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Nr. 57 - Soziale Welt

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Schnell fertig ist der Guidomit<br />

dem Wort<br />

Vollmundig - Voll daneben<br />

Seite 2<br />

Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>57</strong> Euro 1,80<br />

Mitglied i im „International n t n a Network of Street Papers“ INSP<br />

Scherbengericht!<br />

HARTZ IV<br />

Erst Arbeitspflicht<br />

- dann Arbeitslager?<br />

Neue Rezepte aus Roland´s<br />

Horrorküche<br />

Seite 4<br />

Obama strahlt!<br />

Neue Atomkraftwerke in den USA<br />

in Auftrag gegeben<br />

Seite 5<br />

Aushungern und Fordern<br />

Interview mit Claudia Daseking und<br />

Solveig Koitz über die rechtswidrige<br />

Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1<br />

Seiten 6-7<br />

Schubladen<br />

Neue Verkaufsstelle des Ausbildungsprojektes<br />

der FaPrik in Frankfurt<br />

Bornheim<br />

Seite 8<br />

Ein Stück China in Frankfurt<br />

Der Chinesische Garten im<br />

Bethmannpark<br />

Seite 9<br />

Ein Blick in die Natur Teil 4<br />

Winter im Naturschutzgebiet<br />

Seite 16<br />

Nun ist es also amtlich: In wesentlichen Teilen ist<br />

Hartz IV, das von Steinmeier noch im Wahlkampf<br />

als soziale Großtat gepriesene Machwerk von Gerhard<br />

Gasprom und seinen kriminellen Freundchen, verfassungswidrig.<br />

Die Entscheidung des ersten Senats<br />

des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich auf die Berechnung<br />

