FORUM BACHAKADEMIE - Internationale Bachakademie Stuttgart
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F O R U M B A C H A K A D E M I E<br />
Sommer<br />
2012<br />
77
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Inhalt<br />
2 W I E K L I N G T D E R G L A U B E ?<br />
Das Musikfest <strong>Stuttgart</strong> 2012<br />
6 L I M A – B O G O T Á – S A O P A U L O – B U E N O S A I R E S –<br />
F R U T I L L A R – S A N T I A G O – C A R A C A S<br />
Tagebuchaufzeichnungen von unserer Südamerika-Tournee<br />
14 M U S I K S T A D T S T U T T G A R T – Z E I T F Ü R E N T D E C K U N G E N<br />
Reich an musikalischen Petitessen: Bad Cannstatt<br />
19 V O R G E S T E L L T<br />
Bach einmal anders, aber genaus so …<br />
20 V E R M I S C H T E S<br />
Pressestimmen Bachwoche / Zimmer frei? / Übersicht Akademiekonzerte 2012–2013<br />
Ein Titelfoto zum diesjährigen Musikfest-Thema GLAUBE…<br />
Hmmm… Die Idee mit dem QR-Code ist obercool aber gegessen.<br />
Fromm sind wir nicht. Kreuz ist bildlich genug in<br />
Bachs Musik. <strong>Stuttgart</strong>er Kirche? Ja, aber welche<br />
(und welcher Konfession)? Aber da war doch noch diese<br />
schöne Idee mit den Glockenmusiken! Und es gibt ja sogar<br />
den Glockensachverständigen der Württembergischen<br />
Landeskirche! Ein Anruf bei Jens Harnisch, ein paar Absprachen:<br />
wenige Tage später besteigen zwei Damen und<br />
zwei Herren den Turm von St. Elisabeth, um dort Bekanntschaft<br />
mit dem Fotomodel zu machen: Maria, die drittgrößte<br />
der sechs 2001 neu gegossenen Bronze-Glocken,<br />
1,4 Tonnen schwer und wundervoll tönend auf e¹ – natürlich<br />
nicht mittels Bogenstrichs oder Glockenspielschlägelchengeklöppels.<br />
Das tat sie vielmehr auf elektromechanischen<br />
Befehl mitten im Photoshooting, pünktlich um 12 für einige<br />
Minuten des Zuhaltens anwesender Ohren. Auch derer<br />
übrigens des Glockensachverständigen. Vielen Dank an<br />
den Mesner von St. Elisabeth, an Brigitte, an Birgit, ganz<br />
besonders an Jens Harnisch und natürlich an Maria<br />
(im Musikfest zu erleben im Glockenmusik-Ensemble am<br />
12.09. um 15 Uhr).<br />
I M P R E S S U M<br />
■ Gründer: Helmuth Rilling ■ Intendant: Christian Lorenz<br />
■ Redaktion: Holger Schneider<br />
■ Barbara Stroff (1), vgl. Einzelnachweise (2-5), Dieter Bernhardt/<br />
Sandra Marks/Jean-Pierre Ouellet/Sascha Rathey (6-13), Württem -<br />
bergische Landesbibliothek (16), Holger Schneider (alle anderen)<br />
■ Druck: Werner Böttler GrafikSatzBildDruck, Walddorfhäslach<br />
■ Auflage: 6.500<br />
■ Die nächste Ausgabe erscheint Ende der Sommerzeit 2012<br />
Herausgegeben von<br />
I N T E R N A T I O N A L E<br />
B A C H A K A D E M I E<br />
S T U T T G A R T
E D I T O R I A L<br />
Sie gilt als Grande Dame der Leipziger<br />
Konzertfotografie. Und sie hatte sie alle im<br />
Kasten: Dirigenten, Orchester, Ensembles,<br />
Festivals, gesellschaftliche Höhepunkte:<br />
Barbara Stroff setzte die ganz großen Gewandhaus-Highlights<br />
ebenso gekonnt ins Bild wie<br />
ein scheinbar weniger prominentes Ereignis,<br />
das im November 1987 von ihr festgehalten<br />
wurde. Niemand hat ahnen können, dass dieses<br />
Schwarzweiß-Foto aus dem <strong>Bachakademie</strong>-<br />
Archiv später noch eine ganz besondere Aufmerksamkeit<br />
auf sich ziehen könnte. Nun aber<br />
bietet sich fürwahr Anlass genug, Barbara<br />
Stroffs ziemlich spektakuläre Aufnahme vom<br />
Leipziger Dirigierkurs mit Helmuth Rilling<br />
wieder ins beste Blickfeld zu setzen. Der junge<br />
Mann, dem hier möglicherweise nahe gelegt<br />
wird, dem (nicht im Raum vorhandenen)<br />
Fagott mehr Aufmerksamkeit zu widmen,<br />
findet seit Jahren als einer der erfolgreichsten<br />
deutschen Dirigenten internationale Aner -<br />
kennung. Und er freut sich auf seine neue Arbeit<br />
in <strong>Stuttgart</strong>: Hans-Christoph Rademann,<br />
neuer Leiter der Inter nationalen <strong>Bachakademie</strong><br />
<strong>Stuttgart</strong> ab 1. Juni 2013.<br />
»Die diesjährige Mitgliederversammlung<br />
am 20. Mai in der Waldorfschule Uhlandshöhe<br />
wird allen Anwesenden sicherlich im Gedächtnis<br />
bleiben: Der bevorstehende Wechsel an der<br />
Spitze der <strong>Internationale</strong>n <strong>Bachakademie</strong> zu<br />
Hans-Christoph Rademann als neuem Künstlerischen<br />
Leiter markiert den Beginn einer neuen<br />
Ära, auf die wir alle gespannt sind. Helmuth<br />
Rilling, der von uns allen so verehrte Gründer<br />
der <strong>Bachakademie</strong>, nahm die Versammlung<br />
zum Anlass, die Mitglieder des Förderkreises –<br />
hier schloss er ausdrücklich auch die im Zusammenhang<br />
der Ereignisse um seine Nachfolge<br />
ausgetretenen ein – zu ermutigen, die <strong>Bachakademie</strong><br />
auch weiterhin zu unterstützen.«<br />
(Kirsten Baus im aktuellen Rundbrief an die<br />
Mitglieder des Förderkreises)<br />
Es waren bewegende Momente, als der<br />
einstige Schüler in seinen sehr persönlichen<br />
Vorstellungs-Worten auf den Meisterkurs 1987<br />
Bezug nahm und betonte, er werde seine ganze<br />
Kraft dafür einsetzen, das Lebenswerk von<br />
Helmuth Rilling in eine gute Zukunft zu führen.<br />
In der Antwort des Lehrers lag nichts<br />
Zurechtweisendes; sie entsprang Rillings unverwechselbar<br />
feiner Bescheidenheit: Es gehe<br />
weniger um sein eigenes Lebenswerk als um<br />
die Idee, der er gefolgt sei und die sich über<br />
alle Jahre als großer Erfolg erwiesen, die das<br />
Leben vieler Menschen in aller Welt bereichert<br />
habe. Mit den besten Wünschen für Hans-<br />
Christoph Rademann und den designierten<br />
Intendanten Gernot Rehrl, der sich zuvor für<br />
die herzliche Aufnahme bei Vorbesprechungen<br />
in der <strong>Bachakademie</strong> bedankt hatte (»So<br />
etwas findet man äußerst selten!«), übergab<br />
Helmuth Rilling an Christian Lorenz. Mit<br />
seiner zündenden Rede ließ dieser nicht den<br />
geringsten Zweifel daran, dass uns in Kürze<br />
ein aufregendes, wunderschönes Musikfest<br />
zum Thema GLAUBE erwartet.<br />
So mag schließlich dem <strong>Bachakademie</strong>-<br />
Fotografen ein persönlicher Zusatz erlaubt<br />
sein: 25 Jahre nach dem Leipziger Meisterkurs<br />
freue ich mich von ganzem Herzen auf das<br />
nächste gemein same Foto mit Helmuth Rilling<br />
und Hans-Christoph Rademann. Höchstwahrscheinlich<br />
packe ich aus diesem Anlass<br />
sogar meine alte Leipziger Spiegelreflex (EXA<br />
1c mit Lichtschacht) wieder mal aus…<br />
Einen wunderschönen Sommer<br />
wünscht Ihnen, uns allen<br />
Ihr Redaktör<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77 ■ ■ ■ 1
Foto: Steven Haberland<br />
Foto: Baisja Chanowski<br />
Christiane Karg<br />
Markus Eiche<br />
W I E K L I N G T D E R G L A U B E ?<br />
Das Musikfestuttgart <strong>Stuttgart</strong> 2012<br />
■ K A I H . M Ü L L E R<br />
Für Max Piccolomini ist die Sache klar –<br />
»alles wanket, wo der Glaube fehlt«.<br />
Wer nicht glaubt, der verliert den Halt.<br />
Und wo dieser schwindet, da ist das Ende<br />
nah. Glaube spielt in Schillers Wallenstein<br />
eine große Rolle, nicht nur weil der Kriegsheld<br />
selbst voll des Glaubens ist. Er glaubt an<br />
Gott, die Sterne und an sich. Und schon fast<br />
ironisch ist es, wenn er, der nicht gerade zimperliche<br />
Feldherr, spricht: »Krieg ist ewig<br />
zwischen List und Argwohn; nur zwischen<br />
Glauben und Vertrauen ist Friede«. Nicht nur<br />
in Schillers Trilogie ist der Glaube omnipräsent:<br />
Er ist ein zentrales Motiv in der abendländischen<br />
Kunst- und Kulturgeschichte. Die<br />
Notwendigkeit des Glaubens, seine Ambi -<br />
valenz, seine produktiven wie destruktiven<br />
Eigenschaften, aber auch sein ästhetisches<br />
Potential faszinieren durch die Epochen, und<br />
wenn sich nun das MUSIKFESTUTTGART<br />
dem Glaube widmet, so kann der Besucher<br />
einiges erwarten.<br />
■ ■ ■ 2<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
»Wie klingt, was wir glauben?« – das fragt das<br />
MUSIKFESTUTTGART und gibt in 64 Konzerten<br />
mögliche Antworten hierauf. Eine<br />
Konzertreihe über D I E Z E H N<br />
G E B O T E , das Grundgesetz des<br />
jüdischen wie christlichen Glaubens, führt als<br />
roter Faden durch das Festival – und das auf<br />
durchaus überraschenden Wegen. So korrespondiert<br />
das siebte Gebot »Du sollst nicht<br />
stehlen« mit einem Konzert des Landes -<br />
polizeiorchesters, wohingegen dem neunten<br />
Gebot »Du sollst nicht begehren deines<br />
nächsten Weib« mit einem Eifersuchts-<br />
Liederabend von Christiane Karg und Wolf -<br />
ram Rieger die Reverenz erwiesen wird. Die<br />
Reihenfolge der Gebote wird nicht eingehalten,<br />
immer wieder tauchen sie im Rahmen des<br />
Gesamtprogramms auf. Das zeigt unter anderem<br />
der Festivalauftakt mit Helmuth Rilling:<br />
Das zweite Gebot »Du sollst den Namen des<br />
Herrn nicht missbrauchen« wird mit Felix<br />
Mendelssohn Bartholdys Paulus verknüpft.
