Nr. 57 - Soziale Welt
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Schnell fertig ist der Guidomit<br />
dem Wort<br />
Vollmundig - Voll daneben<br />
Seite 2<br />
Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>57</strong> Euro 1,80<br />
Mitglied i im „International n t n a Network of Street Papers“ INSP<br />
Scherbengericht!<br />
HARTZ IV<br />
Erst Arbeitspflicht<br />
- dann Arbeitslager?<br />
Neue Rezepte aus Roland´s<br />
Horrorküche<br />
Seite 4<br />
Obama strahlt!<br />
Neue Atomkraftwerke in den USA<br />
in Auftrag gegeben<br />
Seite 5<br />
Aushungern und Fordern<br />
Interview mit Claudia Daseking und<br />
Solveig Koitz über die rechtswidrige<br />
Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1<br />
Seiten 6-7<br />
Schubladen<br />
Neue Verkaufsstelle des Ausbildungsprojektes<br />
der FaPrik in Frankfurt<br />
Bornheim<br />
Seite 8<br />
Ein Stück China in Frankfurt<br />
Der Chinesische Garten im<br />
Bethmannpark<br />
Seite 9<br />
Ein Blick in die Natur Teil 4<br />
Winter im Naturschutzgebiet<br />
Seite 16<br />
Nun ist es also amtlich: In wesentlichen Teilen ist<br />
Hartz IV, das von Steinmeier noch im Wahlkampf<br />
als soziale Großtat gepriesene Machwerk von Gerhard<br />
Gasprom und seinen kriminellen Freundchen, verfassungswidrig.<br />
Die Entscheidung des ersten Senats<br />
des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich auf die Berechnung<br />
der Regelsätze, vor allem bei Kindern unter<br />
14 Jahren. Senatspräsident Hans-Jürgen Pieper<br />
stellte den Hartz-Machern ein vernichtendes<br />
Zeugnis aus: „völliger Ermittlungsausfall“ beim<br />
Kinderregelsatz, gröbste handwerkliche Fehler<br />
auch beim Regelsatz für Erwachsene. In der vorliegenden<br />
Form genügt die Berechnungsgrundlage<br />
weder dem Grundrecht der Gewährleistung<br />
eines menschenwürdigen Existenzminimums<br />
nach Art. 1 GG noch dem Sozialstaatsprinzip<br />
nach Art 20 I GG. Schallender kann eine Ohrfeige<br />
für notorische Hartz-IV-Schwätzer wie<br />
SPD-Sarrazin überhaupt nicht ausfallen.<br />
Bis 31. 12. hat die neue Regierung nun Zeit<br />
Statt um soziale Probleme und wirtschaftliche<br />
Angelegenheiten, streitet man sich im Bundestag<br />
hilflos und weitgehend völlig kenntnisfrei<br />
um eine Ausstiegspolitik in Afghanistan. Bundesminister<br />
zu Guttenberg hat eine neue Strategie<br />
gefordert – als ob die Bundeswehr in ihrer<br />
achtjährigen Präsenz je eine Strategie gehabt hätte.<br />
Gläubig folgend, macht man es dem ebenfalls<br />
kenntnisfreien Obama nach: Abzugstermin<br />
2011, dafür noch erst einmal mehr Truppen,<br />
mehr Aktion, mehr Kämpfe und damit natürlich<br />
auch mehr Opfer. Angela schickt noch 850<br />
Feldgraue in ein Land, das eigentlich Absurdistan<br />
heißen sollte – nämlich entsprechend der<br />
Vorstellung im Deppendorf (Berlin) über die<br />
Lage in Afghanistan.<br />
Eiligst, so Bundeskanzlerin Merkel, sollen<br />
die Polizisten der künftigen eigenen Kräfte eines<br />
„demokratischen“ Afghanistan ausgebildet<br />
werden, damit man sich aus dem Staub machen<br />
kann. Barack Obama und damit auch zu Gutenberg<br />
und Merkel haben sich in die klassische<br />
Falle hineinmanöviert: Siege und militärisches<br />
Material sind im Krieg letztlich irrelevant. Es<br />
geht darum, den Willen des Gegners zu brechen<br />
und den eigenen Willen aufrecht zu erhalten. Da<br />
sieht es schlimm aus. Der Wille der Taliban ist<br />
ungebrochen und mit Bomben nicht zu verletzen.<br />
Der Wille, einen neuen afghanischen Staat<br />
demokratischen Zuschnitts zu bauen, war im<br />
Lande nie vorhanden. Und ohne gemeinsamen<br />
Feind – den es in einem Bürgerkrieg definitiv<br />
zum Nacharbeiten des Hartz-Erdbebens.<br />
Ob dies in einer Erhöhung des Regelsatzes<br />
enden wird, bleibt offen, denn hierzu gibt es<br />
keinerlei Aussage des Gerichtes. Im Falle des<br />
Regelsatzes für Kinder wird man kaum darum<br />
herumkommen; da die Berechnungsgrundlagen<br />
auf den Ermittlungen des Statistischen Bundesamtes<br />
beruhen und somit der aktuellen Preisentwicklung<br />
um mindesten zwei Jahre hinterher<br />
hinken, wird wohl Schwarz-Gelb in die Tasche<br />
greifen müssen (statt wollen).<br />
Die Bild-Zeitung weiß es natürlich schon<br />
ganz genau und macht fleißig Stimmung gegen<br />
die Empfänger von Leistungen nach ALG<br />
II. Bis zu 10 Mrd. Euro würde eine Erhöhung<br />
des Regelsatzes auf die von den Sozialverbänden<br />
geforderte Anhebung des Regelsatzes auf 420<br />
€ kosten, dazu kämen bis zu 2 Mrd. € für die<br />
Anhebung der Kindersätze. Die Zahl der Geringverdiener,<br />
die Anspruch auf ergänzende Leistungen<br />
The Germans to the Front?<br />
Wer ist hier der Dumme?<br />
haben, werde die Zahl der Hilfeempfänger von<br />
6,7 auf knapp 9 Millionen ansteigen lassen. Eine<br />
verfassungs- und menschenrechtskonforme Regelung,<br />
so der Tenor der Bild-Berichterstattung,<br />
gefährde die Steuerreform. Auf den Internetseiten<br />
von Bild lässt man den „Volkszorn“ toben;<br />
insgesamt eine Berichterstattung, die dringend<br />
auf den Tatbestand der Volksverhetzung überprüft<br />
werden sollte.<br />
Nun hat Arbeitsministerin von der Leyen<br />
den Schwarzen Peter: Sie wollte mit einem<br />
schönen neuen Namen für Hartz IV, das ja<br />
offiziell nie so geheißen hat, die Probleme<br />
unterbügeln. Statt dessen muss nun richtig<br />
gearbeitet werden. Die Ergebnisse müssen abgewartet<br />
werden. Wer jedoch auf eine schnelle<br />
Erhöhung des Regelsatzes spekuliert, dürfte<br />
sich verrechnen. Man wird wohl eher den von<br />
Gericht zugebilligten Zeitraum auf das Äußerste<br />
nutzen, mangels Masse.<br />
RS<br />
nicht geben kann – werden die Friedenskräfte<br />
fremder Staaten nach so langer Zeit als Besatzungsmächte<br />
empfunden. Man denke nur an<br />
unsere eigene Geschichte in Deutschland.<br />
Noch mal drauf mit Gebrüll, dann Übergabe<br />
an eigene Streitkräfte und ferne Staubwolken<br />
beim eiligen Abflug – das kennt man doch?<br />
Richtig – Richard Milhous Nixon war das,<br />
1972. So ging die Republik von Vietnam unter,<br />
die USA waren blamiert. Und die Opfer mussten<br />
bluten. So wird es ganz sicher wieder kommen.<br />
Die Taliban warten schon. Man braucht<br />
ja nur zu warten, bis die Besatzer weg sind und<br />
dann den nicht funktionierenden Staat einzukassieren.<br />
Bis dahin zieht man sich etwas<br />
zurück, schont seine Kräfte oder greift andere<br />
Ziele an: in diesem Falle Pakistan. Vo Nguyen<br />
Giap hat es in Vietnam vorgemacht.<br />
Westerwelle, unser Außenminister, hat einen<br />
Vorschlag: Sowas wie Hartz IV für alle Taliban,<br />
wenn sie abschwören. Das ist bis zum Schreien<br />
lächerlich. Natürlich nimmt man in dem<br />
fernen Lande jede Art von Geld gerne an, der<br />
oberste Chef, Kasai mit dem Seidenmantel, allen<br />
vorweg. Er hat schon Unterstützung für die<br />
nächsten 15 Jahre eingefordert, natürlich unter<br />
seiner Ägide: Ob für den Staat, seine Klientel<br />
oder die großen Taschen in seinem Umhang ist<br />
nicht so ganz klar. Die afghanische Opposition<br />
ist sich einig: Dieses Land hat vier Gegner: die<br />
Taliban, die Warlords, die Besatzungsstreitkräfte<br />
und Kasai. Der Weise sagte:<br />
Krieg machen und Frieden schließen ist wie<br />
das Flugloch eines Hornissennests. Sich mit<br />
dem nackten Arsch drauf setzen, ist einfach.<br />
Aufstehen, ohne gestochen zu werden,<br />
das ist die wahre Kunst!<br />
Machen wir´s wie Taliban:<br />
Deutschland raus aus Afghanistan!<br />
RS (Bildmaterial: punch)
2<br />
P O L I T I K<br />
Schnell fertig ist der Guido mit dem Wort……<br />
„Du sollst das Wort aus dem Koalitionsvertrage<br />
stets unnützig im Munde führen,<br />
damit es dir gut gehe und du Karriere<br />
machst auf Erden“. So das Credo jedes<br />
Koalitionspolitikers. Wir haben die sozialen<br />
Aussagen aus den Koalitionsversprechen<br />
von Rot/Grün veröffentlicht<br />
(nichts davon wurde gehalten, es folgte<br />
die unsozialste Regierung, die Deutschland<br />
jemals hatte), die von Schwarz-Rot<br />
(nur heiße Luft, nichts getan) und nun<br />
ist Schwarz-Gelb dran.<br />
…. Doch hart im Raume stoßen sich die<br />
Sachen. Aus klarer Geldnot wird erst einmal<br />
nichts getan, sondern man ist überein gekommen,<br />
die Steuerschätzung abzuwarten<br />
– als ob es da zu überraschendem Reichtum<br />
kommen könnte. Aber eins nach dem Anderen<br />
– erst einmal die lange Liste der Versprechungen<br />
und Pläne.<br />
Teil III des Koalitionsvertrages trägt den<br />
Titel „<strong>Soziale</strong>r Fortschritt durch Zusammenhalt<br />
und Solidarität“. Sehr schöne Prosa<br />
auf 30 Seiten Text, aber inhaltlich dünn<br />
und überaus ausufernd – schöne Worte für<br />
alles von Altersvorsorge über Integration bis<br />
zu absoluten Nichtigkeiten wie inhaltsleere<br />
Unterstützungsaussagen für die Olympiade<br />
2018 in München. Das meiste sagt nichts,<br />
den überwiegenden Rest braucht keiner und<br />
der Rest müsste erläutert werden, damit man<br />
versteht, was wirklich die Kosequenzen sein<br />
können.<br />
Beispiel Ehe und Familie: hehre, aber hohle<br />
Worte über die hohe Bedeutung der Familie,<br />
ein Lippenbekenntnis zu mehr Kindern<br />
durch günstigere Rahmenbedingungen für<br />
Familien. Oder in dürren Worten: ab 2013<br />
ein Betreuungsgeld in Höhe von 150 €,<br />
ggfs. als Gutschein. (N.B.: Die Familienministerin<br />
der letzten Regierung liebt zwar die<br />
Gutscheinregelung, aber die ist klar verfassungswidrig.)<br />
Und Ausdehnung des Teilelterngeldes<br />
auf bis zu 28 Monate.<br />
Im Bereich Jugendliche wird eine Mini-<br />
Reform im Kinder- und Jugendhilfesystem<br />
angekündigt. Dito eine Aufarbeitung der<br />
Die tun was<br />
Schutzbestimmungen unter Berücksichtigung<br />
der europarechtlichen Vorgaben (das ist<br />
ohnehin Pflicht und damit eine Leerausage).<br />
Ganz konkret wird angekündigt, die Höchststrafe<br />
für Mord im Jugendstrafrecht auf 15<br />
Jahre Jugendstrafe zu erhöhen, eine sinnlose<br />
Verbeugung vor populistischen Schreihälsen.<br />
Die Senioren sollen besser eingegliedert,<br />
die Lohnunterschiede zwischen Mann<br />
und Frau durch ein „beratungsunterstütztes<br />
Lohntestverfahren“ abgebaut werden – mehr<br />
Bürokratie mit zweifelhaftem Ergebnis. Im<br />
Bereich Integration wird die Bedeutung der<br />
Deutschkenntnisse der Migranten hervorgehoben<br />
– und gleich wieder untergraben, weil<br />
die Orientierungskurse zwar stundenmäßig<br />
aufgestockt werden, aber für Kenntnisse über<br />
„die Funktionsweise unseres demokratischen<br />
Rechtsstaats“ gewidmet werden sollen. Um<br />
die gelüste der Bürokraten zu befriedigen,<br />
soll das Instrument eines Integrationsvertrages<br />
geschaffen werden. Und schließlich:<br />
„Droht wegen mangelnder Deutschkenntnisse<br />
der Eltern eine Beeinträchtigung des<br />
Kindeswohls, soll … eine Verpflichtung zur<br />
Teilnahme am Integrationskurs möglich<br />
sein.“ Der Schulbesuch von Kindern von<br />
Menschen mit ungeklärter Aufenthalts- oder<br />
Bleiberechtsregelung soll erleichtert werden,<br />
was bitter notwendig ist. Dafür werden die<br />
Leistungen für Asylbewerber „in Hinblick<br />
auf das Sachleistungsprinzip“ evaluiert werden.<br />
Heißt: Gutscheine statt Bargeld.<br />
Ehrenämter sollen gestärkt und von Bürokratie<br />
und Haftungsrisiken entlastet werden,<br />
ebenso sollen die Angebote für das Freiwillige<br />
<strong>Soziale</strong> Jahr ausgeweitet werden. Doch dunkel<br />
ist der Rede Sinn im Bereich Zivildienst:<br />
„Die künftige Struktur der Wehrpflicht wird<br />
sich im Zivildienst widerspiegeln“. Könnte<br />
es sein, dass die Wehrpflicht wider besseres<br />
Wissen nur noch aufrechterhalten wird, damit<br />
der für die sozialen Einrichtungen so bedeutsame<br />
Zivildienst nicht kippt?<br />
<strong>Soziale</strong> Hilfe und Sozialversicherungen<br />
Die FDP nämlich. Für ihre Mitglieder. Mit der DKV wurde ein Gruppenvertrag geschlossen,<br />
wonach FDP-Mitglieder private Krankenversicherungen zu Sonderkonditionen abschließen<br />
können. Heftige Erregung bei anderen Parteien, allerdings Theaterdonner, weil<br />
solche Gruppenvereinbarungen absolut legal und durchaus üblich sind, nicht nur für Krankenversicherungen.<br />
Ähnliche Vereinbarungen zwischen Anbietern und Berufsgruppen sind<br />
gang und gäbe: Von den Anglern und Jägern bis zu den Pfarrern und Bestattungsunternehmern<br />
gibt es solche Verträge. Jawohl – auch für Journalisten. Für Beamte sowieso. Nur – die<br />
FDP ist die einzige Partei, die bislang so etwas abgeschlossen hat. Und der Zeitpunkt war<br />
wieder einmal Fettnäpfchen vom Feinsten: Während Bürger Normalverbraucher gerade<br />
seine Post öffnet und 8 € im Monat mehr bezahlen soll als erste Aktion der Koalition in Sachen<br />
Gesundheitspolitik, winkt dem FDP-Mitglied ein besserer Tarif. Klientelpolitik oder<br />
nur politische Blindheit? Man urteile selbst.<br />
RS<br />
Wir von der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> haben stets<br />
dagegen gekämpft, die Unterstützung von<br />
Arbeitslosen als soziale Leistung zu betrachten.<br />
Arbeitslosigkeit ist die Folge verfehlter<br />
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Unterstützung<br />
ist somit dem Bürger geschuldet<br />
und zwar ohne Diskussion um Fördern und<br />
Fordern (sollte wahrheitsgemäßer Düpieren<br />
und Drangsalieren heißen). Richtigerweise<br />
beginnt diese Passage der Koalitionsvereinbarung<br />
auch mit der Arbeitsmarktpolitik. Leider<br />
ist dies Kapitel wachsweich ausgefallen.<br />
Neue Lösungsansätze sollen geprüft werden,<br />
wie „Bürgerarbeit“ oder Vermittlungsscheine<br />
ab Beginn der Arbeitslosigkeit – kleine<br />
Schritte in ungewisse Richtung. Die Hinzuverdienensmöglichkeiten<br />
sollen verbessert<br />
werden, der Freibetrag für das Schonvermögen<br />
„wesentlich“ erhöht werden – auf stolze<br />
750 Euro pro Lebensjahr. Die selbst genutzte<br />
Immobilie soll umfassend geschützt werden.<br />
Wieder eine Reihe kleiner Schritte in<br />
die richtige Richtung, die aber sofort große<br />
Fragen aufreißt. Was ist mit denen, die man<br />
schon um ihr Häuschen gebracht hat? Noch<br />
keine Antwort<br />
Eine Strukturreform wird angekündigt,<br />
um Länder und Kommunen zur Anstellung<br />
von Langzeitarbeitslosen einzuspannen. Das<br />
gipfelt in einem „Mustervertrag“ und der<br />
gleichzeitigen Ankündigung einer bürgerfreundlichen<br />
Verwaltung. Man darf gespannt<br />
sein, wie sich dieser Widerspruch in sich<br />
selbst auflösen kann.<br />
Kosten für Unterkunft, Energie- und Nebenkosten<br />
sollen überprüft und pauschalisiert<br />
werden, um Transparenz und Rechtssicherheit<br />
zu erhöhen. Ziel ist es, der Klageflut<br />
gegen Hartz IV-Bescheide die rechtliche<br />
Basis zu entziehen. Ob sich das für die sehr<br />
strapazierten Geldbeutel der Leistungsempfänger<br />
positiv oder negativ auswirken wird,<br />
muss sich erst noch herausstellen. Eine Zusammenfassung<br />
der Sozialleistungen soll<br />
angestrebt werden – hier hat die FDP das<br />
Wort „bedarfsorientiertes Bürgergeld“ eingeschmuggelt.<br />
Dabei wird es wohl auch bleiben,<br />
zumindest für diese Legislaturperiode.<br />
Noch einige andere lang überfällige Regeländerungen<br />
sind angekündigt: Verbesserung<br />
bei Erwerbsminderung, Stabilisierung<br />
in der Künstlersozialversicherung, endlich<br />
die Durchsetzung der UN-Konvention über<br />
die Rechte von Menschen mit Behinderungen.<br />
Die Altersarmut soll bekämpft werden –<br />
vorerst allerdings nur durch einen Vorschlag.<br />
Einzige „harte“ Aussage: „Wir führen in dieser<br />
Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem<br />
in Ost und West ein.“<br />
Schöne Aussagen und schöne Aussichten<br />
– wäre da nicht die Gewissheit, das dies alles<br />
nur in einer Wirtschaft mit deutlichem<br />
Wachstum durchführ-, weil finanzierbar<br />
ist. Doch von dem erwünschten deutlichen<br />
Wachstumsschub ist noch nichts zu sehen.<br />
RS<br />
(Bildquellen dpa, rp)<br />
Amerikanische<br />
Verhältnisse<br />
Schwarz/Gelb oder besser Gelb/<br />
Schwarz, denn die Initiative und der<br />
Drive bei der neuen Regierungskoalition<br />
liegt eindeutig bei der FDP, hat was<br />
Neues: Man orientiert sich wissentlich<br />
oder unwissentlich an den USA. Leider<br />
an den schlimmsten Auswüchsen<br />
der US-amerikanischen Politik, dem<br />
Give-and-Take im Kapitol. Das geht so:<br />
Man nehme das Lieblingsthema eines<br />
großen Teil der einen Partei, verbinde es<br />
– natürlich ohne jeden logischen Bezug<br />
– mit dem Lieblingsthema der anderen<br />
Partei und hat wunderbarerweise einen<br />
Gesetzesentwurf. Den versteht zwar keiner,<br />
aber das macht nichts. Nun eines<br />
macht noch was: Man braucht einen publikumswirksamen,<br />
zugkräftigen Titel. Ist<br />
der gefunden, kann man der Verabschiedung<br />
durch ein schläfriges Parlament sicher<br />
sein und ebenso des Beifalls der Presse,<br />
die nur auf Präsentation und schönen<br />
Schein achtet und nicht auf Inhalte. So<br />
regiert man erfolgreich. Und manchmal<br />
kommt sogar etwas Sinnvolles dabei raus.<br />
Die Regierung hat regiert und als<br />
Erstes kam so ein amerikanischer Gesetzentwurf<br />
raus, der im Eilgang durch<br />
das vorgeschriebene parlamentarische<br />
Verfahren gehetzt wird. Familienministerin<br />
von der Leyen und die alten Weiber<br />
beiderlei Geschlechts der CDU haben<br />
sich in Sachen Kindergeld ausleben<br />
können. Das hilft zwar nichts, weil das<br />
Geld – siehe letzte Ausgabe – bei den<br />
benachteiligten Kindern der unteren<br />
Einkommensgruppen schlicht nicht ankommt.<br />
Und auch die FDP durfte ein<br />
Lieblings-Wahlkampfthema in eherne<br />
Worte fassen, die Erbschaftssteuer. Diese<br />
ehernen Gesetzesworte gelten solange,<br />
bis die Ausführungsvorschriften erlassen<br />
sind. Aber man kann ein Wahlversprechen<br />
bis zum Bruch als erfüllt abhaken.<br />
Oh ja – der Titel. Publikumswirksam<br />
wurde das Ganze „Konjunkturbeschleunigungsprogramm“<br />
genannt. Nicht nur<br />
sprachlich unsäglich, sondern auch widersinnig.<br />
Was soll denn hier die Konjunktur<br />
beschleunigen – erhöhte Nachfrage<br />
nach Windeln von Proctor&Gamble<br />
und Kinderklamotten aus Oshkosh/<br />
Wisconsin und China? Oder das sozialverträgliche<br />
Frühableben von ältlichen<br />
mittelständischen Unternehmen, die nur<br />
darauf gewartet hatten, dass ihre Erben<br />