der Regelsätze, vor allem bei Kindern unter<br />

14 Jahren. Senatspräsident Hans-Jürgen Pieper<br />

stellte den Hartz-Machern ein vernichtendes<br />

Zeugnis aus: „völliger Ermittlungsausfall“ beim<br />

Kinderregelsatz, gröbste handwerkliche Fehler<br />

auch beim Regelsatz für Erwachsene. In der vorliegenden<br />

Form genügt die Berechnungsgrundlage<br />

weder dem Grundrecht der Gewährleistung<br />

eines menschenwürdigen Existenzminimums<br />

nach Art. 1 GG noch dem Sozialstaatsprinzip<br />

nach Art 20 I GG. Schallender kann eine Ohrfeige<br />

für notorische Hartz-IV-Schwätzer wie<br />

SPD-Sarrazin überhaupt nicht ausfallen.<br />

Bis 31. 12. hat die neue Regierung nun Zeit<br />

Statt um soziale Probleme und wirtschaftliche<br />

Angelegenheiten, streitet man sich im Bundestag<br />

hilflos und weitgehend völlig kenntnisfrei<br />

um eine Ausstiegspolitik in Afghanistan. Bundesminister<br />

zu Guttenberg hat eine neue Strategie<br />

gefordert – als ob die Bundeswehr in ihrer<br />

achtjährigen Präsenz je eine Strategie gehabt hätte.<br />

Gläubig folgend, macht man es dem ebenfalls<br />

kenntnisfreien Obama nach: Abzugstermin<br />

2011, dafür noch erst einmal mehr Truppen,<br />

mehr Aktion, mehr Kämpfe und damit natürlich<br />

auch mehr Opfer. Angela schickt noch 850<br />

Feldgraue in ein Land, das eigentlich Absurdistan<br />

heißen sollte – nämlich entsprechend der<br />

Vorstellung im Deppendorf (Berlin) über die<br />

Lage in Afghanistan.<br />

Eiligst, so Bundeskanzlerin Merkel, sollen<br />

die Polizisten der künftigen eigenen Kräfte eines<br />

„demokratischen“ Afghanistan ausgebildet<br />

werden, damit man sich aus dem Staub machen<br />

kann. Barack Obama und damit auch zu Gutenberg<br />

und Merkel haben sich in die klassische<br />

Falle hineinmanöviert: Siege und militärisches<br />

Material sind im Krieg letztlich irrelevant. Es<br />

geht darum, den Willen des Gegners zu brechen<br />

und den eigenen Willen aufrecht zu erhalten. Da<br />

sieht es schlimm aus. Der Wille der Taliban ist<br />

ungebrochen und mit Bomben nicht zu verletzen.<br />

Der Wille, einen neuen afghanischen Staat<br />

demokratischen Zuschnitts zu bauen, war im<br />

Lande nie vorhanden. Und ohne gemeinsamen<br />

Feind – den es in einem Bürgerkrieg definitiv<br />

zum Nacharbeiten des Hartz-Erdbebens.<br />

Ob dies in einer Erhöhung des Regelsatzes<br />

enden wird, bleibt offen, denn hierzu gibt es<br />

keinerlei Aussage des Gerichtes. Im Falle des<br />

Regelsatzes für Kinder wird man kaum darum<br />

herumkommen; da die Berechnungsgrundlagen<br />

auf den Ermittlungen des Statistischen Bundesamtes<br />

beruhen und somit der aktuellen Preisentwicklung<br />

um mindesten zwei Jahre hinterher<br />

hinken, wird wohl Schwarz-Gelb in die Tasche<br />

greifen müssen (statt wollen).<br />

Die Bild-Zeitung weiß es natürlich schon<br />

ganz genau und macht fleißig Stimmung gegen<br />

die Empfänger von Leistungen nach ALG<br />

II. Bis zu 10 Mrd. Euro würde eine Erhöhung<br />

des Regelsatzes auf die von den Sozialverbänden<br />

geforderte Anhebung des Regelsatzes auf 420<br />

€ kosten, dazu kämen bis zu 2 Mrd. € für die<br />

Anhebung der Kindersätze. Die Zahl der Geringverdiener,<br />

die Anspruch auf ergänzende Leistungen<br />

The Germans to the Front?<br />

Wer ist hier der Dumme?<br />

haben, werde die Zahl der Hilfeempfänger von<br />

6,7 auf knapp 9 Millionen ansteigen lassen. Eine<br />

verfassungs- und menschenrechtskonforme Regelung,<br />

so der Tenor der Bild-Berichterstattung,<br />

gefährde die Steuerreform. Auf den Internetseiten<br />

von Bild lässt man den „Volkszorn“ toben;<br />

insgesamt eine Berichterstattung, die dringend<br />

auf den Tatbestand der Volksverhetzung überprüft<br />

werden sollte.<br />

Nun hat Arbeitsministerin von der Leyen<br />

den Schwarzen Peter: Sie wollte mit einem<br />

schönen neuen Namen für Hartz IV, das ja<br />

offiziell nie so geheißen hat, die Probleme<br />

unterbügeln. Statt dessen muss nun richtig<br />

gearbeitet werden. Die Ergebnisse müssen abgewartet<br />

werden. Wer jedoch auf eine schnelle<br />

Erhöhung des Regelsatzes spekuliert, dürfte<br />

sich verrechnen. Man wird wohl eher den von<br />

Gericht zugebilligten Zeitraum auf das Äußerste<br />

nutzen, mangels Masse.<br />

RS<br />

nicht geben kann – werden die Friedenskräfte<br />

fremder Staaten nach so langer Zeit als Besatzungsmächte<br />

empfunden. Man denke nur an<br />

unsere eigene Geschichte in Deutschland.<br />

Noch mal drauf mit Gebrüll, dann Übergabe<br />

an eigene Streitkräfte und ferne Staubwolken<br />

beim eiligen Abflug – das kennt man doch?<br />

Richtig – Richard Milhous Nixon war das,<br />

1972. So ging die Republik von Vietnam unter,<br />

die USA waren blamiert. Und die Opfer mussten<br />

bluten. So wird es ganz sicher wieder kommen.<br />

Die Taliban warten schon. Man braucht<br />

ja nur zu warten, bis die Besatzer weg sind und<br />

dann den nicht funktionierenden Staat einzukassieren.<br />

Bis dahin zieht man sich etwas<br />

zurück, schont seine Kräfte oder greift andere<br />

Ziele an: in diesem Falle Pakistan. Vo Nguyen<br />

Giap hat es in Vietnam vorgemacht.<br />

Westerwelle, unser Außenminister, hat einen<br />

Vorschlag: Sowas wie Hartz IV für alle Taliban,<br />

wenn sie abschwören. Das ist bis zum Schreien<br />

lächerlich. Natürlich nimmt man in dem<br />

fernen Lande jede Art von Geld gerne an, der<br />

oberste Chef, Kasai mit dem Seidenmantel, allen<br />

vorweg. Er hat schon Unterstützung für die<br />

nächsten 15 Jahre eingefordert, natürlich unter<br />

seiner Ägide: Ob für den Staat, seine Klientel<br />

oder die großen Taschen in seinem Umhang ist<br />

nicht so ganz klar. Die afghanische Opposition<br />

ist sich einig: Dieses Land hat vier Gegner: die<br />

Taliban, die Warlords, die Besatzungsstreitkräfte<br />

und Kasai. Der Weise sagte:<br />

Krieg machen und Frieden schließen ist wie<br />

das Flugloch eines Hornissennests. Sich mit<br />

dem nackten Arsch drauf setzen, ist einfach.<br />

Aufstehen, ohne gestochen zu werden,<br />

das ist die wahre Kunst!<br />

Machen wir´s wie Taliban:<br />

Deutschland raus aus Afghanistan!<br />

RS (Bildmaterial: punch)


2<br />

P O L I T I K<br />

Schnell fertig ist der Guido mit dem Wort……<br />

„Du sollst das Wort aus dem Koalitionsvertrage<br />

stets unnützig im Munde führen,<br />

damit es dir gut gehe und du Karriere<br />

machst auf Erden“. So das Credo jedes<br />

Koalitionspolitikers. Wir haben die sozialen<br />

Aussagen aus den Koalitionsversprechen<br />

von Rot/Grün veröffentlicht<br />

(nichts davon wurde gehalten, es folgte<br />

die unsozialste Regierung, die Deutschland<br />

jemals hatte), die von Schwarz-Rot<br />

(nur heiße Luft, nichts getan) und nun<br />

ist Schwarz-Gelb dran.<br />

…. Doch hart im Raume stoßen sich die<br />

Sachen. Aus klarer Geldnot wird erst einmal<br />

nichts getan, sondern man ist überein gekommen,<br />

die Steuerschätzung abzuwarten<br />

– als ob es da zu überraschendem Reichtum<br />

kommen könnte. Aber eins nach dem Anderen<br />

– erst einmal die lange Liste der Versprechungen<br />

und Pläne.<br />

Teil III des Koalitionsvertrages trägt den<br />

Titel „<strong>Soziale</strong>r Fortschritt durch Zusammenhalt<br />

und Solidarität“. Sehr schöne Prosa<br />

auf 30 Seiten Text, aber inhaltlich dünn<br />

und überaus ausufernd – schöne Worte für<br />

alles von Altersvorsorge über Integration bis<br />

zu absoluten Nichtigkeiten wie inhaltsleere<br />

Unterstützungsaussagen für die Olympiade<br />

2018 in München. Das meiste sagt nichts,<br />

den überwiegenden Rest braucht keiner und<br />

der Rest müsste erläutert werden, damit man<br />

versteht, was wirklich die Kosequenzen sein<br />

können.<br />

Beispiel Ehe und Familie: hehre, aber hohle<br />

Worte über die hohe Bedeutung der Familie,<br />

ein Lippenbekenntnis zu mehr Kindern<br />

durch günstigere Rahmenbedingungen für<br />

Familien. Oder in dürren Worten: ab 2013<br />

ein Betreuungsgeld in Höhe von 150 €,<br />

ggfs. als Gutschein. (N.B.: Die Familienministerin<br />

der letzten Regierung liebt zwar die<br />

Gutscheinregelung, aber die ist klar verfassungswidrig.)<br />

Und Ausdehnung des Teilelterngeldes<br />

auf bis zu 28 Monate.<br />

Im Bereich Jugendliche wird eine Mini-<br />

Reform im Kinder- und Jugendhilfesystem<br />

angekündigt. Dito eine Aufarbeitung der<br />

Die tun was<br />

Schutzbestimmungen unter Berücksichtigung<br />

der europarechtlichen Vorgaben (das ist<br />

ohnehin Pflicht und damit eine Leerausage).<br />

Ganz konkret wird angekündigt, die Höchststrafe<br />

für Mord im Jugendstrafrecht auf 15<br />

Jahre Jugendstrafe zu erhöhen, eine sinnlose<br />

Verbeugung vor populistischen Schreihälsen.<br />

Die Senioren sollen besser eingegliedert,<br />

die Lohnunterschiede zwischen Mann<br />

und Frau durch ein „beratungsunterstütztes<br />

Lohntestverfahren“ abgebaut werden – mehr<br />

Bürokratie mit zweifelhaftem Ergebnis. Im<br />

Bereich Integration wird die Bedeutung der<br />

Deutschkenntnisse der Migranten hervorgehoben<br />

– und gleich wieder untergraben, weil<br />

die Orientierungskurse zwar stundenmäßig<br />

aufgestockt werden, aber für Kenntnisse über<br />

„die Funktionsweise unseres demokratischen<br />

Rechtsstaats“ gewidmet werden sollen. Um<br />

die gelüste der Bürokraten zu befriedigen,<br />

soll das Instrument eines Integrationsvertrages<br />

geschaffen werden. Und schließlich:<br />

„Droht wegen mangelnder Deutschkenntnisse<br />

der Eltern eine Beeinträchtigung des<br />

Kindeswohls, soll … eine Verpflichtung zur<br />

Teilnahme am Integrationskurs möglich<br />

sein.“ Der Schulbesuch von Kindern von<br />

Menschen mit ungeklärter Aufenthalts- oder<br />

Bleiberechtsregelung soll erleichtert werden,<br />

was bitter notwendig ist. Dafür werden die<br />

Leistungen für Asylbewerber „in Hinblick<br />

auf das Sachleistungsprinzip“ evaluiert werden.<br />

Heißt: Gutscheine statt Bargeld.<br />

Ehrenämter sollen gestärkt und von Bürokratie<br />

und Haftungsrisiken entlastet werden,<br />

ebenso sollen die Angebote für das Freiwillige<br />

<strong>Soziale</strong> Jahr ausgeweitet werden. Doch dunkel<br />

ist der Rede Sinn im Bereich Zivildienst:<br />

„Die künftige Struktur der Wehrpflicht wird<br />

sich im Zivildienst widerspiegeln“. Könnte<br />

es sein, dass die Wehrpflicht wider besseres<br />

Wissen nur noch aufrechterhalten wird, damit<br />

der für die sozialen Einrichtungen so bedeutsame<br />

Zivildienst nicht kippt?<br />

<strong>Soziale</strong> Hilfe und Sozialversicherungen<br />

Die FDP nämlich. Für ihre Mitglieder. Mit der DKV wurde ein Gruppenvertrag geschlossen,<br />

wonach FDP-Mitglieder private Krankenversicherungen zu Sonderkonditionen abschließen<br />

können. Heftige Erregung bei anderen Parteien, allerdings Theaterdonner, weil<br />

solche Gruppenvereinbarungen absolut legal und durchaus üblich sind, nicht nur für Krankenversicherungen.<br />

