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Memini ergo sum - Service.bistumlimburg.de

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<strong>Memini</strong> <strong>ergo</strong> <strong>sum</strong><br />

Christopher Nolans Spielfilm MEMENTO als filmisches<br />

Essay über Gedächtnis und Erinnerung<br />

Es ist das fast schon alltägliche Déjà-vu:<br />

Ich sehe mir <strong>de</strong>n neuesten Blockbuster<br />

aus Hollywood an, und irgendwie<br />

kommt es mir so vor, als hätte ich<br />

diesen Film schon einmal gesehen: Die<br />

Handlung, die Figuren, die dramatischen<br />

Verwicklungen <strong>de</strong>r Geschichte,<br />

all das ist so o<strong>de</strong>r so ähnlich schon unzählige<br />

Male vorher bereits verarbeitet<br />

wor<strong>de</strong>n. Die Griechen hatten doch<br />

Recht: Auch die Filmgeschichte ist<br />

nichts an<strong>de</strong>res als die ewige Wie<strong>de</strong>rkehr<br />

<strong>de</strong>s Immergleichen. Doch die<br />

Griechen kannten Christopher Nolan<br />

nicht. Zunächst lässt sich auch die Geschichte<br />

seines Films MEMENTO auf ein<br />

Muster reduzieren, das <strong>de</strong>m Kinogänger<br />

mehr als vertraut vorkommt: Eine<br />

Frau ist vergewaltigt und ermor<strong>de</strong>t<br />

wor<strong>de</strong>n, und da die Polizei <strong>de</strong>n Täter<br />

nicht fin<strong>de</strong>n kann, macht sich ihr Mann<br />

auf die Suche, um <strong>de</strong>n Tod seiner Frau<br />

zu rächen. Und <strong>de</strong>m Zuschauer bleibt<br />

in solchen Fällen zumeist nur die Frage:<br />

Wer war <strong>de</strong>r Täter? Wird er sie rächen<br />

können? Doch bei MEMENTO ist<br />

alles an<strong>de</strong>rs. Nolan entwickelt für seinen<br />

Film ein Strukturprinzip, für das es<br />

in <strong>de</strong>r gesamten Filmgeschichte kein<br />

Beispiel gibt, und er stellt damit <strong>de</strong>n<br />

Zuschauer vor Herausfor<strong>de</strong>rungen, die<br />

an die Grenze <strong>de</strong>ssen gehen, was in <strong>de</strong>r<br />

Filmrezeption möglich ist.<br />

Die Struktur <strong>de</strong>s Films wird bereits<br />

in <strong>de</strong>r Exposition <strong>de</strong>utlich: Wir sehen<br />

ein Polaroid-Foto, auf <strong>de</strong>m ein Toter zu<br />

sehen ist. Die Hand we<strong>de</strong>lt mit <strong>de</strong>m Foto<br />

und das Bild beginnt allmählich zu<br />

verschwin<strong>de</strong>n, bis schließlich nichts<br />

mehr darauf zu sehen ist – das Bild verschwin<strong>de</strong>t<br />

in <strong>de</strong>r Kamera – <strong>de</strong>r Fotograf<br />

nimmt das Bild auf – eine Patrone<br />

liegt auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, sie fängt an zu<br />

rollen und verschwin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Pistole –<br />

<strong>de</strong>r Ermor<strong>de</strong>te steht auf und starrt mit<br />

Memento<br />

Franz-Günther Weyrich<br />

© cinetext<br />

angstverzerrtem Gesicht in die Kamera.<br />

Spätestens hier ist <strong>de</strong>m Zuschauer<br />

klar, dass die Szene im Rückwärtsgang<br />

abläuft. Was an dieser Stelle noch nicht<br />

erkennbar ist, son<strong>de</strong>rn sich erst im weiteren<br />

Verlauf <strong>de</strong>s Films erschließt, ist,<br />

dass hier am Anfang <strong>de</strong>s Films das En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Geschichte erzählt wird: Wir sehen<br />

die Rache <strong>de</strong>s Mannes und meinen<br />

<strong>de</strong>n Täter zu kennen. Was kann nun folgen?<br />

Nolans Konzept ist ebenso „einfach“<br />

wie genial: Was folgt, ist das, was<br />

vorher passiert ist, d. h. <strong>de</strong>r „Rückwärtsgang“<br />

ist das durchgängig und bis<br />

zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Films durchgehaltene<br />

Strukturmuster <strong>de</strong>s Films: Je<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />

Chronologie <strong>de</strong>s Films folgen<strong>de</strong> Szene<br />

liegt in <strong>de</strong>r Chronologie <strong>de</strong>r Geschichte<br />

genau vor <strong>de</strong>r zuletzt gesehenen Szene,<br />

und am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Films sehen wir <strong>de</strong>n<br />

Anfang <strong>de</strong>r Geschichte. Zugleich aber<br />

wird diese „Rückwärtsbewegung“ überlagert<br />

von einer (klassischen) Vorwärtsbewegung.<br />

In eingeschobenen Schwarzweißszenen<br />

sehen wir die Hauptfigur<br />

<strong>de</strong>s Films in einem Zimmer ihre bzw.<br />

eine Vorgeschichte erzählen.<br />

Zweierlei dürfte an dieser Stelle bereits<br />

<strong>de</strong>utlich sein: 1. Eine klassische Inhaltsangabe<br />

<strong>de</strong>s Films ist hier nicht möglich.<br />

Denn welcher Chronologie sollte<br />

sie folgen: <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Films o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Geschichte? 2. Der Film erfor<strong>de</strong>rt ein<br />

Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration,<br />

das in <strong>de</strong>r Tat an die Grenzen<br />

<strong>de</strong>s Möglichen geht. Ein interessantes<br />

Konzept, ein strukturalistischer „Gag“,<br />

ein filmisches Experiment?! Zweifelsohne.<br />

Doch was die Auszeichnung „genial“<br />

bei Nolans Films m. E. rechtfertigt,<br />

liegt nicht allein in <strong>de</strong>r Struktur als<br />

solcher. Sie ist nicht Selbstzweck, son<strong>de</strong>rn<br />

steht im Dienst seiner Geschichte.<br />

Die Hauptfigur <strong>de</strong>s Films hat die Vergewaltigung<br />

und Ermordung ihrer<br />

Frau hilflos mit ansehen müssen. Der<br />

Schock hat bei ihr zu einer Gedächtnisbzw.<br />

Erinnerungsstörung geführt. An<br />

UNTERRICHTSPRAXIS<br />

189<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

INFO 32 · 3/2003


UNTERRICHTSPRAXIS<br />

190<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

Memento<br />

alles, was vor <strong>de</strong>r Tat passierte, erinnert<br />

sie sich noch „normal“, für die Ereignisse<br />

ab <strong>de</strong>r Tat jedoch reicht ihr Erinnerungsvermögen<br />

nur jeweils 15 Minuten<br />

zurück. Was vorher geschah, vergisst<br />

sie sofort. Was Nolan also mit seiner<br />

„Rückwärtserzählung“ erreicht, ist<br />

nichts an<strong>de</strong>res, als dass <strong>de</strong>r Zuschauer<br />

in die Situation <strong>de</strong>r Hauptfigur hineinversetzt<br />

wird. So wie diese, weil sie es<br />

vergessen hat, wissen auch wir nicht,<br />

was vorher geschehen ist, weil wir es<br />

erst in <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Szene erfahren.<br />

