Nr. 54 - Soziale Welt
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P O L I T I K<br />
„Wir zahlen nicht für eure Krise!“ - Protestierende fordern<br />
sozialen Schutzschirm und gerechte Wirtschaftsordnung<br />
Insgesamt ca. 50.000 Menschen sind am<br />
28. März in Berlin und Frankfurt am Main<br />
dem Aufruf eines breiten gesellschaftlichen<br />
Bündnisses von gewerkschaftlichen Gliederungen,<br />
Sozialprotest- und antikapitalistischen<br />
Gruppen, Attac, Migranten-Organisationen,<br />
umwelt-, entwicklungspolitischen<br />
und kirchlichen Gruppen sowie den Parteien<br />
Bündnis 90/Die Grünen und Linke gefolgt.<br />
Die Proteste unter dem Motto „Wir zahlen<br />
nicht für eure Krise! Für eine solidarische<br />
Gesellschaft“ fanden im Vorfeld des G20-<br />
Gipfels in London statt. Es handelte sich um<br />
die größte Demonstration in Deutschland<br />
seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise.<br />
Parallel gongen auch in zahlreichen<br />
anderen Ländern die Menschen auf die Straße;<br />
in London waren es mehrere Zehntausend,<br />
in Wien 20.000.<br />
Einhellig forderten die Redner und Rednerinnen<br />
auf den Kundgebungen, dass die Verursacher<br />
der Krise für die Kosten aufkommen,<br />
beispielsweise durch eine Millionärssteuer und<br />
eine Sonderabgabe auf hohe Vermögen. Sie forderten<br />
mehr Geld für Bildung, Umwelt- und<br />
Klimaschutz, öffentliche Infrastruktur und Gesundheit<br />
sowie einen sozialen Schutzschirm für<br />
Beschäftigte, Erwerbslose sowie Rentnerinnen<br />
und Rentner. Hartz IV müsse ebenso weg wie<br />
die weiteren Gesetze der Agenda 2010. Stattdessen<br />
seien ein armutsfester Mindestlohn und<br />
die existenzsichernde Erhöhung des Eckregelsatzes<br />
notwendig.<br />
Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied<br />
des Vorstands der IG Metall<br />
führte beispielsweise unter anderem aus: „Wir<br />
wissen um die Verantwortung der großkotzigen<br />
Lenker der Finanzfonds, Banken und multinationalen<br />
Konzerne; dieser Herren, die sich als<br />
Avantgarde der modernen <strong>Welt</strong> aufgespielt haben<br />
und mit ihrer Bereicherungssucht die Krise<br />
vorangetrieben haben.<br />
Und wir kennen die Vertreter der politischen<br />
Klasse, die mit ideologischem Eifer dem Finanzmarktkapitalismus<br />
den Weg bereitet haben:<br />
durch die Liberalisierung der Finanzmärkte,<br />
die Deregulierung der Arbeitsmärkte, die<br />
Privatisierung sozialer Sicherheit und eine gigantische<br />
Umverteilung von unten nach oben.<br />
Und wir kennen diese „Second-Hand-Dealer“<br />
des Neoliberalismus in der Wissenschaft, den<br />
Zeitungen und den Rundfunk- und Fernsehanstalten.<br />
Diese smarten Meinungsmacher, die<br />
die Gebote der Sachlichkeit viel zu oft ignorierten<br />
und die sich als Lautsprecher neoliberaler<br />
Glaubenssätze um ihre Reputation brachten.<br />
Ja, wir kennen die Täter. Und jetzt wollen<br />
sie sich aus dem Staub machen. Und wir sollen<br />
die Scherben zusammenkehren. Ich sage: Nein<br />
meine Herren, so nicht!“<br />
Und weiter: „Wir leben in einer <strong>Welt</strong>, in der<br />
die obersten 15 Prozent der Menschheit - fast<br />
90 Prozent des <strong>Welt</strong>konsums, - fast 60 Prozent<br />
der <strong>Welt</strong>energie, - gut 80 Prozent des <strong>Welt</strong>einkommens<br />
für sich beansprucht, und in der dem<br />
unteren Fünftel der Menschheit - gerade einmal<br />
1,3 Prozent des globalen Konsums - und 4<br />
Prozent der Energie zur Verfügung stehen.“<br />
Und zur Frage der Verantwortung: „Auf einmal<br />
will es keiner gewesen sein. Wer hat eigentlich<br />