Hier wird geschildert, wie Stephanus vom<br />
Vorwurf der Blasphemie getroffen wird.<br />
Wo Glaube ist, da ist auch Ideologie – so<br />
würde wohl Adorno murren. Und in der Tat:<br />
Glaube und Ideologie sind oft nur durch<br />
einen schmalen Grat getrennt. Das zeigen<br />
zwei T H E M E N T A G E , die in die Dekalogie<br />
integriert sind und die sich mit den politischen<br />
Folgen religiöser Verfolgung<br />
in Europa auseinandersetzen. Insbesondere<br />
die konzertante Aufführung<br />
von Viktor Ullmanns Kammeroper Der Kaiser<br />
von Atlantis oder die Tod-Verweigerung<br />
zeigt vor dem Hintergrund des fünften Gebots<br />
»Du sollst nicht töten« die ultimative<br />
Konsequenz religiös-politischer Ausgrenzung.<br />
Ullmann war jüdischer Komponist und<br />
wurde von den Nazis ins Konzentrationslager<br />
verschleppt. Seine Oper entstand in Theresienstadt,<br />
wohin Ullmann 1942 deportiert<br />
worden war. Die letzte der auf Häftlingsformularen<br />
niedergeschriebenen Partiturseiten<br />
ist auf den 8. November 1943 datiert.<br />
Knapp ein Jahr später wurde Ullmann nach<br />
Auschwitz gebracht und dort ermordet. Sein<br />
Librettist Peter Kien, ebenfalls ein Inhaftierter,<br />
zeichnet in Der Kaiser von Atlantis das<br />
Bild eines Kaisers, der Tyrann und Verfolger<br />
ist. Er befiehlt dem Tod, seine Feinde heimzusuchen,<br />
doch dieser weigert sich. Niemand<br />
stirbt mehr, das Land versinkt im Chaos, bis<br />
der Tod einen Deal vorschlägt: Er gehe erst<br />
dann wieder von Haus zu Haus, wenn der<br />
Kaiser sein erstes Opfer werde.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Cuncordu e Tenore de Orosei<br />
Der zweite Thementag des Festivals<br />
wendet sich dem Motiv der christlichen<br />
D I A S P O R A zu: der<br />
Minderheitensituation von Gläubigen in<br />
einem andersgläubigen Umfeld. Hier dient die<br />
katholische Kirchenmusik in zwei Kontexten<br />
als Beispiel. Niccolò Jommelli komponierte<br />
für die katholische Hofkapel le Carl Eugens im<br />
protestantisch geprägten Württemberg, wohingegen<br />
Thomas Tallis und William Byrd<br />
katholische Kirchenmusik im anglikanischen<br />
England schrieben. Auch ein M U S I K -<br />
F E S T C A F É im Gemeindesaal der Liebfrauenkirche<br />
Bad Cannstatt ist der Diaspora<br />
gewidmet.<br />
Die Auseinandersetzung mit<br />
B A C H S G L A U B E N S -<br />
K A N T A T E N in den legendären<br />
Gesprächskonzerten mit Helmuth Rilling<br />
sowie die Themenreihe B A C H<br />
A U F T A S T E N mit den<br />
Clavieristen Andreas Staier, Alexander<br />
Melnikov, Angela Hewitt, Kristian Bezuidenhout<br />
und Léon Berben verweisen auf Johann<br />
Quatour Diotima<br />
Foto: Agentur<br />
■ ■ ■<br />
3
Foto: Sony Classical<br />
Foto: Orez Jahoda<br />
Foto: Thomas Radlwimmer<br />
Foto: Marco Borggreve<br />
Martin Stadtfeld<br />
Pavel Šporcl<br />
Michael Riessler<br />
Kristian Bezuidenhout<br />
Sebastian Bach als Mittelpunkt, der selbstredend<br />
in diesem Musikfest mit zahlreichen<br />
Werken vertreten ist. Der Chefdramaturg und<br />
Wissenschaftliche Leiter der <strong>Bachakademie</strong>,<br />
Michael Gassmann, sagt glatt: »Mehr Bach<br />
war nie!« Kaum ein anderes Œuvre war in<br />
solchem Maße Gegenstand aufführungs -<br />
praktischer Diskussionen wie die Musik des<br />
Thomaskantors. Nicht umsonst spricht der<br />
Musikwissenschaftler Martin Elste im<br />
»Bach-Handbuch« von einer leidenschaftlichen<br />
Suche nach dem »wahren Bach«, die<br />
»mit Ausnahme des ersten Jahrhunderts nach<br />
Bachs Tod« in jeder Zeit in Form von gegensätzlichen<br />
Interpretations-Stilen zu finden ist.<br />
Insbesondere in den 1960er Jahren wurden<br />
die Diskussionen um die wahre Art, Bach auf<br />
Tasteninstrumenten zu spielen, hitzig geführt.<br />
All dies bezeugt die Universalität seiner<br />
Musik. Sie funktioniert schlicht auf jedem<br />
Instrument.<br />
Mozarts Diktum, die Orgel sei »der König«<br />
der Instrumente, ist kaum die halbe Wahrheit.<br />
Das scheinbar so hoheitliche und zugleich<br />
sakrale Instrument hat in Wahrheit<br />
eine zweite Karriere im Zwielicht der Jahrmärkte,<br />
Salons und Kinopaläste hingelegt.<br />
Darauf verweist die Reihe<br />
S A K R A L - P R O F A N<br />
mit Konzerten für Drehorgel,<br />
Harmonium, Digital- und Kinoorgel.<br />
Die G L O C K E N K O N Z E R T E<br />
entführen zu insgesamt fünfzehn geistlichen<br />
Orten – Kirchtürmen, um genau zu sein.<br />
Sie wanken nicht (im Sinne Piccolominis),<br />
sondern stehen fest und künden vom<br />
Glauben. Ihre Geläute werden fachkundig<br />
vorgestellt und erklingen: montags bis<br />
freitags um 15 Uhr.<br />
Das renommierte Cleveland Orchestra, eines<br />
der amerikanischen »Big Five«, widmet sich<br />
in seinem einzigen Deutschland-Gastspiel<br />
einem anderen Aspekt: dem Glaube an das<br />
■ ■ ■ 4<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
Foto: Peter Ross<br />
Cameron Carpenter<br />
Vaterland, der sich vor allem im Zuge der<br />
Nation-Building-Prozesse des 19. Jahrhunderts<br />
herausbildete und der auch in der Kunst<br />
Ausdruck fand. So zeigt das Cleveland<br />
Orchestra mit seinem Konzert die Verherrlichung<br />
einer ganzen Nation – hier: Böhmen –,<br />
der Bedrˇich Smetana mit seiner Sammlung<br />
von sechs sinfonischen Dichtungen – Mein<br />
Vaterland (Má Vlast) – ein populäres Denkmal<br />
setzte.<br />
»Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht«,<br />
seufzt Schillers Wallenstein, und<br />
übertragen heißt das auch: wo Glaube ist,<br />
da ist auch Sünde. Sie ist menschlich, allzumenschlich,<br />
wie es Friedrich Nietzsche bangen<br />
würde. Musical-Star Ute Lemper interpretiert<br />
im Theaterhaus Bertolt Brechts und<br />
Kurt Weills Klassiker Die sieben Todsünden.<br />
Eingerahmt wird dieses ursprünglich als Ballett<br />
mit Musik konzipierte Werk von mal<br />
sündigen, mal frivolen und mal leidenschaftlichen<br />
Chansons von Astor Piazzolla, Edith<br />
Piaf und Jacques Brel. Wie als Kommentar<br />
hierzu erklingen nur wenig später in der<br />
Kirche St. Georg Alfred Schnittkes Zwölf<br />
Bußverse, die vom SWR Vokalensemble unter<br />
Marcus Creed gesungen werden. Die Texte<br />
der Bußverse handeln von Arroganz, Macht<br />
und Gier.
Foto: Marco Borggreve<br />
Stile Antico<br />
Die Musik kommt im ersten Satz Adam saß<br />
vor dem Paradies und weinte ganz aus der<br />
Stille, in der sie im titellosen zwölften Satz<br />
wieder verschwindet. Schnittke schreibt vor,<br />
dass er mit geschlossenem Mund zu singen ist.<br />
Der Zyklus wurde 1988 anlässlich der Tausendjahrfeier<br />
der Christianisierung Russlands<br />
aufgeführt – ein weiterer Brückenschlag zum<br />
Glauben.<br />
Das T R I M U M - P R O J E K T<br />
bildet mit seiner personellen Ausstattung,<br />
seinem zeitlichen Umfang und<br />
seinen inhaltlichen Dimensionen einen der<br />
Schwerpunkte des Musikfests. Es schlägt den<br />
Bogen zum Bereich der Musikvermittlung, der<br />
in den letzten Jahren zunehmend von intergenerationellen<br />
und interkulturellen Ansätzen<br />
geprägt wird. Das MUSIKFESTUTTGART<br />
erweitert diesen Dualismus um den interreli -<br />
giösen Aspekt. In monatelanger Arbeit haben<br />
Schulklassen ein Konzert erarbeitet, das zum<br />
Kern die Auseinandersetzung mit verschiedenen<br />
Religionen hat. Gläubige aller großen<br />
Religionen wurden befragt, in Moscheen, Kirchen<br />
und Hindutempeln, im jüdischen Altenheim,<br />
im Klassenzimmer und auf der Straße,<br />
und herausgekommen ist eine Art klingende<br />
Collage religiöser Musik. Was ist Glaube und<br />
was bedeutet er für die Akteure? Wie zeigt er<br />
sich in seinen Gesängen?<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Schließlich wird auch die zur Tradition gewordene<br />
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit<br />
dem Festivalthema fortgesetzt – und zwar mit<br />
einem Blick auf die Musik der drei großen<br />
monotheistischen Weltreligionen. Unter dem<br />
Thema Der eine Gott und die Vielfalt die<br />
Klänge. Sakrale Musik der drei monotheistischen<br />
Weltreligionen referieren Wissenschaftler<br />
über kulturelle Kontexte und Erfahrungen mit<br />
dem Thema. Den Auftakt macht der vielfach<br />
ausgezeichnete Politologe, Religionstheoretiker<br />
und langjährige bayrische Kultusminister Hans<br />
Maier. Weitere Vorträge setzen sich mit jüdischer<br />
Synagogalmusik, aber auch den Konzepten<br />
katholischer und protestantischer Kirchenmusik<br />
auseinander. So fragt zum Beispiel Sven<br />
Hiemke, Professor für Musikwissenschaft an<br />
der Hochschule für Musik und Theater Hamburg,<br />
nach dem Selbstverständnis der protestantischen<br />
Kirchenmusik, wohingegen sein<br />
Freiburger Kollege Dominik Skala die Perspektive<br />
der katholischen Kirche wählt. Abgerundet<br />
wird das Symposium mit Referaten zum Instrumentenverbot<br />
und den Praktiken der Koran-<br />
Rezitation im Islam. Den Abschluss bildet ein<br />
Vortrag des Theologen Christoph Schwöbel,<br />
der eine Theologie der Musik entwirft.<br />
Im MUSIKFESTUTTGART 2012 geht es um<br />
Glaube und Erkenntnis, um Tugend und<br />
Sünde, um Ideologie und Verfolgung, um Minderheiten<br />
und Mehrheiten, um Nationalismus<br />
und Vaterland, um Musikvermittlung und natürlich<br />
um Johann Sebastian Bach. Es ist zugleich<br />
das letzte Festival unter der Ägide von<br />
Christian Lorenz und Helmuth Rilling. Wie<br />
passend also, auch auf diesem Hintergrund<br />
den Glaube als Ausgangspunkt zu nehmen.<br />
Denn wie kaum ein anderer Dirigent hat sich<br />
Helmuth Rilling in seinen unzähligen Konzerten,<br />
Interviews und Lehrtätigkeiten um die<br />
Vermittlung der Musik des Glaubens verdient<br />
gemacht – und damit genau um die Frage, um<br />
die es in diesem Festivaljahr geht: wie es eben<br />
klingt, woran wir glauben.<br />
■ ■ ■<br />
Foto: Lucas Allen<br />
Foto: Chris Gonz<br />
Foto: René Arnold<br />
Foto: Mathias Bother<br />
Ute Lemper<br />
Hanna Elisabeth Müller<br />
»Händels Schatten«<br />
Katharina Thalbach<br />
5
L I M A – B O G O T Á – S A O P A U L O – B U E N O S A I R E S – -<br />
F R U T I L L A R – S A N T I A G O – C A R A C A S<br />
Tagebuchaufzeichnungen von unserer Südamerika-Tournee<br />
■ D I E T E R B E R N H A R D T<br />
2 9 . A P R I L ;<br />
Frühes Aufstehen, letzte Handgriffe am<br />
Gepäck, dann kommt der Transporter mit<br />
dem Kontrabass und auf geht’s zum Flughafen.<br />
Dort trudeln wenige Minuten später die<br />