Damit verdichtet sich <strong>de</strong>r Film<br />

gleich in mehrfacher Hinsicht zu einer<br />

Reflexion über Gedächtnis und Erinnerung,<br />

die an Eindrücklichkeit und Tiefe<br />

ihresgleichen sucht.<br />

Zurück zur Geschichte: Die zentrale<br />

Aufgabe <strong>de</strong>r Hauptfigur, Leonard<br />

o<strong>de</strong>r Lennie, wie ihn seine Frau nannte,<br />

ist eine investigative. Er will herausfin<strong>de</strong>n,<br />

wer seine Frau getötet hat, um ihren<br />

Tod zu rächen. Ein solches investigatives<br />

Unternehmen heißt: Fakten sammeln,<br />

sie verbin<strong>de</strong>n, verarbeiten, um einen<br />

Vorgang, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />

liegt, zu rekonstruieren. Unabdingbar<br />

notwendig ist hier aber gera<strong>de</strong> eine Gedächtnisleistung,<br />

zu <strong>de</strong>r Leonard auf<br />

Grund seiner mentalen Störung gar nicht<br />

in <strong>de</strong>r Lage ist. So muss er seine Erinnerung<br />

„künstlich“ herstellen: Er nimmt<br />

© cinetext<br />

Polaroid-Fotos von seinem Hotel und<br />

<strong>de</strong>n Menschen auf, die er kennt, und<br />

beschriftet sie. Sie wer<strong>de</strong>n mit Namen<br />

und Kommentaren versehen, um sie so<br />

in seine Untersuchung, in sein Leben<br />

einordnen zu können. Die beson<strong>de</strong>rs<br />

wichtigen Fakten – sie betreffen seine<br />

Aufgabe, die Ermittlung und Bestrafung<br />

<strong>de</strong>s Täters – tätowiert er sich auf<br />

seinen Körper. Den Ausgangspunkt <strong>de</strong>s<br />

Films, also <strong>de</strong>n Endpunkt <strong>de</strong>r Geschichte,<br />

kann <strong>de</strong>r Zuschauer bald einordnen:<br />

Es han<strong>de</strong>lt sich hier um <strong>de</strong>n Vollzug <strong>de</strong>r<br />

Rache. Leonard erschießt Teddy, die<br />

zweite Hauptfigur <strong>de</strong>s Films, als vermeintlichen<br />

Mör<strong>de</strong>r seiner Frau. Die<br />

Leitfragen für <strong>de</strong>n Zuschauer sind damit<br />

nicht mehr die klassischen eines je<strong>de</strong>n<br />

Krimis „Wer war es?“, „Wird <strong>de</strong>r<br />

Täter gefasst?“ son<strong>de</strong>rn „Wie kommt<br />

es dazu?“, „Warum tut er das?“ Dabei<br />

wird im Verlauf <strong>de</strong>s Films bald <strong>de</strong>utlich,<br />

dass Leonards „Ermittlungen“ eine<br />

unerwartete Wendung genommen haben,<br />

die die Zuverlässigkeit seiner „Aufzeichnungen“<br />

immer mehr in Frage<br />

stellt. Zu<strong>de</strong>m war es gera<strong>de</strong> jener Teddy,<br />

<strong>de</strong>r Leonard immer wie<strong>de</strong>r darauf<br />

aufmerksam machte, dass die Menschen<br />

seine Gedächtnisstörung ausnutzen,<br />

um ihn für ihre Zwecke zu benutzen.<br />

Doch da das Polaroid-Foto von<br />

Teddy Leonards Vermerk trägt „Trau<br />

seinen Lügen nicht“, glaubt er <strong>de</strong>ssen<br />

Warnungen nicht. Nicht nur, dass <strong>de</strong>r<br />

Portier in Leonards Hotel diesem gleich<br />

zwei Zimmer vermietet – „Die Zeiten<br />

sind schlecht“ –, gravieren<strong>de</strong>r für Leonards<br />

Rekonstruktion <strong>de</strong>r Ereignisse ist<br />

die Figur <strong>de</strong>r Nathalie, auf die er im<br />

Lauf seiner Ermittlungen stößt und die<br />

ihm ihre Hilfe anbietet. Sie liefert Leonard<br />

die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Indizien für<br />

Teddy als <strong>de</strong>m Mör<strong>de</strong>r von Leonards<br />

Frau. Für sie aber ist jener Teddy verantwortlich<br />

für <strong>de</strong>n Tod ihres Freun<strong>de</strong>s<br />

– seine Rache ist also in Wahrheit die<br />

ihre. Und auch auf einen weiteren ihrer<br />

„Fein<strong>de</strong>“ setzt Nathalie Leonard an. In<br />

einer Szene <strong>de</strong>s Films kommt sie mit<br />

bluten<strong>de</strong>m Gesicht ins Zimmer. Ein gewisser<br />

Dodd habe ihr die Verletzungen<br />

zugefügt, woraufhin sich Leonard auf<br />

die Suche nach ihm macht. Die folgen<strong>de</strong><br />

Szene zeigt die „Vorgeschichte“: Im<br />

gleichen Zimmer sammelt Nathalie in<br />

Eile alle Schreibutensilien ein und provoziert<br />

Leonard zugleich so, dass dieser<br />

sie blutig schlägt. Sie verlässt die<br />

Wohnung und wartet im Auto vor <strong>de</strong>m<br />

Haus so lange, bis Leonard, <strong>de</strong>r vergeblich<br />

nach einem Stift sucht um diese „Erinnerung“<br />

festzuhalten, alles vergessen<br />

hat. Als sie wie<strong>de</strong>r hereinkommt präsentiert<br />

sie ihm Dodd als ihren Peiniger.<br />

Die Schlusszene <strong>de</strong>s Films stellt<br />

<strong>de</strong>n letzten Wen<strong>de</strong>punkt <strong>de</strong>r Erzählung<br />

dar, <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong> Erzählstränge zusammenfügt.<br />