ihr Werk steuerfrei schnellstmöglich verscherbeln<br />
können? Peinliches Schweigen<br />
in Regierung, Parteien und Fraktionen.<br />
Nichts gegen die Sache. Alles gegen<br />
die Form und das Verfahren. So macht<br />
man keine Politik, sondern Flickwerk.<br />
Das allerdings könnte durchaus Absicht<br />
sein. Wie auch bei der vorgesehenen Reform<br />
von ALG II, kommen so gesetzliche<br />
Regelungen zustande, die klare<br />
Kontraste zur bisherigen Regelung erzeugen.<br />
Im Bereich der Versorgung für<br />
Kinder liegt die Hauptlast bei den ohnehin<br />
meist pleiten Städten – der Bund<br />
verspricht sich ganz klar neue Rechte,<br />
wenn er für die eigenen Gesetze zahlen<br />
muss. Mit der Erbschaftssteueränderung<br />
wie auch die Zuverdienst-Regelung für<br />
ALG II wird das bisherige Steuersystem<br />
immer tiefer unterlaufen. Der CDU, die<br />
am liebsten gar nichts tun möchte in der<br />
Tradition von Helmut Kohl und seiner<br />
politischen Ziehtochter Angela Merkel,<br />
wird nichts anders übrig bleiben, als<br />
aufseufzend der FDP in das Abenteuer<br />
einer nächsten Steuerreform zu folgen.<br />
RS
NACHRICHTEN 3<br />
OBAMA BAUT ATOM-<br />
KRAFTWERKE<br />
Washington - Für insgesamt 8,3 Mill.$<br />
will US-Präsident Barack Obama zum ersten<br />
Mal seit 30 Jahren zwei Atomkraftwerke bauen<br />
lassen. Das ist nicht nur Teil seiner Offensive<br />
gegen CO², sondern auch als neuer<br />
Exportschlager eingeplant. Die USA dürften<br />
technologisch nicht hinter Atomstaaten wie<br />
China oder Frankreich zurückfallen. „Obwohl<br />
wir seit 30 Jahren keine neuen Reaktoren<br />
mehr gebaut haben, ist die Atomenergie<br />
nach wie vor unsere wichtigste Energiequelle,<br />
die keine Treibhausgase verursacht. Um unseren<br />
wachsenden Bedarf zu decken – ohne<br />
negative Folgen fürs Klima – brauchen wir<br />
mehr Atomenergie. So einfach ist das“, sagt<br />
der Präsident und macht die wohlbekannte<br />
Rechnung auf: „Ein Reaktor verursacht 16<br />
Millionen Tonnen weniger als ein Kohlekraftwerk.<br />
Das sind umgerechnet die Abgase<br />
von dreieinhalb Millionen Autos.“<br />
Der Standort ist auch schon geklärt: Die<br />
Neubauten werden im Bundesstatt-Georgia<br />
errichtet. Völlig ungeklärt und von Obama<br />
nicht angesprochen ist die Endlagerung des<br />
radioaktiven Abfalls. Letztmals 1978 wurde<br />
eine Studie für ein Endlager in den Yucca<br />
Mountains in Auftrag gegeben, aber niemals<br />
zu Ende geführt. Seitdem wird gestritten,<br />
u.A. über die großen Transportentfernungen<br />
und die möglichen Gefahren durch Transporte.<br />
Zu diesem Problem gab es kein Wort<br />
vom Präsidenten.<br />
(Quelle: ORF)<br />
Castro profitiert vom Unweltschutz<br />
Havanna – Zeolith ist eine kristalline Substanz<br />
und ein umwelttechnisches Multitalent.<br />
Bis vor wenigen Jahren konnten nur Mineralogen<br />
mit dem Namen etwas anfangen. Inzwischen<br />
schätzt man die „Siedesteine“ für ihre<br />
biogenen, katalytischen und regulatorischen<br />
Funktionen. Zeolith hat viele Poren und Kanäle<br />
und damit eine extrem hohe Fähigkeit<br />
zum Ionenaustausch, zur Anreicherung von<br />
Stoffen aus Gasen oder Flüssigkeiten (Adsoption)<br />
oder zur Anlagerung von Wassermolekülen<br />
an gelöste Ionen (Hydratation).<br />
Damit können auch renitente Schadstoffe<br />
wie Schwermetalle gebunden und somit aus<br />
der Natur entfernt werden. Insbesondere in<br />
Waschmitteln kann Zeolith die umweltbelastenden<br />
Pentanatriumtriphosphate ersetzen.<br />
Wichtigste Abnehmer für Zeolith sind Brasilien<br />
und andere lateinamerikanische Länder.<br />
Auch die USA möchte gern, steht sich selbst<br />
aber noch im Wege. Die kubanische Produktion<br />
ist innerhalb eines Jahres von 600 Tonnen<br />
auf 4.490 Tonnen angestiegen. Richtig<br />
lohnen würde es sich, wenn man weiterverarbeitete<br />
Produkte statt Rohstoffe anbieten<br />
können, doch „Fidel no ha dinero“, so die<br />
Kubaner. Es fehlt das Kapital für Investitionen.<br />
(Quelle: Patriciu)<br />
EU der Biopiraterie bezichtigt–<br />
Globales Kontrollgremium angemahnt<br />
Paris - Umweltexperten haben den europäischen<br />
Industriestaaten vorgeworfen, seit<br />
Jahren die artenreichen Ökosysteme der armen<br />
Länder zu plündern. Um an preiswerte<br />
Nahrungsmittel, Rohstoffe und Arbeitskräfte<br />
zu kommen, schrecken sie nicht vor Biopiraterie<br />
zurück, hieß es auf einer Tagung in<br />
Paris. Angesichts dieser Missstände forderten<br />
die Teilnehmer die Schaffung eines internationalen<br />
Artenschutz-Gremiums nach dem<br />
Vorbild des <strong>Welt</strong>klimarates.<br />
Ihre eigenen Ressourcen haben die EU-<br />
Mitgliedsstaaten längst ausgeschöpft. Nur<br />
etwa 17 Prozent der Ökosysteme in diesen<br />
Ländern seien noch halbwegs intakt, sagte<br />
Dominique Richars von der Europäischen<br />
Umweltagentur (EA) auf dem von den vereinigten<br />
Nationen ausgerichteten Treffen. EU-<br />
Politiker hätten sich über diese Erkenntnis<br />
„schockiert“ gezeigt, meinte Richards, dessen<br />
Behörde kürzlich die erste vollständige<br />
Untersuchung über Biodiversität in Europa<br />
abgeschlossen hat. Der Raubbau an der Umwelt<br />
schreite in der Region seit Jahren fort,<br />
kritisierte der Experte. Bislang sei dies offenbar<br />
noch niemand aufgefallen.<br />
Ashok Khosia, der Gründer der nichtstaatlichen<br />
Gruppe für Entwicklungsalternativen<br />
mit Sitz in Neu-Delhi, warf den EU-Staaten<br />
vor, arme Länder als Selbstbedienungsläden<br />
zu betrachten. Dabei seien diese auf das angewiesen,<br />
was ihnen innerhalb ihrer eigenen<br />
Grenzen zur Verfügung stehe, sagte Khosia,<br />
der auch die <strong>Welt</strong>naturschutzorganisation<br />
IUCN vertritt. Wenn ihre Nahrungs- und<br />
Wasserquellen versiegten, bekämen sie die<br />
Folgen unmittelbar zu spüren.<br />
Zuletzt hätten 95 Staaten gemeinsam über<br />
die Gründung einer zwischenstaatlichen<br />
Plattform für Biodiversität (IPBES) diskutiert,<br />
sagte Anne Lagerie, Geschäftsführerin<br />
der NGO Diversitas. Man hoffe, dass das<br />
Gremium auf der nächsten großen Konferenz<br />
der Unterzeichnerstaaten der Artenschutzkonvention<br />
im Oktober offiziell beschlossen<br />
werde. Auf dem Treffen soll eine verbindliche<br />
Einigung für Maßnahmen gegen das Artensterben<br />
in den kommenden zehn Jahren<br />
gefunden werden. Nach Überzeugung von<br />
Khosia kann nur ein zwischenstaatlicher Ausschuss<br />
„mit Zähnen und einem soliden Mandat“<br />
garantieren, dass ein solches Abkommen<br />
in die Tat umgesetzt wird. (Quelle: Stephen<br />
Leahy, IPS)<br />
Inklusive Hilfe für ausgeblutetes<br />
Land – Menschenrechtler mahnen<br />
New York/Port au Prince - Nach dem<br />
verheerenden Erdbeben in Haiti fordern internationale<br />
Menschenrechtsgruppen, den<br />
Wiederaufbau des Landes inklusiv und fern<br />
aller Ideologien zu gestalten. Der karibische<br />
Inselstaat sei viel zu lange Spielball fremder<br />
Mächte gewesen und internationale Hilfen<br />
den Eliten zugeflossen.<br />
„Seit Jahren ist die Hilfe der Staatengemeinschaft<br />
für Haiti ideologisch geprägt,<br />
Versprechen wurden gebrochen“, kritisierte<br />
Monika Kaina Varma vom RFK Zentrum für<br />
Gerechtigkeit und Menschrechte. Im Vordergrund<br />
habe künftig die Frage zu stehen, wie<br />
die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt<br />
werden könnten. Geberstaaten verstießen<br />
gegen ihre Menschenrechtsverpflichtungen,<br />
sollten sie das von ihnen zugesagte<br />
Geld für Trinkwasserleitungen, Gesundheitsvorsorge<br />
und Bildung schuldig bleiben.<br />
Hunderte Millionen Dollar seien allein<br />
der haitischen-Oberschicht zugute gekommen,<br />
kritisierte ein Entwicklungshelfer, der<br />
ungenannt bleiben wollte. Nutznießer seinen<br />
Regierungsvertreter, Geschäftsleute und Militärangehörige<br />
gewesen. Die einfachen Leute<br />
seien leer ausgegangen. Die bereitgestellt<br />
Mittel seien nicht für den Ausbau der Infrastruktur<br />
oder des Bildungssystems verwendet<br />
worden.<br />
Varna kritisierte, dass Staaten ihren Geldhahn<br />
immer dann zugedreht hätten, wenn<br />
missliebige Herrscher in Haiti an die Macht<br />
gekommen seien. So die von den USA<br />
kontrollierte Intramerikanische Entwicklungsbank<br />
(IDB) Gelder für ein geplantes<br />
Wasserprojekt für die arme Bevölkerung<br />
zurückgehalten. In anderen Fällen seien die<br />
Hilfen nur zögerlich und unkoordiniert bereitgestellt<br />
worden. Diese Praxis müsse endlich<br />
beendet werden. (Quelle: William Fischer,<br />
IPS)<br />
Deutsch-Französische Agenda 2020<br />
Es bedurfte der fast vollständigen Anwesenheit<br />
der deutschen und französischen Kabinette<br />
inklusive Merkel und Sarkozy, um<br />
eine 80 Punkte umfassende „Agenda 2020“<br />
über die deutsch-französische Zusammenarbeit<br />
ins Leben zu rufen. Ob das Resultat den<br />
Aufwand wert war, wird man sehen müssen.<br />
Die veröffentlichten Kernpunkte klingen jedenfalls<br />
eher peripher. Ein grenzüberschreitendes<br />
Projekt für Elektrofahrzeuge; neue<br />
Kriterien für Wachstumsmessen nach Empfehlung<br />
der Ökonomen Stiglitz und Sen;<br />
Wahlrechte im Familienrecht bei deutschfranzösischen<br />
Eheleuten. Ferner, gemeinsame<br />
Schulbücher, Digitalisierung historischer<br />
Artefakte und das Projekt eines gemeinsamen<br />
Klimasatelliten. Auch wurde vereinbart, die<br />
Abstimmung der beiden Staaten vor europäischen<br />
Gipfeltreffen zu intensivieren. Der<br />
Rest bleibt nebelhaft. Bei der Verkündigung<br />
konnte sich Merkel einen Seitenhieb auf Vorgänger<br />
Gerhard Gasprom nicht verkneifen:<br />
Die Agenda 2020 sei mit der Agenda 2010<br />
schon deshalb nicht zu vergleichen, weil sie<br />
„ohne handwerkliche Fehler“ sei. Man ist gebührend<br />
gespannt.<br />
Ethanol und Energieversorgung<br />
Nachwachsende Stoffe für eine nachhaltige<br />
Energieversorgung zu nutzen, ist eine<br />
verlockende Vorstellung. Nun hat das US<br />
Gouvernement Accountability Office erstmals<br />
untersucht, ob dieser Weg effektiv ist.<br />
Die Ergebnisse sind keinesfalls so positiv wie<br />
versprochen. Die Probleme, die das GAO<br />
aufzeigt, betroffen die Planungen in Europa<br />
ebenfalls.<br />
Nach den Planungen der US-Regierung<br />
soll der Einsatz von Biofuels wie Ethanol<br />
fossile Energien in weiten Bereichen des<br />
Individual- und Gütertransports ersetzen.<br />
Absatz (und damit Erzeugung) soll von 11<br />
Mrd. Gallonen 2009 auf 36 Mrd. gal, das<br />
Dreifache innerhalb von 13 Jahren, gesteigert<br />
werden. Davon sollen 21 Mrd. gal. Biofuel<br />
neuen Typs statt Ethanol sein, also statt<br />
aus Getreidestärke aus Zellulose wie Gräser,<br />
Futterpflanzen, Blätter und andere Biomasse.<br />
Die Planungen sehen für 2022 16 Mrd. gal<br />
aus Zellulose vor, 1 Mrd. gal aus Biomasse<br />
und 4 Mrd. gal aus Zucker oder anderer als<br />
Getreidestärke.<br />
Die Erschließung neuer Rohstoffquellen<br />
ist notwendig, da Getreide große Mengen<br />
Dünger und vor allem Wasser erfordert. Dies<br />
intensiviert den Konflikt zwischen Getreide<br />
für Ernährungszwecke und Getreide als<br />
Energielieferant – bereits jetzt beschweren<br />
sich die Fleischproduzenten in den USA,<br />
dass die Futterpreise infolge der Nachfrage<br />
nach Ethanol ständig steigen und damit<br />
die Lebensmittel verteuern. In den Entwicklungsländern<br />
wird dieses Problem erst recht<br />
kritisch werden, da Europa seine Biorohstoffe<br />
von dort bezieht und damit die Ernährung<br />
der Bevölkerung ernsthaft bedroht ist.<br />
Doch das Hauptproblem ist Wasser: Biofuels<br />
brauchen zur Erzeugung große Mengen<br />
an Wasser. Für jede gefahrene Meile werden<br />
zwischen 1,3 und 62 gal. Wasser verbraucht;<br />
die Erzeugung einer entsprechenden Menge<br />
Treibstoff aus fossilen Rohstoffen verbraucht<br />
dagegen nur zwischen 0,7 und 0,14 gal. pro<br />
Meile.<br />
Ethanol aus normalem Ackerbau mit Bewässerung<br />
wird also nur eine Übergangslösung<br />
sein können, zumal Ethanol hochgradig<br />
korrosiv ist und damit Schäden in der Infrastruktur<br />
wie in Tanks und Pipelines anrichten<br />
kann. Auch ist die Beimischung von Ethanol<br />
auf 10% des Treibstoffes begrenzt, damit<br />
keine Motorschäden entstehen. In den USA<br />
sind von 250 Mill. Autos nur 8 Mio. tauglich<br />
für andere Treibstoffe oder Mixverhältnisse.<br />
Erst die Erschließung von Biomasse kann<br />
eine Lösung darstellen, da Biomasse ohne zusätzliche<br />
Bewässerung geerntet werden kann.<br />
Doch es sind noch erhebliche Probleme zu<br />
meistern: Biomasse fällt naturgemäß saisonal<br />
gehäuft oder gar nicht an und es fehlt auch<br />
noch an Großtechniken zur Massenproduktion.<br />
Eine Herausforderung auch an Europa<br />
Renaissance der Atomenergie<br />
in Europa<br />
Mit der Unterstützung von Energieunternehmen<br />
bereitet die Europäische Kommission<br />
und einigen einzelnen europäischen<br />
Ländern den Wiedereintritt in die Nukleartechnologie<br />
vor.<br />
Eine European Nuclear Energy Leadership<br />
Academy (ENELA) wurde geründet<br />
– in Deutschland, auf dem Camus der TU<br />
München in Garching. Beteiligt sind Areva,<br />
Axpo, EnBW, Eon Kernkraft, Urenco und<br />
Vattenfall.<br />
EU-Kommissionsmitglied Andris Piebalg<br />
dazu: „Der Nuklearsektor steht vor einer<br />
wichtigen Herausforderung: Es ist nötig,<br />
Wissen zu erhalten und weiterzuentwickeln.<br />
Nicht nur für die Industrie, sondern auch für<br />
Forscher, Gesetzgeber und den Gesundheitssektor.<br />
ENELA kann helfen, die Lücke in bestehenden<br />
Programmen zu schließen“.<br />
Zugleich wurde ein Abkommen zwischen<br />
Spanien und Jordanien über die friedliche<br />
Nutzung der Atomenergie für Energieerzeugung<br />
und Wasserentsalzung angekündigt.<br />
Jordanien plant den Bau eines Atomkraftwerkes.<br />
RS<br />
BSE-, Vogel- oder Schweinepest,<br />
immer noch eine Seuche in petto<br />
Die <strong>Welt</strong>gesundheitsorganisation WHO<br />
der UN hatte die Schweinegrippe wohl auf<br />
fragwürdige Weise zur Pandemie ausgerufen,<br />
eine vertrauenswürdige Risikoanalyse wurde<br />
erst gar nicht erstellt. Viele Regierungen sind<br />
trotzdem auf den fahrenden Zug aufgesprungen.<br />
Es graust den Verbraucher, die Pharmaindustrie<br />
freut´s. Schnell noch´ne Grippe aus<br />
der Wirtschaftsflaute raus schaufeln, schon<br />
läuft´s Geschäft noch besser! Die Regierungen<br />
zeigen sich stets bestürzt über die (jeweiligen)<br />
Risiken der Infektionskrankheiten.<br />
Jetzt werden, erst mal ganz schnell, Millionen<br />
von Impfpräparaten bestellt. Klar, Banken<br />
und Autoindustrie hatten schon ihre Unterstützung,<br />
aber es gibt noch mehr Not leidende<br />
Wirtschaftszweige- besonders die darbende<br />
Pharmaindustrie.<br />
Mittlerweile wollen die deutschen Länder<br />
die Hälfte der bestellten Impfdosen abbestellen<br />
oder zurück geben- wen juckt noch diese<br />
Grippe-Variante? Dumm ist, dass die Vorräte<br />
nicht ewig haltbar sind, eine preisvergünstigte<br />
Abgabe an Drittweltländer, käme angeblich<br />
zu teuer.<br />
Jetzt werden plötzlich dringend benötigte<br />
Impfseren für Kleinkinder knapp. Die lapidare<br />
Aussage des Pharmakonzerns Glaxo-<br />
SmithKline, einer der größten Hersteller<br />
des Schweinegrippen-Impfstoffs, lautet: „Bis<br />
Mitte des Jahres ist alles wieder im grünen<br />
Bereich“?<br />
Im Berliner Bundestag geben sich tagtäglich<br />
ca. 10.000 Lobbyisten die Klinke in die<br />
Hand. Es geht um sehr viel Geld: schliesslich<br />
haben sich die Abgabepreise für Grippe-<br />
Impfstoffe seit 1995 um mindestens 100%<br />
erhöht.<br />
Mit der Schwarz-Gelben Koalition läuft<br />
die Schmierage auf Hochtouren.<br />
Demnächst dürfte dann die nächste Epidemie<br />
reif sein, ZIEGENPEST, oder sowas.<br />
HJS
4 KONTROVERS<br />
Erst Arbeitspflicht, dann Arbeitslager?<br />
„Wir müssen jedem Hartz IV-Empfänger<br />
abverlangen, dass er als Gegenleistung für<br />
die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung<br />
nachgeht, auch niederwertiger Arbeit,<br />
im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung“,<br />
sagte Koch der „Wirtschaftswoche“.<br />
Da isser wieder, der eiserne, stets ehrliche<br />
Roland, der „ultrabrutalste Aufklärer“ und<br />
Nachtflugverbotskönig. Und nun köchelt er<br />
mal wieder heißen Brei zusammen.<br />
Hartz IV stelle eine „angenehme Variante“<br />
des Lebens in Arbeitslosigkeit da, sogar<br />
ein ganzes Leben lang. Er fügte hinzu:<br />
„Es könne kein funktionierendes Arbeitslosenhilfe-System<br />
geben, das nicht auch ein<br />
Element von Abschreckung enthält. Sonst<br />
ist das für die regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen mit den Unterstützungssätzen<br />
vergleichen, unerträglich. Entsprechender Druck sei deshalb notwendig.“<br />
In Vergessenheit geraten scheinbar die Hunderttausenden von „Aufstockern“, die zum<br />
größten Teil sozialversicherungspflichtige Jobs mit 40-Stunden Woche ausüben, davon aber<br />
nicht leben können. Die bekommen ihre Grundsicherung von den ARGEN „aufgestockt“.<br />
„Im Augenblick geben wir den Beteiligten das Signal, sich in Hartz IV mit einem kleinen<br />
Zusatzjob einzurichten. Denn wenn sie mehr eigene Anstrengungen unternehmen, ist das<br />
zu ihrem Nachteil“.<br />
Er versucht damit bewusst, vergessen zu machen, dass in all den Jahren versäumt wurde,<br />
Arbeitsplätze mit ausreichenden Mindest-Löhnen zu schaffen, statt prekärer Arbeitsverhältnisse.So<br />
wurde ein Niedrigstlohnsektor mit Dumpinggehältern ermöglicht. Auf diese Art wird<br />
den gemeinnützigen 1 Euro-Jobs die Grundlage völlig entzogen. Die Caritas wird sich schön<br />
bedanken, künftig, statt halbwegs Freiwilliger, zwangsverpflichtete Arbeitsunwillige einsetzen<br />
zu müssen!<br />
Er versucht weiterhin davon abzulenken, dass<br />
die Hartz IV Gesetze, an deren Verschlimmbesserung<br />
er maßgeblich im Vermittlungsausschuss<br />
mitgewirkt hat, zu Lasten von Erwerbslosen<br />
gehen. Millionen sind in Armut<br />
gestürzt und ca. 3 Millionen Kinder um ihre<br />
Zukunftsperspektiven gebracht worden.<br />
Nach heftiger Kritik, auch aus den eigenen<br />
Reihen, legte Koch nochmal nach. In<br />
einem Interview mit der „<strong>Welt</strong>“ forderte er:<br />
„Viele Jobcenter schrecken heute angesichts<br />
der zahlreichen Prozesse vor den Sozialgerichten<br />
vor Sanktionen zurück. Die Arbeitsverwaltung<br />
müsse daher verpflichtet werden,<br />