ersten Musiker ein, die Abwicklung am Counter<br />
geht recht zügig voran, da wir mit einem<br />
online check-in am Vorabend schon vieles vorbereitet<br />
hatten. Die Zeit im Flieger vergeht<br />
schneller als gedacht. In Caracas erwartet uns<br />
Christian Krüger von der deutschen Botschaft.<br />
Er und ein weiterer Mitarbeiter kümmern sich<br />
liebevoll um die Gruppe, gekühltes Wasser ist<br />
bereitgestellt für alle, denn hier schlagen uns<br />
feucht-warme, tropische Temperaturen entgegen.<br />
Dann geht es für den heutigen Tag auf<br />
den letzten Flugabschnitt nach L I M A . Kurz<br />
vor Mitternacht Ortszeit (und nach insgesamt<br />
fast 24 Stunden Reisezeit) sind wir schließlich<br />
in den Hotels, müde und erschöpft, aber<br />
glücklich.<br />
■ ■ ■ 6<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
3 0 . A P R I L ;<br />
Der sonnige Vormittag ist frei und die meisten<br />
gehen auf Erkundungstour in die<br />
Stadt. An der Aussichtsplattform am Meer<br />
trifft man auf etliche bekannte Gesichter. Der<br />
herrliche Blick auf den Pazifik und die Meeresluft<br />
tun gut nach so viel Klimaanlagen und<br />
Enge in den Flugzeugen. Das nahe Meer gibt<br />
dieser Stadt eine besondere Atmosphäre von<br />
Leichtigkeit und Lebenslust. Am Abend das<br />
erste Konzert in der Aula einer ehemaligen<br />
deutschen Schule (jetzt Klosterschule mit den<br />
Schwerpunkten Technik und Sport). Während<br />
auf dem Sportplatz draußen sich die Jugend<br />
tummelt, starten wir einen Versuch, nach der<br />
langen Reisezeit wieder musikalisch Tritt zu<br />
fassen. Das Auditorium, in dem viele auch<br />
deutsch sprechende Gäste sitzen, ist nicht übermäßig<br />
gut besucht, dennoch werden unsere<br />
Ensembles für ihre musikalischen Leistungen<br />
begeistert gefeiert. Nach der zweiten Aufführung<br />
am Tag darauf lädt der deutsche Botschafter<br />
in Lima zu einem Empfang in den<br />
Garten des Schul geländes und bedankt sich mit<br />
herzlichen Worten.
2 . / 3 . M A I .<br />
Von Lima<br />
(etwa auf<br />
Meeres niveau) geht<br />
es auf 2.600m Höhe<br />
nach Kolumbien. Auch<br />
in B O G O T Á werden<br />
wir herzlich empfangen und bestens<br />
durch die Mitarbeiter des Teatro<br />
Mayor betreut. In dünner Höhenluft<br />
findet tags darauf im neuen, durch<br />
die Klimaanlage (wie so oft in Südamerika)<br />
heftig unterkühlten Konzertsaal<br />
die nächste Aufführung statt. Für unseren<br />
Continuo-Spieler ist es erneut eine<br />
ungewöhnliche Herausforderung, sind<br />
doch Orgelpositive nach historischer<br />
Bauweise auf diesem Kontinent weitgehend<br />
unbekannt bzw. nicht verfügbar.<br />
So steht entweder ein Cembalo oder – wie<br />
in Bogotá – ein elektronisches Tasteninstrument<br />
zur Verfügung, ein ungewöhnlicher<br />
und eben doch künstlicher Klang.<br />
4 . M A I .<br />
Es war eine<br />
ganz besondere Gruppe, die da<br />
durch sechs Länder Südamerikas reiste<br />
und Bachs h-Moll-Messe musizierte. Gächinger<br />
Kantorei und Bach-Collegium, immer hoch -<br />
motiviert in allen Konzerten und ebenso hochinteressiert<br />
an allem Neuen – Fremden – Faszinierenden, an herrlichen<br />
Landschaften und riesigen Städten. Und überall ist da dann ein<br />
Konzertsaal, ein Theater, in dem fast allabendlich sich tausende Zuhörer<br />
einfinden, um Bachs Musik zu hören, Helmuth Rilling und seine Ensembles<br />
zu erleben. Wenn man so weit weg ist von Europa, machen Zeit- und Klimaumstellungen,<br />
fast tägliche Flüge und wechselnde Hotels zu schaffen. Das bedeutet,<br />
Koffer aus- und wieder einpacken, Noten extra (falls der Koffer woanders hinreist) und<br />
besonders auch für uns Sänger Sorge um Stimme und Gesundheit.<br />
Wäre da nicht unser unermüdlicher Chormanager Stefan Weiler, der allmorgendlich beim Frühstück<br />
jeden mit einem ordentlichen Klaps auf die Schulter und einem lauten »Bisch fit?« ermuntert und ermahnt.<br />
Auch das war ganz besonders an dieser Gruppe: Achtsam mit sich und den anderen umgehen – eine Selbstverständlichkeit.<br />
Bereit sein zu helfen, mit Lutschbonbons und Teebeuteln und guten Ratschlägen zum Gesundbleiben. Und doch blieb auch Zeit,<br />
um in vollen Zügen Land und Leute zu genießen und zu erleben. Und das taten dann auch alle auf ihre Weise.<br />
Für den nächsten Vormittag hat Kollegin<br />
Angelika Baehr für eine größere<br />
interessierte Gruppe eine Stadtbesichtigung<br />
organisiert. Wir lernen Bogotá mit seiner<br />
historischen Altstadt kennen und bestaunen<br />
die unendlichen Schätze im Goldmuseum.<br />
Zum Schluss steigen wir mit Hilfe einer<br />
Seilbahn nochmals weiter in die Höhe, bis<br />
auf 3.200 m und haben von Bogotás<br />
grünem Hausberg einen fantastischen Ausblick<br />
über die Stadt und in die Ferne.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Wir sahen das bunte Leben in Lima, die freundlichen Menschen. Die Riesenstadt Sao Paulo, in der viele von uns einen beruhigenden<br />
Tag in einem herrlichen Park und andere an nicht endenden Stränden des Meeres verbrachten. Dann Bogotá in<br />
Kolumbien, wo wir viel Schönes sahen, blitzendes Gold im Museum und eine tolle Aussicht vom Berg über die Stadt,<br />
in der wir erfahren sollten, wie sich h-Moll-Messe auf 3.000 Metern Höhe singt. Macht die dünne Luft Probleme<br />
oder nicht? Mitten in der Altstadt von Bogota kommen zwei Männer quer über die Straße zu unserer kleinen<br />
Reisegruppe und freuen sich unendlich, uns zu sehen. Beide seien sie in unserem Konzert gestern Abend<br />
gewesen und bedanken sich überschwänglich. Dann geht es in den Süden von Chile, wo der Blick aus<br />
dem Fenster des urigen Hotels anmutet, als genieße man ein Frühstück am Ufer des Bodensees.<br />
Würden da nicht langsam aus dem Nebel schneebedeckte Vulkane erscheinen. Diese großartige<br />
Hohe Messe in den unterschiedlichsten Regionen Lateinamerikas, das sind immer wieder<br />
neue ergreifende Momente. Ein Publikum, das wahre Beifallsstürme aufbrausen lässt –<br />
wohl keiner von uns hat so etwas schon mal erfahren wie wir nun im Teatro Colón in<br />
Buenos Aires.<br />
Vor 12 Jahren haben Gächinger und Bach-Collegium ein tief bewegendes<br />
Konzert von Kindern und Jugendlichen in Caracas erlebt. Damals traten<br />
sie in einer Lagerhalle auf, probten in Baracken. Was wir jetzt<br />
sahen, war eine neu gebaute Musikakademie, ein unglaublich<br />
schöner Platz für die Mitglieder des Jugendorchesters. Hier<br />
fand unser letztes Konzert dieser Tournee statt, vor großem<br />
Publikum, bei dem viele Kinder und Jugendliche ihre<br />
Freude gerne mit Beifall nach jedem Satz gezeigt hätten.<br />
Auch hier gab es fröhliches Feiern und Ausklang im<br />
Hause der Deutschen Botschaft, wie zuvor auch in<br />
Lima, Santiago de Chile und Frutillar, zur Gründung<br />
der 15. <strong>Bachakademie</strong> weltweit.<br />
Immer wieder h-Moll-Messe, die alle Kräfte<br />
braucht, von Körper, Geist, Seele und Stimme.<br />
Und der tiefe Wunsch alles zu erfüllen,<br />
was Helmuth Rilling kraftvoll, fordernd<br />
und liebevoll von allen Musikern<br />
verlangt. Wir verdanken ihm unendlich<br />
viel. Dass wir so herrliche Konzerte<br />
musizieren konnten, dazu hat<br />
jeder von uns viel beige -<br />
tragen, durch harmonischen<br />
Zusam men halt,<br />
gutem Umgang und<br />
dem Gefühl für<br />
Verantwortung.<br />
Großer Dank<br />
geht an Christian<br />
Lorenz, der diese<br />
Reise geplant und<br />
realisiert und uns<br />
zum großen Teil auf<br />
Tournee begleitet<br />
hat. Dass alles so<br />
gut gelingen<br />
konnte, dafür<br />
danken wir<br />
auch Dieter und<br />
Angelika.<br />
Angela Müller<br />
■ ■ ■<br />
7
Sao Paulo, Teatro<br />
Municipal (links)<br />
Buenos Aires, Teatro<br />
Colón (mitte, rechts)<br />
5 . - 7 . M A I .<br />
Am frühen Abend machen wir uns wieder<br />
auf den Weg zum Flughafen, eine Reise<br />
über Nacht, mit Zwischenstopp in Lima,<br />
führt uns am frühen Morgen nach<br />
S A O P A U L O . Dort ist eine Menge<br />
Trubel, die Vorbereitungen für das anstehende<br />
Stadtfest laufen auf Hochtouren. Am<br />
Abend ist die Innenstadt dicht gefüllt mit<br />
Menschen, auf vielen Plätzen gibt es musikalische<br />
Darbietungen hervorragender Bands<br />
und Künstler aus Südamerika. Dies geht die<br />
ganze Nacht durch bis zum frühen Morgen<br />
und ist damit nicht unbedingt jedermanns<br />
Sache. Da aber der Folgetag frei ist, bleibt<br />
alles leichter erträglich. Und wieder folgt ein<br />
Konzerttag mit dem Auftritt im beein -<br />
druckenden und architektonisch wunderschönen<br />
Teatro Municipal. Freude und<br />
Entspannung werden leider getrübt durch die<br />
Nachricht, dass unsere Oboistin Yeon Hee<br />
mit einer schweren Entzündung am Bein im<br />
Krankenhaus liegt; die Ärzte in Sao Paulo<br />
haben ihr einen einwöchigen Aufenthalt verordnet.<br />
Nach fieberhafter Suche nach Ersatz<br />
in der <strong>Bachakademie</strong>-Zentrale in <strong>Stuttgart</strong><br />
kann unser junger Kollege aus dem JSB<br />
Ensemble bereits am Folgetag in Buenos<br />
Aires eintreffen und den Part übernehmen.<br />
Wir verabschieden Yeon Hee und wünschen<br />
ihr baldige Genesung.<br />
■ ■ ■ 8<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
8 . M A I .<br />
Früh aus den Federn und kurzer Flug<br />
nach B U E N O S A I R E S . Viel Zeit<br />
bleibt nicht für die Stadt,<br />
da noch am selben Abend<br />
Konzert ist. Das legendäre<br />
Teatro Colón liegt unserem<br />
Hotel direkt gegenüber auf<br />
der anderen Straßenseite,<br />
allerdings durch insgesamt<br />
16 Fahrspuren der großen<br />
Avenida und wichtigsten Straße der Stadt getrennt.<br />
So ist es eine große Herausforderung,<br />
hier zu Fuß den Kontrabasskasten durch den<br />
dichten Verkehr und die doch recht kurzen<br />
Ampelphasen hinüber zu schieben. Hier, in<br />
einem der prächtigsten und berühmtesten<br />
Opernhäuser der Welt musizieren zu können,<br />
das allein ist schon ein Highlight der gesamten<br />
Reise. Die über 2.500 Besucher bedenken<br />
unsere Künstler schon bei ihrem ersten Auftritt,<br />
noch bevor überhaupt ein Ton erklungen<br />
ist, mit frenetischem Beifall. Die Kulisse<br />
ist beeindruckend, die musikalische Leistung<br />
hervorragend und wird am Schluss mit standing<br />
ovations belohnt. Dann wieder den<br />
Kontrabass über die Avenida zurück ins<br />
Hotel geschoben und im Anschluss noch mit<br />
einem argentinischen Steak vom Holzkohlegrill<br />
und einem Schluck Rotwein den doch<br />
recht anstrengenden Tag ausklingen lassen.