Ähnliche Vereinbarungen zwischen Anbietern und Berufsgruppen sind<br />

gang und gäbe: Von den Anglern und Jägern bis zu den Pfarrern und Bestattungsunternehmern<br />

gibt es solche Verträge. Jawohl – auch für Journalisten. Für Beamte sowieso. Nur – die<br />

FDP ist die einzige Partei, die bislang so etwas abgeschlossen hat. Und der Zeitpunkt war<br />

wieder einmal Fettnäpfchen vom Feinsten: Während Bürger Normalverbraucher gerade<br />

seine Post öffnet und 8 € im Monat mehr bezahlen soll als erste Aktion der Koalition in Sachen<br />

Gesundheitspolitik, winkt dem FDP-Mitglied ein besserer Tarif. Klientelpolitik oder<br />

nur politische Blindheit? Man urteile selbst.<br />

RS<br />

Wir von der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> haben stets<br />

dagegen gekämpft, die Unterstützung von<br />

Arbeitslosen als soziale Leistung zu betrachten.<br />

Arbeitslosigkeit ist die Folge verfehlter<br />

Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Unterstützung<br />

ist somit dem Bürger geschuldet<br />

und zwar ohne Diskussion um Fördern und<br />

Fordern (sollte wahrheitsgemäßer Düpieren<br />

und Drangsalieren heißen). Richtigerweise<br />

beginnt diese Passage der Koalitionsvereinbarung<br />

auch mit der Arbeitsmarktpolitik. Leider<br />

ist dies Kapitel wachsweich ausgefallen.<br />

Neue Lösungsansätze sollen geprüft werden,<br />

wie „Bürgerarbeit“ oder Vermittlungsscheine<br />

ab Beginn der Arbeitslosigkeit – kleine<br />

Schritte in ungewisse Richtung. Die Hinzuverdienensmöglichkeiten<br />

sollen verbessert<br />

werden, der Freibetrag für das Schonvermögen<br />

„wesentlich“ erhöht werden – auf stolze<br />

750 Euro pro Lebensjahr. Die selbst genutzte<br />

Immobilie soll umfassend geschützt werden.<br />

Wieder eine Reihe kleiner Schritte in<br />

die richtige Richtung, die aber sofort große<br />

Fragen aufreißt. Was ist mit denen, die man<br />

schon um ihr Häuschen gebracht hat? Noch<br />

keine Antwort<br />

Eine Strukturreform wird angekündigt,<br />

um Länder und Kommunen zur Anstellung<br />

von Langzeitarbeitslosen einzuspannen. Das<br />

gipfelt in einem „Mustervertrag“ und der<br />

gleichzeitigen Ankündigung einer bürgerfreundlichen<br />

Verwaltung. Man darf gespannt<br />

sein, wie sich dieser Widerspruch in sich<br />

selbst auflösen kann.<br />

Kosten für Unterkunft, Energie- und Nebenkosten<br />

sollen überprüft und pauschalisiert<br />

werden, um Transparenz und Rechtssicherheit<br />

zu erhöhen. Ziel ist es, der Klageflut<br />

gegen Hartz IV-Bescheide die rechtliche<br />

Basis zu entziehen. Ob sich das für die sehr<br />

strapazierten Geldbeutel der Leistungsempfänger<br />

positiv oder negativ auswirken wird,<br />

muss sich erst noch herausstellen. Eine Zusammenfassung<br />

der Sozialleistungen soll<br />

angestrebt werden – hier hat die FDP das<br />

Wort „bedarfsorientiertes Bürgergeld“ eingeschmuggelt.<br />

Dabei wird es wohl auch bleiben,<br />

zumindest für diese Legislaturperiode.<br />

Noch einige andere lang überfällige Regeländerungen<br />

sind angekündigt: Verbesserung<br />

bei Erwerbsminderung, Stabilisierung<br />

in der Künstlersozialversicherung, endlich<br />

die Durchsetzung der UN-Konvention über<br />

die Rechte von Menschen mit Behinderungen.<br />

Die Altersarmut soll bekämpft werden –<br />

vorerst allerdings nur durch einen Vorschlag.<br />

Einzige „harte“ Aussage: „Wir führen in dieser<br />

Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem<br />

in Ost und West ein.“<br />

Schöne Aussagen und schöne Aussichten<br />

– wäre da nicht die Gewissheit, das dies alles<br />

nur in einer Wirtschaft mit deutlichem<br />

Wachstum durchführ-, weil finanzierbar<br />

ist. Doch von dem erwünschten deutlichen<br />

Wachstumsschub ist noch nichts zu sehen.<br />

RS<br />

(Bildquellen dpa, rp)<br />

Amerikanische<br />

Verhältnisse<br />

Schwarz/Gelb oder besser Gelb/<br />

Schwarz, denn die Initiative und der<br />

Drive bei der neuen Regierungskoalition<br />

liegt eindeutig bei der FDP, hat was<br />

Neues: Man orientiert sich wissentlich<br />

oder unwissentlich an den USA. Leider<br />

an den schlimmsten Auswüchsen<br />

der US-amerikanischen Politik, dem<br />

Give-and-Take im Kapitol. Das geht so:<br />

Man nehme das Lieblingsthema eines<br />

großen Teil der einen Partei, verbinde es<br />

– natürlich ohne jeden logischen Bezug<br />

– mit dem Lieblingsthema der anderen<br />

Partei und hat wunderbarerweise einen<br />

Gesetzesentwurf. Den versteht zwar keiner,<br />

aber das macht nichts. Nun eines<br />

macht noch was: Man braucht einen publikumswirksamen,<br />

zugkräftigen Titel. Ist<br />

der gefunden, kann man der Verabschiedung<br />

durch ein schläfriges Parlament sicher<br />

sein und ebenso des Beifalls der Presse,<br />

die nur auf Präsentation und schönen<br />

Schein achtet und nicht auf Inhalte. So<br />

regiert man erfolgreich. Und manchmal<br />

kommt sogar etwas Sinnvolles dabei raus.<br />

Die Regierung hat regiert und als<br />

Erstes kam so ein amerikanischer Gesetzentwurf<br />

raus, der im Eilgang durch<br />

das vorgeschriebene parlamentarische<br />

Verfahren gehetzt wird. Familienministerin<br />

von der Leyen und die alten Weiber<br />

beiderlei Geschlechts der CDU haben<br />

sich in Sachen Kindergeld ausleben<br />

können. Das hilft zwar nichts, weil das<br />

Geld – siehe letzte Ausgabe – bei den<br />

benachteiligten Kindern der unteren<br />

Einkommensgruppen schlicht nicht ankommt.<br />

Und auch die FDP durfte ein<br />

Lieblings-Wahlkampfthema in eherne<br />

Worte fassen, die Erbschaftssteuer. Diese<br />

ehernen Gesetzesworte gelten solange,<br />

bis die Ausführungsvorschriften erlassen<br />

sind. Aber man kann ein Wahlversprechen<br />

bis zum Bruch als erfüllt abhaken.<br />

Oh ja – der Titel. Publikumswirksam<br />

wurde das Ganze „Konjunkturbeschleunigungsprogramm“<br />

genannt. Nicht nur<br />