Sanktionen auch einzusetzen“.<br />
Damit soll schon einmal der Rechtsweg für Hartz IV-Empfänger ausgehebelt werden- eine<br />
klare Aufforderung zum Rechtsbruch! Die Jobcenter halten sich schon heute nicht an Sozialgerichtsurteile,<br />
die Gerichte fluchen, weil immer das Gleiche verhandelt werden muss.<br />
Vollkommen schwammig, wie gewohnt wenn es um Zusagen geht, erklärte Koch:<br />
„Man muss mehr zuverdienen können und davon weniger abgezogen bekommen als heute“.<br />
Klingt ja wirklich happy, steht aber im direkten Widerspruch zum Koch´schen Diktum,<br />
jeden noch so beschissenen Job, annehmen zu müssen. Wann soll man denn dazu verdienen?<br />
Ja, am Stammtisch kommt das bestimmt gut an. Unsere Elterngeneration hat ja auch schon<br />
den Reichsarbeitsdienst erlebt- als Nächstes kommt dann wohl: „ARBEIT MACHT FREI“,<br />
neudeutsch vielleicht „HIGH“.<br />
HJS (Photo NZZ)<br />
Kultur von unten<br />
Alle Hartz IV-Empfänger sind faule Nichtstuer, meint Roland Koch. Vermutlich bezieht er sein <strong>Welt</strong>bild aus Bildzeitung und den Talk-Shows der Sender für die geistig Unterentwickelten.<br />
Auch bei den Nichtbeschäftigten gibt es Kreativität und Kultur, wie diese Zeitung immer wieder unter Beweis stellt. Deshalb veröffentlichen wir gerne auch<br />
einen Aufruf für aktive Mitarbeit an einem kreativen Projekt. Die Initiative hat unseren Beifall, die Story kommentieren wir nicht.<br />
RS<br />
Wer in Hartz IV angelangt ist, weil seine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, der kann natürlich auch zu anderen Mitteln greifen, um seine Lage zu verbessern.<br />
Man könnte Ausbeuter wie Schlecker, Lidl und Co natürlich wie in früheren Zeiten mit einem Schild um den Hals an der nächsten Laterne aufknüpfen, die Büros und Filialen besetzen<br />
und die ganzen schönen Sachen in eigene Regie übernehmen.<br />
Man könnte... wenn sich denn die vielen, vielen Betroffenen zusammentäten und sich einig würden und die Kraft aufbringen würden...Aber so ist es leider nicht.<br />
Deshalb haben wir beschlossen, ersatzweise für die politische Handlung, die ja leider nicht stattfindet, einen Film zu drehen. Man kann die Story durchaus als Vorschlag verstehen, mal<br />
so etwas in Erwägung zu ziehen.<br />
Der Film ist aber selbstverständlich nur als geistige Anregung gedacht und durchaus nicht als Aufruf zu kriminellem Handeln! Wer kommt denn bloß auf solche Ideen!<br />
Also: zwei unbescholtene Mitbürger auf Hartz IV, ein 54jähriger IT-Mann und eine allein erziehende 35jährige, beschließen, weil sie nicht mehr weiter wissen, einen hochrangigen Banker<br />
zu entführen. Der Film spielt in Frankfurt/Main, da gibt es genügend zur Auswahl. Als sie ihn schließlich eingesperrt haben, fangen die Probleme und Verwicklungen erst so richtig<br />
an. Schließlich machen sie so etwas zum ersten Mal. Sie wollen die Regierung mit ihrer Erpressung dazu bringen, die Hartz IV Gesetze ganz erheblich zu verbessern und alle 1-Euro-<br />
JOBS in reguläre Arbeitsverhältnisse zu verwandeln. Und um der Sache Nachdruck zu verleihen, soll es im Falle von Uneinsichtigkeit seitens der Verantwortlichen in Berlin an Ultimo<br />
eine Live-Übertragung im Internet geben, wobei es dem armen Banker ziemlich schlecht ergehen wird. Er hat eben Pech gehabt. Wie so viele Hartz IV Leute auch. Nun gut, sie haben<br />
schließlich Erfolg mit ihrer Aktion und was das schönste ist: die beiden Entführer und ein arbeitsloser Mitstreiter der betagteren, aber cleveren Sorte bekommen am Schluss von „JOBS“<br />
Jobs und zwar richtig gut bezahlte!<br />
Wir haben bereits ein 84-seitiges Drehbuch in professioneller Form, leider aber nicht die 1,5 Millionen Euro, die normalerweise für einen Film dieses Formats veranschlagt werden.<br />
Deshalb haben wir beschlossen, den Film als No-Budget-Produktion zu drehen auf hochauflösendem Video. Das sieht auch sehr gut aus.<br />
Alle Szenen sind daraufhin abgeklopft worden, ob sie unter No-Budget Umständen zu realisieren sind.<br />
Der Film soll auf Festivals gezeigt werden und vielleicht sogar Geld einspielen, was dann nach einem Schlüssel unter den Beteiligten aufgeteilt wird.<br />
Wir brauchen viele Darsteller und Mitarbeiter für den Film und starten hiermit den Aufruf!<br />
Interessenten kontaktieren uns bitte unter:<br />
jotkraemer@yahoo.de oder<br />
0179-6900044 oder 069-33088492 (auch in Ffm bitte Vorwahl wählen!).<br />
„JOBS!“<br />
Darsteller und Mitarbeiter für einen Hartz IV-Triller gesucht!<br />
Wir freuen uns über Ihr Interesse!<br />
Johannes Krämer
SOZIALES<br />
Wer arm ist, muss mehr leiden<br />
5<br />
SNS Exklusiv - Verkäufer weltweit<br />
im Rampenlicht<br />
Ich bin seit September 2009 Verkäufer der<br />
Straßenzeitung Prosto neba (Ukraine). Ich<br />
bin seit 7 Jahren obdachlos, seitdem ich von<br />
meiner Frau geschieden bin und wir unsere<br />
Wohnung verkauft haben. Ich konnte mir<br />
keine Neue leisten.<br />
Ich habe in vielen Städten gelebt – Sumy,<br />
Kyiv. Ich habe sechs Monate lang in einem<br />
Kloster gelebt - Kyevo-Pecherska Lavra. Meine<br />
schönste Erinnerung an meine Zeit in<br />
Kyiv ist die Orangene Revolution, als gegen<br />
die Ergebnisse der ukrainischen Präsidentschaftswahl<br />
im Jahr 2004 protestiert wurde.<br />
Ich war mit dabei, von Anfang an. Zu dieser<br />
Zeit war ich Fotograf für ein paar Nachrichtenagenturen<br />
und habe viele Fotos gemacht.<br />
2007 zog ich zurück nach Lviv, aber ich habe<br />
dort keinen guten Job gefunden.<br />
Jetzt lebe ich in einer Notunterkunft und<br />
verkaufe jeden Tag die Zeitung im Stadtzentrum.<br />
Ich verkaufe die Straßenzeitung gerne.<br />
Das ist ein sehr guter Job, wenn man gerne<br />
mit anderen Leuten kommuniziert. Gleichzeitig<br />
bin ich nicht bloß Verkäufer – ich führe<br />
den Gedanken der Zeitung weiter, verbreite<br />
die Idee von Solidarität in meiner Community.<br />
Die Zeitung wird von einer NRO veröffentlicht,<br />
die verschiedene Hilfen für Obdachlose<br />
anbietet. Wenn ich auf der Straße<br />
stehe, spreche ich nicht nur mit den Käufern,<br />
sondern auch mit Obdachlosen, um ihnen<br />
zu sagen, wo sie Hilfe bekommen können.<br />
Manche Leute fragen mich, was ich verkaufe<br />
und gehen vorbei. Aber manche haben<br />
auch schon von der Zeitung gehört,<br />
halten an und kaufen sie. Ich bitte die Leute<br />
nie darum, die Zeitung zu kaufen, weil ich<br />
nicht möchte, dass sie Mitleid mit mir haben<br />
und nur deshalb die Zeitung kaufen.<br />
Sondern ich möchte, dass sie es tun, weil sie<br />
wirklich etwas über das Problem wissen wollen.<br />
Und ich bin sehr froh, dass viele Leute<br />
schon von der Zeitung gehört haben und<br />
einfach zu mir kommen, um sie zu kaufen.<br />
Ich brauche ihnen nicht einmal erklären, was<br />
ich mache. Sie sagen einfach: „Ja, wir wissen<br />
was das ist. Gute Arbeit!”. Ich bin auch froh,<br />
dass viele mich schon auf der Straße wiedererkennen,<br />
selbst wenn ich nicht die Zeitung<br />
bei mir habe oder keinen Anstecker trage.<br />
Ich wünsche mir, dass die Menschen um<br />
mich herum mehr über das Problem der Obdachlosigkeit<br />
wissen und dass die Behörden<br />
sich mehr damit beschäftigen.<br />
Bildmaterial: Street News<br />
Reform, Gegenreform, Neureform<br />
– Chaos hoch drei<br />
Keiner ist zufrieden. Versicherte stöhnen<br />
über die Kosten, Patienten beschweren sich<br />
über miese Behandlung und vorenthaltene<br />
Leistungen, Ärzte verbringen mehr Zeit mit<br />
Bürokratie als am Patienten, Krankenhäuser<br />
bangen um die Existenz und Pharmafabriken<br />
sind erst recht unzufrieden. Man ist sich nur<br />
in einem einig: Der Mist, den uns die unglaublich<br />
unbegabte Ulla Schmidt hinterlassen<br />
hat, muss schnellstens weg. Bloß wie? Die<br />
ersten Schritte von Schwarz/Gelb sind wenig<br />
überzeugend.<br />
Die Post war unerfreulich. Wer nicht gerade<br />
privat versichert ist, hat von seiner Krankenversicherung<br />
einen Brief bekommen: Je<br />
nach Höhe des Einkommens will man zwischen<br />
8 und 30 Euro. Auch vom Sozialhilfeoder<br />
Hartz IV-Empfängern. Natürlich wird<br />
schon heftig geklagt, aber zunächst muss gezahlt<br />
werden. Eine Leistungsverbesserung ist<br />
dagegen nicht in<br />
Sicht.<br />
Bundesminister<br />
Rösler hat<br />
ein schweres Erbe<br />
angetreten. Noch<br />
dazu bewegt er<br />
sich auf vermintem<br />
Terrain: Die Koalitionsvereinbarung<br />
kennt zwar das<br />
Gesundheitswesen,<br />
aber nur als Zukunftsbranche<br />
mit<br />
„bereits jetzt über 4<br />
Millionen Beschäftigten“.<br />
Das Wort<br />
Patient oder Leistungen<br />
für Kranke<br />
kommt dagegen<br />
nicht vor. Auch der<br />
Krankheitsfall ist<br />
nur ein Vorwand<br />
für industrielle<br />
Ausbeutung und<br />
beamtete Willkür.<br />
Die Fakten: Der Fortschritt der Medizin<br />
macht immer mehr Behandlungen für immer<br />
mehr Krankheiten möglich, was sehr oft<br />
mit immer höheren Kosten einhergeht. Zugleich<br />
wird die Bevölkerung immer älter und<br />
damit auch notwendigerweise kränklicher.<br />
Die arbeitende Bevölkerung nimmt dagegen<br />
ständig ab, schon aus demografischen Gründen<br />
und darüber hinaus, weil Arbeitsplätze<br />
fehlen und ältere Arbeitnehmer planmäßig<br />
ausgesondert werden. Das reißt eine finanzielle<br />
Lücke auf, die nicht zu schließen ist.<br />
Als die gesetzliche Krankenversicherung<br />
geschaffen wurde, starb kaum jemand an<br />
Alterskrebs oder musste wegen Demenz gepflegt<br />
werden. Damals wurden die Menschen<br />
einfach nicht alt genug: Wer mit 45 an Typhus<br />
oder TBC starb, kann nicht mit 60 Prostatakrebs<br />
entwickeln. Pflege war eine Angelegenheit<br />
der Familien und, wo das nicht<br />
möglich war, der Kirchen. Die Versicherungen<br />
hielten sich fein raus. Die Alterspyramide<br />
hielt man für in Ordnung, abgesehen<br />
von den grauenvollen Einbrüchen durch die<br />
Menschenopfer der zwei <strong>Welt</strong>kriege, die man<br />
durch natürliche Fruchtbarkeit und etwas<br />
Kindergeld auszubügeln hoffte. Diese Rechnung<br />
geht einfach nicht mehr auf.<br />
Hehre Worte, leere Taschen<br />
„“Wir wollen, dass auch in Zukunft alle<br />
Menschen in Deutschland unabhängig von<br />
Einkommen, Alter, sozialer Herkunft und<br />
gesundheitlichem Risiko weiterhin die notwendige<br />
medizinische Versorgung qualitativ<br />
hochwertig und wohnortnah erhalten und<br />
alle am medizinischen Fortschritt teilhaben<br />
können.“ So die Koalitionsvereinbarung in<br />
merklicher Verkennung der realen Umstände.<br />
Alle Fehlsichtigen müssen dank der unglaublichen<br />
Dummheit von Ulla Schmidt<br />
halbblind durch die Gegend stolpern, gesetzlich<br />
Versicherte müssen auf Behandlungstermine<br />
warten und von flächendeckend ähnlicher<br />
Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems<br />
kann nun wirklich keine Rede mehr<br />
sein. Statt dem aufsuchenden Hausarzt sollen<br />
es Gesundheitszentren richten, die aber für<br />
Alte und Gebrechliche schon körperlich und<br />
erst recht finanziell überhaupt nicht zugänglich<br />
sind.<br />
Klare Richtung,<br />
tapsende Schrittchen<br />
„Langfristig wird<br />
das bestehende<br />
Ausgleichsystem<br />
überführt<br />
in eine Ordnung<br />
mit mehr Beitragsautonomie,<br />
regionalen Differenzierungsmöglichkeiten<br />
und<br />
einkommensunabhängigen<br />
Arbeitnehmerbeiträgen,<br />
die sozial ausgeglichen<br />
werden“.<br />
So der Wortlaut.<br />
Dass ohne Ansicht<br />
des Einkommens<br />
abkassiert wird,<br />
haben wir schon<br />
erlebt. Der soziale<br />
Ausgleich lässt auf<br />
sich warten und<br />
wird wohl auch<br />
nie erfolgen. Der<br />
Arbeitgeberanteil<br />
soll fest bleiben,<br />
der Bevölkerung nimmt man die höheren<br />
Kosten ab, wobei es die unteren Einkommensgruppen<br />
natürlich am härtesten trifft.<br />
Statt Beitrag nach Leistungsfähigkeit eine<br />
maskierte Kopfpauschale; über die soziale<br />
Ungerechtigkeit ist man sich sehr wohl im<br />
Klaren, über die notwendigen sozialen Gegenmaßnahmen<br />
dagegen nicht mal ansatzweise.<br />
Der Wettbewerb soll den Ausgleich<br />
bringen, was in Grenzen sogar möglich<br />
wäre – gäbe es da nicht Ulla Schmidts Gesundheitsfonds,<br />
der den Wettbewerb wieder<br />
aufhebt. (Und bei der CDU recht beliebt<br />
ist). Aus dies hat jeder schon mitbekommen,<br />
denn die Postkästen waren voll damit: Briefe<br />
von Kassen, die Zusatzbeitrag einfordern,<br />
meist unter Hinweis auf gutes eigenes Wirtschaften<br />
und die Notwendigkeit, andere Kassen<br />
subventionieren zu müssen, und von anderen<br />
Kassen, die stolz darauf verweisen, dass<br />
sie den Zusatzbeitrag nicht erheben werden<br />
– weil sie die Tarife bereits vorher angehoben<br />
hatten oder bei nächster Gelegenheit doppelt<br />
anheben werden.<br />
Der Gegensatz ist eine Herausforderung<br />
für die Gesetzgebung: Offener Wettbewerb<br />
führt dazu, dass sich die Krankenkassen per<br />
Sonderangebot die lohnendsten Kunden<br />
herauspicken und versuchen, die anderen<br />
loszuwerden. Das steht im klaren Gegensatz<br />
zum angestrebten Ziel der umfassenden gesundheitlichen<br />
Absicherung für jeden. Ein<br />
Gesundheitsfonds negiert die Bemühungen<br />
um Vorteile im Wettbewerb und stülpt dem<br />
Versicherungswesen einen kostspieligen und<br />
aufwendigen Verwaltungsapparat über, dessen<br />
Versagen schon vor der Arbeitsaufnahme<br />
sicher ist.<br />
Unzufriedene Ärzte,<br />
unklare Aussagen<br />
„Nach kritischer Überprüfung wird die<br />
Honorarreform … zusammen mit den Beteiligten<br />
den erforderlichen Kurskorrekturen<br />
unterzogen..... Und: Wir wollen die Zahlung<br />
der Praxisgebühr in ein unbürokratisches<br />
Erhebungsverfahren überführen.“ Vielen<br />
Ärzten krampft sich bei diesen Aussagen<br />
der Magen zusammen. Man erwartet das<br />
Schlimmste und wird wohl auch nicht enttäuscht<br />
werden. Auf alle Fälle sammeln die<br />
Ärzteverbände - Niedergelassene ebenso wie<br />
die der Klinikärzte – schon mal ihre Bleisoldaten<br />
und bringen sie in Stellung. Es wird<br />
gestritten werden, und zwar heftig. Auch<br />
über die flächendeckende Versorgung, nach<br />
Koalitionsvereinbarung zunächst allerdings<br />
nur durch Anreize für die Niederlassung in<br />
Gebieten, wo es keine oder wenige Ärzte<br />
gibt. Das gab es bisher auch schon: Manche<br />
Gemeinde hat mit Geldscheinen nach dem<br />
Nachfolger für den örtlichen, aber überalterten<br />
Medizinmann gewunken, meist allerdings<br />
ohne Erfolg. Ob sich das ändert,<br />
bleibt abzuwarten. Dazu spielt vieles eine<br />
Rolle, von der Betreuung des medizinischen<br />
Nachwuchses in Richtung Allgemeinmedizin<br />
bis zur Kreditvergabe seitens der Banken bei<br />
der Existenzgründung der Ärzte. Auch die<br />
Krankenhäuser sollen gestärkt und die Arbeit<br />
dort, einschließlich des Belegarztsystems, gestärkt<br />
werden. Irgendwelche konkrete Aussagen,<br />
wie das Bitteschön aussehen soll: Fehlanzeige.<br />
Wir wissen es noch nicht.<br />
Haariges und<br />
Unverständliches<br />
„Die Patientenrechte wollen wir in einem<br />
eigenen Patientenschutzgesetz bündeln, das<br />
wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten<br />
am Gesundheitswesen erarbeiten werden.“<br />
Noch ein Gesetz, was regelt, was bereits geregelt<br />
ist. Braucht man das? Ist das die Arbeit<br />
wert?<br />
„Datensicherheit und informationelle<br />
Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten<br />
sowie der Versicherten haben für uns<br />
auch bei der Einführung einer elektronischen<br />
Gesundheitskarte höchste Priorität“. Sehr<br />
schön: Das ist ein feierliches Versprechen,<br />
sich an bestehende Gesetze zu halten und als<br />
solches eine Unverschämtheit dem Bürger<br />
gegenüber.<br />
Und schließlich die Pflegeversicherung:<br />
„Neben dem bestehenden Umlageverfahren<br />
(brauchen) wir eine Ergänzung durch Kapitaldeckung,<br />
die verpflichtend, individualisiert<br />
und generationsgerecht ausgestaltet<br />
sein muss…. Alle Bemühungen um eine<br />
finanzielle Absicherung des Pflegerisikos im<br />
Rahmen der Pflegeversicherung entbinden<br />
den Einzelnen aber nicht davon, seine Eigenverantwortung<br />
und Eigeninitiative zur Absicherung<br />
des Pflegerisikos und zur Gestaltung<br />
der Pflege wahrzunehmen.“ Das heißt im<br />
Klartext: Bürger, du wirst eine aufgeblähte<br />
Bürokratie bezahlen müssen, die wenig oder<br />
keine Leistungen erbringt. Willst du im Alter<br />
gepflegt werden, spar schon mal viel Geld<br />
oder kauf dir eine Pistole. Irgendwann wird<br />
es die auch mal auf Krankenschein geben –<br />
zwecks Verwaltungsvereinfachung aber nur<br />
mit Chipkarte.<br />
RS
6 SOZIALES<br />
Aushungern und Fordern<br />
Reinhard Jellen im Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz über die rechtswidrige Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1<br />
Seit 2005 hat sich in Deutschland die Armut (1), die Kinderarmut (2) und die Anzahl der Tafeln (3) verdoppelt. Der Niedriglohnsektor hat sich innerhalb der<br />
letzten zwanzig Jahre gleichfalls dupliziert. Während Einkommen aus Gewinnen und Vermögen um 36 Prozent (4) zugenommen haben, bleibt die Lohnquote<br />
(5) mit 66,2 Prozent auf einem historischen Tiefstand: Neun Prozentpunkte unter dem Spitzenniveau von 1974.<br />
Ökonomische Entmachtung<br />
und gravierende Entrechtung<br />
Maßgeblicher Türöffner für diese Entwicklung<br />
sind die unter dem Begriff Hartz<br />
IV subsummierten Reformen des Arbeitsmarkts<br />
aus dem Jahr 2005. Mit der Abschaffung<br />
der Arbeitslosenhilfe und der Einführung<br />
einer Grundsicherung unterhalb des<br />
ehemaligen Sozialhilfeniveaus, indem staatliche<br />
Einmalleistungen der Sozialämter durch<br />
unzureichende Pauschalen (PDF) (6) ersetzt<br />
wurden und der (teilweisen) Verringerung<br />
des Schonvermögens (7) wurde bei Langzeitarbeitslosen<br />
eine verheerende Armutsspirale<br />
in Gang gesetzt. Doch damit hören die Zumutungen<br />
für Bezieher des Arbeitslosengelds<br />
II nicht auf, denn mit der ökonomischen<br />
Entmachtung geht eine gravierende Entrechtung<br />
einher. De facto nähert man sich durch<br />
die exponentielle Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien<br />
für Arbeit (8) hart der Grenze<br />
zur Zwangsarbeit. Die Alg-II-Bezieher bewegen<br />
sich nicht mehr als Rechtssubjekte,<br />
als Staatsbürger in der Gesellschaft, sondern<br />
werden zu reinen Pflichterfüllern degradiert.<br />
Sie sind auf den Status von Metöken und Heloten<br />