In <strong>de</strong>n Schwarzweißsequenzen <strong>de</strong>s<br />

Films befin<strong>de</strong>t sich Leonard in seinem<br />

Motelzimmer und telefoniert mit einem<br />

unbekannten Gesprächspartner. Dabei<br />

erfährt <strong>de</strong>r Zuschauer von Leonards<br />

(Vor-) Geschichte: Vor seiner Erkrankung<br />

arbeitet er als Versicherungsagent<br />

und ist dabei mit <strong>de</strong>m Fall eines gewissen<br />

Sammy Jenkis beauftragt. Dieser<br />

lei<strong>de</strong>t an <strong>de</strong>r gleichen Gedächtnisstörung<br />

wie später Leonard. Leonards<br />

Auftrag ist herauszufin<strong>de</strong>n, ob Sammy<br />

wirklich krank o<strong>de</strong>r nur ein Simulant<br />

ist, was seine Versicherung von Zahlungen<br />

entbin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Verschie<strong>de</strong>ne<br />

Tests führen Leonard zu <strong>de</strong>r Schlussfolgerung,<br />

dass Sammy zwar tatsächlich<br />

krank, sein Lei<strong>de</strong>n aber nicht physischer,<br />

son<strong>de</strong>rn psychischer Natur ist.<br />

INFO 32 · 3/2003


Auch in diesem Fall braucht die Kasse<br />

nicht zu zahlen. Sammys Frau lei<strong>de</strong>t<br />

sehr unter <strong>de</strong>r Krankheit ihres Mannes<br />

und <strong>de</strong>r Unsicherheit, was <strong>de</strong>r Grund<br />

für sein Lei<strong>de</strong>n ist. Als sie von Leonard<br />

wissen will, ob ihr Mann simuliere, erhält<br />

sie von diesem die ausweichen<strong>de</strong><br />

Antwort: „Ich bin <strong>de</strong>r Meinung, er<br />

müsste neue Erlebnisse abspeichern<br />

können“. Das veranlasst sie, ihren Mann<br />

ein letztes Mal zu „prüfen“. Da sie zuckerkrank<br />

ist und Insulin braucht, das<br />

ihr Mann ihr auf ihre Auffor<strong>de</strong>rung hin<br />

spritzt, erinnert sie ihn „im Viertelstun<strong>de</strong>ntakt“<br />

an diese Spritze, um zu sehen,<br />

ob seine Liebe zu ihr <strong>de</strong>n Bann <strong>de</strong>s Vergessens<br />

sprengt. Sammy verweigert<br />

keine dieser Spritzen, und sie fällt<br />

durch diese Überdosis ins Koma und<br />

stirbt, was ihr Mann sich nicht erklären<br />

kann. In <strong>de</strong>n Erzählungen Leonards<br />

schimmert immer wie<strong>de</strong>r durch, dass er<br />

sich für dieses Geschehen (mit-)verantwortlich<br />

fühlt. In <strong>de</strong>r letzten <strong>de</strong>r<br />

Schwarzweißszenen, die nahtlos in<br />

Farbe übergeht, erhält Leonard dann<br />

von seinem Gesprächspartner einen Hinweis<br />

auf <strong>de</strong>n Mör<strong>de</strong>r seiner Frau. Er verlässt<br />

das Haus und trifft auf <strong>de</strong>m Weg<br />

Teddy, <strong>de</strong>r sich ihm als Polizist vorstellt.<br />

War er sein Gesprächspartner? In<br />

einem verfallenen Gebäu<strong>de</strong> trifft Leonard<br />

dann <strong>de</strong>n vermeintlichen Mör<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>n Freund von Nathalie und er ermor<strong>de</strong>t<br />

ihn. Doch ein dahingehauchtes Wort<br />

„Sammy“ <strong>de</strong>s vermeintlich Toten weckt<br />

in Leonard Zweifel, ob er <strong>de</strong>n Richtigen<br />

getroffen hat. Als Teddy dazukommt,<br />

bedroht er diesen und stellt ihn<br />

zur Re<strong>de</strong>. Der angeschlagene Teddy offeriert<br />

Leonard daraufhin verschie<strong>de</strong>ne<br />

Versionen <strong>de</strong>s Geschehens: In Wahrheit<br />

habe Leonard selbst seine Frau getötet<br />

und zwar so, wie dies auch Sammy getan<br />

hat, <strong>de</strong>r in Wirklichkeit nur die Projektionsfläche<br />

für Leonards eigene Vergangenheit<br />

sei. Die zweite Version: Teddy<br />

sei <strong>de</strong>r ermitteln<strong>de</strong> Polizist in Mordfall<br />

seiner Frau gewesen. Der Täter sei<br />

ein Junkie gewesen, <strong>de</strong>n er Leonard als<br />

Täter präsentiert und <strong>de</strong>r sich daraufhin<br />

auch gerächt habe. Doch das Glücksgefühl<br />

auf Leonards Gesicht sei danach<br />

schnell verschwun<strong>de</strong>n, er habe sich an<br />

seine Rache nicht mehr erinnern können.<br />

So habe Teddy ihm immer weitere<br />

„Täter“ präsentiert, <strong>de</strong>ren Tötung gleichsam<br />

in „bei<strong>de</strong>rseitigem Interesse“ gelegen<br />

habe. Der so als „Killer“ missbrauchte<br />

Leonard legt daraufhin bewusst eine<br />

Spur, von <strong>de</strong>r er weiß, dass sie ihn später<br />

möglicherweise zu Teddy als Mör<strong>de</strong>r<br />

seiner Frau führen wird. Er lässt sich<br />

das Kennzeichen von Teddys Auto als<br />

Indiz für <strong>de</strong>n Mör<strong>de</strong>r seiner Frau auf<br />

<strong>de</strong>n Körper tätowieren.<br />

Wer auch immer von <strong>de</strong>n Lesern<br />

dieser Zeilen bis zu dieser Stelle durchgedrungen<br />

ist, <strong>de</strong>m wird sicherlich <strong>de</strong>utlich<br />

gewor<strong>de</strong>n sein, wie schwierig es<br />

ist, aus diesem Film eine Geschichte zusammenzusetzen.<br />

Und auch <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong><br />

Versuch behauptet nicht, <strong>de</strong>r (einzig)<br />

richtige zu sein. Es bedarf eines sehr<br />

hohen Maßes an Konzentration, verbun<strong>de</strong>n<br />

mit einem gewissen „kombinatorischen<br />

Vermögen“, um die Erzählung<br />

zu einem mehr o<strong>de</strong>r weniger sinnvollen<br />

Ganzen zusammenzufügen. Und<br />

auch am En<strong>de</strong> bleiben wohl noch mehr<br />

Fragen als Antworten. Hier liegt aber<br />

auch schon eine Stärke <strong>de</strong>s Films in religionspädagogischen<br />