sprachlich unsäglich, sondern auch widersinnig.<br />

Was soll denn hier die Konjunktur<br />

beschleunigen – erhöhte Nachfrage<br />

nach Windeln von Proctor&Gamble<br />

und Kinderklamotten aus Oshkosh/<br />

Wisconsin und China? Oder das sozialverträgliche<br />

Frühableben von ältlichen<br />

mittelständischen Unternehmen, die nur<br />

darauf gewartet hatten, dass ihre Erben<br />

ihr Werk steuerfrei schnellstmöglich verscherbeln<br />

können? Peinliches Schweigen<br />

in Regierung, Parteien und Fraktionen.<br />

Nichts gegen die Sache. Alles gegen<br />

die Form und das Verfahren. So macht<br />

man keine Politik, sondern Flickwerk.<br />

Das allerdings könnte durchaus Absicht<br />

sein. Wie auch bei der vorgesehenen Reform<br />

von ALG II, kommen so gesetzliche<br />

Regelungen zustande, die klare<br />

Kontraste zur bisherigen Regelung erzeugen.<br />

Im Bereich der Versorgung für<br />

Kinder liegt die Hauptlast bei den ohnehin<br />

meist pleiten Städten – der Bund<br />

verspricht sich ganz klar neue Rechte,<br />

wenn er für die eigenen Gesetze zahlen<br />

muss. Mit der Erbschaftssteueränderung<br />

wie auch die Zuverdienst-Regelung für<br />

ALG II wird das bisherige Steuersystem<br />

immer tiefer unterlaufen. Der CDU, die<br />

am liebsten gar nichts tun möchte in der<br />

Tradition von Helmut Kohl und seiner<br />

politischen Ziehtochter Angela Merkel,<br />

wird nichts anders übrig bleiben, als<br />

aufseufzend der FDP in das Abenteuer<br />

einer nächsten Steuerreform zu folgen.<br />

RS


NACHRICHTEN 3<br />

OBAMA BAUT ATOM-<br />

KRAFTWERKE<br />

Washington - Für insgesamt 8,3 Mill.$<br />

will US-Präsident Barack Obama zum ersten<br />

Mal seit 30 Jahren zwei Atomkraftwerke bauen<br />

lassen. Das ist nicht nur Teil seiner Offensive<br />

gegen CO², sondern auch als neuer<br />

Exportschlager eingeplant. Die USA dürften<br />

technologisch nicht hinter Atomstaaten wie<br />

China oder Frankreich zurückfallen. „Obwohl<br />

wir seit 30 Jahren keine neuen Reaktoren<br />

mehr gebaut haben, ist die Atomenergie<br />

nach wie vor unsere wichtigste Energiequelle,<br />

die keine Treibhausgase verursacht. Um unseren<br />

wachsenden Bedarf zu decken – ohne<br />

negative Folgen fürs Klima – brauchen wir<br />

mehr Atomenergie. So einfach ist das“, sagt<br />

der Präsident und macht die wohlbekannte<br />

Rechnung auf: „Ein Reaktor verursacht 16<br />

Millionen Tonnen weniger als ein Kohlekraftwerk.<br />

Das sind umgerechnet die Abgase<br />

von dreieinhalb Millionen Autos.“<br />

Der Standort ist auch schon geklärt: Die<br />

Neubauten werden im Bundesstatt-Georgia<br />

errichtet. Völlig ungeklärt und von Obama<br />

nicht angesprochen ist die Endlagerung des<br />

radioaktiven Abfalls. Letztmals 1978 wurde<br />

eine Studie für ein Endlager in den Yucca<br />

Mountains in Auftrag gegeben, aber niemals<br />

zu Ende geführt. Seitdem wird gestritten,<br />

u.A. über die großen Transportentfernungen<br />

und die möglichen Gefahren durch Transporte.<br />

Zu diesem Problem gab es kein Wort<br />

vom Präsidenten.<br />

(Quelle: ORF)<br />

Castro profitiert vom Unweltschutz<br />

Havanna – Zeolith ist eine kristalline Substanz<br />

und ein umwelttechnisches Multitalent.<br />

Bis vor wenigen Jahren konnten nur Mineralogen<br />

mit dem Namen etwas anfangen. Inzwischen<br />

schätzt man die „Siedesteine“ für ihre<br />

biogenen, katalytischen und regulatorischen<br />

Funktionen. Zeolith hat viele Poren und Kanäle<br />

und damit eine extrem hohe Fähigkeit<br />

zum Ionenaustausch, zur Anreicherung von<br />

Stoffen aus Gasen oder Flüssigkeiten (Adsoption)<br />

oder zur Anlagerung von Wassermolekülen<br />

an gelöste Ionen (Hydratation).<br />

Damit können auch renitente Schadstoffe<br />

wie Schwermetalle gebunden und somit aus<br />

der Natur entfernt werden. Insbesondere in<br />

Waschmitteln kann Zeolith die umweltbelastenden<br />

Pentanatriumtriphosphate ersetzen.<br />

Wichtigste Abnehmer für Zeolith sind Brasilien<br />

und andere lateinamerikanische Länder.<br />

Auch die USA möchte gern, steht sich selbst<br />

aber noch im Wege. Die kubanische Produktion<br />

ist innerhalb eines Jahres von 600 Tonnen<br />

auf 4.490 Tonnen angestiegen. Richtig<br />

lohnen würde es sich, wenn man weiterverarbeitete<br />

Produkte statt Rohstoffe anbieten<br />

können, doch „Fidel no ha dinero“, so die<br />

Kubaner. Es fehlt das Kapital für Investitionen.<br />

(Quelle: Patriciu)<br />

EU der Biopiraterie bezichtigt–<br />

Globales Kontrollgremium angemahnt<br />

Paris - Umweltexperten haben den europäischen<br />

Industriestaaten vorgeworfen, seit<br />

Jahren die artenreichen Ökosysteme der armen<br />

Länder zu plündern. Um an preiswerte<br />

Nahrungsmittel, Rohstoffe und Arbeitskräfte<br />

zu kommen, schrecken sie nicht vor Biopiraterie<br />

zurück, hieß es auf einer Tagung in<br />

Paris. Angesichts dieser Missstände forderten<br />

die Teilnehmer die Schaffung eines internationalen<br />

Artenschutz-Gremiums nach dem<br />

Vorbild des <strong>Welt</strong>klimarates.<br />

Ihre eigenen Ressourcen haben die EU-<br />

Mitgliedsstaaten längst ausgeschöpft. Nur<br />

etwa 17 Prozent der Ökosysteme in diesen<br />

Ländern seien noch halbwegs intakt, sagte<br />

Dominique Richars von der Europäischen<br />

Umweltagentur (EA) auf dem von den vereinigten<br />

Nationen ausgerichteten Treffen. EU-<br />

Politiker hätten sich über diese Erkenntnis<br />

„schockiert“ gezeigt, meinte Richards, dessen<br />

Behörde kürzlich die erste vollständige<br />

Untersuchung über Biodiversität in Europa<br />

abgeschlossen hat. Der Raubbau an der Umwelt<br />

schreite in der Region seit Jahren fort,<br />

kritisierte der Experte. Bislang sei dies offenbar<br />

noch niemand aufgefallen.<br />

Ashok Khosia, der Gründer der nichtstaatlichen<br />

Gruppe für Entwicklungsalternativen<br />

mit Sitz in Neu-Delhi, warf den EU-Staaten<br />