herabgesunken und werden - von Politikern<br />
wie Wolfgang Clement als „Parasiten“<br />
(9) beschimpft - für die öffentliche Hetzjagd<br />
freigegeben.<br />
Großzahl der Sanktionen widerrechtlich<br />
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Machtlosigkeit<br />
und Erniedrigung sind Langzeitarbeitslose<br />
noch der Willkür der Behörden<br />
ausgesetzt. Denn die JobCenter und AR-<br />
GEN haben das Recht, die Zahlungen an<br />
Hartz-IV-Empfänger bis zum Wegfall der<br />
Leistung einzuschränken, falls diese ihren<br />
Anweisungen nicht Folge leisten. Letzteres<br />
ist für die Arbeitslosen durchaus schwieriger,<br />
als sich das anhört: Schließlich sind die<br />
Alg-II-Regelungen in etwa so kompliziert,<br />
wie das deutsche Steuerrecht, allerdings mit<br />
dem feinen Unterschied, dass Wohlbetuchte<br />
mit Hilfe juristischer Spezialisten Ausnahmeregelungen<br />
und Steuerschlupflöcher für<br />
sich ausfindig und zu ihrem Vorteil nutzen<br />
können, während man den Alg II-Bezieher in<br />
einem Dschungel voller Fußangel-Paragrafen<br />
und unklarer Regelungen, die sich mitunter<br />
gegenseitig widersprechen, alleine stehen<br />
lässt. Sanktionen sind nicht nur, aber auch<br />
ein Mittel, um den Sparvorgaben der Bundesagentur<br />
für Arbeit nachzukommen.<br />
Eine Großzahl davon ist rechtswidrig, wie<br />
die Anzahl der gewonnen Prozesse gegen die<br />
Maßnahmen beweist. Diese Anordnungen<br />
sind keine Bagatellmaßregeln, sondern gehen<br />
an die Existenz: In der Broschüre „Wer nicht<br />
spurt, kriegt kein Geld - Sanktionen gegen<br />
Hartz-IV-Beziehende - Erfahrungen, Analysen,<br />
Schlussfolgerungen“, welche von der<br />
Berliner Kampagne gegen Hartz IV herausgegeben<br />
wurde, ist zum Beispiel von einem<br />
Fall zu lesen, in dem ein Diabetiker sich aufgrund<br />
der Sanktionen kein Insulin und auch<br />
kein Essen mehr leisten konnte. Auch sind<br />
die Umstände der darin beschriebenen Sanktionen<br />
oftmals grotesk: Ein Epileptiker sollte<br />
auf einem Baugerüst arbeiten, eine Hartz IV-<br />
Bezieherin wurde vom Job-Center dazu angehalten,<br />
die „Nebentätigkeit“ Prostitution<br />
(12) gegen ihren Willen fortzusetzen.<br />
Über die drakonischen Strafen, die das Gesetz<br />
vorschreibt, und die zum Teil lebensgefährliche<br />
Sanktionierungspraxis von JobCentern<br />
und ARGEN sprach Telepolis mit Claudia<br />
Daseking und Solveig Koitz, welche die<br />
Broschüre mitverfasst haben und Mitinitiatorinnen<br />
des „Bündnis für ein Sanktionsmoratorium“<br />
(PDF) (13) sind, einer erstaunlich<br />
breiten Plattform namhafter Vertreter aus Politik,<br />
Erwerbsloseninitiativen, Wissenschaft<br />
und Kirche. Solveig Koitz arbeitet seit Jahren<br />
als Sozialberaterin für Hartz-IV-Beziehende.<br />
„Sanktionen kürzen die Leistungen bis<br />
unter das Existenzminimum“<br />
Die Sanktionsfälle gegen Hartz-IV-Bezieher<br />
in Ihrer Broschüre lesen sich geradezu kafkaesk.<br />
Haben Sie besonders krasse Beispiele<br />
ausgesucht?<br />
Claudia Daseking: Nein, die Fälle sind<br />
ein Querschnitt des alltäglichen Hartz-IV-<br />
Wahnsinns, auch wenn die meisten Fälle<br />
nicht derart grotesk sind wie die von ihnen<br />
genannten Beispiele. Wenn Sie sich im Internet<br />
die Unterzeichnerliste unseres Aufrufs<br />
für ein Sanktionsmoratorium (14) , also ein<br />
Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen, angukken,<br />
können Sie sehen, wie viele Leute aus<br />
sozialen Berufen den Aufruf unterschrieben<br />
haben, wie viele Leute aus caritativen Einrichtungen,<br />
Sozialberatungen, Schuldnerberatungen,<br />
Leute, die täglichen Umgang mit<br />
dem Leid haben. Dann sehen Sie, dass wir<br />
ganz dicht dran sind an der Wirklichkeit.<br />
2008 gab es 780.000 Sanktionen<br />
Was ist denn so schlimm an den Sanktionen?<br />
Solveig Koitz: Sanktionen kürzen die Leistungen<br />
bis unter das Existenzminimum.<br />
Um Missverständnissen vorzubeugen: Sanktionen<br />
betreffen nicht Fälle von Leistungsmissbrauch,<br />
sondern es geht um Menschen,<br />
die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen<br />
angewiesen sind und denen man irgendein<br />
Fehlverhalten vorwirft. Bei vielen Langzeitarbeitslosen,<br />
die über keinerlei Ressourcen verfügen<br />
und zum Beispiel kein Schonvermögen<br />
haben, führen diese Geldkürzungen sofort in<br />
blanke Not, in staatlich verordnete Not - wie<br />
man sie sich für Deutschland, einem Land<br />
mit Sozialstaat nicht vorstellen kann, wenn<br />
man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.<br />
Im vergangenen Jahr wurden mehr als<br />
780.000 Sanktionen verhängt. Es mag wenig<br />
klingen, dass „nur“ etwa drei Prozent<br />
der Alg-II-Beziehenden sanktioniert werden<br />
- wie es immer wieder verharmlosend und<br />
beschwichtigend angeführt wird, so auch<br />
vom Vorstandsmitglied der Bundesagentur<br />
für Arbeit, Heinrich Alt. Man muss sich aber<br />
vergegenwärtigen, wie viele Menschen dies<br />
massiv trifft. So mussten im Jahr 2008 knapp<br />
100.000 junge Erwachsene - die Altersgruppe<br />
der unter 25jährigen wird besonders hart<br />
sanktioniert - einen Teil des Jahres völlig<br />
ohne Geldmittel auskommen, in der Regel<br />
drei Monate lang, und haben von den Job-<br />
Centern, wenn überhaupt, nur Lebensmittelgutscheine<br />
erhalten.<br />
Ein zweiter Punkt ist die Hilflosigkeit,<br />
wenn man dem Sanktionsapparat ausgeliefert<br />
ist. Das ist entwürdigend. Die vielen erfolgreichen<br />
Klagen und Widersprüche dürfen<br />
nicht darüber hinwegtäuschen, dass weniger<br />
als zehn Prozent der Bestraften von diesen<br />
Rechtsmitteln Gebrauch machen. Über die<br />
meisten Menschen brechen die Sanktionen<br />
wie eine Katastrophe herein, und die Kraft<br />
geht dafür drauf, die Grundversorgung und<br />
drum herum den Alltag neu zu organisieren<br />
und die Sanktion psychisch zu verkraften.<br />
Für den Rechtsweg braucht man Energie<br />
und Zeit, außerdem Wissen oder zumindest<br />
Kontakte.<br />
Druck auf die regulär Beschäftigten<br />
Claudia Daseking: Und drittens wirken<br />
die Sanktionen nicht nur auf die Sanktionierten.<br />
Alle, die in die Nähe des Hartz-IV-<br />
Regimes kommen, stehen unter dem Druck,<br />
ganz schnell irgendeine Arbeit anzunehmen,<br />
egal um welchen Preis. So werden Menschen<br />
für den Niedriglohnsektor „zugerichtet“.<br />
Und diese Bedrohung spüren auch die noch<br />
Erwerbstätigen und sind zu vielerlei Zugeständnissen<br />
bereit. Statt „Arbeit muss sich<br />
wieder lohnen“ ist das Motto von Hartz IV<br />
eigentlich: „Arbeitslosigkeit muss weh tun“.<br />
Als Gerhard Schröder den Wirtschaftsgrößen<br />
in Davos 2005 verkündete, Deutschland<br />
habe einen der besten Niedriglohnsektoren<br />
aufgebaut, den es in Europa gibt, hat er dies<br />
als Erfolg des Umbaus des Sozialstaates, als<br />
unmittelbaren Erfolg von Hartz IV proklamiert<br />
(15).<br />
„Fast jede Arbeit zumutbar“<br />
Können Sie uns kurz schildern, in welchen<br />
Fällen Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende<br />
verhängt werden?<br />
Solveig Koitz: Die landläufige Meinung<br />
ist ja, sanktioniert würden die „Drückeberger“,<br />
also die, die sich weigern würden, Arbeit<br />
anzunehmen. Es ist tatsächlich einer der<br />
Gründe für Sanktionen, wenn sogenannte<br />
„zumutbare“ Arbeit abgelehnt, vereitelt oder<br />
abgebrochen wird. Ein Blick in die Sanktionsstatistik<br />
zeigt aber, dass dies ein eher seltener<br />
Sanktionsgrund ist, der nur etwa zehn<br />
Prozent der Fälle ausmacht. Dazu muss man<br />
auch wissen, dass schon ein Verhalten im<br />
Bewerbungsverfahren, das einem Arbeitgeber<br />
aus irgend einem Grund nicht gefällt, zu<br />
einer Sanktion führen kann. Hinzu kommt,<br />
dass fast jede Arbeit als zumutbar gilt, egal<br />
woher man beruflich kommt und wo man<br />
hin will, und fast egal, wie niedrig der Lohn<br />
ist, nur Lohnwucher darf es nicht sein. Aber<br />
nicht einmal daran halten sich die JobCenter<br />
und es werden Sanktionen verhängt, wenn<br />
sich Erwerbslose weigern, für Wucherlohn<br />
zu arbeiten. Wenn solche Sanktionen vor<br />
Gericht landen, werden sie aufgehoben, zum<br />
Beispiel in einem Fall, wo eine Frau Arbeit<br />
bei einem Textildiscounter für 4,50 € Stundenlohn<br />
nicht antreten wollte.<br />
Arbeitsverweigerung ist also ein seltener<br />
Sanktionsgrund. Wofür werden die meisten<br />
Sanktionen verhängt?<br />
Solveig Koitz: Über die Hälfte der Sanktionen<br />
betrifft Meldeversäumnisse, also wenn<br />
jemand zu einem Termin beim JobCenter<br />
nicht erscheint oder zu spät kommt. Der<br />
zweithäufigste Sanktionsgrund sind Verstöße<br />
gegen die sogenannte Eingliederungsvereinbarung,<br />
das waren 2008 etwa 17 Prozent der<br />
Sanktionen, zum Beispiel wenn zu wenig Bewerbungen<br />
vorgelegt wurden. Nur ein, zwei<br />
Bewerbungen weniger als in der Eingliederungsvereinbarung<br />
festgelegt, also zum Beispiel<br />
achtzehn Bewerbungen im Monat statt<br />
20, und eine Sanktion wird fällig.<br />
„Zwangsvertrag“<br />
Eine Zwischenfrage: Eine Eingliederungsvereinbarung,<br />
was ist das? Und zwanzig Bewerbungen<br />
im Monat, ist das realistisch? Bewerbungen<br />
müssen doch zielgerichtet sein, wenn<br />
man damit Erfolg haben will ...<br />
Solveig Koitz: Da sprechen Sie mehrere<br />
wunde Punkte an. Bewerbungen sind nicht<br />
billig und die Kosten dafür nicht im Regelsatz<br />
enthalten. Die JobCenter übernehmen<br />
aber Bewerbungskosten nur in bescheidener<br />
Höhe. Und wie viele Alg-II-Beziehende wagen<br />
es angesichts angedrohter Sanktionen,<br />
auf der Kostenübernahme der angeordneten<br />
Bewerbungen zu bestehen und im Ablehnungsfall<br />
weniger Bewerbungen zu schreiben?<br />
Die JobCenter dürfen eigentlich keine<br />
Bewerbungen verlangen, deren Kosten sie<br />
nicht erstatten. In der Praxis geschieht das<br />
aber.<br />
Was die Eingliederungsvereinbarungen<br />
betrifft: Diese müssen die JobCenter<br />
mit allen Alg-II-Beziehenden abschließen.<br />
Darin sollen, vereinfacht gesagt, für beide<br />
Seiten ihre im Gesetz allgemein angelegten<br />
Pflichten konkretisiert werden. Dabei<br />
ist schon das Wort „Vereinbarung“ irreführend,<br />
„Zwangsvertrag“ wäre hierfür eine<br />
passendere Bezeichnung, denn die Unterzeichnung<br />
steht der einen Seite nicht frei,<br />
die Unterschriftsverweigerung ist laut Gesetz<br />
ihrerseits ein Sanktionsgrund. Dabei wissen<br />
alle, die nur ein Fünkchen von Sozialarbeit<br />
verstehen, dass in diesem Bereich die unbedingte<br />
Freiwilligkeit der Kooperation eine<br />
essentielle Voraussetzung dafür ist, dass die<br />
Zusammenarbeit zwischen Betreuenden und<br />
Klienten gelingt, und dass die vereinbarten<br />
Ziele bestmöglich erreicht werden. Was diese<br />
Eingliederungs“vereinbarung“ laut Gesetz<br />
enthalten und wie sie zustande kommen soll,<br />
und wie das demgegenüber in den JobCentern<br />
gehandhabt wird, das sind weitere Probleme.<br />
„Überfordernde Pflichten“<br />
Claudia Daseking: Ja, zum Beispiel ist es<br />
der Normalfall, dass einem der fertige Entwurf<br />
zur sofortigen Unterschrift vorgelegt<br />
wird, ohne vorherige Besprechung, was darin<br />
aufgenommen werden sollte. Unter Umständen<br />
steht da viel Unverständliches drin, zum<br />
Beispiel lange Gesetzeszitate. Bei einem der<br />
in unserer Broschüre Porträtierten war es so,<br />
dass er überhaupt nicht verstanden hat, was<br />
er da unterschrieben hat - erklärt hat es ihm<br />
im JobCenter niemand, obwohl er krankheitsbedingte<br />
Auffassungsschwierigkeiten<br />
hat, von denen das JobCenter wusste.<br />
Zum Widersinn von Eingliederungsvereinbarungen,<br />
die überfordernde Pflichten<br />
enthalten und so zwangsläufig zu Sanktionen<br />
führen, nannte die Mitarbeiterin einer Sozialberatungsstelle,<br />
die wir im Rahmen unserer<br />
Erhebung befragt hatten, ein Beispiel aus ihrem<br />
Erfahrungsbereich: „Wenn einem 20jährigen<br />
Obdachlosen, dessen Leben chaotisch<br />
und instabil ist und der psychisch nicht belastbar<br />
ist, zehn Bewerbungen im Monat abverlangt<br />
werden, muss man sich nicht wun-
SOZIALES<br />
7<br />
dern, dass der scheitert.“<br />
Verstoß gegen Dienstanweisung<br />
Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium,<br />
in dem Sie mitwirken, hat soeben einen<br />
offenen Brief (PDF) (16) an den Vorstand<br />
der Bundesagentur für Arbeit geschrieben,<br />
weil durch die JobCenter entgegen einer<br />
BA-Anweisung weiterhin Sanktionen verhängt<br />
werden, wenn Alg-II-Beziehende ihre<br />
Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung<br />
verweigern. Sie fordern Aufklärung<br />
darüber, wie es dazu kommen konnte<br />
und sofortige Abhilfe. Können Sie mehr zum<br />
Hintergrund sagen?<br />
Solveig Koitz: Seit Dezember 2008 gibt<br />
es die Dienstanweisung der Bundesagentur<br />
für Arbeit , dass die Unterschriftsverweigerung<br />
unter die Eingliederungsvereinbarung,<br />
die laut Gesetz ein Sanktionsgrund ist, nicht<br />
mehr sanktioniert werden soll. Denn die<br />
Bundesregierung hat nach entsprechenden<br />
Gerichtsurteilen in der Begründung zu einer<br />
geplanten Gesetzesänderung eingeräumt,<br />
dass bei der jetzigen Gesetzesregelung gegen<br />
die Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, die<br />
ein Verfassungsgrundsatz ist. Im Vorgriff auf<br />
diese geplante Gesetzesänderung, die übrigens<br />
immer noch nicht erfolgt ist, hat dann<br />
die BA diese Dienstanweisung herausgegeben.<br />
Trotzdem werden in den JobCentern in<br />
nahezu unveränderter Höhe Sanktionen verhängt,<br />
wenn jemand die Unterschrift unter<br />
eine Eingliederungsvereinbarung verweigert<br />
hat, wie in den aktuellen Sanktionsstatistiken<br />
der BA zu sehen ist. Auch dieses Beispiel<br />
zeigt, wie notwendig ein Sanktionsmoratorium<br />
ist, um dem Handeln der JobCenter Einhalt<br />
zu gebieten.<br />
Gibt es denn noch weitere Sanktionsgründe?<br />
Solveig Koitz: Der dritthäufigste Sanktionsgrund<br />
- im Jahr 2008 waren es 11 Prozent<br />
der Fälle - ist die Weigerung, Eingliederungsmaßnahmen<br />
wie Ein-Euro-“Jobs“,<br />
Bewerbungstrainings und unbezahlte Praktika<br />
anzutreten oder fortzuführen. Im Gesetz<br />
sind weitere Sanktionsgründe festgelegt<br />
- die Pflichten von Hartz-IV-Beziehenden erschöpfen<br />
sich ja nicht im bisher Genannten.<br />
In der Sanktionspraxis kommen diese Fälle,<br />
wie zum Beispiel die Fortsetzung unwirtschaftlichen<br />
Verhaltens, nur selten vor. - Die<br />
Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit<br />
sagt aber nichts darüber aus, ob die Sanktionierten<br />
tatsächlich die genannten Pflichtverletzungen<br />
begangen haben oder ob ihnen<br />
ein Fehlverhalten nur unterstellt wurde. Auf<br />
den hohen Anteil rechtswidriger Sanktionen<br />
wollen wir noch zu sprechen kommen.<br />
„Bescheinigung für Bettlägerigkeit<br />
gefordert“<br />
Sie sagten, die meisten Sanktionen werden<br />
wegen Meldeversäumnissen verhängt. Aber<br />
kann man nicht erwarten, dass jemand, der<br />
staatliche Leistungen bekommt, zu den Terminen<br />
bei der Behörde erscheint, und zwar<br />
pünktlich?<br />
Solveig Koitz: Dass man irgendwo zu spät<br />
kommt, sollte natürlich nicht vorkommen,<br />
ist aber den meisten von uns schon mal passiert.<br />
Wenn man krank ist und deshalb nicht<br />
zu einem Termin ins JobCenter gehen kann,<br />
hat man zwar die Möglichkeit, einen Krankenschein<br />
zu schicken, aber es dauert mehrere<br />
Tage, bis die Post innerhalb des JobCenters<br />
auf dem richtigen Schreibtisch landet - in<br />
Berlin sind es durchschnittliche sechs Tage,<br />
wie uns ein JobCenter-Mitarbeiter verriet.<br />
Bis dahin kann schon das Sanktionsverfahren<br />
eingeleitet worden sein und muss dann mühsam<br />
wieder gestoppt werden. Dazu kommt,<br />
dass immer wieder JobCenter normale Krankenscheine<br />
nicht als Entschuldigung gelten<br />
lassen wollen, sondern Bescheinigungen für<br />
Bettlägerigkeit verlangt haben, die Ärzte normalerweise<br />
nicht ausstellen. Dieses Vorgehen<br />
hat die Bundesagentur für Arbeit inzwischen<br />
in einer Dienstanweisung als unzulässig gewertet.<br />
Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer<br />
bisherigen Erfahrungen mit dem JobCenter<br />
oder mit Behörden derart Angst davor<br />
haben, was im JobCenter mit ihnen gemacht<br />
wird, dass sie trotz der Sanktionsdrohung<br />
nicht zu einem Termin gehen. Und dann gibt<br />
es diejenigen, die wegen ernster psychischer<br />
Probleme oder einer Suchterkrankung nicht<br />
einmal ihren Alltag bewältigen können und<br />
ihre gesamte Post nicht zur Kenntnis nehmen.<br />
Das Klischee, dass Leute einfach zu faul<br />
sind, um morgens aufzustehen und ins Job-<br />
Center zu gehen, mag vereinzelt zutreffen,<br />
aber in vielen Fällen dürfte es an der Realität<br />
vorbeigehen.<br />
„Schwerwiegende Versorgungslücken“<br />
Claudia Daseking: Natürlich gibt es auch<br />
unter Erwerbslosen Leute, die „total verpeilt“<br />
sind, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen<br />
und die nicht mit Behörden umgehen<br />
wollen oder können, aus welchen Gründen<br />
auch immer. Aber kann es ein geeigneter<br />
Umgang damit sein, dass diesen Menschen<br />
das Existenzminimum gekürzt wird? Wir finden:<br />
nein. So ein Vorgehen mutet, gelinde<br />
gesagt, an wie der Versuch hilfloser Eltern,<br />
ihr unartiges Kind zur Einsicht zu bewegen,<br />
indem das Spielzeug weggenommen und<br />
das Kind ohne Abendbrot ins Bett geschickt<br />
wird.<br />
Nun ist das Leben als Hartz IV-Bezieher ohnehin<br />
kein Zuckerschlecken. Da muss es doch<br />
dramatisch sein, wenn das Geld noch weiter<br />
gekürzt wird...<br />
Claudia Daseking: So ist es. Das Arbeitslosengeld<br />
II soll das Existenzminimum abdecken<br />
und es ist zweifelhaft, ob das überhaupt<br />
gewährleistet ist. Es liegt auf der Hand,<br />
dass schwerwiegende Versorgungslücken entstehen,<br />
wenn an diesem Existenzminimum<br />
auch noch gekürzt wird. Diejenigen unter<br />
den Sanktionierten, denen vielleicht noch<br />
das physische Existenzminimum verbleibt,<br />
werden völlig vom gesellschaftlichen Leben<br />
abgeschnitten - oder auch sie hungern, um<br />
nicht darauf zu verzichten. Menschliche Existenz<br />
ist doch mehr als das nackte Überleben.<br />
Wenn ein Familienmitglied sanktioniert<br />
wird, sind alle im Haushalt davon betroffen,<br />
schließlich werden im Kühlschrank keine<br />