Zusammenhängen:<br />

Der Zuschauer ist gezwungen, über<br />

einen langen Zeitraum diese Konzentration<br />

aufrecht zu erhalten und aktiv<br />

eine „Sinnkonstruktion“ für sich herzustellen.<br />

Die Fragen, die er aufwirft, seien<br />

im Folgen<strong>de</strong>n in vier Themenkomplexen<br />

ange<strong>de</strong>utet.<br />

„Du blickst doch nicht durch“ –<br />

Erinnerung und Welt<strong>de</strong>utung<br />

Nolans Film ist ein düsterer Thriller.<br />

Die Welt, die wir durch Leonards<br />

Augen sehen, erscheint chaotisch, „wüst<br />

und leer“, bestimmt von Egoismen, von<br />

Mißtrauen, Ausbeutung und Rachsucht<br />

und im Letzten undurchschaubar und<br />

sinnlos. In dieser pessimistischen Weltsicht<br />

und einem nicht weniger pessimistischen<br />

Menschenbild trifft sich<br />

Nolans Film mit <strong>de</strong>m „film noir“, <strong>de</strong>r<br />

sogenannten „Schwarzen Serie“ im<br />

amerikanischen Film <strong>de</strong>r 40er Jahre, zu<br />

<strong>de</strong>m Werke wie DER GROSSE SCHLAF<br />

(USA1946), DIE SPUR DES FALKEN (USA<br />

1941) u. a. gehören. 1 Hier wie dort versuchen<br />

die Protagonisten, eine Ordnung,<br />

eine Struktur in <strong>de</strong>r Welt zu erkennen,<br />

um sich in ihr zurecht zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Was Nolans Film von <strong>de</strong>n genannten<br />

unterschei<strong>de</strong>t, ist, dass in MEMENTO<br />

eine solche Strukturfindung <strong>de</strong>utlich<br />

als Konstrukt <strong>de</strong>s Ichs erkennbar wird.<br />

Eine Ordnung liegt nicht <strong>de</strong>r Welt gleichsam<br />

immanent zu Grun<strong>de</strong>, sie ist nicht<br />

aus <strong>de</strong>n „Fakten“ zu erheben, son<strong>de</strong>rn<br />

eine Leistung <strong>de</strong>s Individuums. Während<br />

Leonard anfangs noch das „Faktum“<br />

als allein zuverlässige Größe postuliert<br />

und die „Erinnerung“ als trügerisch<br />

und damit als unzuverlässig qualifiziert,<br />

wird er am En<strong>de</strong> doch konstatieren:<br />

„Wir alle brauchen eine Erinnerung<br />

...“ Ohne Erinnerung, ohne eine „ge<strong>de</strong>utete<br />

Vergangenheit“ ist die Gegenwart<br />

nicht zu verstehen, ist eine Orientierung<br />

in ihr nicht möglich. Dass Leonard<br />

am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Falschen erschießt,<br />

hat auch damit zu tun, dass er seine<br />

„Erinnerung“ als „Faktum“ auf seinen<br />

Körper tätowiert.<br />

Ein weiteres wesentliches Element<br />

für eine Orientierung in <strong>de</strong>r Welt liegt<br />

aber auch auf <strong>de</strong>r zwischenmenschlichen<br />

Beziehungsebene. Die Figur <strong>de</strong>r<br />

Nathalie ist für Leonard insofern wichtig,<br />

als sie ihm bei seiner Suche hilft<br />

und die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hinweise liefert.<br />

Doch wie glaubwürdig ist sie? Leonard<br />

erfährt, dass sie ihn nur ausnutzt,<br />

doch er kann die Erinnerung daran nicht<br />

speichern. So erscheint sie ihm bei <strong>de</strong>r<br />

nächsten Begegnung gleichsam wie<strong>de</strong>r<br />

als „tabula rasa“. Ihre Glaubwürdigkeit<br />

kann er nur einem momentanen Eindruck<br />

entnehmen, <strong>de</strong>ssen Unzuverlässigkeit<br />

sich <strong>de</strong>m Zuschauer erschließt,<br />

als er die „Erinnerung“ nachgeliefert bekommt.<br />

Ohne Erinnerung ist also auch<br />

Vertrauen nicht möglich bzw. bleibt ein<br />

riskantes Unterfangen.<br />

Von solchen Überlegungen ausgehend<br />

lässt sich m. E. auch ein Bogen<br />

schlagen zur jüdisch-christlichen Tradition.<br />

Was hier auf einer individuellen<br />

Ebene angesprochen wird, gilt auch für<br />

die kollektive: In <strong>de</strong>r Erinnerung an die<br />

Geschichte <strong>de</strong>s Volkes Israel, die als<br />

UNTERRICHTSPRAXIS<br />

191<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

INFO 32 · 3/2003


UNTERRICHTSPRAXIS<br />

192<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

Geschichte Israels mit <strong>de</strong>m einen Gott<br />

Jahwe interpretiert wird, entwickelt<br />

diese Tradition eine Deutung <strong>de</strong>r Welt<br />

und <strong>de</strong>r menschlichen Existenz, die von<br />

diesem Gott gewirkt, von ihm getragen<br />

und auf ihn ausgerichtet ist. Sie stiftet<br />

für <strong>de</strong>n Menschen individuell wie kollektiv<br />

Sinn und verhilft ihm damit zu<br />

einer Orientierung in seinem Leben.<br />

Und nicht zuletzt ist sie – gera<strong>de</strong> im jüdischen<br />

Kontext – <strong>de</strong>r zentrale Bestandteil<br />

kultureller I<strong>de</strong>ntität. Doch damit<br />

sind wir schon bei einem zweiten Themenkomplex:<br />

„Du weißt doch gar nicht, wer du bist“<br />

– Erinnerung und I<strong>de</strong>ntität<br />

Wer bin ich? Wer bist du? Leonard.<br />

Teddy. Sammy. Nathalie ... Namen auf<br />

Fotos, mit knappen und manchmal<br />

durchgestrichenen Kommentaren versehen.<br />

Angesichts <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s seiner geliebten<br />