vor, arme Länder als Selbstbedienungsläden<br />

zu betrachten. Dabei seien diese auf das angewiesen,<br />

was ihnen innerhalb ihrer eigenen<br />

Grenzen zur Verfügung stehe, sagte Khosia,<br />

der auch die <strong>Welt</strong>naturschutzorganisation<br />

IUCN vertritt. Wenn ihre Nahrungs- und<br />

Wasserquellen versiegten, bekämen sie die<br />

Folgen unmittelbar zu spüren.<br />

Zuletzt hätten 95 Staaten gemeinsam über<br />

die Gründung einer zwischenstaatlichen<br />

Plattform für Biodiversität (IPBES) diskutiert,<br />

sagte Anne Lagerie, Geschäftsführerin<br />

der NGO Diversitas. Man hoffe, dass das<br />

Gremium auf der nächsten großen Konferenz<br />

der Unterzeichnerstaaten der Artenschutzkonvention<br />

im Oktober offiziell beschlossen<br />

werde. Auf dem Treffen soll eine verbindliche<br />

Einigung für Maßnahmen gegen das Artensterben<br />

in den kommenden zehn Jahren<br />

gefunden werden. Nach Überzeugung von<br />

Khosia kann nur ein zwischenstaatlicher Ausschuss<br />

„mit Zähnen und einem soliden Mandat“<br />

garantieren, dass ein solches Abkommen<br />

in die Tat umgesetzt wird. (Quelle: Stephen<br />

Leahy, IPS)<br />

Inklusive Hilfe für ausgeblutetes<br />

Land – Menschenrechtler mahnen<br />

New York/Port au Prince - Nach dem<br />

verheerenden Erdbeben in Haiti fordern internationale<br />

Menschenrechtsgruppen, den<br />

Wiederaufbau des Landes inklusiv und fern<br />

aller Ideologien zu gestalten. Der karibische<br />

Inselstaat sei viel zu lange Spielball fremder<br />

Mächte gewesen und internationale Hilfen<br />

den Eliten zugeflossen.<br />

„Seit Jahren ist die Hilfe der Staatengemeinschaft<br />

für Haiti ideologisch geprägt,<br />

Versprechen wurden gebrochen“, kritisierte<br />

Monika Kaina Varma vom RFK Zentrum für<br />

Gerechtigkeit und Menschrechte. Im Vordergrund<br />

habe künftig die Frage zu stehen, wie<br />

die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt<br />

werden könnten. Geberstaaten verstießen<br />

gegen ihre Menschenrechtsverpflichtungen,<br />

sollten sie das von ihnen zugesagte<br />

Geld für Trinkwasserleitungen, Gesundheitsvorsorge<br />

und Bildung schuldig bleiben.<br />

Hunderte Millionen Dollar seien allein<br />

der haitischen-Oberschicht zugute gekommen,<br />

kritisierte ein Entwicklungshelfer, der<br />

ungenannt bleiben wollte. Nutznießer seinen<br />

Regierungsvertreter, Geschäftsleute und Militärangehörige<br />

gewesen. Die einfachen Leute<br />

seien leer ausgegangen. Die bereitgestellt<br />

Mittel seien nicht für den Ausbau der Infrastruktur<br />

oder des Bildungssystems verwendet<br />

worden.<br />

Varna kritisierte, dass Staaten ihren Geldhahn<br />

immer dann zugedreht hätten, wenn<br />

missliebige Herrscher in Haiti an die Macht<br />

gekommen seien. So die von den USA<br />

kontrollierte Intramerikanische Entwicklungsbank<br />

(IDB) Gelder für ein geplantes<br />

Wasserprojekt für die arme Bevölkerung<br />

zurückgehalten. In anderen Fällen seien die<br />

Hilfen nur zögerlich und unkoordiniert bereitgestellt<br />

worden. Diese Praxis müsse endlich<br />

beendet werden. (Quelle: William Fischer,<br />

IPS)<br />

Deutsch-Französische Agenda 2020<br />

Es bedurfte der fast vollständigen Anwesenheit<br />

der deutschen und französischen Kabinette<br />

inklusive Merkel und Sarkozy, um<br />

eine 80 Punkte umfassende „Agenda 2020“<br />

über die deutsch-französische Zusammenarbeit<br />

ins Leben zu rufen. Ob das Resultat den<br />

Aufwand wert war, wird man sehen müssen.<br />

Die veröffentlichten Kernpunkte klingen jedenfalls<br />

eher peripher. Ein grenzüberschreitendes<br />

Projekt für Elektrofahrzeuge; neue<br />

Kriterien für Wachstumsmessen nach Empfehlung<br />

der Ökonomen Stiglitz und Sen;<br />

Wahlrechte im Familienrecht bei deutschfranzösischen<br />

Eheleuten. Ferner, gemeinsame<br />

Schulbücher, Digitalisierung historischer<br />

Artefakte und das Projekt eines gemeinsamen<br />

Klimasatelliten. Auch wurde vereinbart, die<br />

Abstimmung der beiden Staaten vor europäischen<br />

Gipfeltreffen zu intensivieren. Der<br />

Rest bleibt nebelhaft. Bei der Verkündigung<br />

konnte sich Merkel einen Seitenhieb auf Vorgänger<br />

Gerhard Gasprom nicht verkneifen:<br />

Die Agenda 2020 sei mit der Agenda 2010<br />

schon deshalb nicht zu vergleichen, weil sie<br />

„ohne handwerkliche Fehler“ sei. Man ist gebührend<br />

gespannt.<br />

Ethanol und Energieversorgung<br />

Nachwachsende Stoffe für eine nachhaltige<br />

Energieversorgung zu nutzen, ist eine<br />

verlockende Vorstellung. Nun hat das US<br />

Gouvernement Accountability Office erstmals<br />

untersucht, ob dieser Weg effektiv ist.<br />

Die Ergebnisse sind keinesfalls so positiv wie<br />

versprochen. Die Probleme, die das GAO<br />

aufzeigt, betroffen die Planungen in Europa<br />

ebenfalls.<br />

Nach den Planungen der US-Regierung<br />

soll der Einsatz von Biofuels wie Ethanol<br />

fossile Energien in weiten Bereichen des<br />

Individual- und Gütertransports ersetzen.<br />

Absatz (und damit Erzeugung) soll von 11<br />

Mrd. Gallonen 2009 auf 36 Mrd. gal, das<br />

Dreifache innerhalb von 13 Jahren, gesteigert<br />

werden. Davon sollen 21 Mrd. gal. Biofuel<br />

neuen Typs statt Ethanol sein, also statt<br />

aus Getreidestärke aus Zellulose wie Gräser,<br />

Futterpflanzen, Blätter und andere Biomasse.<br />

Die Planungen sehen für 2022 16 Mrd. gal<br />

aus Zellulose vor, 1 Mrd. gal aus Biomasse<br />

und 4 Mrd. gal aus Zucker oder anderer als<br />

Getreidestärke.<br />

Die Erschließung neuer Rohstoffquellen<br />

ist notwendig, da Getreide große Mengen<br />

Dünger und vor allem Wasser erfordert. Dies<br />

intensiviert den Konflikt zwischen Getreide<br />

für Ernährungszwecke und Getreide als<br />

Energielieferant – bereits jetzt beschweren<br />

sich die Fleischproduzenten in den USA,<br />

dass die Futterpreise infolge der Nachfrage<br />