Trennfächer eingezogen. Wenn der Regelsatz<br />
eines Familienmitglieds komplett gestrichen<br />
wird oder sogar dessen Wohnkosten nicht<br />
übernommen werden, ist das besonders gravierend.<br />
Dann müssen zum Beispiel Eltern<br />
von den Regelsätzen ihrer Kinder leben.<br />
Wenn Mietschulden entstehen, trifft dies<br />
ebenso die nicht sanktionierten Familienmitglieder.<br />
Das ist Sippenhaft.<br />
Komplette Streichung der Leistungen<br />
Wie hoch fallen denn die Kürzungen des<br />
Hartz-IV-Geldes aus?<br />
Solveig Koitz: Das reicht von zehn Prozent<br />
des Regelsatzes für das erste Mal, wenn man<br />
einen Termin im JobCenter verpasst, über 30<br />
Prozent des Regelsatzes, wenn einem das erste<br />
Mal ein anderer Pflichtverstoß zur Last gelegt<br />
wird - vorausgesetzt, man ist mindestens 25<br />
Jahre alt, den unter 25jährigen wird schon<br />
beim ersten derartigen Pflichtverstoß 100<br />
Prozent vom Regelsatzes gekürzt. Bei wiederholten<br />
Pflichtverletzungen geht das ruckzuck<br />
bis zur vollständigen Streichung des gesamten<br />
Alg II, also von Regelsatz, Wohnkosten<br />
und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Kürzungen<br />
erfolgen jeweils für drei Monate.<br />
In der nächsten Ausgabe SOZIALE WELT:<br />
„Materielle Not bis hin zur Todesangst“<br />
LINKS<br />
(1) http://www.bpb.de/<br />
wissen/8SE20H,0,0,Ausgew%E4hlte_<br />
Armutsgef%E4hrdungsquoten.html<br />
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Kinderreport_2007<br />
(3) http://www.heise.de/tp/r4/artikel<br />
/30/30562/1.html<br />
(4) http://www.innovations-report.de/<br />
html/berichte/wirtschaft_fi nanzen/<br />
gewinnquote_volkseinkommen_<br />
historischem_hoechststand_<br />
123319.html<br />
(5) http://de.wikipedia.org/wiki/<br />
Lohnquote<br />
(6) http://www.der-paritaetische.<br />
de/uploads/tx_pdforder/regelsatzneuberechnung-2006_05.pdf<br />
(7) http://www.sozialhilfe24.de/<br />
soziale-themen/faq_67_<br />
vermoegensfreibetraege.html<br />
(8) http://www.sueddeutsche.de/<br />
politik/14/451723/text/<br />
(9) http://www.freitag.<br />
de/2005/43/05430702.php<br />
(10) http://www.amrande.<br />
de/pdfs/broschuere_zu_<br />
sanktionen_2008_11_24.pdf<br />
(11) http://www.hartzkampagne.de<br />
(12) http://www.sexworker.at/phpBB2/<br />
viewtopic.php?p=52027<br />
(13) http://www.sanktionsmoratorium.<br />
de/pdfs/aufruf_lang_fuer_stand.pdf<br />
(14) http://www.sanktionsmoratorium.<br />
de/<br />
(15) http://www.peter-stollenwerk.de/<br />
Rede_Davos.pdf<br />
(16)<br />
http://www.sanktionsmoratorium.de/<br />
pdfs/2_pm_ba_da_zu_sanktionen_<br />
wg_ev_verweig_2009_09_18.pdf<br />
(17) http://www.heise.de/tp/r4/<br />
artikel/31/31163/1.html<br />
Copyright © Heise Zeitschriften Verlag<br />
Für die freundliche Nachdruckgenehmigung<br />
bedanken wir uns bei Hn.<br />
Jellen, sowie dem Heise Zeitschriften<br />
Verlag / Hannover. Das Interview wurde<br />
erstmals in TELEPOLIS 9/2009 veröffentlicht.<br />
(Redaktion SOZIALE WELT)<br />
Neuer Anspruch Frankfurts: „Eine Integrationspolitik, die sich an alle richtet“<br />
– und, was dies für die Realität bedeutet<br />
In den letzten beiden Jahren ist mit der „Frankfurter Integrationsstudie“ 2008 und dem „Entwurf<br />
des Integrations- und Diversitätskonzepts für die Stadt Frankfurt am Main“ 2009 der<br />
Rahmen für das zukünftige Zusammenleben zwischen den Menschen aus 170 Nationen in<br />
Frankfurt erarbeitet worden. Während die Integrationsstudie die Situation der MigrantInnen<br />
und die Entwicklung der Integration analysiert, formuliert das Integrations- und Diversitätskonzept<br />
eine Integrationspolitik, „die sich an alle Bürgerinnen und Bürger, mit oder ohne<br />
Migrationshintergrund“ richtet. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass es darum gehen muss,<br />
folgende drei „Leitbilder“ umzusetzen:<br />
1. Chancengleichheit und Gleichberechtigung jedes und jeder Einzelnen<br />
2. Solidarität miteinander und Respekt voreinander<br />
3. Begegnung und Teilhabe einer möglichst großen Anzahl von Bürgern und Bürgerinnen-<br />
So beschreibt es zumindest das Konzept. Das hört sich gut an! Und eigentlich ist die Erarbeitung<br />
und Veröffentlichung des Integrations- und Diversitätskonzepts schon ein wichtiger<br />
Meilenstein für Frankfurt. Denn es beinhaltet einen umfassenden Anspruch von Integrationspolitik<br />
und artikuliert klare Erwartungen an die Politik und die Menschen in Frankfurt. Die<br />
Frage aber ist: Wie wird dies die täglichen Realitäten der Menschen verändern. Werden wir<br />
zunehmend mehrsprachige Kindertagesstätten haben?; wird es Quoten für MigrantInnen im<br />
öffentlichen Dienst geben?; oder wird es Kurse geben, damit sich Menschen ohne Migrationshintergrund<br />
– das heißt „Deutsche“ in der multikulturelle Einwanderungsgesellschaft Frankfurt<br />
„integrieren“?. Dies sind alles Fragen, an denen die kommunale Politik und Verwaltung<br />
mit den Frankfurtern in verschiedenen Bürgerforen arbeitet. Dies ist schon ein guter Schritt,<br />
aber es bleibt abzuwarten, was am Ende an konkreten Ergebnissen herauskommt. Jede und<br />
jeder kann sich mit seinen Wünschen und Beiträgen übrigens nicht nur bei den Veranstaltungen,<br />
sondern auch im Internet unter www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de einbringen. Wir<br />
sollten uns da einmischen, denn schließlich geht es um unser aller Zukunft. Damit der hohe<br />
Anspruch des Konzepts eingelöst werden kann, ist natürlich die Stärkung des Engagements<br />
von BürgerInnen in Frankfurt von zentraler Bedeutung, vor allem über ihre Vereine und Initiativen.<br />
Aufgerufen sind hier sowohl MigrantInnen als auch Deutsche. Sie müssen noch<br />
aktiver werden, wenn sich unser Verständnis von Integration und Integration – und das der<br />
Politik - ändern sollen. Lange wurde davon ausgegangen, dass sich MigrantInnen in Frankfurt<br />
und Deutschland in die deutsche Mehrheitsgesellschaft hineinfinden, also integrieren,<br />
müssen. Um das zu ermöglichen, gab es freiwillige und verpflichtende Maßnahmen für sie.<br />
Den MigrantInnen selbst, und ihren Erfahrungen, ihrer Geschichte und Kultur wurde kein so<br />
großer Stellenwert gegeben. Das, so zeigt sich, war eine vergebene Chance. Heute sehen wir,<br />
dass Frankfurt international geworden ist und bleiben wird. Frankfurt profitiert von der Vielfalt<br />
der Kompetenzen und Erfahrungen seiner Menschen. Dies ist eine Chance auch für die<br />
Zukunft, bedeutet aber, dass auch die Deutschen unter uns sich stärker auf die MigrantInnen<br />
zubewegen müssen. Diese Einsicht ist für viele Deutsche eher neu, aber ohne Alternative. Die<br />
Globalisierung wird Frankfurt auch in den nächsten Jahren prägen. Dies heißt, dass Menschen<br />
die Stadt verlassen, und andere neu dazukommen werden. Dies wird die Gesellschaft prägen<br />
und verändern. Zentral wird es sein, den Zusammenhalt in der Gesellschaft in Frankfurt<br />
zu erhalten. Daran muss kontinuierlich gearbeitet werden – von der Politik, der Verwaltung<br />
und den Menschen, denn dieser Wandel hört nicht auf. Er wird Bestandteil unseres Lebens<br />
bleiben. Dazu gehört natürlich ebenfalls, Unterschiedlichkeiten von Menschen auszuhalten.<br />
Dies wird auch in Zukunft immer wieder mal zu Konflikten führen. Auch dies gehört zum<br />
Zusammenleben von unterschiedlichen Nationen.<br />
Lynda Hamelburg
8 FRAUENTHEMEN - SOZIALE ORGANISATION<br />
Geschenke, Papier & Co. aus dem „SchubLaden“<br />
Neue Verkaufsstelle des Ausbildungsprojektes der FaPrik in Frankfurt Bornheim<br />
Im Schubladen findet man in der Regel allerhand Brauchbares. So auch in dem neuen gleichnamigen Laden der Ausbildungsinitiative<br />
FaPrik in Frankfurt. Geschenkartikel, Stifte, Papier, Kinderspielzeug und Bürobedarf - in der Spessartstraße, in unmittelbarer Nähe zum<br />
Bornheimer Uhrtürmchen gibt es Nützliches und Ausgefallenes.<br />
Der Schubladen setzt neue Akzente in Frankfurt<br />
Bornheim. Ständer mit Gruß- und Geschenkkarten<br />
stehen im Außenbereich des Ladens und bilden<br />
bunte Markierungen. Sie ziehen Neugierige<br />
und potenzielle Käufer in das große Ladenlokal.<br />
Falls die Außentemperaturen es zulassen, sind die<br />
Eingangstüren des Marktes in der Spessartstraße<br />
11 weit geöffnet. Rechts und links des Eingangs<br />
brennen Kerzen in zwei großen roten Kerzenhäuschen.<br />
Über die gesamte Front des Verkaufsraumes<br />
erstrecken sich Schaufenster. Sie lassen viel Licht<br />
herein und geben auch den Vorbeieilenden einen<br />
Einblick in den Laden.<br />
Drinnen ist es hell und geräumig. In weißen<br />
raumhohen Regalen entlang der Wände wird<br />
die Ware präsentiert: Notizbücher, Aktenordner,<br />
Schulhefte, Kalender, Blocks, Stifte, Geschenkpapier<br />
und Fotoalben. Die Ware ist nicht nur<br />
funktional, sondern bietet auch etwas fürs Auge.<br />
Manches ist ausgefallen, kräftige Farben dominieren.<br />
Taschen im bunten, blumigen Schubladen-<br />
Design hängen an einem Ständer. In einer Glasvitrine<br />
liegt Schmuck aus, der im Auftrag verkauft<br />
wird. Tücher werden in einem Wühlkorb angeboten.<br />
Im Hintergrund spielt leise Musik.<br />
An einem runden Tisch kann der Kunde Platz<br />
nehmen und, falls er will, das freundliche Verkaufs-Ambiente<br />
bei einer Tasse Kaffee genießen.<br />
Zu sehen gibt es genug. An der Decke hängen<br />
Lampenschirme aus weißem, grünem, rotem<br />
und orangenem Papier. Auf einem Tisch in der<br />
Der Eingangsbereich von der Spessartstrasse<br />
Mitte des Raumes wird eine kleine Auswahl an<br />
<strong>Welt</strong>musik-Musik-CDs präsentiert. Fingerpuppen<br />
und selbst produzierte Frucht-Seife, die nach<br />
Gewicht verkauft wird, runden das Angebot im<br />
Ausbildungsmarkt ab. Bei der Auswahl der Artikel<br />
achten die Initiatorinnen vor allem im Bereich<br />
der Büroartikel auf eine umweltfreundliche Herstellung<br />
und entsprechende Qualitätssiegel. Seit<br />
Oktober des vergangenen Jahres ist der Schubladen<br />
in der Spessartstraße eröffnet. Zuvor wurde<br />
er jahrelang in der Eichwaldstraße, einer kleinen<br />
Seitenstraße der Berger Straße, betrieben.<br />
„Der neue Laden gefällt mir sehr gut. Der andere<br />
war etwas klein. Hier können wir die Ware<br />
schön präsentieren“, sagt<br />
Jana. Die 18-jährige ist<br />
seit einem Jahr in dem<br />
Ausbildungsprojekt der<br />
FaPrik. Jana ist im zweiten<br />
Lehrjahr und will im<br />
März 2010 die Prüfung<br />
zur Einzelhandelskauffrau<br />
ablegen. „Mit dem<br />
Hauptschulabschluss ist<br />
es heute schwierig, einen<br />
Ausbildungsplatz zu finden“,<br />
lautet ihre Erfahrung.<br />
Sie absolvierte zunächst<br />
ein unentgeltliches<br />
Praktikum und hoffte<br />
darüber einen Einstieg in<br />
die Arbeitswelt zu finden.<br />
Doch ohne Erfolg. Über<br />
eine Freundin stieß sie auf<br />
das überbetriebliche Projekt der gemeinnützigen<br />
Ausbildungs- und Handelsgesellschaft FaPrik.<br />
„Hier kommen mehr Menschen vorbei als im<br />
alten Laden. Die Lage ist einfach besser,“ sagt Steffi.<br />
„Wir haben jetzt mehr Spielsachen für Kinder<br />
und mehr Kunden.“ Die 21-Jährige ist wie ihre<br />
Kollegin im zweiten Lehrjahr.<br />
Insgesamt sind 20 junge Frauen<br />
in Projekte der FaPrik eingebunden<br />
und werden zurzeit zu Verkäuferinnen<br />
oder zu Einzelhandelskauffrauen<br />
ausgebildet.<br />
Sie arbeiten im Schubladen<br />
und absolvieren darüber hinaus<br />
mehrmonatige Praxisphasen in<br />
einem der externen Partnerbetriebe<br />
der FaPrik. Ab Januar wird<br />
Steffi im Woolworth auf der Berger<br />
Straße im Einsatz sein. Sie<br />
freut sich, über den Schubladen<br />
einen Zugang zum Beruf gefunden<br />
zu haben: „Immer nur Absagen,<br />
das war deprimierend.“<br />
Nach dem Abschluss der Hauptschule<br />
war Steffi lange arbeitslos.<br />
Während eines Berufsvorbereitungsjahres<br />
wurde sie auf die<br />
überbetriebliche Ausbildungsinitiative<br />
der FaPrik aufmerksam.<br />
„Jede macht alles“, skizzieren die jungen<br />
Frauen die Arbeitsteilung im Schubladen. Feste<br />
Zuständigkeitsbereiche beispielsweise für eine<br />
bestimmte Warengruppe gibt es nicht. Kasse machen,<br />
Bestellungen aufgeben, Kunden beraten,<br />
Regale auffüllen und dekorieren - das sind Tätigkeiten,<br />
die im Rahmen eines Arbeitstages anfallen.<br />
Normalerweise sind vier Auszubildende an<br />
einem Verkaufstag im Laden. Fachlich unterstützt<br />
werden sie von einer Ausbilderin.<br />
„Es gibt viele Gestaltungsmöglichkeiten“, sagt<br />
Danielle Frey-Wendel, Ausbilderin im Schubladen.<br />
„Ob wir neue Produkte mit ins Sortiment<br />
Interessante Angebote in angenehmer Athmosphäre<br />
Das Team<br />
nehmen, oder selbst etwas zum Verkauf herstellen,<br />
oder neu dekorieren, der Schubladen wird<br />
sich immer wieder verändern. Die Azubis können<br />
ihre Vorstellungen einbringen.“<br />
Im PC-Raum stehen nicht nur Computer, sondern<br />
auch einige Nähmaschinen zur Verfügung,<br />
an denen die Auszubildenden nach Anleitung die<br />
aktuelle Taschenkollektion aus Stoff herstellen.<br />
Darüber hinaus ist in den neuen Räumlichkeiten<br />
auch Platz für eine moderne Küche, in der<br />
zusammen gekocht werden kann. Das passiert<br />
auch manchmal, denn auch das <strong>Soziale</strong>, der Zusammenhalt<br />
der Gruppe und eine gute Lern- und<br />
Arbeitsatmosphäre, sollen im Schubladen nicht<br />
zu kurz kommen.<br />
Sind keine Kunden zu beraten, bleibt Zeit,<br />
das in der Berufsschule Gelernte mit den Kolleginnen<br />
oder der Ausbilderin nachzuarbeiten oder<br />
sich auf Prüfungen vorzubereiten. Für die Fächer<br />
Mathematik und Deutsch stehen eigens Nachhilfelehrer<br />
zur Verfügung, die den Lehrstoff mit den<br />
Azubis durchgehen. Ein Schwerpunkt der Schulungen<br />
bildet das Training zur Verbesserung der<br />
deutschen Sprachkenntnisse. „Man muss schon<br />
lernen. Wenn man nichts tut, schafft man es<br />
nicht“, sagt Jana. Sie hat die externe Praxisphase<br />
beim Buchhandelsfilialisten Thalia absolviert und<br />
ist überzeugt, dass der Einzelhandel die richtige<br />
Branche für sie ist. Kunden beraten und bedienen,<br />
das mache am meisten Spaß.<br />
„Der neue Laden motiviert ungemein. Wir<br />
haben alle in die Planung, die Renovierung, den<br />
Umzug und die Dekoration einbezogen“, sagt<br />
Ingelore Berndt, Diplom-Sozialpädagogin und<br />
Projektleiterin im Schubladen. Die Erfolgsbilanz<br />
kann sich sehen lassen: 80 Prozent schaffen die<br />
Prüfung und fast alle finden auch einen Arbeitsplatz<br />
auf dem ersten Arbeitsmarkt, sagt Berndt.<br />
Nicht selten leisten die angehenden Verkäuferinnen<br />
und Einzelhandels-Kauffrauen in den externen<br />
Partnerunternehmen überzeugende Arbeit<br />
und werden nach Abschluss der Ausbildung eingestellt.<br />
Die hohe Motivation der Teilnehmerinnen,<br />
endlich den Einstieg in die Arbeitswelt zu<br />
schaffen, in Verbindung mit der gezielten Betreuung<br />
und Unterstützung sind Schlüsselfaktoren<br />
für den Erfolg der überbetrieblichen Ausbildung.<br />
Die jungen Frauen werden mit ihren Problemen<br />
und Themen nicht allein gelassen. Ingelore<br />
Berndt ist im Schubladen die Ansprechpartnerin<br />
für alle sozialen Themen. „Das können familiäre<br />
Probleme sein, Beziehungsprobleme oder auch<br />
Schwierigkeiten in der Schule“, sagt Berndt. Bei<br />
Bedarf führt sie entsprechende Beratungsgespräche<br />
und vermittelt je nach Problemlage auch an<br />
externe Beratungsstellen in der Stadt weiter. „Wir<br />
wollen mit der sozialpädagogischen Betreuung<br />
die Belastungen mindern und die jungen Frauen<br />
in die Lage versetzen, die Ausbildung durchzuhalten<br />
und erfolgreich abzuschließen.“ Die Unterstützung<br />
ist weitreichend: So wird bei Bedarf<br />
auch mal eine Ernährungsberatung organisiert,<br />
oder die Verbraucherberatung zu einem Vortrag<br />
über Handy-Verträge ins Haus geholt. Doch bei<br />
aller Förderung ist eines klar: „Wir lassen uns<br />
nicht auf der Nase rumtanzen. Wir fragen gezielt<br />
nach, wenn jemand beispielsweise oft zu spät<br />
kommt“, sagt Berndt. Falls notwendig werden als<br />
letzte Mittel auch Abmahnungen und Kündigungen<br />
ausgesprochen.<br />
Als Projektleiterin für die laufenden Ausbildungsgänge<br />
ist Ingelore Berndt auch die Kontaktperson<br />
für die externen Ausbildungspartner.<br />
Neben Thalia und Woolworth bieten Karstadt,<br />
Meder und Idee den Azubis des Schubladens die<br />
Möglichkeit, in andere Bereiche reinzuschnuppern<br />
und Erfahrung in einem Unternehmen des<br />
Azubis, die im neuen Laden arbeiten werden<br />
so genannten ersten Arbeitsmarktes zu sammeln.<br />
Aktuell laufen zwei Ausbildungsprojekte im<br />
Schubladen. Neben acht jungen Frauen im zweiten<br />
Lehrjahr ist im Sommer 2009 ein weiterer<br />
Ausbildungsgang mit zwölf Teilnehmerinnen gestartet.<br />
Finanziert werden die überbetrieblichen<br />
Bildungsmaßnahmen gemeinsam vom Land Hessen,<br />
der Stadt Frankfurt und dem Europäischen<br />
Sozialfonds oder, wie beim jüngsten Projekt, vom<br />
Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt.<br />
„Man kommt gerne zur Arbeit. Die Atmosphäre<br />
ist toll hier“, sind sich Steffi und Jana einig.<br />
Das Einzige, was nicht passt, ist das insgesamt<br />
niedrige Azubi-Gehalt. Große Sprünge, wie beispielsweise<br />
eine eigene Wohnung zu unterhalten,<br />
sind damit natürlich nicht möglich. Doch das<br />
Problem kennen alle Auszubildenden.<br />
si. auch S.9 unten links FaPrik<br />
Liz<br />
(Fotos: Britta Jagusch/FaPrik)
FREIZEIT IN FRANKFURT<br />
9<br />
Ein Stück China mitten in Frankfurt- der Bethmann-Park mit Chinesischem Garten<br />
Die Lage einer der schönsten, frei zugänglichen Parkanlagen Frankfurts: zwischen Konstablerwache, Hessen-Denkmal und dem<br />
Merianplatz in Bornheim. Hier liegt der liebevoll gepflegte Bethmann-Park, der auch im Winter ein beliebter Ruhepol, Spielplatz und<br />
Besichtigungspunkt für Jung und Alt ist. Wenn man Fragen zur vielfältigen Pflanzenwelt hat, gibt es dort auch eine Beratungsstelle<br />
im Gewächshaus.<br />
Das Gelände, damals noch außerhalb der<br />
Stadt gelegen, wurde 1783 von der Familie<br />
von Bethmann erworben. 1941 ging der Park<br />
in städtischen Besitz über. Entsprechend des<br />
Zeitgeschmacks wurde der Park mehrfach<br />
umgestaltet und ergänzt um einen Schaugarten<br />
mit Beratung für Blumen- und Pflanzenfreunde.<br />
Schon die Familie von Bethmann<br />
hatte ostasiatische Gewächse angepflanzt und<br />
gehegt. 1983 wollte man einen im Rahmen<br />