Frau sind diese „I<strong>de</strong>ntitäten“ für<br />

Leonard nur mehr „Banalitäten, die ich<br />

auf kleinen Zettelchen festhalte“. Eine<br />

emotionale Beziehung kann er zu diesen<br />

Menschen nicht mehr herstellen.<br />

Doch sind sie überhaupt die, die sie zu<br />

sein scheinen? Wer ist Teddy? Ein Polizist?<br />

Ein Spitzel? Ein Freund? Wer ist<br />

Sammy? Der, als <strong>de</strong>n ihn Leonard schil<strong>de</strong>rt?<br />

O<strong>de</strong>r ist er nichts als eine Projektion<br />

von Leonards eigener Geschichte?<br />

Ohne Erinnerung verblassen auch die<br />

Biographien wie das Polariodfoto am<br />

Anfang <strong>de</strong>s Films. Und Teddy hat sicher<br />

recht, wenn er Leonard vorwirft:<br />

„Du weißt doch gar nicht, wer du bist!“<br />

Welche Verbindung gibt es zwischen<br />

<strong>de</strong>m lieben<strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Tod seiner<br />

Frau zu verarbeiten hat, und <strong>de</strong>m<br />

gna<strong>de</strong>nlosen Mör<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Tod seiner<br />

Frau immer und immer wie<strong>de</strong>r rächen<br />

wird? Leonard schafft sich künstlich<br />

eine solche Verbindung, in<strong>de</strong>m er<br />

nach <strong>de</strong>m Muster Schuld und Sühne sich<br />

selbst als Rächer <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s seiner Frau<br />

sieht. Alle auf Zetteln o<strong>de</strong>r Körper festgehaltenen<br />

„biographischen Splitter“<br />

dienen letztendlich nichts an<strong>de</strong>rem, als<br />

dieser selbstgeschaffenen I<strong>de</strong>ntität ein<br />

Kontinuum zu geben, das die Erinnerung<br />

nicht etablieren kann. Wie fragil<br />

dieses Unterfangen ist, wird im Film an<br />

vielen Stellen <strong>de</strong>utlich: Ist nicht vielleicht<br />

Leonard selbst <strong>de</strong>r „Mör<strong>de</strong>r“ seiner<br />

Frau, <strong>de</strong>r seine Tat auf eine an<strong>de</strong>re<br />

Person (Sammy Jenkis) projiziert? Wer<strong>de</strong>n<br />

weite Teile seines Lebens von ihm<br />

selbst nicht ausgeblen<strong>de</strong>t, da die Fixierung<br />

auf seine Aufgabe ihm alles an<strong>de</strong>re<br />

als unwichtig erscheinen lässt? Und<br />

selbst <strong>de</strong>n Vollzug seiner Rache kann er<br />

für sein „Selbstbewusstsein“ nicht nutzbar<br />

machen. Hier wird die zentrale Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>s Erinnerns für die Ausbildung<br />

von I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>utlich, die zwar<br />

nicht „objektiv“, son<strong>de</strong>rn immer auch<br />

selektiv, verklärend o<strong>de</strong>r verdrängend,<br />

aber eben eine I<strong>de</strong>ntität konstruieren<strong>de</strong><br />

und konstituieren<strong>de</strong> Leistung <strong>de</strong>s Individuums<br />

ist, ohne die <strong>de</strong>r Mensch nicht<br />

auskommt.<br />

Auch von hier aus führt m. E. wie<strong>de</strong>r<br />

eine Linie zum Selbstverständnis<br />

<strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums wie <strong>de</strong>s Christentums.<br />

Wesentliche Bezugspunkte jüdischchristlicher<br />

I<strong>de</strong>ntität sind die Exodus-<br />

Erfahrung <strong>de</strong>s Volkes Israel sowie Tod<br />

und Auferstehung Jesu Christi. Von hier<br />

aus verstehen sich Ju<strong>de</strong>n als Ju<strong>de</strong>n und<br />

Christen als Christen. Zugleich aber<br />

liegen diese „Gravitationszentren“ in<br />

einem geschichtlichen Kontinuum, das<br />

für die religiöse I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />

<strong>de</strong>s Volkes Israel, <strong>de</strong>r Kirche als<br />

„Volk Gottes“ ebenso von Be<strong>de</strong>utung ist.<br />

Die in <strong>de</strong>r Geschichte sich ereignen<strong>de</strong><br />

Tat Gottes und die Geschichte <strong>de</strong>s<br />

Menschen mit Gott, die sich auf dieser<br />

Erfahrung grün<strong>de</strong>t und im Erinnern vergegenwärtigt<br />

wer<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>n jenes geschichtliche<br />