die Unternehmen dem Shareholder-Value-<br />
Diktat unterworfen, Löhne gedrückt, Arbeitszeiten<br />
verlängert und die Beschäftigten wie Zitronen<br />
ausgepresst und dann rausgeschmissen?<br />
Waren das anonyme Heuschrecken, oder doch<br />
die Ackermänner und Co? Und wer hat dem<br />
Finanzmarktkapitalismus den Teppich ausgerollt?<br />
Wer hat Veräußerungsgewinne steuerfrei<br />
gestellt, den Handel auch mit Immobilien-Derivaten<br />
erlaubt, Hedgefonds zugelassen<br />
und - ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag der<br />
Großen Koalition - „eine Finanzaufsicht mit<br />
Augenmaß“ propagiert? Das waren doch nicht<br />
die Heinzelmännchen. Es war die Einheitsfront<br />
der Neoliberalen in der Union, der Sozialdemokratie<br />
und bei den Grünen. Sicher, irren<br />
ist menschlich, aber so einfach geht das nicht.<br />
Öffentliche Rechenschaft, und nicht wahltaktische<br />
Rosstäuscherei ist hier angesagt. …<br />
Wir müssen dem neoliberalen Meinungs- und<br />
Entscheidungskartell unser Bündnis der Aufklärung<br />
und Gegenmacht entgegensetzen.“<br />
Einig ist sich das aufrufende Bündnis auch in<br />
seiner Forderung nach einer strengen Regulierung<br />
des weltweiten Finanzsystems. Steueroasen<br />
müssten geschlossen, Hedgefonds und<br />
andere spekulative „Instrumente“ verboten<br />
werden. Der Versuch, die Krise auf die Menschen<br />
des globalen Südens abzuwälzen, die<br />
heute schon stark unter den Folgen der Krise<br />
leiden, sei ebenso zurückzuweisen wie ein weiterer<br />
Raubbau an der Natur und Belastung des<br />
Klimas.<br />
„Egal ob in Frankreich, Deutschland, England,<br />
ob in den Parlamenten oder auf der Straße -<br />
gemeinsam müssen wir jetzt Druck machen<br />
für eine solidarische Gesellschaft. Mit der Krise<br />
bietet sich jetzt die Chance, einen neuen<br />
Weg einzuschlagen hin zu einer Wirtschaftsordnung,<br />
die den Menschen dient, nicht dem<br />
Profit“, sagte Willi van Ooyen, Fraktionsvorsitzender<br />
der Linken im hessischen Landtag<br />
und aktiv in der Ostermarsch-, Friedens- und<br />
Sozialforumsbewegung.<br />
„Statt die Verluste zu sozialisieren, muss der Finanzsektor<br />
vergesellschaftet werden“, forderte<br />
Christina Kaindl von der Berliner Gruppe <strong>Soziale</strong><br />
Kämpfe. „Wir wollen eine demokratische<br />
Kontrolle der Wirtschaft und deren Ausrichtung<br />
an sozialen Bedürfnissen statt an Renditen.<br />
Die Dominanz der Profitlogik und die<br />
Ökonomisierung aller Lebensbereiche muss<br />
beendet werden.“<br />
„Die Krise ist nicht vom Himmel gefallen oder<br />
das Ergebnis der Gier einiger Manager. Ursache<br />
der Krise ist die neoliberale Politik der Liberalisierung<br />
der Märkte, von Deregulierung und<br />
Privatisierung. Die Verantwortlichen sind in<br />
den Regierungen zu finden“, sagte Alexis Passadakis<br />
von Attac. „Der Kapitalismus steckt in<br />
seiner gravierendsten Krise seit 1929. Es reicht<br />
deshalb nicht, die Fassade mit einigen neuen<br />
Regulierungsmaßnahmen der G20 neu zu tünchen.<br />
Das <strong>Welt</strong>wirtschaftssystem muss auf ein<br />
grundsätzlich anderes Fundament gestellt werden.<br />
…<br />
Was wir wollen, ist nichts Besonderes. Wir sind<br />
bescheiden. Wir wollen nur, dass es ganz anders<br />
wird, weil das, was ist nicht gut ist. Wir<br />
wollen einen solidarischen Neuanfang! Wir<br />
werden nicht für ihre Krise zahlen!“<br />
Die ver.di-Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg,<br />
Leni Breymaier: „Wir trauen ihnen<br />
nicht. Weil sie zwar jetzt, ein halbes Jahr vor<br />
der Bundestagswahl, eine Menge Kreide fressen,<br />