der Münchner Internationalen Gartenschau<br />
angelegten chinesischen Garten in den Bethmannpark<br />
verlegen. Das erwies sich als nicht<br />
machbar, aber mit chinesischer Hilfestellung<br />
(27 Container mit Baumaterial und 16 eigens<br />
angereisten chinesischen Facharbeitern)<br />
konnte dieser Teil am 7. Oktober 1989 als<br />
Frühlingsblumengarten eröffnet werden. Im<br />
Gedenken an das Tian´anmen-Massaker erhielt<br />
er wenige Wochen später den Namen<br />
„Garten zum himmlischen Frieden“.<br />
Der Chinesische Garten besteht aus einem<br />
original chinesischen See und einem<br />
Bergtempel, einem sehr schönen Wasserfall,<br />
der in einen kleinen See mündet – der „jaspisgrüne<br />
Teich“. Hier gibt es viele original<br />
chinesische Schätze zu bewundern. Löwenskulpturen<br />
bewachen die Brücke, Pavillons<br />
und Galerien orientieren sich in Gestaltung<br />
und Platzierung an die Shuikou-Gärten in<br />
Hunzhou.<br />
Er ist ein Geschenk der chinesischen Provinz<br />
Anhui und einem traditionellen Kaufmannspark<br />
in dieser Provinz nachempfunden.<br />
Ich kann jedem einen Besuch empfehlen.<br />
Hier ergeben sich ganz „überstädtische“ Ansichten.<br />
GM<br />
(Photos: Wikipedia)<br />
Das beeindruckende Eingangstor zum Garten des himmlischen Friedens<br />
Hier stehen erfahrene Gärtner der Stadt<br />
Frankfurt beratend zur Stelle. Aber da die<br />
gesamte Parkanlage ständig gepflegt werden<br />
muss, gibt es dort feste Beratungstermine, die<br />
am Gewächshaus aushängen.<br />
Auch hat der gesamte Park feste Öffnungszeiten,<br />
da er gegen nächtlichem<br />
Vandalismus geschützt werden muss.<br />
Haustiere dürfen leider auch nicht mitgebracht<br />
werden. Dies ist aber bei genauerem<br />
Hinsehen auch verständlich.<br />
Wunderbare Bepflanzung<br />
Der Weg von der Bergerstrasse zur Friedberger Landstrasse<br />
FaPrik<br />
Die gemeinnützige FaPrik gGmbH ist ein anerkannter Träger der Jugendberufshilfe und wurde 1985 vom<br />
Verein zur Förderung von Ausbildungsprojekten im kaufmännischen Bereich gegründet.<br />
Zielgruppe sind junge Frauen, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gefunden haben.<br />
FaPrik betreibt verschiedene Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten:<br />
... Schubladen: Das Ausbildungsprojekt in Bornheim bildet junge Frauen zur Kauffrau im Einzelhandel aus.<br />
... Startorante: Die FaPrik hat auf dem ehemaligen Teves-Gelände im Gallusviertel das Stadtteilrestaurant<br />
„Startorante“ eröffnet. Durch das Restaurant und die dazugehörende Großküche entstanden insgesamt zehn<br />
Ausbildungsplätze für junge Frauen, ob zur Fachkraft im Gastgewerbe, zur Köchin oder zur Restaurantfachfrau.<br />
Darüber hinaus konnte die FaPrik ihr Angebot in der Berufsvorbereitung von zehn auf 15 Plätze<br />
erweitern.<br />
... die Berufsvorbereitungsprojekte BVB, QuO und START II bieten jungen Frauen eine Berufswahlorientierung<br />
und berufliche Qualifizierung. In START II werden darüber hinaus zwei außerbetriebliche Ausbildungsplätze<br />
für den Beruf Fachkraft im Gastgewerbe angeboten.<br />
... die Maßnahme EIBE unterstützt Jugendliche an drei Berufsschulen beim Einstieg in das Berufsleben.<br />
... In der Berufsorientierung START I können sich junge Frauen auf den Erwerb des Hauptschulabschlusses<br />
vorbereiten und sich beruflich orientieren.<br />
Finanziert werden die verschiedenen Projekte durch die EU, das Land Hessen, das Jugend- und Sozialamt der<br />
Stadt Frankfurt, die Agentur für Arbeit und das Rhein-Main-Jobcenter.<br />
Hier noch ein paar Daten:<br />
Größe 3,1 ha, Öffnungszeiten ganz-<br />
jährig von 7 Uhr bis Einbruch der<br />
Dunkelheit, an Samstagen, Sonn-<br />
und Feiertagen von 10 Uhr bis Ein-<br />
bruch der Dunkelheit.<br />
Seit März 2005 ist die FaPrik durch den Verein Weiterbildung Hessen e.V. zertifiziert.<br />
Pavillon
10<br />
BETROFFENE<br />
Obdachlosenunterkunft-<br />
Wohnwagen völlig ausgebrannt<br />
Seckbach. Am Samstag, den 20.12.2009 gegen 4.50 Uhr, brannte auf dem Gelände der<br />
Maria-Rosenkranz-Gemeinde in der Wilhelmshöher Straße 64 ein Wohnwagen aus, der als<br />
Obdachlosenunterkunft diente. Als die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr an der Brandstelle<br />
eintrafen, stand der Wagen bereits total in Flammen. Der Brand drohte auf einen zweiten<br />
Wagen überzugreifen. Die beiden Männer, die zu dieser Zeit in den Wagen untergebracht<br />
waren, hatten sich noch vor dem Eintreffen der Feuerwehr in Sicherheit bringen können. Ein<br />
Bewohner zog sich eine Rauchvergiftung und Unterkühlung zu und musste in eine Klinik zur<br />
weiteren Versorgung gebracht werden. Denn er war bei Temperaturen von minus 14/15 Grad,<br />
nur mit Unterhose bekleidet, nach draußen gesprungen. Laut seiner Auskunft war er am<br />
Abend zwischen 20:00 und 21:00 Uhr nach Hause gekommen, hatte die Heizung auf großer<br />
Stufe eingeschaltet und sich schlafen gelegt. Als er durch Brandgeruch wach wurde, brannte<br />
der Wagen im Vorderbereich schon. Er warf seine Kleidung, die er fand, hinaus und sprang<br />
hinterher. Mit seinem Handy alarmierte er die Feuerwehr. Bis zum Eintreffen der Feuerwehr<br />
entfernte er noch sämtliche Gasflaschen vom Wagen, unter Gefährdung seiner selbst. Inzwischen<br />
ist der Betroffene wieder in einem Wohnwagen untergebracht und hat das Erlebnis<br />
einigermaßen gut verkraftet. Also doch noch Glück im Unglück.<br />
Wir wünschen ihm alles Gute fürs neue Jahr. Der Sachschaden wird auf ca. 20.000 Euro<br />
geschätzt. Über die Brandursache liegen noch keine Erkenntnisse vor. Die Polizei hat die Ermittlungen<br />
aufgenommen.<br />
Bruno Szrubin<br />
Interviews mit Bewohnern des Wohnheims<br />
in der Weserstraße<br />
Urbas: Vielen Dank, Antonio, dass du dich heute hier bereit erklärst dieses Interview zu führen. Du<br />
weißt ja, dass in diesem Jahr wird das Hartz IV-Programm 5 Jahre alt. Was hälst du denn von diesem<br />
sozialen Versicherungssystem?<br />
Antonio: Ich halte nicht viel davon. Man wird von diesem Programm nur ausgenutzt.<br />
Urbas: Wer nutzt dich aus?<br />
Antonio: Ja, das ist so, dass ich hierfür das Haus 70,- EURO bezahlen muß, weil ich hier übernachte<br />
und das wird mir von meiner Unterstützung abgezogen, ohne dass ich in irgendeiner Form da Einfluß<br />
nehmen kann und das finde ich sehr ungerecht. Die machen mit uns was sie wollen. Wir werden da<br />
nicht gefragt.<br />
Urbas: Hast du den mit deinem Sachbearbeiter auf dem Amt schon gesprochen?<br />
Antonio: Ja, der kann aber auch nichts machen. Er sagt, er ist gebunden an bestimmte Weisungen.<br />
Urbas: Also bist du insgesamt mit dem Hart IV-System nicht zufrieden?<br />
Antonio: Das ist richtig, ich bin sehr unzufrieden damit. Wir haben kaum Möglichkeiten uns darin zu<br />
bewegen, wir bekommen alles vorgeschrieben, es wird einfach mit uns gemacht, was man will.<br />
Urbas: Vielen Dank für das Gespräch.<br />
Brennender Wohnwagen<br />
Bericht von einem Bewohner des abgebrannten Wohnwagens<br />
(FOTO: Feuerwehr Frankfurt a-M.)<br />
H.U. (Name ist der Redaktion bekannt) ist ein 70-jähriger geborener Frankfurter und<br />
hatte ca. 1 Jahr in dem jetzt abgebrannten Wohnwagen gelebt. Was hat er nach dem<br />
folgenschweren Brand.erlebt? Hier sein Bericht:<br />
Da ich alle meine Papiere verlor, habe ich große Schwierigkeiten, bei Behörden Hilfe zu<br />
bekommen.<br />
Wenn mir die Betreuer vom Wohnwagen-Projekt nicht helfen würden, wäre ich ganz schön<br />
aufgeschmissen. Ich habe auch immer noch Schwierigkeiten, mich ganz zwanglos im neuen<br />
Wohnwagen zu bewegen. Zunächst wollte ich gar nicht mehr wieder in einen Wohnwagen<br />
einziehen.<br />
Aber, wo sollte ich denn nach meinem Krankenhausaufenthalt denn hin? Ich ging zwar nach<br />
der Entlassung für ein paar Wochen zu Bekannten, wo ich die Zeit über Weihnachten und<br />
Neujahr verbringen konnte. Noch heute halte ich mich lieber bei Freunden in Nordhessen<br />
auf. Auch reagiere ich, wenn ich im Wohnwagen bin, leicht schreckhaft auf jedes Geräusch,<br />
das ich höre. Was mich aber am Meisten an der ganzen Sache ärgert, ist, dass man ein<br />
Ermittlungs-Verfahren gegen mich in die Wege geleitet hat. Wegen grob fahrlässiger<br />
Brandstiftung. Dazu habe ich eine Aussage bei der Polizei machen müssen. Ich werde nun<br />
abwarten müssen, was dabei herauskommt. Da ich Rentner bin, habe ich viel Zeit zum<br />
Nachdenken und hoffe trotzdem, dass ich diese schreckliche Nacht bald vergessen kann. Des<br />
Weiteren würde es mich freuen, wenn es endlich mit dem Einzug in das Wohnstift klappen<br />
würde. Ich habe mich schon sehr lange vormerken lassen,. Dort würde ich dann endlich<br />
zur Ruhe kommen. Mein Leben war ja auch ganz schön bewegt, ich bin 30 Jahre zur See<br />
gefahren.<br />
Ich bedanke mich hier nochmal bei allen, die mir geholfen haben, wieder neu anzufangen.<br />
Ich freue mich auf alles, was in diesem neuen Jahr noch auf mich zu kommt.<br />
Urbas: Guten Tag Joachim. Ich freu mich, dass du bereit bist, hier für die Zeitung <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> ein Interview<br />
zu geben. Wie lange bist du schon im Wohnheim?<br />
Joachim: Ja, seit dem 17. diesen Monats.<br />
Urbas: Du weisst ja auch, dass die Hartz IV-Regelung, also relativ neue Regelung im Sozialbereich, fünf<br />
Jahre alt wird. Was hälst du denn davon?<br />
Joachim: Ich weiss davon sehr wenig. Ich bin erst seit einigen Tagen hier in der Bundesrepublik. Ich<br />
hatte in den Philippinen gelebt und wurde dort an sich nicht sehr gut von der dortigen Botschaft unterstützt.<br />
Ich habe 43 Jahre in den Philippinen wohnen müssen. Die deutsche Botschaft hat mir erst jetzt<br />
seit mehreren Anträgen einen Ausweis ausgestellt.<br />
Danke für alles - H.U.!<br />
Urbas: Das verstehe ich, dass du wenig dazu sagen kannst, vielleicht kannst du uns mal mitteilen, wie<br />
du dich in dem Wohnheim fühlst und was so deine Ziele sind?<br />
Joachim: Ja, ich finde es in dem Wohnheim sehr gut. Es ist sehr sauber und sehr ordentlich. Ich wünsche<br />
mir natürlich, dass ich meine Frau und meinen Kindern, die noch in den Philippinen sind, dass<br />
ich diese unterstützen kann und hoffe, dass meine Ziele, dass ich irgendwo hier festen Fuß fassen kann,<br />
sich umsetzen lassen.<br />
Urbas: Vielen Dank für die Bereitschaft auch für die Zeitung mal so deinen Lebensweg hier zu schildern.<br />
Wir drücken dir die Daumen, dass alles so klappt.
BETROFFENE<br />
11<br />
Urbas: Sie wissen, dass die Hartz IV- Regelung nun 5 Jahre alt geworden ist. Was halten sie denn davon?<br />
Karlheinz: Ich war betroffen. Ich war auch Hartz IV-er, ich bekomme meine Grundsicherung.<br />
Urbas: Und, wie hast das empfunden?<br />
Karlheinz: Ja, dieser ganze Wechsel war nicht so einfach. Ich selbst habe dann im laufe der Jahre einfach<br />
Einbußen gehabt, ich hatte weniger Geld es war alles sehr unklar, undurchsichtig. Auch die Mitarbeiter<br />
bei dem Ämtern wussten eigentlich gar nicht so richtig bescheid. Ich bin Alleinstehender und musste<br />
mich eigentlich damit abfinden, aber ich glaube dass es für Familien noch viel schwieriger ist, als für<br />
jemand wie mich alleine ist. Familien müssen auf sehr vieles verzichten, so im privaten als auch im<br />
gesellschaftlichen Bereich. Das finde ich nicht sehr gut.<br />
Frankfurt hat eine große Persönlichkeit verloren<br />
des Kapuzinerklosters und der kirchlichen<br />
Einrichtungen am Liebfrauenberg hat er<br />
sich stets bemüht. Für seine Gemeinde und<br />
seine Armen war er stets eilig unterwegs, im<br />
Ordenshabit und auch bei größter Kälte in<br />
seinen unvermeidlichen Sandalen. Viele Beamte<br />
haben ihn als ständigen Mahner kennen<br />
gelernt und vielleicht sogar heimlich<br />
verflucht, denn er ließ niemals locker.<br />
Urbas: Vielen Dank. Du hattest mir erzählt, dass du auch malst und sehr künstlerisch tätig bist.<br />
Karlheinz: Kunst ist für mich etwas Kostbares. Es gibt mir sehr viel Seelenfrieden. Kunst hilft mir, die<br />
Probleme des Alltages ein Stück in den Griff zu bekommen. Ich kann abschalten, ohne dass ich die<br />
eigentlichen Probleme aber vergesse. Ich hatte schon mehrere Ausstellungen mit meinen Bildern in<br />
einzelnen Einrichtungen. Es macht mir sehr viel Spaß meine Bilder zu malen.<br />
Interviews und Photos Reinhold Urbas<br />
Bruder Wendelin ist tot. Das schreibt sich<br />
schnell, aber es ruft eine Fülle von Bildern<br />
wach. In erster Linie an einen stets freundlichen,<br />
scheinbar immer lachenden Kapuzinermönch<br />
mit etwas schütterem Haupthaar<br />
und dichtem Bart. Bei jedem, den er getroffen<br />
hat, hinterließ er einen bleibenden Eindruck.<br />
Insbesondere bei allen jenen, die in<br />
Frankfurt etwas mit Obdachlosenarbeit zu<br />
tun haben oder selbst betroffen sind. Sein<br />
Franziskustreff, den er 1992 ins Leben gerufen<br />
hat, ist zur festen Institution in Frankfurt<br />
geworden. Der Kapuzinerorden hat<br />
zugesagt, dieses Werk von Bruder Wendelin<br />
fortzuführen und einen kommissarischen<br />
Leiter ernannt.<br />
70 Jahre ist er geworden, der aus dem<br />
Emsland stammende Helmut Gerigk, aus<br />
dem 1956 ein Kapuziner und 1961 endgültig<br />
Bruder Wendelin wurde. Sein Orden<br />
schickte ihn 1992 nach Frankfurt, um<br />
„die Obdachlosigkeit in geordnete Bahnen<br />
zu führen“. So kam er in die kleinste<br />
Gemeinde des Bistums Limburg an den<br />
Liebfrauenberg. Auch um die Erhaltung<br />
Seit letztem Herbst konnte er aufgrund<br />
einer schweren Erkrankung nicht mehr im<br />
Liebfrauenkloster leben. Er wurde im Kapuzinerkloster<br />
in Münster, dem Ort seiner<br />
feierlichen Profeß, betreut. Dort verstarb er<br />
am 5. Februar 2010.<br />
Unter großer Beteiligung der Frankfurter<br />
Bevölkerung und der Stadtverwaltung,<br />
Oberbürgermeisterin Roth voran, wurde er<br />
am 11 Februar 2010 auf dem Hauptfriedhof<br />
in der Grabstätte des Kapuzinerordens<br />
beigesetzt.<br />
Wenn ein Mann Gottes heimgeht,<br />
sind Worte der Trauer nicht angemessen.<br />
Aber sehr wohl angemessen ist<br />
es, dazu aufzufordern, dass sein Werk<br />
fortgesetzt werde und sein Nachfolger<br />
in diesem Werk jede mögliche Unterstützung<br />
erhalte.<br />
Rüdiger Stubenrecht<br />
Vorstand<br />
Redaktion<br />
Vereinsmitglieder<br />
Eine Gitarre ist die beste Waffe- Musikprojekt hilft<br />
Slum-Kindern in Rio<br />
‚Terra Encantada‘, verwunschenes Land, heißt die Favela im Norden von Rio de Janeiro. Der<br />
Alltag in dem Armenviertel sieht jedoch anders aus. Auf den Straßen türmen sich Müllberge,<br />
in den baufälligen Hütten gibt es weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Inmitten<br />
dieser trostlosen <strong>Welt</strong> hat der Rockmusiker Daniel Sant‘Anna ein Orchester gegründet, das<br />
Kindern und Jugendlichen helfen soll, einen Weg aus dem Elend zu finden.<br />
Die jungen Slumbewohner, die tagsüber auf Gitarren Beethovens ‚Ode an die Freude‘ zupfen,<br />
hören nachts vor ihren Häusern Schüsse fallen. Die Polizei, das haben sie gelernt, steht<br />
nicht auf der Seite der Armen. Für die Leute sei es eine schlimme Erfahrung, als Außenseiter<br />
am Rande der Gesellschaft zu leben, sagt Sant‘Anna. Wenn jemand aus der Favela Arbeit suche,<br />
könne er von vornherein sicher sein, nichts zu erreichen.<br />
Als der Musiker sein Projekt ‚Verzauberte Gitarren‘ gründete, wollte er den Kindern in<br />
dem Slum ihre Selbstachtung zurückgeben. Einige Eltern hatten 2003 eine verlassene Fabrik<br />
besetzt, in deren Umkreis rasch eine Baracke nach der anderen aus dem Boden wuchs. Inzwischen<br />
wohnen etwa 800 Familien in ‚Terra Encantada‘.<br />
Geld hatte Sant‘Anna zwar nicht, wohl aber Freunde, die ihm eines Tages ihre alten Gitarren<br />
gaben. Zwei Mal in der Woche hält er nun seine Kurse ab, jeder kann daran teilnehmen.<br />
Die einzige Bedingung ist, dass die Nachwuchsmusiker zur Schule gehen müssen. Anfangs<br />
hätten sie nicht recht gewusst, welche Musik ihnen am besten gefiel, erinnert er sich.<br />
Musizieren stärkt sozialen Zusammenhalt<br />
Einige standen auf populäre ‚Pagode‘-Rhythmen, die anderen auf Funk. Sant‘Anna gefiel<br />
der Musikstil nicht. Vor allem die unverblümten sexuellen Anspielungen hielt er für gefährlich,<br />
zumal in einer Gegend, in der Mädchen häufig schon mit zwölf oder 13 Jahren schwanger<br />
werden. Inzwischen hat sich der Horizont der Kursteilnehmer geweitet. Sie hören brasilianische<br />
Volksmusik ebenso gern wie Klassik oder internationalen Pop. „Wir sind alles Note für<br />
Note durchgegangen, und sie waren hellauf begeistert“, berichtet der Projektgründer. Auch<br />
der soziale Zusammenhalt wurde stärker. Die Kinder fassten Vertrauen zueinander und sind<br />
Freunde geworden.<br />
In einem Raum spielt eine Gruppe von Musikern einen Song des jamaikanischen Reggae-<br />
Königs Bob Marley. Fortgeschrittene üben schwierige Akkorde, andere versuchen sich an einem<br />
Flamenco oder an Antonio Carlos Jobims berühmter ‚Garota de Ipanema‘. Sant‘Anna<br />
geht es weniger darum, Berufsmusiker auszubilden. Die Musik solle die Kinder vor allem in<br />
die Gesellschaft hineinbringen, wünscht er sich. Irgendwann kommen sie vielleicht in die<br />
Favela-Zeitung oder ins Fernsehen. All das gibt ihnen mehr Selbstwertgefühl. Eine Gruppe<br />
hat bereits zwei CDs aufgenommen und ist schon einige Male aufgetreten.<br />
Die ‚Verzauberten Gitarren‘ erinnern an das große Sozialprojekt ‚El Sistema‘, das der Ökonom<br />
und Dirigent José Antonio Abreu vor 35 Jahren im benachbarten Venezuela ins Leben<br />
gerufen hatte. In dem staatlich finanzierten Jugendorchestersystem musizieren inzwischen<br />
rund 300.000 Kinder und Jugendliche. Alle spielen sofort gemeinsam im Orchester, Fortgeschrittene<br />
unterrichten Anfänger. Damit werden Hemmschwellen rasch abgebaut.<br />
Thiago Vianna da Silva verbrachte sechs Jahre in dem Projekt in ‚Terra Encantada‘ und<br />
arbeitet heute selbst als Musiklehrer in verschiedenen Armenvierteln. Noch immer träumt er<br />
davon, sich eines Tages eine elektrische Gitarre zu kaufen. Thiago hatte Sant‘Anna irgendwann<br />
gefragt, ob er mit den anderen Jugendlichen in seinen Kursen Musik machen könnte. Er wollte<br />
nicht in die Kriminalität abrutschen wie viele seiner Freunde, die Drogen verkauften und<br />
früher oder später umgebracht wurden.<br />
In einem sozial unterentwickelten Viertel wie ‚Terra Encantada‘ sei es sehr schwer, mit der<br />
Mafia zu konkurrieren, erklärt Sant‘Anna. In den Medien würden die Verbrecher zu Helden<br />