Kontinuum, in das sich<br />

Christen bzw. Ju<strong>de</strong>n einordnen. Im<br />

christlichen Kontext gewinnt dies unter<br />

<strong>de</strong>n Begriffen Apostolizität, Sukzession,<br />

Tradition u. a. noch einmal eine<br />

ganz eigene Be<strong>de</strong>utung. Wesentlich<br />

in diesem Zusammenhang ist damit aber,<br />

dass ohne Erinnerung, ohne die Vergegenwärtigung<br />

<strong>de</strong>s Vergangenen, in <strong>de</strong>r<br />

sich nicht zuletzt auch eine Vision <strong>de</strong>r<br />

Zukunft verbirgt, religiöse I<strong>de</strong>ntität<br />

kaum zu erlangen ist. Der Mensch bleibt<br />

in sich selbst gefangen. Dies ist auch<br />

das Bild, das <strong>de</strong>r Film von Leonhard<br />

zeichnet: Er ist gleichsam in <strong>de</strong>r Gegenwart<br />

gefangen. Ein „sinngeben<strong>de</strong>r<br />

Bezugspunkt“ in seiner Vergangenheit<br />

ist zwar vorhan<strong>de</strong>n, doch kann er sich<br />

an diesen und „seine“ Geschichte nach<br />

<strong>de</strong>m Ereignis nicht mehr erinnern. Alle<br />

Versuche einer „Rekonstruktion“ bleiben<br />

fragwürdig. Und nicht zuletzt bleibt<br />

damit auch kaum eine Zukunftsperspektive.<br />

Dies wird an einem dritten<br />

Aspekt noch einmal <strong>de</strong>utlicher:<br />

„Ich hab’ dir einen Grund gegeben,<br />

weiter zu leben“ – Erinnerung und<br />

Sinn<br />

„Eine tote Frau, nach <strong>de</strong>r du dich<br />

sehnen kannst, das verleiht <strong>de</strong>inem Leben<br />

Sinn.“ „Ich hab’ dir einen Grund<br />

gegeben, weiter zu leben.“ Zwischen<br />

diesen bei<strong>de</strong>n Worten Teddys scheint<br />

die Lebens- und Sinnperspektive Leonhards<br />

zu liegen. Die Sehnsucht nach<br />

seiner Frau, die er durch Erinnerungsstücke<br />

(Buch, Bürste, etc.) und gestellte<br />

Szenen (mit Hilfe einer Prostituierten)<br />

in sein Leben wie<strong>de</strong>r hereinholen<br />

will, und sein Begehren, ihren Tod zu<br />

rächen, sind die zentralen Motive seines<br />

Han<strong>de</strong>lns. Die Menschen, die ihm<br />

auf diesem Weg begegnen, sind dabei<br />

nur insofern von Be<strong>de</strong>utung, als sie ihm<br />

nützlich sind. Folglich teilt er sie in<br />

Freun<strong>de</strong> (jene, die ihm bei seiner Rache<br />

behilflich sind) und Fein<strong>de</strong> (solche, die<br />

ihm falsche Informationen geben/Täter)<br />

ein. Da er seine Frau nicht wie<strong>de</strong>r<br />

lebendig machen kann, da er Beziehungen<br />

zu an<strong>de</strong>ren Menschen nicht aufbauen<br />

bzw. vertiefen kann, bleibt ihm<br />

als einzige Perspektive <strong>de</strong>r Vollzug seiner<br />

Rache. Doch die Erzählung Teddys<br />

am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Films macht <strong>de</strong>utlich:<br />

Diese Rache ist längst vollzogen, das<br />

„Glücksgefühl“ aber im Vergessen verblasst.<br />

So eröffnet ihm Teddy – wohl<br />

überwiegend aus ganz eigennützigen<br />

Motiven – die Möglichkeit, diese Rache<br />

immer und immer wie<strong>de</strong>r zu vollziehen.<br />

Leonhards Leben wird so ein<br />

Kreislauf aus Suche – Rache – Glücksgefühl.<br />

Ohne Erinnerung ist Leonard gezwungen,<br />

jenen „gerechten Ausgleich“<br />

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immer wie<strong>de</strong>r aufs Neue herzustellen.<br />

Doch ist es wirklich nur Teddy, <strong>de</strong>r ihm<br />

dazu verhilft? Leonard selbst legt sich<br />

„Spuren“, die seine Suche vorantreiben,<br />

er vernichtet Fotos, die sein Opfer<br />

zeigen. Bis zum Schluss lässt er sich<br />

nicht das „erlösen<strong>de</strong>“ „I’ve done it“ auf<br />

die Brust tätowieren 2 . Nichts ist zu erkennen,<br />

das aus diesem Kreislauf heraus<br />

führen könnte. Damit aber gibt es<br />

auch keine „übergreifen<strong>de</strong>“ Sinnperspektive.<br />

Leonard kann nicht glücklich<br />

wer<strong>de</strong>n. Es gibt keine „Erfüllung“ in<br />

seinem Leben – eben auch, weil es keine<br />

Erinnerung gibt. Sein „Glück“ sind<br />

Gefühlsmomente, die ebenso schnell<br />

entstehen wie sie verschwin<strong>de</strong>n; eine<br />

höhere Ebene, ein „Plateau“ 3 <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />

und <strong>de</strong>s Glücks, wie Erich Fromm<br />

schreibt, kann Leonard nicht erreichen.<br />

Auch diese Beobachtungen zum<br />

Film liefern eine Perspektive, von <strong>de</strong>r<br />

aus theologische Überlegungen in <strong>de</strong>n<br />

Blick genommen wer<strong>de</strong>n können: Der<br />

„Kreislauf“ von Schuld und Sühne, die<br />

Opferrituale zur „Versöhnung Gottes“<br />

bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Hintergrund für viele alttestamentliche<br />

Texte. Auch die Talionsformel<br />

„Auge um Auge ...“ nimmt hierauf<br />

Bezug, in<strong>de</strong>m sie mit <strong>de</strong>m Gedanken<br />

<strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit das Ritual<br />

<strong>de</strong>r Rache begrenzen will. Die Opfertheologie<br />

<strong>de</strong>s Neuen Testaments vor allem<br />

im Hebräerbrief greift dies auf:<br />

Christus ist hier das wahre, das einzige<br />

und endgültige Opfer, das die Welt mit<br />

Gott versöhnt. Sein Opfertod erlöst die<br />

Welt und befähigt <strong>de</strong>n Menschen, diese<br />

Versöhnung Gestalt wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />

Dieses „Ein für allemal“ durchbricht<br />

jenen Kreislauf <strong>de</strong>r Rache. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise<br />

ist gera<strong>de</strong> die Erinnerung<br />

an dieses Opfer Jesu Christi und <strong>de</strong>ssen<br />

Vergegenwärtigung in <strong>de</strong>r Eucharistie<br />

ein ganz zentrales Element christlichen<br />

Lebens- und Glaubensvollzugs.<br />

„Du bist schuldig und weißt nicht warum“<br />

– Erinnerung und Schuld<br />

Der letzte Aspekt, <strong>de</strong>r an dieser<br />

Stelle noch angesprochen wer<strong>de</strong>n soll,<br />

scheint auf <strong>de</strong>n ersten Blick <strong>de</strong>m Film<br />

Zitate aus <strong>de</strong>m Dialog und <strong>de</strong>r Off-Erzählung<br />

• Erinnerung ist Verrat.<br />

• ... setzt du all das zusammen, ist das Gefühl für <strong>de</strong>n Menschen da.<br />

• Nur mit Routine kann ich mein Leben über die Bühne bringen.<br />

• Man muss die Zusammenhänge erkennen.<br />

• Nathalie: Vertrau <strong>de</strong>inem eigenen Urteil! – Leonard: Es gibt Dinge, die<br />

stehen fest!<br />

• Sie ist tot, und die Gegenwart besteht aus Banalitäten, die ich auf kleinen<br />

Zettelchen festhalte!<br />

• Wie soll ich meine Wun<strong>de</strong>n heilen, wenn ich die Zeit nicht empfin<strong>de</strong>?!<br />

• Ich dachte man liest, weil man wissen will, was als nächstes passiert?!<br />

• Du bist ärgerlich ... du bist schuldig, und weißt nicht wieso.<br />

• Du erinnerst dich nur an das, was du für wahr halten willst!<br />

• Ich will mein Leben wie<strong>de</strong>r haben!<br />

• Ich hab’dir einen Grund geliefert, weiter zu leben.<br />

• Du erfin<strong>de</strong>st dir <strong>de</strong>ine eigene Wahrheit.<br />