nach Ethanol ständig steigen und damit<br />

die Lebensmittel verteuern. In den Entwicklungsländern<br />

wird dieses Problem erst recht<br />

kritisch werden, da Europa seine Biorohstoffe<br />

von dort bezieht und damit die Ernährung<br />

der Bevölkerung ernsthaft bedroht ist.<br />

Doch das Hauptproblem ist Wasser: Biofuels<br />

brauchen zur Erzeugung große Mengen<br />

an Wasser. Für jede gefahrene Meile werden<br />

zwischen 1,3 und 62 gal. Wasser verbraucht;<br />

die Erzeugung einer entsprechenden Menge<br />

Treibstoff aus fossilen Rohstoffen verbraucht<br />

dagegen nur zwischen 0,7 und 0,14 gal. pro<br />

Meile.<br />

Ethanol aus normalem Ackerbau mit Bewässerung<br />

wird also nur eine Übergangslösung<br />

sein können, zumal Ethanol hochgradig<br />

korrosiv ist und damit Schäden in der Infrastruktur<br />

wie in Tanks und Pipelines anrichten<br />

kann. Auch ist die Beimischung von Ethanol<br />

auf 10% des Treibstoffes begrenzt, damit<br />

keine Motorschäden entstehen. In den USA<br />

sind von 250 Mill. Autos nur 8 Mio. tauglich<br />

für andere Treibstoffe oder Mixverhältnisse.<br />

Erst die Erschließung von Biomasse kann<br />

eine Lösung darstellen, da Biomasse ohne zusätzliche<br />

Bewässerung geerntet werden kann.<br />

Doch es sind noch erhebliche Probleme zu<br />

meistern: Biomasse fällt naturgemäß saisonal<br />

gehäuft oder gar nicht an und es fehlt auch<br />

noch an Großtechniken zur Massenproduktion.<br />

Eine Herausforderung auch an Europa<br />

Renaissance der Atomenergie<br />

in Europa<br />

Mit der Unterstützung von Energieunternehmen<br />

bereitet die Europäische Kommission<br />

und einigen einzelnen europäischen<br />

Ländern den Wiedereintritt in die Nukleartechnologie<br />

vor.<br />

Eine European Nuclear Energy Leadership<br />

Academy (ENELA) wurde geründet<br />

– in Deutschland, auf dem Camus der TU<br />

München in Garching. Beteiligt sind Areva,<br />

Axpo, EnBW, Eon Kernkraft, Urenco und<br />

Vattenfall.<br />

EU-Kommissionsmitglied Andris Piebalg<br />

dazu: „Der Nuklearsektor steht vor einer<br />

wichtigen Herausforderung: Es ist nötig,<br />

Wissen zu erhalten und weiterzuentwickeln.<br />

Nicht nur für die Industrie, sondern auch für<br />

Forscher, Gesetzgeber und den Gesundheitssektor.<br />

ENELA kann helfen, die Lücke in bestehenden<br />

Programmen zu schließen“.<br />

Zugleich wurde ein Abkommen zwischen<br />

Spanien und Jordanien über die friedliche<br />

Nutzung der Atomenergie für Energieerzeugung<br />

und Wasserentsalzung angekündigt.<br />

Jordanien plant den Bau eines Atomkraftwerkes.<br />

RS<br />

BSE-, Vogel- oder Schweinepest,<br />

immer noch eine Seuche in petto<br />

Die <strong>Welt</strong>gesundheitsorganisation WHO<br />

der UN hatte die Schweinegrippe wohl auf<br />

fragwürdige Weise zur Pandemie ausgerufen,<br />

eine vertrauenswürdige Risikoanalyse wurde<br />

erst gar nicht erstellt. Viele Regierungen sind<br />

trotzdem auf den fahrenden Zug aufgesprungen.<br />

Es graust den Verbraucher, die Pharmaindustrie<br />

freut´s. Schnell noch´ne Grippe aus<br />

der Wirtschaftsflaute raus schaufeln, schon<br />

läuft´s Geschäft noch besser! Die Regierungen<br />

zeigen sich stets bestürzt über die (jeweiligen)<br />

Risiken der Infektionskrankheiten.<br />

Jetzt werden, erst mal ganz schnell, Millionen<br />

von Impfpräparaten bestellt. Klar, Banken<br />

und Autoindustrie hatten schon ihre Unterstützung,<br />

aber es gibt noch mehr Not leidende<br />

Wirtschaftszweige- besonders die darbende<br />

Pharmaindustrie.<br />

Mittlerweile wollen die deutschen Länder<br />

die Hälfte der bestellten Impfdosen abbestellen<br />

oder zurück geben- wen juckt noch diese<br />

Grippe-Variante? Dumm ist, dass die Vorräte<br />

nicht ewig haltbar sind, eine preisvergünstigte<br />

Abgabe an Drittweltländer, käme angeblich<br />

zu teuer.<br />

Jetzt werden plötzlich dringend benötigte<br />

Impfseren für Kleinkinder knapp. Die lapidare<br />

Aussage des Pharmakonzerns Glaxo-<br />

SmithKline, einer der größten Hersteller<br />

des Schweinegrippen-Impfstoffs, lautet: „Bis<br />

Mitte des Jahres ist alles wieder im grünen<br />

Bereich“?<br />

Im Berliner Bundestag geben sich tagtäglich<br />

ca. 10.000 Lobbyisten die Klinke in die<br />

Hand. Es geht um sehr viel Geld: schliesslich<br />

haben sich die Abgabepreise für Grippe-<br />

Impfstoffe seit 1995 um mindestens 100%<br />

erhöht.<br />

Mit der Schwarz-Gelben Koalition läuft<br />

die Schmierage auf Hochtouren.<br />

Demnächst dürfte dann die nächste Epidemie<br />

reif sein, ZIEGENPEST, oder sowas.<br />

HJS


4 KONTROVERS<br />

Erst Arbeitspflicht, dann Arbeitslager?<br />

„Wir müssen jedem Hartz IV-Empfänger<br />

abverlangen, dass er als Gegenleistung für<br />

die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung<br />

nachgeht, auch niederwertiger Arbeit,<br />

im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung“,<br />

sagte Koch der „Wirtschaftswoche“.<br />

Da isser wieder, der eiserne, stets ehrliche<br />

Roland, der „ultrabrutalste Aufklärer“ und<br />

Nachtflugverbotskönig. Und nun köchelt er<br />

mal wieder heißen Brei zusammen.<br />

Hartz IV stelle eine „angenehme Variante“<br />

des Lebens in Arbeitslosigkeit da, sogar<br />

ein ganzes Leben lang. Er fügte hinzu:<br />

„Es könne kein funktionierendes Arbeitslosenhilfe-System<br />

geben, das nicht auch ein<br />

Element von Abschreckung enthält. Sonst<br />

ist das für die regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen mit den Unterstützungssätzen<br />

vergleichen, unerträglich. Entsprechender Druck sei deshalb notwendig.“<br />

In Vergessenheit geraten scheinbar die Hunderttausenden von „Aufstockern“, die zum<br />

größten Teil sozialversicherungspflichtige Jobs mit 40-Stunden Woche ausüben, davon aber<br />

nicht leben können. Die bekommen ihre Grundsicherung von den ARGEN „aufgestockt“.<br />