9 . M A I -<br />
Und wieder geht es in den Flieger, zunächst<br />
nach Santiago de Chile, von dort<br />
weiter in zwei Gruppen nach Puerto Montt,<br />
in den Süden des Landes. In Santiago treffen<br />
wir auch auf Christian Lorenz, der nun für<br />
den Rest der Tour mit uns reisen wird. Beide<br />
Flugstrecken bieten fantastische Ausblicke<br />
auf die grandiose Bergwelt der Anden, bei<br />
der Landung wiederum erwartet uns die liebliche<br />
Landschaft des Seengebietes in Südchile,<br />
die von oben ein wenig aussieht wie die<br />
Region rund um den Bodensee. Herzlicher<br />
Empfang durch die Mitarbeiter um Uli Bader,<br />
den Intendanten des Teatro del Lago in Frutillar<br />
und wunderbare Aufnahme in Puerto<br />
Varas in einem sehr schönen und gemütlichen<br />
Hotel, ein idealer Ort, um etwas herunterzuschalten<br />
und zur Ruhe zu kommen, nach den<br />
Zeiten in hektischen und überfüllten Millionenstädten.<br />
1 0 . / 1 1 . M A I .<br />
Der Blick aus dem Hotelfenster am Morgen<br />
ist grandios, der See und die Bergwelt<br />
der Anden liegen in greifbarer Nähe.<br />
Kurze Fahrt mit dem Bus von Puerto Varas<br />
nach F R U T I L L A R . Hier sehen wir nun<br />
zum ersten Mal das südlichste Theater der<br />
Welt, ein architektonisches Kleinod, wie ein<br />
Schiffsbug in das Wasser hinausgebaut.<br />
Herzliche Begrüßung auch hier, dann werden<br />
uns die Kursteilnehmer vorgestellt, 11 Dirigenten<br />
bewerben sich sowie eine Sängerin<br />
und 4 Instrumentalisten. Helmuth Rilling<br />
und Stefan Weiler nehmen die Dirigenten in<br />
ihre Obhut, die Instrumentalstudenten werden<br />
von der Trompetengruppe (denn es gibt<br />
einen hervorragenden Trompeter unter den<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Frutillar (Chile), Teatro del Lago<br />
■ ■ ■<br />
9
Meisterkurs und<br />
Gründung<br />
der <strong>Bachakademie</strong><br />
in Frutillar<br />
Bewerbern), von Albert Locher, Gernot<br />
Süßmuth und Ulf Borgwardt betreut. Vormittags<br />
wird in Registergruppen gearbeitet,<br />
am Nachmittag trifft man sich im Tutti. Beim<br />
Gesprächskonzert sitzt ein kleiner, aber sehr<br />
interessierter Kreis von Zuhörern im Saal.<br />
1 2 . M A I .<br />
Den dritten Tag unseres Aufenthaltes in<br />
Frutillar nutzen viele zur Erkundung der<br />
Umgebung. Einige haben sogar einen Bus gechartert<br />
und fahren bis nah an die uns täglich<br />
im Blickfeld liegende Bergwelt heran. Mit<br />
großer Begeisterung kommen sie zurück,<br />
Chile ist ein wunderbares Land, das allein<br />
landschaftlich unendlich viel Schönes zu<br />
bieten hat. Das große Abschlusskonzert am<br />
Abend mit den <strong>Bachakademie</strong>-Ensembles<br />
unter der Leitung von Helmuth Rilling wird<br />
begeistert aufgenommen. Beim anschließenden<br />
Em pfang wird die Gründung der <strong>Bachakademie</strong><br />
Frutillar besiegelt. Nun gibt es<br />
auch an einem der südlichsten Punkte der<br />
Welt eine Dependance unseres Hauses. Froh<br />
und vergnügt treten wir die Busrückreise<br />
nach Puerto Varas an.<br />
■ ■ ■ 10<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M
■<br />
»Selten gibt es bei Konzerten mit geistlicher Musik<br />
so eine Begeisterung wie in Lateinamerika«,<br />
schwärmt Helmuth Rilling.<br />
Die Gründung einer <strong>Bachakademie</strong> in Chile am<br />
12. Mai sei quasi der Anker dieser Reise, erläutert<br />
Christian Lorenz. Schon vor Jahren hatten Ulrich<br />
Bader, Leiter des Teatro del Lago, und Helmuth<br />
Rilling darüber gesprochen, 2008 in <strong>Stuttgart</strong><br />
schmiedeten sie erste konkretere Pläne. Mit Hilfe<br />
der brasilianischen Konzertagentur Felipe Silvestre<br />
entstand schließlich der Tourplan dieser Reise mit<br />
Konzerten in Lima, Bogotá, Sao Paulo, Buenos<br />
Aires, Frutillar, Santiago und Caracas. Auch<br />
zahlreiche junge Zuhörer sitzen in den Gesprächskonzerten<br />
im Publikum. 40 Freikarten für Kinder<br />
bietet das Teatro del Lago für alle Konzerte an.<br />
Mechthild Schlumberger<br />
(Esslinger Zeitung, 26. Mai 2012)<br />
■<br />
Im kleinen Ferienort Frutillar, am See Llanquihue,<br />
sitzt Helmuth Rilling auf einer Bank: ein Mann<br />
mit weithin sichtbarem weißem Haarschopf, der<br />
Zigarre raucht und eine chilenische Tageszeitung<br />
liest. »Muy bien!«, »sehr gut!«, wird er später<br />
einen jungen chilenischen Dirigenten loben, »más<br />
energía«, mehr Energie wird er von ihm einfordern,<br />
und abends in einem jener Gesprächskonzerte,<br />
die zum Markenzeichen des 79-Jährigen geworden<br />
sind, kommentiert der Dirigent den<br />
Credo-Satz von Johann Sebastian Bachs h-Moll-<br />
Messe nicht nur auswendig, sondern auch noch auf<br />
Spanisch. Was für eine Leistung ist hier zu bewundern!<br />
Und das am Ende zweier harter Meisterkurs-<br />
Arbeitstage, in denen acht junge Dirigenten einzelne<br />
Sätze des Stücks dirigierten, während der<br />
weltweit bewunderte Bach-Kenner mit wachen<br />
Augen und Ohren an der Seite sitzt, kommentiert,<br />
korrigiert. Oft nennt er Taktzahlen, ohne in die<br />
Partitur zu blicken. »Du hast die Pauken vergessen«,<br />
sagt er einmal zu einem jungen Mann mit<br />
noch recht pauschalen Armbewegungen.<br />
»Es contento?«, »bist du zufrieden?«, fragt er einen<br />
anderen. Das kann dieser zwar nicht guten Gewissens<br />
mit Ja beantworten, aber die Frage ist freundlich.<br />
Und wer Rillings Augen einmal auf sich ruhen<br />
spürt, der vergisst diesen Blick nicht: einen Blick,<br />
der auch in den singenden und spielenden Kollektiven<br />
jeden ernst nimmt und wertschätzt. Auch für<br />
diesen Blick, der etwas Forderndes, aber auch<br />
etwas sehr Menschliches hat, haben 30 Sänger der<br />
Gächinger Kantorei und 25 Instrumentalisten des<br />
Bach-Collegiums <strong>Stuttgart</strong> in den zwei Wochen<br />
zuvor mit Bachs großer katholischer Messe bereits<br />
Peru, Kolumbien, Brasilien und Argentinien bereist,<br />
und auch für ihn reisen sie nach zwei Konzerten<br />
in Chile noch weiter nach Caracas, Venezuela.<br />
Susanne Benda<br />
(<strong>Stuttgart</strong>er Nachrichten, 19. Mai 2012)<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
1 3 . M A I .<br />
Wir fliegen zurück nach S A N T I A G O<br />
D E C H I L E , wo wir am selben<br />
Abend noch in die wunderschöne Residenz<br />
des deutschen Botschafters geladen sind. Er<br />
kennt Helmuth Rilling und unsere Arbeit<br />
noch aus seiner frühen Zeit in Warschau und<br />
freut sich sehr, dass er uns unmittelbar vor<br />
seinem Ruhestand hier noch einmal empfangen<br />
kann. Beim gemütlichen Beisammensein<br />
ergeben sich hochinteressante Begegnungen<br />
mit Menschen, die uns einen Einblick in den<br />
chilenischen Alltag und in die Zusammenarbeit<br />
deutscher und chilenischer Institutionen<br />
geben – ein nicht immer leichtes Unterfangen,<br />
wie wir vernehmen.<br />
1 4 . M A I .<br />
Vielen von uns fällt es nicht leicht, sich von<br />
der ländlichen Idylle der vergangenen<br />
Tage erneut auf eine Millionenmetropole umzustellen,<br />
die zudem nicht leicht zu entdecken<br />
ist. Ein historischer Kern ist im Zentrum<br />
dieser Stadt kaum zu erkennen, hat doch<br />
Chile und ganz besonders Santiago in den vergangenen<br />
Jahrhunderten immer wieder unter<br />
heftigen Erbeben zu leiden gehabt. Der<br />
Konzertsaal liegt in einem modernen großen<br />
Kulturzentrum, der Saal selbst ist komplett<br />
unter die Erde gebaut, was ihn ein wenig<br />
düster und bedrückend erscheinen lässt. Das<br />
Konzert ist komplett ausverkauft, die Akustik<br />
erweist sich als problematisch. Aber auch hier<br />
erwartet uns ein begeistertes Publikum.<br />
■ ■ ■<br />
11
Christian Lorenz<br />
Dieter Bernhardt<br />
Helmuth Rilling<br />
und<br />
María Guinand<br />
(rechte Seite)<br />
1 5 . M A I .<br />
Ein anstrengender Reisetag liegt vor uns<br />
und beginnt deutlich vor 6 Uhr. In zwei<br />
Etappen geht es nach C A R A C A S . Kaum<br />
einem ist dabei bewusst, dass wir nun schon<br />
zum vierten Mal auf unserer Tournee den<br />