• Eine tote Frau, nach <strong>de</strong>r du dich sehnen kannst, das verleiht <strong>de</strong>inem Leben Sinn.<br />

• Du erfin<strong>de</strong>st dir Rätsel, die du niemals lösen kannst.<br />

• Ich bin <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r alles zusammenhält.<br />

• Ich bin kein Killer, ich bin nur jemand, <strong>de</strong>r etwas richtigstellen wollte.<br />

• Darf ich zulassen, dass ich vergesse, was ich <strong>de</strong>inetwegen getan habe?<br />

• Lüge ich mir etwas vor, um glücklich zu sein? In <strong>de</strong>inem Fall, Teddy, tue ich es!<br />

Leonards Schlussmonolog: „Ich muss an eine Welt außerhalb meiner eigenen<br />

Gedanken glauben. Ich muss daran glauben, dass das, was ich tue, auch einen<br />

Sinn hat, selbst wenn ich mich daran nicht erinnern kann. Ich muss daran glauben,<br />

dass, wenn ich die Augen schließe, die Welt noch da ist. Glaube ich, dass die<br />

Welt noch da ist? Ist sie immer noch da? Ja! Wir alle brauchen eine Erinnerung,<br />

damit wir nicht vergessen, wer wir sind. Das gilt auch für mich.“<br />

am nächsten zu liegen. Viel war bislang<br />

von Rache und Mord, von Ausbeutung<br />

und Lüge die Re<strong>de</strong>: Wie steht es also<br />

mit <strong>de</strong>m Thema „Schuld“ bei MEMEN-<br />

TO? Verstehe ich Schuld als moralische<br />

Kategorie, so mag <strong>de</strong>r Film beim ersten<br />

Sehen merkwürdig „a-moralisch“ erscheinen.<br />

Moralisch fragwürdiges Verhalten<br />

durchzieht die ganze Geschichte;<br />

keine Figur, die aus <strong>de</strong>m Panoptikum<br />

düsterer Charaktere als „Lichtgestalt“<br />

hervorstechen wür<strong>de</strong>. Auch wird<br />

ihr Han<strong>de</strong>ln kaum in Frage gestellt:<br />

Dass ein Mord durch einen Mord gerächt,<br />

dass einer <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>n<br />

Dienst ganz egoistischer Begier<strong>de</strong>n<br />

stellt, all das geschieht mit einer<br />

Selbstverständlichkeit, ja Beiläufigkeit,<br />

die manchmal Schau<strong>de</strong>rn macht.<br />

Ist die Welt so, wie sie <strong>de</strong>r Film zeigt?<br />

Gilt das Verdikt „homo homini lupus“<br />

für <strong>de</strong>n Film, für die Wirklichkeit?<br />

Auch hier, meine ich, darf nicht übersehen<br />

wer<strong>de</strong>n, dass die Perspektive <strong>de</strong>s<br />

Films die Perspektive einer Figur ist,<br />

die kein Gedächtnis hat, die <strong>de</strong>s Erinnerns<br />

nicht fähig ist. Und dieser Mangel<br />

prägt auch die Perspektive.<br />

„Du bist schuldig und weißt nicht<br />

warum“. Gera<strong>de</strong> uns Christen müsste<br />

dieser Satz vertraut sein. Dabei re<strong>de</strong> ich<br />

nicht davon, dass über Jahrhun<strong>de</strong>rte ein<br />

mehr o<strong>de</strong>r weniger begrün<strong>de</strong>tes Schuldbewusstsein<br />

ein prägen<strong>de</strong>r Bestandteil<br />

christlichen Lebensgefühls war. Es geht<br />

hier mehr um die Erfahrung, dass es<br />

Leid und auch Schuld(bewusstsein) gibt,<br />

ohne dass dies auf eine moralisch ein<strong>de</strong>utig<br />

zu qualifizieren<strong>de</strong> Handlung o<strong>de</strong>r<br />

Entscheidung <strong>de</strong>s Individuums zu beziehen<br />

ist. Der Begriff <strong>de</strong>r „strukturellen<br />

Sün<strong>de</strong>“ weist in diese Richtung<br />

UNTERRICHTSPRAXIS<br />

193<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

INFO 32 · 3/2003


UNTERRICHTSPRAXIS<br />

194<br />

Religion & Populär-Kultur<br />

o<strong>de</strong>r auch viele konfliktethische Entscheidungen,<br />

die in moralischer Hinsicht<br />

nur schwer zu „beurteilen“ sind.<br />

Der Film weist noch in eine an<strong>de</strong>re<br />

Richtung: Sammy Jenkis setzt seiner<br />

Frau die tödliche Dosis Insulin, weil er<br />

nicht weiß, dass er ihr die Spritze bereits<br />

gegeben hat. Er kann nicht schuldig<br />

sein an ihrem Tod, weil ihm die Erinnerung<br />

fehlt, die sein Han<strong>de</strong>ln als<br />

todbringend aufzeigen könnte. Eher<br />

wird man wohl <strong>de</strong>n Tod seiner Frau als<br />

möglichen Selbstmord einstufen können.<br />

Aber Sammy kann sich schuldig<br />

fühlen. Ein ähnliches Muster ergibt sich,<br />

wenn man Teddys Version <strong>de</strong>r Geschichte<br />

aufgreift: Wenn es Leonard<br />

war, <strong>de</strong>r seiner Frau – aufgrund <strong>de</strong>r<br />

gleichen Gedächtnisstörung – todbringen<strong>de</strong><br />

Spritzen setzte, wäre seine Projektion<br />

dieser Tat auf Sammy vielleicht<br />

als Versuch einer Entlastung seines Gewissens<br />

zu sehen, auch wenn er nicht<br />

weiß, höchstens vermuten kann, worin<br />

genau seine Schuld bestehen könnte.<br />

Kann ich mich schuldig fühlen, wenn<br />

ich nicht weiß, warum? Ist Erinnerung<br />

an eigenes Leid wie an das Leid an<strong>de</strong>rer<br />

nicht auch ein konstituieren<strong>de</strong>s Element<br />

für die Entwicklung moralischen<br />

Bewusstseins? Kann Leonard nicht<br />

auch <strong>de</strong>shalb leicht im Kreislauf <strong>de</strong>r Rache<br />