„Im Augenblick geben wir den Beteiligten das Signal, sich in Hartz IV mit einem kleinen<br />

Zusatzjob einzurichten. Denn wenn sie mehr eigene Anstrengungen unternehmen, ist das<br />

zu ihrem Nachteil“.<br />

Er versucht damit bewusst, vergessen zu machen, dass in all den Jahren versäumt wurde,<br />

Arbeitsplätze mit ausreichenden Mindest-Löhnen zu schaffen, statt prekärer Arbeitsverhältnisse.So<br />

wurde ein Niedrigstlohnsektor mit Dumpinggehältern ermöglicht. Auf diese Art wird<br />

den gemeinnützigen 1 Euro-Jobs die Grundlage völlig entzogen. Die Caritas wird sich schön<br />

bedanken, künftig, statt halbwegs Freiwilliger, zwangsverpflichtete Arbeitsunwillige einsetzen<br />

zu müssen!<br />

Er versucht weiterhin davon abzulenken, dass<br />

die Hartz IV Gesetze, an deren Verschlimmbesserung<br />

er maßgeblich im Vermittlungsausschuss<br />

mitgewirkt hat, zu Lasten von Erwerbslosen<br />

gehen. Millionen sind in Armut<br />

gestürzt und ca. 3 Millionen Kinder um ihre<br />

Zukunftsperspektiven gebracht worden.<br />

Nach heftiger Kritik, auch aus den eigenen<br />

Reihen, legte Koch nochmal nach. In<br />

einem Interview mit der „<strong>Welt</strong>“ forderte er:<br />

„Viele Jobcenter schrecken heute angesichts<br />

der zahlreichen Prozesse vor den Sozialgerichten<br />

vor Sanktionen zurück. Die Arbeitsverwaltung<br />

müsse daher verpflichtet werden,<br />

Sanktionen auch einzusetzen“.<br />

Damit soll schon einmal der Rechtsweg für Hartz IV-Empfänger ausgehebelt werden- eine<br />

klare Aufforderung zum Rechtsbruch! Die Jobcenter halten sich schon heute nicht an Sozialgerichtsurteile,<br />

die Gerichte fluchen, weil immer das Gleiche verhandelt werden muss.<br />

Vollkommen schwammig, wie gewohnt wenn es um Zusagen geht, erklärte Koch:<br />

„Man muss mehr zuverdienen können und davon weniger abgezogen bekommen als heute“.<br />

Klingt ja wirklich happy, steht aber im direkten Widerspruch zum Koch´schen Diktum,<br />

jeden noch so beschissenen Job, annehmen zu müssen. Wann soll man denn dazu verdienen?<br />

Ja, am Stammtisch kommt das bestimmt gut an. Unsere Elterngeneration hat ja auch schon<br />

den Reichsarbeitsdienst erlebt- als Nächstes kommt dann wohl: „ARBEIT MACHT FREI“,<br />

neudeutsch vielleicht „HIGH“.<br />

HJS (Photo NZZ)<br />

Kultur von unten<br />

Alle Hartz IV-Empfänger sind faule Nichtstuer, meint Roland Koch. Vermutlich bezieht er sein <strong>Welt</strong>bild aus Bildzeitung und den Talk-Shows der Sender für die geistig Unterentwickelten.<br />

Auch bei den Nichtbeschäftigten gibt es Kreativität und Kultur, wie diese Zeitung immer wieder unter Beweis stellt. Deshalb veröffentlichen wir gerne auch<br />

einen Aufruf für aktive Mitarbeit an einem kreativen Projekt. Die Initiative hat unseren Beifall, die Story kommentieren wir nicht.<br />

RS<br />

Wer in Hartz IV angelangt ist, weil seine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, der kann natürlich auch zu anderen Mitteln greifen, um seine Lage zu verbessern.<br />

Man könnte Ausbeuter wie Schlecker, Lidl und Co natürlich wie in früheren Zeiten mit einem Schild um den Hals an der nächsten Laterne aufknüpfen, die Büros und Filialen besetzen<br />

und die ganzen schönen Sachen in eigene Regie übernehmen.<br />

Man könnte... wenn sich denn die vielen, vielen Betroffenen zusammentäten und sich einig würden und die Kraft aufbringen würden...Aber so ist es leider nicht.<br />

Deshalb haben wir beschlossen, ersatzweise für die politische Handlung, die ja leider nicht stattfindet, einen Film zu drehen. Man kann die Story durchaus als Vorschlag verstehen, mal<br />

so etwas in Erwägung zu ziehen.<br />

Der Film ist aber selbstverständlich nur als geistige Anregung gedacht und durchaus nicht als Aufruf zu kriminellem Handeln! Wer kommt denn bloß auf solche Ideen!<br />

Also: zwei unbescholtene Mitbürger auf Hartz IV, ein 54jähriger IT-Mann und eine allein erziehende 35jährige, beschließen, weil sie nicht mehr weiter wissen, einen hochrangigen Banker<br />

zu entführen. Der Film spielt in Frankfurt/Main, da gibt es genügend zur Auswahl. Als sie ihn schließlich eingesperrt haben, fangen die Probleme und Verwicklungen erst so richtig<br />

an. Schließlich machen sie so etwas zum ersten Mal. Sie wollen die Regierung mit ihrer Erpressung dazu bringen, die Hartz IV Gesetze ganz erheblich zu verbessern und alle 1-Euro-<br />

JOBS in reguläre Arbeitsverhältnisse zu verwandeln. Und um der Sache Nachdruck zu verleihen, soll es im Falle von Uneinsichtigkeit seitens der Verantwortlichen in Berlin an Ultimo<br />

eine Live-Übertragung im Internet geben, wobei es dem armen Banker ziemlich schlecht ergehen wird. Er hat eben Pech gehabt. Wie so viele Hartz IV Leute auch. Nun gut, sie haben<br />

schließlich Erfolg mit ihrer Aktion und was das schönste ist: die beiden Entführer und ein arbeitsloser Mitstreiter der betagteren, aber cleveren Sorte bekommen am Schluss von „JOBS“<br />

Jobs und zwar richtig gut bezahlte!<br />

Wir haben bereits ein 84-seitiges Drehbuch in professioneller Form, leider aber nicht die 1,5 Millionen Euro, die normalerweise für einen Film dieses Formats veranschlagt werden.<br />

Deshalb haben wir beschlossen, den Film als No-Budget-Produktion zu drehen auf hochauflösendem Video. Das sieht auch sehr gut aus.<br />

Alle Szenen sind daraufhin abgeklopft worden, ob sie unter No-Budget Umständen zu realisieren sind.<br />

Der Film soll auf Festivals gezeigt werden und vielleicht sogar Geld einspielen, was dann nach einem Schlüssel unter den Beteiligten aufgeteilt wird.<br />