Äquator überqueren. In Venezuela erwartet<br />
uns wieder das tropisch-karibische Klima.<br />
Auch wenn wir auf der gesamten Reise ungeheures<br />
Glück mit dem Wetter hatten (es gab<br />
einen einzigen Regentag, sonst nur sonnige<br />
und teils recht warme Tage), so ist es hier<br />
doch um Längen wärmer und feuchter. Am<br />
Flughafen empfängt uns in schon vertrauter<br />
Weise Herr Krüger von der deutschen Botschaft<br />
und organisiert unsere Transfers in die<br />
Stadt. Die Fahrt durchs Verkehrschaos zieht<br />
sich über zwei Stunden hin. Im Hotel treffen<br />
wir auf bekannte Gesichter und alte Freunde<br />
aus dem Kreise von María Guinand. Großes<br />
Hallo und freundliche Begrüßung, ein reichhaltiges<br />
und schmackhaftes Abendessen trägt<br />
zur Wiedererweckung der Lebensgeister bei.<br />
■ ■ ■ 12<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
1 6 . M A I .<br />
Da von einem Besuch der als sehr gefährlich<br />
eingestuften Stadt (die Kriminalitätsrate<br />
soll hier sehr hoch sein, besonders<br />
auch durch die starken sozialen Gegensätze)<br />
abgeraten wird, bleiben alle bis zum Beginn<br />
des Konzertes im Hotel. Der Hotelkomplex<br />
ist riesig, eine kleine Stadt mit Ladenstraßen,<br />
Freizeitangeboten und auch einem schönen<br />
und großen Poolgelände. Wie immer fahre<br />
ich vorab mit dem Kontrabass und unserem<br />
Continuospieler zum Konzertort. Welche<br />
Überraschung! Dort, wo bei unserem ersten<br />
Besuch in Caracas im Jahre 2000 noch Baracken<br />
standen, in denen hunderte von venezolanischen<br />
Kindern musiziert haben, steht nun<br />
ein riesiges Gebäude aus Glas und Beton,<br />
eine professionelle Musikakademie mit<br />
einem eigenen tollen Konzertsaal, alles nach<br />
modernsten pädagogischen Erkenntnissen<br />
gestaltet. Dies ist die Heimat des Orquesta<br />
Sinfónica Simón Bolívar, hier finden im Rahmen<br />
von »El Sistema« viele der Straßenkinder<br />
eine neue Heimat und eine sinnvolle Ausbildung.<br />
Ein weiteres Wunder geschieht: zum ersten<br />
Mal auf der gesamten Reise steht uns ein<br />
echtes Orgelpositiv zur Verfügung (der Saal<br />
schmückt sich überdies mit einer prächtigen<br />
neuen Walcker-Orgel).
Begegnung mit María Guinand, langjährige<br />
Freundin und Partnerin der <strong>Bachakademie</strong><br />
und eine der Seelen der intensiven musikalischen<br />
Arbeit in diesem Land. Trotz schwieriger<br />
politischer Lage spürt man die unglaubliche<br />
Leidenschaft und nicht versiegende<br />
Freude für ihren Beruf. Das Konzert am frühen<br />
Abend wird dann zum musikalischen<br />
Höhepunkt der gesamten Reise, wir werden<br />
gefeiert wie Freunde, die vor kurzem erst da<br />
waren und hier ein zweites Zuhause haben.<br />
Der Abend klingt aus mit einem Besuch in<br />
der deutschen Botschaft in Caracas. Warmherzige<br />
Begegnungen und beeindruckende<br />
musikalische Darbietungen unserer Freunde<br />
um María Guinand lassen den Abend noch<br />
lange nachklingen.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
1 7 . M A I .<br />
Am späten Nachmittag heißt es nun Abschied<br />
nehmen von Südamerika, wieder<br />
erleben wir das Verkehrschaos auf unserem<br />
Weg hinunter ans Meer zum Flughafen. Unsere<br />
gute Seele Christian Krüger hat schon<br />
wieder alles bestens vorbereitet, so dass das<br />
Eincheck-Procedere zügig und ohne die üblichen<br />
strengen Kontrollen vonstatten gehen<br />
kann. Über Nacht fliegen wir mit Zwischenstopp<br />
in Paris N A C H H A U S E . Eine<br />
fast dreiwöchige Reise liegt hinter uns, eine<br />
wunderbare Zeit mit faszinierenden landschaftlichen<br />
Eindrücken und großen musikalischen<br />
Erlebnissen. Besonders genossen<br />
haben wir die Herzlichkeit und die frenetische<br />
Begeisterung, mit der wir vielerorts<br />
empfangen wurden. Unsere Gruppe aus Gächingern<br />
und Bach-Collegen war sehr harmonisch,<br />
Probleme gab es weder im<br />
zwischenmenschlichen noch im organisatorischen<br />
Bereich. Alle Flüge waren pünktlich,<br />
alle Koffer und auch unser Kontrabass kamen<br />
immer wie geplant an, nichts ging verloren.<br />
Fast schon ein kleines Wunder, aber verbunden<br />
mit dem Gefühl und der Erkenntnis, dass<br />
eine gute Vorbereitung und ein gutes Miteinander<br />
wichtige Elemente für ein solches Projekt<br />
sind. Südamerika ist besser als sein Ruf<br />
und hat sich uns eher von seiner Schokoladenseite<br />
gezeigt. Lange werden die Erinnerungen<br />
und Bilder im Kopf wie aus den zahllosen<br />
Kameras noch nachwirken…<br />
■<br />
Der Meister zeigt es seinen Schülern – und dann<br />
sieht es fast so aus, als käme es zu einer grandiosen<br />
Umkehrung. Nicht Rilling dirigiert die Partitur,<br />
die Partitur dirigiert Rilling: Jede Achtel, jede<br />
Sechzehntel, jede Fermate von Bach schlägt<br />
sich penibel in Mimik und Gestik nieder, Gesicht<br />
und Körper sind hellwach und tänzeln auf dem<br />
Podium umher, als gehörten sie einem achtjährigen<br />
Ballerino. Tatsächlich wird Rilling im nächsten<br />
Jahr aber achtzig. »Wohin blicken Sie dann?<br />
Mehr nach vorne? Oder mehr zurück?«, fragen<br />
wir. »Immer nach vorne«, sagt Rilling, ohne auch<br />
nur eine Sekunde zu zögern. Und [so] wird er im<br />
nächsten Jahr zu Ostern wieder nach Chile zurückkehren:<br />
mit Bachs Matthäus-Passion.<br />
Roland Müller (<strong>Stuttgart</strong>er Zeitung, 19. Mai 2012)<br />
■ ■ ■<br />
13
* Diese Zählung<br />
innerhalb der Reihe<br />
berücksichtigt als<br />
dritten Beitrag<br />
das Editorial unserer<br />
»Bach-Ausgabe«<br />
(Forum Heft 73)<br />
Es hätte in der Tat ganz anders kommen<br />
können: Im Jahr 1696 schlug der große<br />
Universalgelehrte Gottfried Wilhelm<br />
Leibniz vor, die Landesuniversität auf die andere<br />
Neckarseite zu verlegen und Cannstatt<br />
zur Landeshauptstadt zu machen. Wahrscheinlich<br />
sah er gute Gründe für einen solchen<br />
Vorschlag. Bis heute gilt das seit 1933<br />
mit dem Titel »Bad« geschmückte Cannstatt<br />
vielen – nun ja, zumeist Cannstattern – als<br />
echtes Herz des <strong>Stuttgart</strong>er Beckens, als<br />
Kleinod am Neckarstrand, die heimliche<br />
Residenz… König Wilhelm I. hatte ein großes<br />
Faible für die Stadt und soll sich wahrhaftig<br />
mit dem Gedanken getragen haben, seinen<br />
Sitz auf die Cann statter Seite zu verlegen.<br />
Ganz recht: auch die <strong>Bachakademie</strong> hat in<br />
den vergangenen Jahren das liebenswerte<br />
Kurbad sukzessive erobert. Natürlich nicht<br />
in erster Linie als Ort des Abtauchens in<br />
sprudelnde Mineralquellen oder bierseliges<br />
Volksfestgetümmel, sondern mit der Ent -<br />
deckung neuer Spielstätten für das<br />
MUSIKFESTUTTGART. So gab und gibt es<br />
Konzerte und Gottesdienste in der Evangelischen<br />
Stadtkirche und Lesungen im Wilhelma<br />
Theater, so erlebte unser Publikum den<br />
ersten Daschsalon außerhalb Berlins sowie<br />
ein opulentes Tan-Dun-Orchesterrecital in<br />
der Phönixhalle auf dem Römerkastell. Mit<br />
dem Thema WASSER wurden 2011 außerdem<br />
das Theaterschiff geentert, das Mineralbad<br />
Cannstatt zum Klang-Wellen-Bad umfunktioniert<br />
und vier Cannstatter Brunnen<br />
zum malerisch plätschernden Background<br />
dreier »Brunnenmusiken« erkoren.<br />
In diesem Jahr kommen mit der imposanten<br />
Liebfrauenkirche und dem früheren Depot<br />
der »Straßenbahnwelt« zwei Auffüh -<br />
rungs orte mit ganz besonderem Ambiente<br />
■ ■ ■ 14<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
M U S I K S T A D T S T U T T G A R T –<br />
Z E I T F Ü R E N T D E C K U N G E N (Folge 4)*<br />
R E I C H A N M U S I K A L I S C H E N P E T I T E S S E N :<br />
B A D C A N N S T A T T<br />
■ H O L G E R S C H N E I D E R<br />
Liebfrauenkirche<br />
dazu, die Geläute der Stadtkirche wie der<br />
Lutherkirche erklingen als nachmittägliche<br />
»Glo cken musik«, und der Anblick der<br />
kleinen Uffkirche – als erste Station des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Kapellenwegs am 9. September –<br />