aber im Kern doch die alte Politik fortführen.<br />
Wer sich von dieser Politik wirklich verabschieden<br />
will, darf keine Schuldenbremse ins<br />
Grundgesetz schreiben. Man kann doch nicht<br />
auf der einen Seite hergehen und hunderte von<br />
Milliarden Euro in die Hand nehmen, um die<br />
Banken zu stützen, und auf der anderen Seite<br />
sagen, wir brauchen eine Schuldenbremse<br />
und das Dreieck schließen mit der Forderung<br />
nach Steuersenkungen. An dieser Stelle wird<br />
es komplett absurd. Ich befürchte, dass sie das<br />
halbe Jahr bis zu Bundestagswahl mühsam den<br />
Deckel auf dem Topf halten,<br />
nach der Bundestagswahl wird<br />
uns der Laden um die Ohren<br />
fliegen und sie werden uns zur<br />
Kasse bitten wollen. Und deshalb<br />
müssen wir heute und bis<br />
zur Bundestagswahl und nach<br />
der Bundestagswahl laut und<br />
deutlich sagen: Wir haben diese<br />
Krise nicht verursacht. Wir<br />
haben uns die letzten 25 Jahre<br />
neoliberaler Politik nicht persönlich<br />
bereichert. Jetzt sind<br />
die dran zu zahlen, die den<br />
Schaden verursacht haben,<br />
die den Karren in den Dreck<br />
gefahren haben. Jetzt sind die<br />
dran zu zahlen, die sich persönlich maß- und<br />
schamlos bereichert haben und sich weiter<br />
bereichern. Der Name Zumwinkel ist das Synonym:<br />
privatisieren, Personal und Service<br />
abbauen, persönlich fett verdienen, Steuern<br />
hinterziehen und am Ende noch zig Millionen<br />
mitnehmen in die private Burg am Gardasee.<br />
Bild: Hans-Peter Janzen<br />
Kommentar:<br />
Schlechte Banken – Schlechte<br />
Politik<br />
Deutschlands Politiker sind dabei, aus einer<br />
kleinen Finanzkrise mit Gewalt eine echte,<br />
tief greifende Wirtschaftskrise zu machen. Auf<br />
der einen Seite wird abgewiegelt – es wäre ja<br />
alles nicht so schlimm. Gesine Schwan wurde<br />
eilends von der Partei zurückgepfiffen, als<br />
sie von einer explosiven Sozialsituation faselte.<br />
Dafür beschwert sie sich jetzt, dass man sie tatsächlich<br />
so verstehen will, wie sie sich ausgedrückt<br />
hat statt das, was sie sagen wollte – aber<br />
nicht hat.<br />
Es ist ganz klar, dass mit Gewalt und viel Geld<br />
bestehende Strukturen erhalten werden sollen,<br />
die schlicht und ergreifend falliert haben.<br />
Zugleich hallt der Ruf nach dem starken Staat<br />
durchs Land, damit der Zugriff zu den Brieftaschen<br />
der Bürger erleichtert werde. Schließlich<br />
ist jedem Politiker und erst recht jedem<br />
Beamten die Sicherheit seines Rentenfonds erheblich<br />
wichtiger als der Arbeitsplatz in einem<br />
Mittelstandsbetrieb. Oder auch bei Großbetrieben:<br />
Man sehe sich das verzweifelte Lavieren<br />
der Kanzlerin, ihres Wirtschaftsministers,<br />
aber auch der damit befassten SPD-Minister<br />
in Sachen Opel an. Halbe Zusagen wechseln<br />
mit der Versicherung, dass dieses den Bürger<br />
nichts kosten werde. Der Bürger glaubt das<br />
nicht. Aber in Gegensatz zur Regierung kann<br />
er nicht realisieren, dass Opel als allein stehende<br />
Marke einfach keine Chance hat – man ist<br />
in Rüsselsheim in zwei wesentlichen Punkten<br />
einfach nicht konkurrenzfähig: es gibt keinen<br />
Zugriff auf internationale Märkte und die<br />
Entwicklungskapazität reicht weder finanziell<br />
noch kapazitätsmäßig, schnell die Fahrzeuge<br />
zu schaffen, die in Zukunft gebraucht werden.<br />
Die schwedische Regierung hat es schon kapiert<br />
und Saab die Hilfe versagt. Die deutsche<br />
laviert noch und versucht, sich in die Tasche<br />
zu lügen.<br />
Und er ist eben keine Ausnahme. Die Zumwinkels<br />
sollen für diese Krise bezahlen. Wir<br />