erhoben, deshalb wollten viele so sein wie sie. Seinen Schülern versucht der Musiker dagegen<br />
zu vermitteln, dass ein Instrument mehr wert sei als jede Waffe. Jugendliche wie Thiago haben<br />
das rasch verstanden. „Mein Leben hat sich total verändert“, sagt er. „Vorher hing ich nur auf<br />
der Straße herum und spielte Fußball. Respekt hatte ich vor niemandem. Die Musik hat mich<br />
aber dazu gebracht, andere zu achten.“<br />
Finanzielle Hilfe fließt spärlich<br />
Trotz des sichtbaren Erfolgs steht Sant‘Annas Projekt wegen mangelnder Finanzierung auf der<br />
Kippe. Damit alle 45 Kinder und Teenager zwischen acht und 15 Jahren Unterricht erhalten,<br />
springen auch die fortgeschrittenen Schüler ein. Die Nichtregierungsorganisation IBISS stellt<br />
den Musikern kostenlos Räume zur Verfügung, mehr Unterstützung gibt es bisher nicht.<br />
Sant‘Anna selbst lebt von dem, was er auf den Tourneen mit seinen Bands verdient. Er klagt<br />
darüber, dass er nicht genug Geld hat, um den Kindern auch etwas zu essen zu geben. „Um<br />
keine Amateure mehr zu sein, brauchen wir mehr Profis“, stellt er fest. Damit meint er nicht<br />
nur Musiklehrer, sondern auch Sozialhelfer, die die Kinder in ihrem Alltag begleiten. „Was<br />
außerhalb der Unterrichtsräume passiert, wissen wir nicht.“<br />
Viele Slumbewohner kommen nie über die Grenzen der Favela hinaus. Die jungen Musiker<br />
haben auf ihren kleinen Tourneen aber schon mehr gesehen und waren sogar im Zentrum von<br />
Rio. Das ist zwar nicht so weit von ihrem Zuhause entfernt. Dennoch hat ihnen die Musik<br />
bereits die Türen zur großen weiten <strong>Welt</strong> geöffnet.<br />
Von Fabiana Frayssinet, STREET NEWS
12 KULTUR<br />
Unsere Musik-, Film- und Buchempfehlung des Monats<br />
Unser Filmtipp<br />
Salsa, Funk, Afrobeat und Rap<br />
Rock and Rumba aus Afrika von der Rollstuhlband Staff Benda Bilili<br />
Ein Film von Lilo Mangelsdorff: Esel, Hund, Katze, Hahn und andere Musikanten<br />
läuft derzeit in einigen Programmkinos in der Bundesrepublik.<br />
Der Film zeigt auch in Ausschnitten die sozial kulturelle Arbeit der Musikgruppe Yankadi,<br />
die von Aktiven der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> vor ca. 5 Jahren gegründet wurde. Die Gruppe tritt bei<br />
Sommerfesten und sonstigen Gelegenheiten mit <strong>Welt</strong>musik und Bluesstücken auf. Der Film<br />
ist sehr sehenswert.<br />
Als weitere Empfehlung für einen Film, weisen wir auf das Werk von dem Filmregisseur<br />
Jan Peters hin. Der Film mit dem Titel Time`s Up ist eine Coproduktion von Cloes und<br />
Comedian in der Bundesrepublik. Jan Peters hat auch in diesem Film die Arbeit der Redaktion<br />
der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> gefilmt. Die Thematik der Arbeit wird durch das Team sehr klar aufgezeigt.<br />
Der Film ist ebenfalls sehr sehenswert. Es ist davon auszugehen, dass auch dieser Streifen in<br />
den Programmkinos in der BRD zu sehen ist.<br />
In unserer heutigen Ausgabe empfehlen wir die CD der Gruppe Staff Benda Bilili mit dem<br />
Namen Tres Tres Fort. Die CD ist erschienen bei Crammed Disc, 2009 und ist in sämtlichen<br />
guten CD-Läden erhältlich. Die Band spielt Rumba aus dem Kongo. Es sind Musiker,<br />
die aufgrund ihres Lebensschicksals behindert sind. Sie sitzen im Rollstuhl oder gehen mit<br />
Stützen. Sie haben jahrelang in ihrer Hauptstadt Kinshasa Straßenmusik gespielt, sie wurden<br />
von französischen Reportern entdeckt und befinden sich derzeit auf einer <strong>Welt</strong>tournee. Ihre<br />
Musik ist so überzeugend, dass die französischen Reporter die Gruppe förderten und somit einem<br />
breiten <strong>Welt</strong>publikum vorstellen können. Die meisten Musiker erlitten Kinderlähmung<br />
und mussten sich mit ihren Lähmungen durchs Leben schlagen. Gerade in einem ausgelaugten<br />
und bettelarmen Land wie dem damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik<br />
Kongo, war das nicht einfach. Durch Bekanntschaften in den Krankenhäusern fand sich die<br />
Band zusammen, sie waren alle begeistert von der Musik. Alle hatten natürlich auch musikalische<br />
Erfahrung bereits seit ihrer Kindheit. Sie hatten in Kirchengemeinden gesungen und<br />
gespielt. Sie taten sich zusammen und konnten durch die gemeinsame Arbeit auf der Straße<br />
den Lebensunterhalt etwas bestreiten. Sie spielten vor Restaurants, auf öffentlichen Plätzen,<br />
dort wo sie ihr Publikum finden konnten. Wie sie selbst mitteilten, seien sie für alles offen,<br />
wir spielen, was uns gefällt.<br />
Es ist eine mitreißende Musik, die man von der CD hören kann. Nach Mitteilung von<br />
Konzertbesuchern sei auch das Konzert sehr lebendig. Manche nicht behinderten Rockgruppen<br />
können noch einiges von ihrer Dynamik und Bewegungsfreude lernen, so ein Kommentar.<br />
Daher Staff Benda Bilili die CD, die wir empfehlen.<br />
Preis: 16,99<br />
Unser Buchtipp in dieser Ausgabe<br />
Fabrizio Gatti: Bilal, ein Illegaler auf dem Weg nach Europa<br />
Gatti, ein renommierter italienischer Journalist hat sich als Illegaler auf die berüchtigten<br />
Transitrouten von Afrika nach Europa begeben.<br />
Bilal ist sein Deckname. In diesem Buch schildert er die erschütternde Odyssee<br />
von Millionen heimlicher Einwanderer nach Europa. Es ist an sich ein sehr trauriges<br />
Buch, aber es zeigt andererseits auch die realistischen Auswirkungen eines<br />
kapitalistischen Europas. Das Buch ist im Verlag Kunstmann erschienen.<br />
ISBN: 3888975875<br />
Preis: 24,90 €<br />
Libri<br />
RU
KULTURGESCHICHTE<br />
13<br />
Die Wahre Geschichte: Störtebeker<br />
Gottes Freund und aller <strong>Welt</strong> Feind<br />
Selbst unter den zahlreichen Piraten<br />
der <strong>Welt</strong> ragt er heraus: Klaus<br />
Störtebeker. Enorm erfolgreich,<br />
listig, kampfgewandt und trinkfreudig,<br />
endete er doch auf dem<br />
Hamburger Grashof durch Henkershand.<br />
Die Legende hat schon<br />
längst die historische Person<br />
überwuchert und unkenntlich gemacht.<br />
Nicht einmal das Bild von<br />
ihm, das in unseren Schulbüchern<br />
abgebildet war, stellt ihn dar.<br />
Piraten gab und gibt es weltweit. Ihre Namen<br />
sind aus Filmen und Romanen bekannt: Aus<br />
England Drake, Raleigh, Morgan – in der<br />
zweiten Hälfte ihres Lebens hochgeachtet<br />
als Emissäre Ihrer Majestäten. Amerika steuert<br />
die Kapitäne Kidd, Blackbeard und Jean<br />
Lafitte bei, Frankreich L´Ollonais und Surcouf,<br />
die Türkei Chaireddin Barbarossa und<br />
Torgut Reis. In Malaysia soll Sandokan sein<br />
Unwesen getrieben haben, aber der ist die<br />
Erfindung eines italienischen Autors und so<br />
historisch wie Kara ben Nemsi.<br />
Ob es den Klaus Störtebeker so gab, wie<br />
ihn die Legende beschreibt, ist zumindest<br />
zweifelhaft. Unstreitig ist dagegen, dass es<br />
einen sehr erfolgreichen Piraten namens<br />
Störtebeker gab, der je nach Sachlage mit<br />
Schweden, Dänen, Friesen und der Hanse<br />
paktierte, viele Schlupfwinkel besaß und je<br />
nach Sachlage seine früheren Verbündeten<br />
plünderte. Besonders die Schiffe der Hanse<br />
hatten zu leiden. Eine speziell entsandte<br />
Flotte mit einer Wunderwaffe als Zentrum<br />
brachte ihn schließlich zu Fall. Das Seeräuberwesen<br />
ging allmählich dem Ende zu – in<br />
Nord- und Ostsee waren Nationalstaaten<br />
entstanden, die Marine und Seefahrt unter<br />
strenger Kontrolle hielten, war sie doch eine<br />
Haupteinnahmequelle der neuen Staaten<br />
und Staatsoberhäupter. Die Piraterie verlegte<br />
sich nach der Karibik.<br />
Die Legende<br />
Er soll, so will Fama wissen, um 1360 entweder<br />
in Rotenburg an der Wümme oder in<br />
Wismar geboren worden sein. Sein Ende soll<br />
er am 20. Oktober 1401 durch das Henkerschwert<br />
gefunden haben. Die Hinrichtung<br />
ist bezeugt, das Datum nicht und schon gar<br />
nicht, dass er selbst zu den 73 Hingerichteten<br />
gehörte. Damit schloss sich eine Karriere, die<br />
in Film und Fernsehen immer wieder herhalten<br />
musste.<br />
Peinlich: Die meisten der „Quellen“ sind<br />
erst im folgenden Jahrhundert entstanden.<br />
Eine Legende wurde als viel zu schön befunden,<br />
um sie zu hinterfragen, statt dessen<br />
wurde sie weidlich ausgeschmückt. Einiges<br />
stimmt, anderes ist vermutlich völlig frei erfunden.<br />
Im Stadtbuch von Wismar ist festgehalten,<br />
dass zwei Bürger wegen einer heftigen Schlägerei<br />
ausgewiesen wurden – einer davon wird<br />
als „nicolao Störtebeker“ bezeichnet. Das war<br />
1380. Ob das der Freibeuterkapitän war, ist<br />
zweifelhaft, aber immerhin möglich. Störtebeker<br />
heißt nichts Anderes als Stürz-den-Becher<br />
und weist auf große Trinkfestigkeit hin<br />
– er soll in der Lage gewesen sein, einen 4-Liter<br />
Humpen Wein oder Bier ohne abzusetzen<br />
in einem Zug leer zu trinken. Doch ähnliche<br />
„Großtaten“ sind in Norddeutschland nicht<br />
selten und zu dieser Zeit, wo selbst die Patienten<br />
im Krankenhaus Rechtsanspruch auf<br />
einen Liter Wein am Tag hatten, war Trunksucht<br />
wohl übliches Merkmal. Ein großer<br />
Becher wurde in Hamburg aufbewahrt, aber<br />
beim großen Brand 1842 zerstört. Eine historische<br />
Prüfung ist also nicht möglich.<br />
Was belegt ist<br />
Nord- und Ostsee waren zu Störtebekers Zeiten<br />
sehr umkämpfte Gebiete. Dänemark und<br />
Schweden bekämpften sich mal wieder auf<br />
das heftigste – Dänemark mit hanseatischer<br />
Hilfe unter Königin Margarete I, Schweden<br />
mit König Albrecht und Piratenhilfe. Ebenfalls<br />
mit dabei war Mecklenburg mit Ambitionen<br />
auf die nordischen Throne, der Deutsche<br />
Orden und natürlich die Städte und<br />
der Bund der Hanse. Ab 1385 blockierten<br />
Hanseaten und Dänen die schwedische Küste.<br />
Das war Anlass für eine Geschäftsidee für<br />
die wilden Kapitäne: Man belud sein Schiff<br />
mit Lebensmitteln und löschte die Fracht mit<br />
erheblichem Gewinn in Stockholm. Auf dem<br />
Heimweg konnte man ja noch ein paar fette<br />
Hanskoggen kapern und reichlich beladen<br />
heimkehren. Man nannte sie Vitalienbrüder<br />
- Victuals nennt man Lebensmittel noch<br />
heute auf Englisch. Der König von Schweden<br />
hatte ihnen eine Heimstadt in Visby<br />
auf Grönland gewährt und Wismar erlaubte<br />
den Verkauf der erbeuteten Waren auf dem<br />
Markt.<br />
Königin Margarete, nach zeitgenössischem<br />
Urteil ebenso schön wie schlau und gewissenlos,<br />
trieb eine Politik wechselnder Allianzen,<br />
bei dem letztlich die Vitalienbrüder aus ihren<br />
Schlupfwinkeln vertrieben wurden. Wenn<br />
die zeitgenössische Einschätzung stimmt,<br />
muss sie sehr schön gewesen sein. Jedenfalls<br />
war ihre Politik des Schaukelns und Verrats<br />
überaus erfolgreich. Die Vitalienbrüder<br />
mussten sich schon 1396 aus der Ostsee zurückziehen.<br />
Visby war von Deutschordensrittern<br />
zerstört worden, der schwedische Löwe<br />
leckte seine Wunden und überlegte sich den<br />
nächsten Schlag. Die Hanse aber war reicher<br />
und hochfahrender denn je.<br />
1396 fand Störtebeker und seine Kapitäne<br />
wie Gödeke Michels, Hennig Wichmann,<br />
Klaus Scheldt und Magister Wigbold einen<br />
neuen Unterschlupf in Ostfriesland beim<br />
Häuptling Keno ten Broke. Er soll eine Tochter<br />
des Häuptlings geheiratet haben. Belegt<br />
ist das nicht. Auch soll er den Kirchturm von<br />
St. Marien als Ausguck benutzt haben - der<br />
Kirchturm heißt deshalb noch heute Störtebekerturm.<br />
Auch mit Holland konnte er<br />
einen Vertrag schließen, mit Graf Albrecht I<br />
von Bayern, damals auch Graf von Holland<br />
Störtebeker aus dem Schulbuch<br />
und Hennegau. Das kam gerade rechtzeitig,<br />
denn die Hanse setzte die Ostfriesen unter<br />
gewaltigen Druck, weshalb die dortige Operationsbasis<br />
verloren ging. Der am 15 August<br />
beurkundete Vertrag nannte 8 Hauptleute<br />
der Vitalienbrüder, darunter einen Johann<br />
Stortebeker. Gödeke Michels entkam nach<br />
Norwegen; beide Fraktionen setzten ihre<br />
Plünderungen der Hanseflotten fort.<br />
Nun langte es den Hamburgern. Eine<br />
große Flotte wurde versammelt, eine große<br />
Kogge namens Bunte Kuh mit den schwersten<br />
Geschützen bestückt, die man bis dato<br />
auf der See jemals gesehen hatte. Am 22. April<br />
1400 wurde Störtebeker und seine Flotte<br />
von den Befehlshabern Hermann Lange<br />
und Nikolaus Schoke vor Helgoland gestellt<br />
und aufgebracht. Störtebeker und 30 seiner<br />
Kumpane wurden nach Hamburg gebracht<br />
und zum Tode verurteilt. Die Legende besagt,<br />
dass er sich vom Bürgermeister Kersten<br />
Miles Pardon für alle seine Spießgesellen ausbedungen<br />
habe, an denen er nach der Enthauptung<br />
vorbei schreiten werde. Der Fama<br />
nach hat er es auf 11 Personen gebracht,<br />
bevor ihm der Scharfrichter ein Bein stellte.<br />
Das dürfte erfunden sein; jedenfalls wurden<br />
alle hingerichtet. Insgesamt soll der Scharfrichter<br />
Meister Rosenfeld an diesem Tage<br />
73 Piraten enthauptet haben, eine stattliche<br />
sportliche Leistung, falls sie denn vollbracht<br />
worden sein sollte. 1878 wurde beim Bau der<br />
Speicherstadt ein Schädel mit einem Nagel<br />
im Kopf gefunden und prompt zum Störtebekerschädel<br />
erklärt. Da es bei Piraten in<br />
Hamburg vorher und nachher üblich war,<br />
die abgehauenen Köpfe auf einen Pfahl zu<br />
nageln, ist die Zuschreibung zumindest sehr<br />
fragwürdig. 1401 war für die Vitatienbrüder<br />
das Ende gekommen: Simon von Utrecht<br />
fing auch Gödecke Michels und Magister<br />
Wigbold. Die Hamburger machten kurzen<br />
Prozess mit den beiden und 80 Mitgefangenen.<br />
Die Sage will wissen, dass Störtebeker dem<br />
Senat für seine Freilassung eine goldene Kette<br />
anbot, deren Länge um die ganze Stadt<br />
reichen sollte. Der Senat soll entrüstet abgelehnt<br />
haben, was nicht sehr wahrscheinlich<br />
ist. Man hätte ihn einfach die Kette abliefern<br />
und dann sang- und klanglos verschwinden<br />
lassen. Auch eine Sage – als sein Schiff verkauft<br />
und verschrottet wurde, soll einer der<br />
Masten mit Gold, der zweite mit Silber, der<br />
dritte mit Kupfer ausgegossen gewesen sein –<br />
natürlich ein Schwindel, denn ein dermaßen<br />
toplastiges Schiff wäre sofort gekentert.<br />
Nach der Legende, nun Geschichte<br />
Es gab den Vitalienbruder Johann Störtebeker,<br />
mit dem Herzog Albrecht einen Vertrag<br />
geschlossen hatte. Er war Kaufmann<br />
aus Danzig, der Piraterie durchaus zugetan<br />
und wurde in zeitgenössischen Quellen mit<br />
Name und Tätigkeit mehrfach erwähnt. Zuletzt<br />
in Danzig – im Jahr 1413. Also kann er<br />
gar nicht 1401 in Hamburg enthauptet worden<br />
sein. Der Name Klaus taucht erst rund<br />
hundert Jahre später auf, zuerst bei Hermann<br />
Korners „Chronica Novella“, denn 1518 in<br />
der sehr weit verbreiteten „Wandalia“ von<br />
Albert Krantz.<br />
Jeder versuchte, sich der Legende zu bemächtigen<br />
– es gibt viele angebliche Schatzorte,<br />
u.A. auch auf Rügen. Die Stralsunder<br />
Brauerei braut unter Störtebeker, es gibt<br />
Störtebeker-Freilichtspiele, Sportvereine,<br />
Denkmäler. In Verden gibt es alljährlich eine<br />
„Störtebekerspende“, bei der vier Fässer Heringe<br />
und 530 Brote an die Bürger verteilt<br />
werden. Er habe, so die Legende, der Kirche<br />
in Verden sieben Fenster (wegen der sieben<br />
Todsünden) gespendet haben. Diese Fenster<br />
tragen allerdings das Wappen des Verdener<br />
Bischofs Kettelhodt.<br />
Die DDR wollte die Vitalienbrüder (auch<br />
Likedeeler geheißen) als sozialistisches Element<br />
für sich deklarieren, wegen des Prinzips<br />
der Gleichverteilung der Beute. Rock- und<br />
Punkbands haben ihn für sich entdeckt, aber<br />
es gab auch ein rechtsextremes Informationsportal<br />
mit seinem Namen.<br />
Ob ja- das Bild aus unseren Schulbüchern.<br />
Es zeigt einen Mann mit verwegenem Bart<br />
und noch verwegener aufgesetztem Hütchen.<br />
Doch dieses von Daniel Hopfer gestaltete<br />
Bild stellt den Schalksnarren Hans von Rosen<br />
dar, der 100 Jahre nach Störtebeker am<br />
Hof Kaiser Maximilians gelebt hat.<br />
Der Schädel–<br />
Neuer Akt der Piraterie?<br />
Am 9. Januar wurde es bemerkt: in der Hamburger<br />
Speicherstadt fehlte der 1878 gefundene<br />
angebliche Störtebeker-Schädel. Der ist<br />
allerdings vermutlich gar nicht von ihm. 2004<br />
scheiterte ein Versuch, aus dem Schädel DNA-<br />
Proben zu entnehmen und mit präsumtiven<br />
Nachfahren zu vergleichen. Es bleibt dabei: ein<br />
Schädel eines Mannes, dessen Kopf um 1400<br />
abgehauen und am Gerichtsort auf einen Pfosten<br />
genagelt wurde. Nun ist dieser Schädel Opfer<br />
eines frechen Aktes der Piraterie geworden.<br />
Ob aus Sammelleidenschaft, im Auftrage oder<br />
zwecks Erpressung von Lösegeld, mag sich<br />
noch herausstellen.<br />
Störtebeker lebt!<br />
RS<br />
(Bildquellen Wikipedia)
14<br />
Künstler des Monats<br />
„Mer darf gar net so viel denke!“<br />
Lia Wöhr - ein Multitalent aus dem Gallusviertel<br />
Lia Wöhr ist heute auch in Frankfurt fast<br />
vergessen. Jüngere Frankfurter erinnern<br />
sich nicht mehr an sie. Die Frau ist 1994<br />
gestorben nach einem langen und bewegten<br />
Leben, in dem sie keineswegs nur in<br />
Frankfurt wirkte, ja nicht einmal nur in<br />
Deutschland.<br />
Vielmehr hatte sie, als sie mit den Hesselbachs<br />
und dem Blauen Bock in ganz West-Deutschland<br />
populär wurde, im Grunde schon mehrere<br />
Karrieren hinter sich und war teilweise in Italien,<br />
Spanien, England, Portugal und Südamerika<br />
bekannter als in ihrer Heimat.<br />
Aber der Reihe nach:<br />
Lia (Kurzform von Elisabeth) Wöhr wurde<br />
am 26. 7. 1911 im Frankfurter Gallusviertel als<br />
Tochter eines Bäckers geboren. Schon als Kind<br />
trat sie als Tänzerin auf, ihrem ersten Traumberuf,<br />
nachdem sie die Oper Salome gesehen hatte.<br />
Im Jahre 1924 -da war sie also gerade einmal<br />
13 Jahre alt und hatte schon fünf Jahre als Tänzerin<br />
hinter sich! - gab sie das Tanzen auf: Für<br />
den damaligen Zeitgeschmack mit knabenhaft<br />
dünnen Tänzerinnen wuchs sie zu sehr, wurde<br />
„für eine Tänzerin etwas zu kräftig“, das heißt,<br />
sie begann von einem Mädchen, zu einer Frau<br />
zu werden.<br />
Lia Wöhr und Liesel Christ (Hintergrund) bei einer Vereinsfeier<br />
Sie ging weiterhin zur Schule und begann<br />
1927 eine Ausbildung an der Schauspielschule,<br />
die sie 1929 abschloss. Mit 18 Jahren schon<br />
bekam sie nach Auftritten als Chansonsängerin<br />