dürfte so manchem Exkursionsteilnehmer<br />
einen Seufzer des Entzückens entlocken. Es<br />
ist also allerhand los in diesem Musikfest-<br />
Sommer im größten und ältesten Stadtbezirk<br />
<strong>Stuttgart</strong>s, der bis zur Vereinigung mit <strong>Stuttgart</strong><br />
im Jahr 1905 selbständige Oberamtsstadt<br />
war, als Kurbad im 19. Jahrhundert zu<br />
Uffkirche
hervorragendem internationalen Ruf fand<br />
und später zur Industriestadt heranwuchs.<br />
Dass die Gegend auf der anderen Seite –<br />
jenes heute entfernt flussähnlichen Trübge -<br />
wässers namens Neckar – neben ihren<br />
Dichtern (Freiligrath, Hesse) auch eine<br />
bemerkenswerte Musik(er)-Geschichte<br />
aufweisen kann, ist nahezu gänzlich unbekannt.<br />
Auf den ersten Blick mag sie dem<br />
Leser als ein Sammelsurium von Petitessen<br />
erscheinen, zugegeben. Die Fülle an Histörchen<br />
ist jedoch bereits im ersten Versuch<br />
einer Aufzählung durchaus beeindruckend.<br />
Der berühmte Geigenvirtuos B E R N H A R D<br />
M O L I Q U E (1802-1869), Königlicher Musikdirektor<br />
und Konzertmeister am <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Hoftheater, verbrachte die letzten<br />
Jahre seines Lebens in Cannstatt und wurde<br />
auf dem dortigen Uffkirchhof begraben.<br />
Gleiches gilt für den Musikschriftsteller<br />
und Philosophen H E I N R I C H A D O L F<br />
K Ö S T L I N (1846-1907), der in Tübingen als<br />
Kind die neuesten Lieder des Familienfreunds<br />
Friedrich Silcher »auszuprobieren«<br />
hatte, eine Zeit lang als Pfarrer an der<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Johanneskirche wirkte und sich<br />
als Theologieprofessor und Neuorganisator<br />
des evangelischen Chorwesens einen<br />
Namen machte. Der Wunsch des Dichters<br />
W I L H E L M G A N Z H O R N (1818-1880),<br />
einst »in Tales Grunde« begraben zu werden,<br />
ging nicht in Erfüllung. Er verstarb als<br />
Oberamtsrichter in Cannstatt. An seinem<br />
Grab – ebenfalls auf dem Uffkirchhof –<br />
erklang sein bereits damals zum Volkslied<br />
gewordenes »Im schönsten Wiesengrunde«<br />
auf Silchers uns heute so vertraute Weise.<br />
Österreichs großer Operetten- und<br />
Liedermeister R O B E R T S T O L Z (1880-<br />
1975) wirkte vor dem Ersten Weltkrieg<br />
zeitweise als Cannstatter Kur-Kapellmeister<br />
und Dirigent am Wilhelma-Theater, wo<br />
1914 seine Operette »Das Lumperl« ihre<br />
Uraufführung erlebte. P A U L H I N D E M I T H<br />
(1895-1963) besuchte den großen Bauhaus-<br />
Gestalter Oskar Schlemmer (1888-1943)<br />
mehrmals in seinem Cannstatter Atelier in<br />
einem Rückgebäude in der König-Karl-<br />
Straße. Schlemmer schuf hier Anfang der<br />
1920er Jahre u.a. die Figurinen zum<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
»Triadischen Ballett«, aber auch Bühnenausstattungen<br />
zu Hindemiths »Mörder,<br />
Hoffnung der Frauen« op. 12 (Oper auf<br />
einen Text von Oskar Kokoschka) und<br />
»Das Nusch-Nuschi« op. 20 für birma -<br />
nische Marionetten.<br />
Unter den Cannstatter Musikernamen<br />
finden sich auch selten oder nie gehörte.<br />
Ein enger Schüler und Mitarbeiter Rudolf<br />
Steiners, der Theosoph und Anthroposoph<br />
A D O L F A R E N S O N (1855-1936), hinterließ<br />
fünf Opern, eine Operette sowie allerhand<br />
Lieder und Choräle. Einige der Kompositionen<br />
entstanden auf Anregung seines<br />
Lehrers. Nach Hitlers Machtergreifung zog<br />
er sich ganz ins Privatleben zurück und<br />
starb in Bad Cannstatt. Der Komponist<br />
K A R L B L E Y L E (dem Einsteins Lexikon<br />
von 1926 »süddeutsche Frische« bescheinigte)<br />
soll in den Jahren 1818-23 hier u.a.<br />
an seinen beiden Opern »Der Hochzeiter«<br />
und »Der Teufelssteg« gearbeitet haben,<br />
bevor er wieder nach <strong>Stuttgart</strong> zog. Gottlieb<br />
Wilhelm Leuchs alias L E O L E U X<br />
(1893-1951) wirkte, bevor er als Komponist,<br />
Dirigent (und sogar Darsteller) im<br />
Berliner Film- und Revue-Getümmel Fuß<br />
fassen konnte, zunächst als Kapellmeister<br />
in Cannstatt.<br />
Dem Pianisten J U L I U S R Ö N T G E N<br />
(1855-1932), Sohn eines Leipziger Gewandhaus-Konzertmeisters,<br />
verdanken wir die<br />
vergnügliche Schilderung eines Konzerts<br />
mit Hindernissen. Röntgen war später<br />
Klavierlehrer am Konservatorium Amsterdam<br />
und hielt sich als Begleiter des Sängers<br />
Julius Stockhausen 1873/74 in Cannstatt<br />
auf. Es begann damit, dass sich Stockhausen<br />
für außerstande erklärt hatte, ein Konzert<br />
in der Liederhalle zu singen. Röntgen<br />
hatte daraufhin in Windeseile eine Sängerin<br />
zur Übernahme eines Programmteils mit<br />
schweren Brahms-Liedern überredet und<br />
neue Programme drucken lassen. In einem<br />
Brief schildert er den weiteren Fortgang<br />
des aufregenden Abends:<br />
Grabstätten Molique, Köstlin, Ganzhorn<br />
auf dem Uff-Kirchhof<br />
Marktstraße 40: 1994 erstelltes Portraitmedaillon<br />
von Elke Krämer<br />
■ ■ ■<br />
15
Cannstatt<br />
um 1820<br />
»Jetzt geht aber die Gemüthlichkeit erst los! Hört nur: Frau<br />
Stockhausen hatte wie gewöhnlich den Concertwagen aus <strong>Stuttgart</strong><br />
bestellt und zwar auf 6 Uhr. Mit Spielen, Anziehen, etc. war’s<br />
aber schon ½ 7 geworden und kein Wagen da. Das war ’ne angenehme<br />
Situation! In ganz Cannstatt natürlich kein Wagen zu bekommen,<br />
der nächste Zug erst ½ 8, dabei ein Regen, daß man sein<br />
eignes Wort nicht hörte – was half’s – wir machten uns zu Fuß auf,<br />
um die Pferdebahn zu erreichen. Zum Glück hatte ich zu Anfang<br />
des Programmes das Mozart’sche Streichquartett gesetzt. – Unterdessen<br />
war’s schon ¾ 7 vorbei, als wir ungefähr an Wilhelmsbad<br />
einen Wagen stehen sahen, der ganz zufällig von <strong>Stuttgart</strong> nach<br />
Cannstatt gekommen war, dort die Deichsel gebrochen hatte und<br />
eben damit beschäftigt war, den Schaden her zu stellen. Das war<br />
ein Treffer! Er mußte uns natürlich augenblicklich nach <strong>Stuttgart</strong><br />
fahren und wir kamen auch glücklich nach ¼ 8 dort an, über und<br />
über bespritzt mit Schmutz, (der Wagen war nämlich ein offener<br />
zweisitziger Jagdwagen) ganz à la Erlkönig ›erreicht den Hof mit<br />
Müh’ und Noth‹ - worauf sich sehr passend ›Koth‹ reimt. Das war<br />
aber das wenigste und wir waren glücklich überhaupt da zu sein,<br />
belohnten den Kutscher fürstlich und kamen noch zum Scherzo<br />
des Mozartschen Quartetts. Ich stellte mich nun directement an<br />
den Ofen um den Schmutz trocknen zu lassen und war auch, als<br />
der letzte Satz vorüber war, ganz schmuck und concertfähig […]«<br />
Nachdem das erste Lied vom Publikum<br />
mit deutlicher Unterkühlung aufgenommen<br />
wurde, taute das Eis urplötzlich, als der in<br />
<strong>Stuttgart</strong> schon eingeführte Pianist sich anschickte,<br />
ein Solostück zum Besten zu geben.<br />
■ ■ ■ 16<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
Röntgen resümiert: »Ja, so sind die Leute,<br />
oder viel mehr die Schwaben, wenn sie einen<br />
mal kennen, dann kann man sicher sein,<br />
daß man gefällt.«<br />
Mit solchem harmlos tief gehenden Röntgen-Blick<br />
befinden wir uns auch schon im<br />
modernen Bad Cannstatt, wo man sich<br />
heutzutage doch einigermaßen sicher sein<br />
kann, mit dem nächsten »Zug« oder »Wagen«<br />
rasch und zuverlässig ins Zentrum<br />
auf der anderen Neckarseite befördert zu<br />
werden. Und längst ist auch die umgekehrte<br />
Richtung für Musikliebhaber attraktiv<br />
geworden: Denken wir nur an die<br />
spannende Reihe »Musik am 13.«, die<br />
Jörg-Hannes Hahn in der Stadtkirche<br />
bietet (aktuell mit einem Portrait über<br />
den selbst anwesenden Komponisten und<br />
Rilling-Freund Krzysztof Penderecki!)<br />
oder die feinen »Cannstatter Sonntags-<br />
konzerte« im Kursaal, der als Zentrum eines<br />
wunderschönen, momentan aber komplett<br />
verbauten Ensembles am Kurpark leider zum<br />
Gegenstand eines Possenspiels aus fruchtlosen<br />
Verhandlungen über eine Nachnutzung<br />
verkommen ist.