zahlen nicht für eure Krise! Wir stehen hier für<br />
die Menschen, die nichts andere zu verkaufen<br />
haben als ihre zwei Hände und ihren Kopf.<br />
Die sich nicht ausruhen können auf ihren Vermögenserträgen,<br />
die teilhaben wollen an dem,<br />
was in diesem Land erarbeitet wird. Und wir<br />
sagen laut und deutlich: Eine Schuldenbremse,<br />
wie sie gestern bei der ersten Beratung im<br />
Bundestag diskutiert wurde, ist wirtschaftlich<br />
schädlich und demokratiefeindlich. Die Mehrheitsverhältnisse<br />
von heute werden genutzt,<br />
um künftige Entscheidungsprozesse drastisch<br />
einzuschränken. Das geht nicht! Wir fesseln<br />
uns mit einer Schuldenbremse selbst. Eine<br />
Schuldenbremse ist eine Wachstumsbremse.<br />
Zu diesem wirtschaftspolitischen Unfug gibt<br />
es Alternativen: Wir brauchen öffentliche Investitionen<br />
in die Zukunft um Beschäftigung zu<br />
schaffen und die Binnenkonjunktur wirksam<br />
und nachhaltig zu unterstützen. Große Banken<br />
und Versicherungen erpressen Billionen Euro<br />
oder Dollar vom Steuerzahler mit dem Argument,<br />
sie, die Finanzinstitute seien ‚systemrelevant’.“<br />
Als beispielhafte Gegenwehr bezeichnete das<br />
Bündnis die millionenfach befolgten Generalstreiks<br />
in Frankreich. „Auch in Deutschland<br />
muss das politische Streikrecht für alle gelten.<br />
Ein in Etappen vorbereiteter Generalsstreik<br />
würde wesentlich zur Durchsetzung der sozialen<br />
und politischen Forderungen beitragen“,<br />
betonte Bernd Riexinger von ver.di Stuttgart.<br />
hpj<br />
Das zentrale Problem ist es, dass Strukturen<br />
wie die HRE und mehrere Landesbanken, die<br />
auf Finanzkonstrukte ohne Inhalt hereingefallen<br />
sind, echtes Geld erhalten sollen, was an die<br />
Stelle von leeren Versprechungen tritt. Geld,<br />
was nie existiert hat, wird also ersetzt durch<br />
Geld, das es auch nicht gibt, aber per Staatsverschuldung<br />
dem Bürger in der Zukunft aus<br />
der Tasche gezogen werden soll. Mehr Geld in<br />
ein schwindendes wirtschaftliches Potenzial:<br />
Das kennt man. Man nennt es Inflation und<br />
fürchtet es zu recht, aber Politiker drehen gerne<br />
an der Notenpresse – besonders französische<br />
und erst recht alle, die im Wahljahr stecken.<br />
Zur Gegensteuerung soll ein Wahnsinnsrezept<br />
eingesetzt werden, das Konzept der „Bad<br />
Banks“. Man nehme alle dubiosen Forderungen,<br />
verpacke sie in eine neue Bank, die<br />
ausgegliedert wird, und hey presto entsteht<br />
eine blütenweiße, gut kapitalisierte Bank, die<br />
mit Freude an die Wirtschaft Kredite gibt<br />
– bzw. geben soll. Die Bad Bank wird abgewickelt<br />
– einschließlich der Vollstreckung der<br />
Forderungen an die Kunden der Bank, die<br />
durch überzogene Hypothekenkredite und<br />
Konsumrausch in Probleme geraten sind. Also<br />
werden die eigentlichen Verlierer der Finanzkrise<br />
weiter bedrängt, der staatliche Eingriff ist<br />
schlicht und ergreifend eine Mogelpackung.<br />
Und schlimmer noch: in den „Bad Banks“<br />
wird man Mitarbeiter konzentrieren, die nach<br />
Abwicklung nicht mehr zurück übernommen<br />
werden. Womit sich die smarten Bankster<br />
auch von jeder Menge Personal befreien können<br />
und dann auch noch mit treuherzigem<br />
Augenaufschlag versichern werden, dass die<br />
Verantwortung für diese Mitarbeiter ja beim<br />
Staat liege. Auch in Deutschland will man, wie<br />
üblich verkrampfter und schwerfälliger, diesem<br />
Weg folgen.<br />
Und die Folgen? Wie üblich. Kasperle singt<br />
dazu: „Jupheidi und Jupheida – die Arbeitslosen<br />
sind wieder da!“<br />
Rüdiger Stubenrecht