanking über<br />
den Äther zu schicken? Durchaus, werden die meisten<br />
votieren; schließlich ist das gespendete Geld,<br />
so virtuell es sein mag, im analogen Schweiße des<br />
Angesichts geschöpft worden. Na, gut. Wie aber<br />
sieht es mit den fünf Sekunden Einsatz aus, die für<br />
den Eintrag der eigenen E-Mail-Adresse notwendig<br />
sind, um bei Avaaz die Online-Petition „Mode mit<br />
gutem Gewissen“ gegen die Ausbeutung der Arbeiterinnen<br />
in Bangladesch zu unterstützen? Schon<br />
schwieriger. Falsch ist es sicherlich nicht, Avaaz<br />
bündelt sinnvoll Unterstützung, aber … eine echte<br />
Tat? Da duckt der Cyborg sich hinter dem Bildschirm<br />
und denkt: „Egal!,Prediger und Fegefeuer sind<br />
gleichermaßen altertümlich.“ Ein kleiner Ausflug<br />
auf die Facebook-Startseite zeigt mir, Cyborg,<br />
schließlich, dass im Internet gar uferlos Nächstenliebe<br />
geübt wird. Es werden Stunden und Tage investiert,<br />
um all die Seiten zu pflegen, die mit Weisheiten<br />
zu Sein, Tun und Lassen, zum Miteinander und<br />
Ohneeinander das Leben der fernen, unbekannten<br />
Nächs ten tippkräftig bereichern. Und da steht von<br />
Shakespeare: „An sich ist nichts weder gut noch<br />
böse, das Denken macht es erst dazu.“ Aha. Als<br />
nächster Akt ist das „Teilen“ dieser Wahrheit somit<br />
unumgänglich, womöglich machen sich auch andere<br />
unnötige Gedanken. Noch ein „Gefällt mir“, und<br />
Liebe und Dankbarkeit durchströmen mich: virtuelle<br />
Nächstenliebe – wonderfully light.<br />
(ke)<br />
www.schneiderundsteffens.de