Völlig unbeeindruckt vom kulturellen<br />
Ellenbogengefuchtel in der Landeshauptstadt,<br />
eher still und beinahe heimlich, findet<br />
in der Nähe der Kuranlagen überdies allsommerlich<br />
ein recht wunderliches kleines Spektakel<br />
statt: das C A N N S T A T T E R H I N T E R -<br />
H O F K O N Z E R T . Wer das Glück hatte, dieses<br />
wohl bezauberndste Kleinstfestival weit und<br />
breit erleben zu können, kommt nicht mehr<br />
los davon: Die Sucht nach dem nächsten<br />
Kick erreicht drastischere Ausprägung als die<br />
Qual des Abstands zwischen Fußballmeisterschaften<br />
der europäischen oder ganzen großen<br />
Welt. Einen Abend vor dem EM-Finale<br />
platziert (große Geste!), fand das diesjährige<br />
Hofkonzert wiederholt auf dem idealen<br />
Hinterhofgelände von Eckhart Holzboogs<br />
famosem Verlag in der König-Karl-Straße<br />
statt. Der Text am End der kleinen hochfor-<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Hinterhofkonzertprobe 2008<br />
Hinterhofkonzert 2008<br />
matigen Plakatzettel war wie immer derselbe:<br />
»Eintritt frei. Jeder sollte selbst seinen<br />
Stuhl mitbringen. Wenn’s regnet, fällt das<br />
Konzert aus.« – Ja denkste!<br />
30. Juni 2012. Die erste, auch die zweite<br />
Musik ging noch trocken durch: Dann brach<br />
der Himmel überm Hinterhof binnen Sekunden<br />
zusammen! Komplettes Durcheinander,<br />
Wasser küblesweis, nutzlose Regenschirme,<br />
heldenhafte Instrumenten-Rettungsaktionen,<br />
funkensprühende Lautsprechermonitore, taifunartiges<br />
Sturmtreiben, berstende Äste,<br />
Stühle mit Eigenleben, nur rein, nur rein ins<br />
Haus! – Aufatmen, weinende Kinder besänftigen,<br />
sofortige Rekonstruktion durchnässter<br />
Notenfetzen. War’s das? Mitnichten…<br />
Organisiert wird das Hinterhofkonzert<br />
seit 13 Jahren von Mitgliedern des Radio-<br />
Sinfonieorchesters <strong>Stuttgart</strong> des SWR. Wo<br />
andere Orchesterprofis schlimmstenfalls<br />
spielmüde dem Saisonende entgegenduseln,<br />
haut die wackere Cannstatter RSO-Crew<br />
nochmal richtig auf die Pauke. Titel wie:<br />
»Virtuosen der Unterwelt« (2008, mit als<br />
Janitscharen verkleideten Musikern),<br />
»Sommernachtstraum« (2009), »Schabbes,<br />
schabbes« (2010), »¡Schelmisch?« (2011),<br />
»Jazz oder nie!« (2012) wurden mit rasantem<br />
dramaturgischen Feuereifer auf Programmfolgen<br />
(oder diese auf den Titel) verbrain -<br />
stormt, und immer kam eine atemberaubende<br />
Mixtur zustande, die selbst die ersten drei<br />
aufgekratzten Reihen der in allen bequemen<br />
und unbequemen Lagen arrangierten Kinder<br />
bei bester Laune und weitgehend in Schach<br />
hielt. Gelassenheit und erfahrene Köpfe<br />
ließen bei aller Planungs-Rasanz niemals<br />
Hektik aufkommen: Es hatte schlicht so zu<br />
kommen wie es kommen sollte. Und es war<br />
immer ein Volltreffer. In diesem Jahr allerdings<br />
auch fürs Unwetter…<br />
Die leer stehende Erdgeschosswohnung<br />
hat sich mittlerweile zum Bersten gefüllt, die<br />
Gewitterluft sorgt ihrerseits dafür, dass es<br />
den Neuankömmling dünken muss, als sei<br />
»Hinterhofkonzert« nur ein Tarnname für<br />
die besonders deftige Variante eines neuen<br />
römischen Dampfbads in Cannstatt. Das<br />
Konzert indes ist noch lange nicht zu Ende!<br />
Zwischen den eilig arrangierten Stücken, die<br />
in der Enge der Wohnung logistisch über-<br />
■ ■ ■<br />
17
Hinterhofkonzert 2011<br />
haupt möglich sind, stehen die Musiker mit<br />
dem Publikum zusammen und reden mit geröteten,<br />
oft trutzigen Gesichtern über das eine<br />
Thema: Just am Tag des Hinterhofkonzerts –<br />
welch bittere Ironie auf der einen, Größe auf<br />
der anderen Seite – hat der Rundfunkrat abgenickt:<br />
Die Fusion der beiden SWR-Orchester<br />
gilt vorerst als beschlossene Sache. Doch die<br />
Jazz-Laune der Hinterhofkonzertisten wischt<br />
die Sorgen flugs wieder fort, Obi Jenne lacht<br />
hinterm Drumset, Mini Schulz wiegt seinen<br />
Bass im Rechteck der Türfüllung, und die<br />
RSO-SolistInnen blasen und streichen sich<br />
voller Esprit und Begeisterung um Kopf und<br />
Kragen…<br />
Ein paar Tage später ziehen Musiker und<br />
Zuhörer wieder ihre gewohnten kleinen<br />
Cannstatter Rundbahnen: Brezeln, Quarkbällchen<br />
und (mit Glück) ein Erdbeertörtchen<br />
von der unvergleichlichen Bäckerei Schurr, ein<br />
Kanister Wasser von der köstlichen Auquelle,<br />
Einkaufstaschen-Krafttraining und Tratsch<br />
auf dem Cannstatter Wochenmarkt, betulicher<br />
Lustwandel durch Wilhelma oder Kurpark,<br />
ein Viertele darauf im mehr oder weniger<br />
versteckten kulinarischen Geheimtipp,<br />
und und und… Hier lässt sich’s gut leben, besonders<br />
mit all den anderen zusammen, die<br />
hier im Musterstädtle für Integration und –<br />
im besten Sinne! – »Multikulti« gelandet sind.<br />
Nicht wenige <strong>Stuttgart</strong>er Musiker wissen<br />
all dies besonders hoch zu schätzen; sie haben<br />
ihre Bleibe in Bad Cannstatt gefunden. Was<br />
aber auch heißt: Nur diejenigen unter ihnen,<br />
■ ■ ■ 18<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
Hinterhofkonzert 2012<br />
die das sichere Gefühl haben, dass ihre wertvolle<br />
Arbeit in jeder Hinsicht geschätzt wird<br />
und nicht zur rechnerischen Verfügungsmasse<br />
verkümmert, werden hier in Bad Cannstatt<br />
wie überall anderswo in der Lage sein,<br />
ihre Kunst mit Freude weiter zu tragen und<br />
eine so liebenswerte Petitesse wie das Cannstatter<br />
Hinterhofkonzert auf die Beine zu<br />
stellen. – Die wiederum nichts weniger ist als<br />
eine große Tat für ein von vielen Herzen getragenes<br />
Miteinander. Und was für die Musiker<br />
gilt, gilt für alle. Mit dieser etwas generös<br />
geratenen These empfiehlt Ihnen jederzeit –<br />
am besten aber beim MUSIKFESTUTTGART<br />
oder zum nächsten Hinterhofkonzert – einen<br />
Besuch in Bad Cannstatt:<br />
Ihr daselbst ansässiger Redaktör.
B A C H E I N M A L A N D E R S ,<br />
A B E R G E N A U S S O . . .<br />
■ E I N G E S A N D T V O N<br />
T H O R B E N G L A R S A N G<br />
Seit ich Ende der 1970er Jahre Bachs Cellosuiten erstmals<br />
im Konzert hörte, lassen sie mich nicht mehr<br />
los; sie begleiten mich bis heute auf vielfältige Weise.<br />
Insbesondere faszinieren mich Interpretationen, die auf<br />
eine Wirkung des spontanen Einfalls abzielen, als sei<br />
der Melodiefluss und die harmonische Fügung eine Inspiration<br />
des Augenblicks. Damit wirken sie wie improvisiert,<br />
mitunter auch wie neue Stücke. Der Zuhörer<br />
kann das Solospiel des in dauerhafter Mehrstimmigkeit<br />
begrenzten Instruments um die unhörbaren, aber folgerichtigen<br />
harmonischen Zusammenhänge ergänzen.<br />
Diese geistige Interaktion des Zuhörers mit dem tatsächlichen<br />
Klang erscheint mir enorm reizvoll.<br />
Als braves Kind erhielt ich lediglich einen einiger -<br />
maßen brauchbaren Klavierunterricht; das Cello<br />
vermag ich nicht zu bedienen. Wie beneidete ich Cellisten,<br />
denen die Fähigkeit gegeben ist, diese Stücke ausführen<br />
zu können. Bis vor kurzem. Denn nun gibt es die<br />
Suiten in einer Adaptation für Tasteninstrumente. Der<br />
Forscher, Hochschullehrer und Cembalist Ludger<br />
Rémy hat sich der Mühe unterzogen, die Melodieflüsse<br />
behutsam stilgerecht auszusetzen. Sicherlich sind Bearbeitungen<br />
originaler Werke durch fremde Hand nicht<br />
jedermanns Sache, weil die ursprüngliche Idee des Originals<br />
mitunter verloren geht. Doch es gibt Ausnahmen.<br />
Denken wir an Bach-Bearbeitungen von Liszt, Brahms,<br />
Busoni oder Stokowski. Diese und andere »Bearbeiter«<br />
sind große Kenner der Bachschen Werke gewesen und<br />
haben ihr Wissen ganz in deren Dienst gestellt. Der alte<br />
Meister sollte nicht verbessert oder gar als »Themengeber«<br />
missbraucht werden. Sie wollten die Rezeption der<br />
Werke vielmehr in die Ästhetik ihrer Zeit transportieren<br />
– das war ihre Modernität.<br />
Und ähnlich tut es Rémy nun auch, mit dem fundamentalen<br />
Unterschied, dass er konsequent mit<br />
Bachs musikalischem Vokabular agiert. Die Intention<br />
beschränkt sich somit auf die »Vervollständigung« der<br />
Suiten zum kompletten Klaviersatz. Genau so, wie es<br />
Bach selbst oder einer seiner Kollegen getan haben<br />
könnte (!). Solches muss auch heute nicht gerechtfertigt<br />
werden. Ein innovativer Ansatz wird von Rémy bewusst<br />
vermieden. Seine fabelhafte Leistung besteht für mich<br />
vielmehr darin, dass er Kennern und wie Liebhabern<br />
eine Möglichkeit bietet, Bachs musikalische Sprache<br />
noch besser verstehen zu lernen. Die Transkription<br />
sieht sich nicht also in einer Virtuosenästhetik verhaftet,<br />
sondern bleibt auch für die »hausmusikalische«<br />
Praxis ausführbar. Allerdings: Der recht happige (wenn<br />
auch im Kontext des Faksimile sicherlich gerechtfertigte)<br />
Preis liegt bei etwa dem Doppelten des Cello-Originals.<br />
Zudem lassen die ungewöhnliche Verarbeitung<br />
und Papierwahl den Verdacht einer vergleichsweise eingeschränkten<br />
Strapazierfähigkeit (Knickbarkeit, Umblätterfreundlichkeit,<br />
Radierfähigkeit) aufkommen.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 77<br />
Urtext-Puristen werden vermutlich über diesen Umgang<br />
mit dem Original die Nase rümpfen, wohl<br />
auch, weil die originäre Grundidee »senza basso« durch<br />