leben, weil er sich an die vollzogene<br />

Rache nicht mehr erinnert? Man kann<br />

<strong>de</strong>n Gedanken auch noch einmal in <strong>de</strong>r<br />

„umgekehrten Richtung“ formulieren:<br />

Kann ich Verantwortung tragen, wenn<br />

ich mich nicht erinnern kann? Sammy<br />

kann die Verantwortung für seine Frau<br />

nicht übernehmen. Sie ist es, die dies<br />

mit ihrer Auffor<strong>de</strong>rung, ihr die Spritze<br />

zu geben, tut. Und auf Leonard bezogen:<br />

Kann er Verantwortung übernehmen<br />

für die Herstellung einer „Gerechtigkeit“,<br />

die er allein im Vollzug von<br />

Rache sehen kann? Kann er verzeihen?<br />

Fragt man – gleichsam in <strong>de</strong>r „Außenperspektive“<br />

– nach schuldhaftem<br />

Verhalten Leonards, so wird man das<br />

wohl am ehesten in <strong>de</strong>ssen Rachekategorien<br />

sehen können und auch in seiner<br />

ja sehr bewussten Entscheidung, sich<br />

Teddy als Opfer auszuwählen. Und auch<br />

bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Figuren <strong>de</strong>s Films kann<br />

man diese Kategorie anlegen. Es soll<br />

nicht suggeriert wer<strong>de</strong>n, solche Kategorien<br />

seien hier fehl am Platz o<strong>de</strong>r irrelevant.<br />

Wohl aber scheint es mir be<strong>de</strong>nkenswert,<br />

dass <strong>de</strong>r erinnerungslose<br />

Blick Leonards wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Zuschauers<br />

auf eine Welt schaut, die seltsam amoralisch<br />

erscheint und in <strong>de</strong>r Verantwortung<br />

kaum einen Platz erhält, kaum ein<br />

Subjekt fin<strong>de</strong>t.<br />

Ich kann mir vorstellen, dass manche<br />

Leser dieser Ausführungen diese<br />

mit einigem Befrem<strong>de</strong>n aufgenommen<br />

haben. Nach allem, was über <strong>de</strong>n Film<br />

gesagt wur<strong>de</strong>, erscheinen gera<strong>de</strong> die<br />

Verbindungen zu religiösen Fragen<br />

doch sehr gewagt und vielleicht auch<br />

vage. Und noch dazu wird sicher auch<br />

die Vorstellung, mit diesem Film im<br />

Religionsunterricht selbst in <strong>de</strong>r Sekundarstufe<br />

II zu arbeiten, als wenig<br />

naheliegend erscheinen. Nun, ich will<br />

gerne eingestehen, MEMENTO ist (auch<br />

für mich) kein religiöser und auch kein<br />

„spiritueller“ Film. Am ehesten könnte<br />

man ihn vielleicht noch als einen Film<br />

bezeichnen, <strong>de</strong>r philosophische Fragen<br />

aufwirft bzw. sich auf solche bezieht.<br />

Doch auch wenn die angesprochenen<br />

Verbindungslinien zu religiösen<br />

Themen eher auf struktureller Ebene<br />

liegen und weniger offensichtlich<br />

sind, scheint mir doch eine Arbeit mit<br />

<strong>de</strong>m Film durchaus sinnvoll zu sein.<br />

Gera<strong>de</strong> ein solcher ungewohnter, „unorthodoxer“<br />

Blick auf die Antworten<br />

<strong>de</strong>r christlich-jüdischen Tradition kann<br />

oftmals zu neuen bzw. vertiefen<strong>de</strong>n<br />

Einsichten verhelfen. Solche „Seitenwege“<br />

zu beschreiten, ist dabei wohl<br />

nicht nur für jene lohnenswert, <strong>de</strong>nen<br />

diese Antworten kaum mehr vertraut<br />

sind, son<strong>de</strong>rn sicher auch für Menschen,<br />

die sich ganz selbstverständlich<br />

darauf beziehen. In <strong>de</strong>m immer<br />

schwieriger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n „Geschäft“ <strong>de</strong>s<br />

Religionsunterrichts (und nicht nur<br />

da) wäre es zumin<strong>de</strong>st einen Versuch<br />

wert.<br />

Abschließend noch ein Hinweis:<br />

In <strong>de</strong>r DVD-Ausgabe <strong>de</strong>s Films<br />

(2 DVDs mit ausführlichem Bonusmaterial)<br />

fin<strong>de</strong>t sich ein sogenanntes<br />

„Hid<strong>de</strong>n Feature“, ein Menü, mit <strong>de</strong>m<br />

man <strong>de</strong>n Film in <strong>de</strong>r Szenenreihenfolge<br />

<strong>de</strong>r Geschichte abspielen kann:<br />

Der Film beginnt mit <strong>de</strong>n Schwarzweißszenen<br />

in <strong>de</strong>r Reihenfolge <strong>de</strong>s<br />

Films, die letzte Schwarzweißszene<br />

geht dann in die letzte Farbszene<br />

über, es schließen sich die Farbszenen<br />

in umgekehrter Reihenfolge an.<br />

Dieses Feature kann wie folgt aufgerufen<br />

wer<strong>de</strong>n: Man drückt im Hauptmenü<br />

(Filmstart eingerahmt) zweimal<br />

die rechte Pfeiltaste <strong>de</strong>r Fernbedienung.<br />

Darauf erscheint im Menü<br />

(rechts unten) <strong>de</strong>r Begriff „Memento“<br />

eingerahmt, <strong>de</strong>r zweimal zu bestätigen<br />

ist 4 .<br />

Anmerkungen<br />

1<br />

vgl. dazu Paul Werner: Film noir. Die Schattenspiele<br />

<strong>de</strong>r „schwarzen Serie“, Frankfurt am Main 1985.<br />

2<br />

In einer kurzen Sequenz – einem „Erinnerungsbild“<br />

Leonards – ist er aber einmal mit dieser Tätowierung<br />

zusammen mit seiner (noch leben<strong>de</strong>n) Frau zu sehen.<br />

3<br />

Erich Fromm: Haben o<strong>de</strong>r Sein, München 5. Aufl.,<br />

1980, S. 115.<br />

4<br />

Den Hinweis verdanke ich einem Schüler, Benedikt<br />

Schnei<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m an dieser Stelle herzlich gedankt sei.<br />

Franz-Günther Weyrich ist Leiter <strong>de</strong>s<br />

Amtes für Katholische Religionspädagogik<br />

in Wetzlar.<br />

Besuchen Sie auch INFO-Online im Internet: www.ifrr.<strong>de</strong><br />

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