in Berlin ein Engagement am Stadttheater<br />
Halberstadt. Hier trat sie vier Jahre lang teils in<br />
Revuen auf, sang, übernahm aber auch Sprechrollen,<br />
trotz ihres nie ganz unterdrückten hessischen<br />
Akzents, der später im Radio und im<br />
Fernsehen gerade einen Teil ihrer Popularität<br />
ausmachen sollte.<br />
Sie brachte 1933 den Mut auf, ihr<br />
Engagement zu kündigen, weil einer<br />
jüdischen Kollegin, gekündigt worden<br />
war.<br />
Aber es gelang der energischen Frau, sich<br />
weiterhin durchzubeißen und dem Theater treu<br />
zu bleiben. An der Frankfurter Oper wurde sie<br />
immerhin Soubrette und auch Souffleuse und<br />
spielte seit 1935 ebenfalls in Frankfurt die verschiedensten<br />
Rollen, vor allem Chargen und<br />
Salondamen für ein Jahresgehalt von 1500<br />
Reichsmark. Sie war immer zäh und ließ sich<br />
nicht unterkriegen.<br />
1937 gelang es ihr sogar, die Regie einer<br />
Lia Wöhr und Heinz Schenk als Wirtin und Oberkellner in einer Sendung „Zum Blauen<br />
Bock“ des hessischen Rundfunks im Mai 1979<br />
(FOTO: DPA)<br />
Operninszenierung zu übernehmen. Damals<br />
hielt das vermutlich noch niemand realistisch,<br />
vielleicht nicht einmal sie selbst, aber wer weiß,<br />
für einen Hinweis auf die Zukunft.<br />
Vor allem in den 50er Jahren machte sie sich<br />
in Italien einen Namen als Opernregisseurin.<br />
Der Name war<br />
Elisabetta Wöhr,<br />
und sie inszenierte<br />
u. a. „Fidelio“,<br />
aber auch Verdi<br />
und Wagner, nicht<br />
nur in Rom, sondern<br />
ebenso in<br />
Madrid, London,<br />
Portugal, Mexiko<br />
und Südamerika.<br />
Dies war nun nach<br />
Tänzerin, Sängerin<br />
und Schauspielerin<br />
schon ihre<br />
vierte Karriere, in<br />
Deutschland war<br />
sie aber noch immer<br />
weitgehend<br />
(FOTO: FR) unbekannt. Sie<br />
sprach fünf Sprachen,<br />
wobei das Hessische, welches ihre Eigentliche<br />
war, nicht einmal mitgezählt ist.<br />
„Ich hab‘ kaa Zeit für Geschwätz,<br />
ich muss butze!“<br />
Das begann sich langsam zu ändern, seitdem<br />
sie ab 1945, also nach der Hitlerzeit, auch<br />
bei Radio Frankfurt arbeitete. Hier und auf<br />
verschiedenen Bühnen gab sie wie schon früher<br />
Chansons und Sketche in der klassischen Kabaretttradition<br />
zum Besten, z. B. seit 1947 als<br />
Hessemädche - sie war ja auch erst 36 Jahre alt.<br />
Sie trat im Hörfunk des Hessischen Rundfunks<br />
auf in den damals sehr populären Sendungen<br />
Frankfurter Wecker und Auf ein frohes<br />
Wochenende, mit so prominenten Unterhaltern<br />
wie Peter Frankenfeld und Hans-Joachim<br />
Kulenkampff, die beide später ihre eigenen,<br />
überaus beliebten Fernsehshows hatten. Auch<br />
Wolf Schmidt, der geistige Vater der Hesselbachs<br />
und Babba all der späteren Fernsehserien<br />
war schon mit dabei.<br />
Parallel - was machte sie nicht alles quasi<br />
gleichzeitig! - wurde sie erste weibliche Produzentin<br />
des Deutschen Femsehens, nicht von<br />
Sketchen, sondern von Bachs Johannespassion<br />
und Strawinskys Feuervogel. Sie sprach in den<br />
Hörfunkproduktionen der Hesselbachs die<br />
Mama, die in den folgenden Femsehproduktionen<br />
von Liesel Christ gespielt wurde. Lia<br />
Wöhr begnügte sich mit der allerdings markanten<br />
Nebenrolle der Putzfrau Siebenhals<br />
(ohne welche die Putzfrau der Lindenstraße<br />
kaum denkbar ist) und sie dirigierte die ganzen<br />
Fernseh-Hesselbachs als Produzentin.<br />
Zu all dem produzierte sie auch noch eine<br />
der zu ihrer Zeit beliebtesten Femsehshows Der<br />
Blaue Bock mit Heinz Schenk als Moderator,<br />
der gar kein Hesse, sondern ein Mainzer, also<br />
immerhin Rheinhesse war. Sie selbst war nicht<br />
nur die Produzentin der Sendung, sondern<br />
auch die Wirtin des Blauen Bock.<br />
Halbherzige Ehrung<br />
Diese Sendung sollte ursprünglich in der<br />
noch immer existierenden Wirtschaft „Zum<br />
Grauen Bock“ in Alt-Sachsenhausen produziert<br />
werden. Aber bald stellte man zum einen<br />
fest, dass die Wirtschaft für damalige Fernsehproduktionen,<br />
in der immerhin auch bekannte<br />
Opernsänger auftraten, zu klein war, zum<br />
anderen machte der damalige Wirt einen Rückzieher<br />
und zog auch den Namen seines Lokals<br />
zurück, hauptsächlich aus einer gewissen Angst<br />
vor zu viel fremdem Publikum. So wurden der<br />
Name und die Farbe passend zu dem im Apfelwein<br />
ganz heimlich versteckten Alkohol in<br />
Blau geändert. Der Bock aber blieb. Hessisch<br />
gehört ja zu den Dialekten, wo man auch üble<br />
Grobheiten so sagen kann, dass sie fast freundlich<br />
klingen.<br />
Diese Sendung wurde im Gegensatz zur ursprünglichen<br />
Planung (Funkausstellung 19<strong>57</strong>)<br />
nicht an einem Ort produziert, sondern damals<br />
ganz ungewöhnlich in verschiedenen Hallen, in<br />
unterschiedlichen, auch kleineren Orten, was<br />
dort jeweils für großes Aufsehen sorgte.<br />
Gerade beim Blauen Bock arbeitete Lia<br />
Wöhr eng mit Heinz Schenk zusammen, beide<br />
Vollblut-Theatermenschen, sie mehr Lenkerin<br />
im Hintergrund, er mehr die Rampensau, dem<br />
kein Kostüm und kein Witz zu banal oder zu<br />
schmutzig war.<br />
Aber ohne Lia Wöhr wäre Heinz Schenk<br />
sicher auch nicht geworden, was er war: Rotzfrecher<br />
Kellner neben dem unvergleichlichen<br />
Reno Nonsens, während Frau Wöhr eher im<br />
Hintergrund blieb und die beiden Spinner und<br />
volkstümlichen „Nonsens-Artisten“ unter ihrer<br />
Aufsicht machen ließ.<br />
Die Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin,<br />
Redakteurin, Produzentin war auch<br />
in verschiedenen Kino- und Fernsehfilmen zu<br />
sehen. Vor allem aber engagierte sie sich im Alter<br />
für kranke und behinderte Kinder, bis sie<br />
1994 in Oberursel sterben musste, wie wir alle<br />
irgendwann.<br />
Lia Wöhr wird bei denen, die sie kannten,<br />
immer unvergessen bleiben, und sei es nur als<br />
Frau Siebenhals.<br />
Martin Fischer<br />
Man wünscht sich mehr. Die Stadt Frankfurt hat ein Plätzchen am Rande<br />
des Gallusviertels nach ihr benannt. Der ist auf den offiziellen Stadtkarten<br />
nicht mal überall eingezeichnet und liegt da, wo die Kölner Straße<br />
von der Frankenalle abgeht. Dort steht ein Gedenkstein, den der Hessische<br />
Rundfunk spendiert hat. Und einen Lia-Wöhr-Weg gibt es auch, in<br />
Weißkirchen. Dürftig, oder?
Familienseite<br />
15<br />
Rezept des Monats<br />
Wanns aahm jo helfe dhet….<br />
Wenn dem Frankfurter nichts anderes einfällt, was er essen möchte, greift er auf die altbewährten<br />
Frankfurter Würstchen zurück. Das geht schnell, schmeckt gut und lässt sich<br />
vielseitig abrunden – mit einem von dem hm-zig Rezepten für Kartoffelsalat, die es in<br />
Deutschland gibt, mit Sauerkraut, fast jedem anderen Gemüse oder ganz einfach mit Senf<br />
und Brötchen. Zum Winter darf es mal was anderes sein. Wir ziehen jahreszeitlich passend<br />
den Würstchen einen warmen Mantel an.<br />
So geht es: Wir brauchen pro Person ein Paar Würstchen, 2 Scheiben Hartkäse, 2 Scheiben<br />
Schinken und außerdem Blätterteig und Eigelb zum Bestreichen.<br />
Für die Würstchen kauft man seine Lieblingsmarke oder beim Metzger des Vertrauens, der<br />
Käse sollte Hartkäse sein, der zum Überbacken geeignet ist – wenn im Zweifel, hilft die<br />
Käsetheke. Und dann muss man noch die Tiefkühlabteilung besuchen und fertigen Blätterteig<br />
kaufen. Den kann man auch selbst machen, aber fertiger geht einfach schneller und Teig<br />
machen ist nicht jedermanns bzw. jederfrau Sache.<br />
Man nimmt ein Würstchen und umwickelt es mit einer Scheibe Käse und dann einer Scheibe<br />
Schinken. Dann wird der Blätterteig ausgerollt und in Scheiben geschnitten, groß genug,<br />
dass man das Wurst/Käse/Schinken – Röllchen einwickeln kann. Das Ganze kommt mit der<br />
Naht nach unten auf ein Backblech. Dann den Ofen auf 180 Grad vorheizen und indessen<br />
die Röllchen mit Eigelb bestreichen. Solange backen lassen, bis eine goldbraune Farbe<br />
entstanden ist.<br />
Das duftende Resultat kann man als kräftige Vorspeise an einem kalten Tag essen – oder<br />
auch, zusammen mit einem großen Salat, als Hauptgericht. Normal sind zwei Würstchenrollen<br />
pro Person, aber es gibt auch Menschen, die mehr davon haben wollen. Und auch<br />
ganz einfach bekommen können, denn die Zubereitung ist wahrlich keine Kunst und gelingt<br />
sogar, wenn die ganze Meute der Besucher in der Küche rumsteht, ein Gläschen trinkt und<br />
quatscht. Guten Appetit!<br />
RS<br />
Fühle den Trommelschlag, du kannst in ihn eintauchenliebe<br />
dich und deinen Körper, ohne Hektik- entspannt.<br />
YANKADI<br />
… mecht mer ganz laut schenne iwwer<br />
des Wetter, wos sisch des Johr Winter<br />
geheiße hatt. Alsfortt kalt, des mecht<br />
nix, wanns-de gut oogezoge bist. Mehr<br />
Schnee als in den annere Johrn, und des<br />
auch noch richtig unangenehm: Wor er<br />
getaut, kom dann glei die nächst Ladung.<br />
Voll of die Eisplacke, weil mit<br />
dem Berjersteig räume habbes weder<br />
die Zuständische bei de Stadtverwaltung<br />
noch die Besitzer von dene Heiser. So<br />
schliddert mer dorch die Gejend, flucht<br />
und is alsfortt in Gefohr, uff de Schnauz<br />
zu knalle. Lobend erwähne muß mer<br />
die RMV, die hott an dene Haltestelle<br />
vorbildlich geräumt und gestreut – ich<br />
habb ganze Gebirge von Splitt doderfo<br />
an meine Stiwwel ins<br />
Haus getrache.<br />
Mich hatt es aach erwischt<br />
– wo isch spät<br />
nachts bei Schneefall<br />
nach Haus gekomme<br />
bin, bin isch hingeknallt<br />
un hab mer die<br />
Schulter grindlich verballert.<br />
Des dhut immer<br />
noch weh, awwer<br />
gebroche is nix unn<br />
richtisch verletzt is nor<br />
mein Stolz. Kaa Wunner,<br />
wanns-de in diefster<br />
Nacht uff de Knie<br />
rutsche musst, weil de<br />
kann Halt hast uf dem<br />
Schnee unn dir die Baa aafach wegrutsche<br />
beim Versuch, uffzustehe. Und<br />
dann habb isch noch Mieh gehabbt, die<br />
Schlissel in die Dier ze bringe, weil isch<br />
kaa Handschuh anhatt un die Finger<br />
grauslich geforn warn.<br />
Zwaa Woche konnt isch mein Flijel net<br />
rührn unn die Hand net hewwe. Des is<br />
net schee, insbesunnere wanns-de wos<br />
schreibe willst und die Händsche zum<br />
Arbeite trage mußt. Buchstäblich. Isch<br />
hatt die rechte Hand gebraucht, um dei<br />
link Händsche uff die Dasdadur ze leje.<br />
Kaan Scherz.<br />
Noja, jetzt isses wohl vorbei unn mir<br />
kenn uns uffs Friejohr<br />
freue. Awwer die<br />
Winterklamotte unn<br />
insbesunne die Winterstiwwel<br />
mit de angeblisch<br />
rutschfeste<br />
Sohle wegzeräume,<br />
des trau isch mich noch<br />
net. Mer hadde aach<br />
schun Schneefall im<br />
April, des is zwar lang<br />
her, awwer dem Johr is<br />
wohl net zu traue.<br />
Maan grollend<br />
Ihne Ihrn<br />
Riewwedippel<br />
I M P R E S S U M<br />
Musik zum mitmachen- für alle Menschen!<br />
Wir treffen uns:<br />
Montag 10.00 - 12.00 Uhr<br />
Windmühlstrasse 9<br />
Frankfurt-Bahnhofsgegend<br />
Montags ab 16.00 Uhr<br />
Karl-Blum-Allee 1-3<br />
Frankfurt-Höchst<br />
Kontakt: Reinhold Urbas Tel.: 06109 - 22527 E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />
Sie möchten bei der<br />
„<strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong>“ mitwirken?<br />
Interessenten und Mitmacher<br />
sind uns jederzeit herzlich<br />
willkommen!<br />
Unsere Termine<br />
Redaktionskonferenz<br />
11.03.2010 18.00 Uhr<br />
25.03.2010 18.00 Uhr<br />
08.04.2010 18.00 Uhr<br />
Vorstandsitzung<br />
30.03.2010 17.00 Uhr<br />
28.04.2010 17.00 Uhr<br />
26.05.2010 17.00 Uhr<br />
Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />
Windmühlstr. 9<br />
60329 Frankfurt am Main<br />
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Chefredakteur:<br />
Rüdiger Stubenrecht (v.i.S.d.P.)<br />
Layout und Gestaltung:<br />
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Redaktion:<br />
Martin Fischer , Linda Hamelburg,<br />
Elisabeth Kapell, Aribert Kirschner,<br />
Silvia Schöpf, Bruno Szrubin,<br />
Funda Toprakci, Reinhold Urbas,<br />
Armgard Wisent<br />
Bürozeit:<br />
Mo. - Fr. 08.00 - 13.00 Uhr<br />
Zeitungen: Mo., Mi., Fr.10.00 - 12.00 Uhr<br />
und nach telefonischer Vereinbarung!<br />
Auflage: 3.000<br />
Druck: CARO-Druck<br />
Ökohaus,<br />
Kasseler Str. 1a,<br />
60486 Frankfurt am Main
16 Unser Ausflugstipp<br />
Winter<br />
Auf der abgekühlten Wasseroberfläche hat<br />
sich ein feiner, gläserner Eisfilm gebildet – es<br />
ist Winter geworden. Nur noch wenig Licht<br />
dringt durch die zarte Eisdecke in die abgeschlossene,<br />
geheimnisvolle <strong>Welt</strong> der Unterwasserbewohner.<br />
Die glitzernden Spiegelbilder<br />
des Herbstes sind verschwunden, es bleiben<br />
verschwommene Schatten zurück. Nackt<br />
und kahl heben sich die Silhouetten der<br />
Bäume gegen den winterlichen Himmel. Ein<br />
eiskalter Graupelschauer leitet den winterlichen<br />
Tag ein. Stille herrscht am See. Nur das<br />
Knistern der auftreffenden Graupelkörnchen<br />
ist zu vernehmen. Verwelkte Blätter werden<br />
den angrenzenden Bäumen und Sträuchern<br />
herübergeweht, wirbeln und tanzen durch<br />
die Luft, bis sie vom Eis festgehalten werden.<br />
Angefroren ragen abgestorbene Schilfhalme<br />
starr und steif empor.<br />
Eine Stockente wagt einen Landeversuch<br />
auf der glatten Eisfläche, doch der Regen<br />
hat einen dünnen Wasserfilm darauf hinterlassen.<br />
Hilflos schlitternd bleibt sie auf dem<br />
Bauch liegen. Draußen auf dem See gleiten<br />
Höckerschwäne auf der letzten offenen Wasserfläche.<br />
Gelassen ertragen sie den Schneeregen.<br />
Geschützt durch ihr Federkleid, kann er<br />
ihnen nichts anhaben.<br />
Inzwischen ist der See völlig zugefroren, und<br />
Ein Blick in die Natur - Teil 4<br />
Der vierte und letzte Teil meines Berichts über die Jahreszeiten im Naturschutzgebiet<br />
„Große Lache von Geinsheim“, beschließt nun diese Serie.<br />
Nach einigen kälteren Nächten überzieht Raureif Bäume, Blätter und Gräser. Die Landschaft sieht,<br />
wie mit Puderzucker überzogen, aus. Ganz allmählich hat der Winter Einzug gehalten. .<br />
darunter wird das Licht schwach und schwächer.<br />
Der Sauerstoffgehalt nimmt ständig ab.<br />
Doch bildet die geschlossene Eisdecke auch<br />
eine isolierende Schutzhülle für viele Bewohner.<br />
Trotz langer Frostperioden oder extremer<br />
Temperaturschwankungen bleibt das Wasser<br />
darunter temperiert und gefriert nicht. Winterknospen<br />
von Teichlinsen und Tausendblatt<br />
sind auf den Boden abgesunken, ähnlich<br />
prall gefüllt mit Reservestoffen wie die<br />
kräftigen Wurzelstöcke von Laichkräutern,<br />
Seerosen und Sumpfschwertlilien, die den<br />
schlammigen Boden durchziehen. Sie bilden<br />
ideale Schlupfwinkel für zahlreiche kleine<br />
Kreaturen wie die Larven von Köcher- und<br />
Schlammfliegen. An ruhigen, neblige Tagen<br />
zieht uns die fahle Schönheit dieser Landschaft<br />
in ihren Bann. In ihrer Anmut gleicht<br />
sie japanischen Tuschezeichnungen. An zarte<br />
Pinselstriche erinnern die schlanken Halme<br />
von Schilf und Binsen – an schwarze Kleckse<br />
die dunklen Köpfe der Teichbinse. Im Hintergrund<br />
heben sich die dunkelgrauen Schatten<br />
der Schwarzpappeln von Flechtwerk der<br />
kahlen Winterzweige ab. Der Raureif hat die<br />
Konturen von Zweigen und Blättern mit kristallenen<br />
Linien nachgezeichnet. Das zarte<br />
Adernetz der Laubblätter und die Muster der<br />
ineinander verwobenen, trockenen Grashalme<br />
entfalten ihre Schönheit. Doch langsam<br />
hebt sich der zarte Grauschleier, und die ersten<br />
Sonnenstrahlen entfachen ein Feuerwerk<br />
von blinkenden und blitzenden Kristallen –<br />
der Winter zeigt sich in seiner ganzen Pracht.<br />
Das Teichhuhn verlässt den Schutz des<br />
Röhrichts und sucht sich, ängstlich sichernd,<br />
einen Weg über das<br />
Eis zur offenen Wasserfläche.<br />
Blässhühner<br />
sammeln sich<br />
jetzt an den nicht zugefrorenen<br />
Seen.<br />
Das neue Jahr ist<br />
angebrochen, die<br />
Sonne steigt höher<br />
und gewinnt allmählich<br />
wieder an<br />
Kraft. Die Tage werden<br />
länger. Unruhe<br />
bricht aus unter den<br />
Wasservögeln – die<br />
Balzzeit wird eingeleitet.<br />
Immer mehr<br />
Blässhuhnpaare sondern<br />
sich aus dem<br />
Winterverband ab<br />
und verteidigen ihr<br />
kleines Brutrevier<br />
recht zänkisch und aggressiv gegen Eindringlinge.<br />
Hitzige Verfolgungsjagden spielen<br />
sich draußen auf dem Wasser ab. Blässhühner<br />
stürzen sich mit vorgestreckten Köpfen,<br />
fauchend und zeternd aufeinander. Auch<br />
am Reiherhorst haben die Balzzeremonien<br />
begonnen. Stockentenerpel prangen wieder<br />
in ihrem glänzenden Frühlingsgefieder. Ihre<br />
smaragdgrünen Köpfe und Nacken glitzern<br />
im Sonnenlicht, wenn sie ihre Erwählte auf<br />
dem Wasser umwerben. Unter ständigem<br />
Kopfnicken, Aufrichten der Vorderkörper<br />
und Schnabeleintauchen schwimmen sie neben<br />
dem Weibchen her.<br />
Die Luft ist erfüllt vom Geruch modernden<br />
Holzes, und in der feuchten Atmosphäre<br />
schieben sich einige Pilze durch die Moospolster.<br />
An umgestürzten Bäumen und Stubben<br />
häufen sich die oft in langen Reihen dachziegelartig<br />
wachsenden Baumpilze: Porlinge<br />
und Trameten.<br />
Draußen auf dem Wasser regt sich noch<br />
kein Leben. Düster, kahl und bleiern liegt der<br />
See vor unseren Augen. Weder Seerosenblätter<br />
oder Wasserlinsen beleben seine Oberfläche,<br />
noch zerreißen springende Fische diese<br />
Stille. Nichts stört diese Wasseroberfläche, als<br />
ob Gift jegliches Leben zum Erlöschen gebracht<br />
hätte. Aber die Stille täuscht – denn<br />
dieser See, dieses Kleinod inmitten eines<br />
Naturschutzgebietes<br />
lebt! Ein Ort der<br />
Ruhe, der Beschaulichkeit<br />
und des<br />
Nachdenkens. Heute<br />
mit dem Ausklingen<br />
des Winters schweift<br />
unser Blick über die<br />
scheinbar leblosen<br />
Wasserflächen, und<br />
wir träumen von der<br />
Zeit des wieder sprudelnden,<br />
pulsierenden<br />
Lebens, von tanzenden<br />
Eintagsfliegen,<br />
von springenden<br />
Fischen und von den<br />
zwischen farbenprächtigen<br />
Blüten summenden<br />
Bienen – vom<br />
Sommer.<br />
Ich hoffe, Ihnen hat die Exkursion in die Natur<br />
über die vier Jahreszeiten gefallen.<br />
Somit bleibt mir nur noch, Ihnen wunderschöne<br />
Tage in der Natur zu wünschen.<br />
Mit freundlichen Grüssen verbleibe ich,<br />
Ihr Aribert Kirschner (Text und Fotos)