Rémy aufgehoben wird. Aber sei’s drum: Ich habe in<br />
dieser Ausgabe eine faszinierende neue Begegnung mit<br />
einem lieb gewordenen Bachschen Kunstwerk gewonnen<br />
und möchte sie unbedingt empfehlen. Wer mag,<br />
kann die Suiten vom Bearbeiter höchstpersönlich auf<br />
dem Cembalo auf CD oder als MP3 nachhören. Dabei<br />
ist es für mich ganz erstaunlich, in welchem Maße die<br />
Modulationsfähigkeit, Phrasierung und Agogik des gestrichenen<br />
Cellotones im Original den Charakter der<br />
damals beliebten Cembalosuite aufbricht und erweitert.<br />
Hier erkennt man unschwer die Genialität des<br />
Originalwerkes – und den Sinn der Ausführung durch<br />
ein »singfähiges« Instrument umso deutlicher. Dem<br />
entspricht übrigens – nach meinem Dafürhalten – am<br />
ehesten ein modernes Klavier. Es ist zu wünschen, dass<br />
ich nur einer von vielen bleiben werde, die sich der<br />
neuen Ausgabe am Flügel mit dem allergrößten Gewinn<br />
widmen. Vielen Dank, Ludger Rémy.<br />
Six Suites BWV 1007-1012<br />
Adaptionen für Cembalo<br />
von Ludger Rémy<br />
mit Faksimile des Autographen<br />
von Anna Magdalena Bach<br />
von Johann Sebastian Bach<br />
und Ludger Rémy von E.R.P.<br />
Musikverlag Eckart Rahn<br />
50 Euro<br />
DAS KUNSTLIED-FESTIVAL<br />
DER ZWERG<br />
2012<br />
Kartenvorverkauf beim i-Punkt, Marktplatz 1, Sindelfingen<br />
Telefon 07031/94-325, E-Mail: i-punkt@sindelfingen.de<br />
Eintrittspreise: 15 € / 5 € für Schüler und Studenten<br />
■ ■ ■<br />
V O R G E S T E L L T<br />
ODEON Wolboldstraße 21<br />
Musikschule SMTT<br />
FR, 3. 8. 2012, 19:30 Uhr<br />
FRANZ SCHUBERT<br />
Julian Prégardien Tenor<br />
Christoph Schnackertz Piano<br />
Johannes Held Bariton<br />
Sofia Wilkman Piano<br />
SA, 4. 8. 2012, 19:30 Uhr<br />
ROBERT SCHUMANN<br />
Soumaya Hallak Sopran<br />
Philippe Riga Piano<br />
Johannes Held Bariton<br />
Mario Stallbaumer Piano<br />
SO, 5.8.2012, 19 : 30 Uhr<br />
JOHANNES BRAHMS<br />
Silvia Hauer Mezzo-Sopran<br />
Katrin Le Provost Sopran<br />
Johannes Held Bariton<br />
So-Jin Michaela Kim Piano<br />
Neil Beardmore Piano<br />
DI, 7. 8. 2012, 19 : 30 Uhr<br />
HUGO WOLF<br />
Francine Vis Mezzo-Sopran<br />
Johannes Held Bariton<br />
Christian Westergaard Piano<br />
19<br />
Seite 1
P R E S S E S T I M M E N<br />
Z U M A B S C H L U S S K O N Z E R T<br />
D E R B A C H W O C H E<br />
S T U T T G A R T 2 0 1 2<br />
■ Die jungen Menschen aus aller Welt waren begeistert<br />
bei der Sache und sangen die »catholische Messe«<br />
des protestantischen Komponisten mit Inbrunst,<br />
staunenswerter Präzision und nicht selten mit etwas<br />
vorauseilendem Gehorsam etwa im virtuosen »Cum<br />
sancto spiritu«, so dass das Zuhören eine große Freude<br />
war. […] Wiederum ist das Konzept der Bachwoche,<br />
die Arbeit der jungen Musikprofis in den Meister -<br />
kursen mit der Teilhabe eines interessierten Publikums<br />
zu verbinden, voll aufgegangen.<br />
Helmuth Fiedler, <strong>Stuttgart</strong>er Nachrichten,<br />
26. März 2012<br />
■ Das JSB-Ensemble erzielt eine urgewaltige Dynamik<br />
und bietet die Schluss-Chöre des Gloria und Credo in<br />
mitreißendem Drive, der auch das Vorstellungsvermögen<br />
erfahrener Musiker übertrifft. Und wie zart gelang das<br />
Piano im »Et expecto«. Mit dieser harmonisch erstaunlichen,<br />
überirdisch schönen Romantikvorwegnahme<br />
schildert Bach die Jenseitserwartung, als wolle er, wie<br />
Rilling im Gesprächskonzert meinte, fragen: »Kann man<br />
das glauben?« So möchte man jede Einzelheit der Wiedergabe<br />
schildern. […] Rillings Phrasierung ist historisch<br />
orientiert, aber so, dass der Funke überspringt. Nicht nur<br />
die famosen Trompeten, vor allem Rilling und seine Ensembles<br />
wurden zu Recht im Stehen endlos bejubelt.<br />
Martin Betulius, Heilbronner Stimme, 27. März 2012<br />
Z I M M E R F R E I ? – MUSIKFESTÜBCHEN G E S U C H T<br />
Für die aktiven Teilnehmer an unserem<br />
Meisterkurs Gesang zum<br />
MUSIKFESTUTTGART<br />
suchen wir noch Unterkünfte…<br />
■ ■ ■ 20<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
■ Der Chor sang die fünfzehn, strukturell wie in der<br />
Stimmführung vertrackt schwierigen Chorsätze<br />
konzentriert, stilsicher, klanglich ausgewogen – und<br />
vor allem unglaublich gut, was die hohen Ansprüche<br />
an Rhetorik und Deklamation anlangt. Das will was<br />
heißen angesichts des enormen stilistischen Spektrums<br />
der h-Moll-Messe. Besonders schön, dass der Chor<br />
nicht einfach virtuos Töne hin und her bewegte,<br />
sondern auch glaubhaft die Botschaft der Texte vermittelte.<br />
Bei den Soli war das Niveau fast durchweg<br />
ähnlich hoch. Man hörte gerne, sehr gerne [zu].<br />
Annette Eckerle, <strong>Stuttgart</strong>er Zeitung, 26. März 2012<br />
… in der Zeit vom 1. bis 8. September 2012. Die jungen Sängerinnen und Sänger leben von kleinen<br />
Gagen und können sich die <strong>Stuttgart</strong>er Hotelpreise nicht leisten. Für ein Quartier erhalten Sie eine<br />
Aufwandsentschädigung von 20 € pro Nacht mit Frühstück. Hocherfreut sind wir natürlich über<br />
kostenlose Zimmer. Unsere Teilnehmer sind zwischen 20 und 30 Jahre jung; sie sind den ganzen Tag<br />
über in Kursen und Proben und abends im Konzert. Auf beherzte Rückmeldungen hofft: Christa<br />
Richter (Tel. 0711 / 619 21-33 oder Email an kurse@bachakademie.de).<br />
Wer sein Stübchen für einen längeren Zeitraum mit Musikfest-Leben erfüllen möchte: Auch<br />
Àngela Mora, während des Musikfests Praktikantin im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
& Marketing sucht eine günstige Unterkunft vom 13. August bis zum 9. September. Sie lebt in<br />
Barcelona, besucht das Deutsche Gymnasium in der 12. Klasse. Ihre Eltern spielen beide im Orchester<br />
des Gran Teatre del Liceu. Sie selbst spielt Klavier und hat gerade beim Bundeswettbewerb<br />
»Jugend musiziert« in der Kategorie Streichinstrument und Klavier einen 2. Platz erreicht.<br />
Bitte melden Sie sich bei Claudia Brinker Telefon 0711 / 619 21-19<br />
oder per Email an presse@bachakademie.de.
P R O G R A M M Ä N D E R U N G<br />
AKADEMIEKONZERTE<br />
2012 – 2013<br />
Mit einem Abonnement für die Akademiekonzerte unterstützen Sie die <strong>Bachakademie</strong><br />
und Helmuth Rillings Lebenswerk. Ab 96 € . Tel: 0711 61 921 61 . www.bachakademie.de<br />
A KADEMIEK ONZERT 1<br />
SA 13. OKTOBER 2012 . 19:00 . ABO A & SO 14. OKTOBER 2012 . 19:00 . ABO B<br />
L IEDERHALLE . B EETHOVEN-SAAL . Einführung mit Holger Schneider. 18:15<br />
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL . Saul hwv 53<br />
R OBIN JOHANNSEN Sopran (Michal) . C HRISTIANE OELZE Sopran (Merab) .<br />
D AVID ALLSOPP Countertenor (David) . M AXIMILIAN SCHMITT Tenor (Jonathan, Sohn Sauls) .<br />
MARKUS EICHE Bass (Saul) . GÄCHINGER KANTOREI & BACH-COLLEGIUM<br />
STUTTGART . H ELMUTH RILLING Leitung<br />
AKADEMIEKONZERT 2<br />
SA 10. NOVEMBER 2012 . 19:00 . ABO A & SO 11. NOVEMBER 2012 . 19:00 . ABO B<br />
L IEDERHALLE . B EETHOVEN-SAAL . Einführung mit Dr. Michael Gassmann. 18:15<br />
JOHANNES BRAHMS . Ein deutsches Requiem op. 45<br />
H ANNA ELISABETH MÜLLER Sopran . M ICHAEL NAGY Bariton . G ÄCHINGER<br />
K ANTOREI & R ADIO-S INFONIEORCHESTER STUTTGART DES S WR .<br />
HELMUTH RILLING Leitung<br />
AKADEMIEKONZERT 3<br />
SA 15. DEZEMBER 2012 . 19:00 . ABO A & SO 16. DEZEMBER 2012 . 19:00 . ABO B<br />
LIEDERHALLE . BEETHOVEN-SAAL . Einführung mit Holger Schneider. 18:15<br />
JOHANN SEBASTIAN BACH . Weihnachtsoratorium i – iii & vi<br />
JULIA SOPHIE WAGNER Sopran . INGEBORG DANZ Alt . SEBASTIAN KOHLHEPP Alt . MATHIAS HAUSMANN Bass . GÄCHINGER KANTOREI &<br />
BACH-COLLEGIUM STUTTGART . HELMUTH RILLING Leitung<br />
AKADEMIEKONZERT 4<br />
SA 9. FEBRUAR 2013 . 19:00 . ABO A & SO 10. FEBRUAR 201 . 19:00 . ABO B<br />
LIEDERHALE. BEETHOVEN-SAAL . Einführung mit Dr. Michael Gassmann. 18:15<br />
FRANZ LISZT . Die Legende von der heiligen Elisabeth<br />
CHRISTIANE IVEN Elisabeth . MAGDALENA ANNA HOFMANN Landgräfin Sophie .<br />
LAURI VASAR Landgraf Ludwig . IN-SUNG SIM Landgraf Hermann . GÄCHINGER KANTOREI STUTTGART . STUTTGARTER PHILHARMONIKER .<br />
MARTIN HASELBÖCK Leitung<br />
AKADEMIEKONZERT 5<br />
SA 2. MÄRZ 2013 . 19:00 . ABO A & SO 3. MÄRZ 2013 . 19:00 . ABO B<br />
LIEDERHALLE. BEETHOVEN-SAAL . Einführung mit Dr. Michael Gassmann. 18:15<br />
GIUSEPPE VERDI . Messa da Requiem<br />
TAMARA WILSON Sopran . ANKE VONDUNG Alt . WOOKYUNG KIM Tenor .<br />
TORBEN JÜRGENS Bass . GÄCHINGER KANTOREI STUTTGART .<br />
SINFONIEORCHESTER BASEL . HELMUTH RILLING Leitung<br />
AKADEMIEKONZERT 6<br />
SA 27. APRIL 2013 . 1 9:00 . A BO A & SO 28. APRIL 2013 . 1 9:00 . A BO B<br />
LIEDERHALLE. BEETHOVEN-SAAL . Einführung mit Dr. Michael Gassmann. 18:15<br />
FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY . Die erste Walpurgisnacht op. 60 mwv d 3 .<br />
JOHANNES BRAHMS . Nänie op. 82 . W OLFGANG RIHM . Ein neues Werk –<br />
Urau�ührung – anlässlich des 80. Geburtstags von Helmuth Rilling . G ÄCHINGER<br />
KANTOREI & B ACH-COLLEGIUM STUTTGART . H ELMUTH RILLING Leitung<br />
Ein ganz besonderes Konzert zwischen zwei großen Geburtstagen (dem 60. von Wolfgang Rihm und dem 80. von<br />
Helmuth Rilling) vereint Werke dreier Komponisten, die Helmuth Rilling – neben Bach – besonders nahe stehen.<br />
WWW.<strong>BACHAKADEMIE</strong>.DE