Wir brauchen viele Darsteller und Mitarbeiter für den Film und starten hiermit den Aufruf!<br />

Interessenten kontaktieren uns bitte unter:<br />

jotkraemer@yahoo.de oder<br />

0179-6900044 oder 069-33088492 (auch in Ffm bitte Vorwahl wählen!).<br />

„JOBS!“<br />

Darsteller und Mitarbeiter für einen Hartz IV-Triller gesucht!<br />

Wir freuen uns über Ihr Interesse!<br />

Johannes Krämer


SOZIALES<br />

Wer arm ist, muss mehr leiden<br />

5<br />

SNS Exklusiv - Verkäufer weltweit<br />

im Rampenlicht<br />

Ich bin seit September 2009 Verkäufer der<br />

Straßenzeitung Prosto neba (Ukraine). Ich<br />

bin seit 7 Jahren obdachlos, seitdem ich von<br />

meiner Frau geschieden bin und wir unsere<br />

Wohnung verkauft haben. Ich konnte mir<br />

keine Neue leisten.<br />

Ich habe in vielen Städten gelebt – Sumy,<br />

Kyiv. Ich habe sechs Monate lang in einem<br />

Kloster gelebt - Kyevo-Pecherska Lavra. Meine<br />

schönste Erinnerung an meine Zeit in<br />

Kyiv ist die Orangene Revolution, als gegen<br />

die Ergebnisse der ukrainischen Präsidentschaftswahl<br />

im Jahr 2004 protestiert wurde.<br />

Ich war mit dabei, von Anfang an. Zu dieser<br />

Zeit war ich Fotograf für ein paar Nachrichtenagenturen<br />

und habe viele Fotos gemacht.<br />

2007 zog ich zurück nach Lviv, aber ich habe<br />

dort keinen guten Job gefunden.<br />

Jetzt lebe ich in einer Notunterkunft und<br />

verkaufe jeden Tag die Zeitung im Stadtzentrum.<br />

Ich verkaufe die Straßenzeitung gerne.<br />

Das ist ein sehr guter Job, wenn man gerne<br />

mit anderen Leuten kommuniziert. Gleichzeitig<br />

bin ich nicht bloß Verkäufer – ich führe<br />

den Gedanken der Zeitung weiter, verbreite<br />

die Idee von Solidarität in meiner Community.<br />

Die Zeitung wird von einer NRO veröffentlicht,<br />

die verschiedene Hilfen für Obdachlose<br />

anbietet. Wenn ich auf der Straße<br />

stehe, spreche ich nicht nur mit den Käufern,<br />

sondern auch mit Obdachlosen, um ihnen<br />

zu sagen, wo sie Hilfe bekommen können.<br />

Manche Leute fragen mich, was ich verkaufe<br />

und gehen vorbei. Aber manche haben<br />

auch schon von der Zeitung gehört,<br />

halten an und kaufen sie. Ich bitte die Leute<br />

nie darum, die Zeitung zu kaufen, weil ich<br />

nicht möchte, dass sie Mitleid mit mir haben<br />

und nur deshalb die Zeitung kaufen.<br />

Sondern ich möchte, dass sie es tun, weil sie<br />

wirklich etwas über das Problem wissen wollen.<br />

Und ich bin sehr froh, dass viele Leute<br />

schon von der Zeitung gehört haben und<br />

einfach zu mir kommen, um sie zu kaufen.<br />

Ich brauche ihnen nicht einmal erklären, was<br />

ich mache. Sie sagen einfach: „Ja, wir wissen<br />

was das ist. Gute Arbeit!”. Ich bin auch froh,<br />

dass viele mich schon auf der Straße wiedererkennen,<br />

selbst wenn ich nicht die Zeitung<br />

bei mir habe oder keinen Anstecker trage.<br />

Ich wünsche mir, dass die Menschen um<br />

mich herum mehr über das Problem der Obdachlosigkeit<br />

wissen und dass die Behörden<br />

sich mehr damit beschäftigen.<br />

Bildmaterial: Street News<br />

Reform, Gegenreform, Neureform<br />

– Chaos hoch drei<br />

Keiner ist zufrieden. Versicherte stöhnen<br />

über die Kosten, Patienten beschweren sich<br />

über miese Behandlung und vorenthaltene<br />

Leistungen, Ärzte verbringen mehr Zeit mit<br />

Bürokratie als am Patienten, Krankenhäuser<br />

bangen um die Existenz und Pharmafabriken<br />

sind erst recht unzufrieden. Man ist sich nur<br />

in einem einig: Der Mist, den uns die unglaublich<br />

unbegabte Ulla Schmidt hinterlassen<br />

hat, muss schnellstens weg. Bloß wie? Die<br />

ersten Schritte von Schwarz/Gelb sind wenig<br />

überzeugend.<br />

Die Post war unerfreulich. Wer nicht gerade<br />

privat versichert ist, hat von seiner Krankenversicherung<br />

einen Brief bekommen: Je<br />

nach Höhe des Einkommens will man zwischen<br />

8 und 30 Euro. Auch vom Sozialhilfeoder<br />

Hartz IV-Empfängern. Natürlich wird<br />

schon heftig geklagt, aber zunächst muss gezahlt<br />

werden. Eine Leistungsverbesserung ist<br />

dagegen nicht in<br />

Sicht.<br />

Bundesminister<br />

Rösler hat<br />

ein schweres Erbe<br />

angetreten. Noch<br />

dazu bewegt er<br />

sich auf vermintem<br />

Terrain: Die Koalitionsvereinbarung<br />

kennt zwar das<br />

Gesundheitswesen,<br />

aber nur als Zukunftsbranche<br />

mit<br />

„bereits jetzt über 4<br />

Millionen Beschäftigten“.<br />

Das Wort<br />

Patient oder Leistungen<br />

für Kranke<br />

kommt dagegen<br />

nicht vor. Auch der<br />

Krankheitsfall ist<br />

nur ein Vorwand<br />

für industrielle<br />

Ausbeutung und<br />

beamtete Willkür.<br />

Die Fakten: Der Fortschritt der Medizin<br />

macht immer mehr Behandlungen für immer<br />

mehr Krankheiten möglich, was sehr oft<br />

mit immer höheren Kosten einhergeht. Zugleich<br />

wird die Bevölkerung immer älter und<br />

damit auch notwendigerweise kränklicher.<br />

Die arbeitende Bevölkerung nimmt dagegen<br />

ständig ab, schon aus demografischen Gründen<br />

und darüber hinaus, weil Arbeitsplätze<br />

fehlen und ältere Arbeitnehmer planmäßig<br />

ausgesondert werden. Das reißt eine finanzielle<br />

Lücke auf, die nicht zu schließen ist.<br />

Als die gesetzliche Krankenversicherung<br />

geschaffen wurde, starb kaum jemand an<br />

Alterskrebs oder musste wegen Demenz gepflegt<br />

werden. Damals wurden die Menschen<br />

einfach nicht alt genug: Wer mit 45 an Typhus<br />

oder TBC starb, kann nicht mit 60 Prostatakrebs<br />

entwickeln. Pflege war eine Angelegenheit<br />

der Familien und, wo das nicht<br />

möglich war, der Kirchen. Die Versicherungen<br />

hielten sich fein raus. Die Alterspyramide<br />

hielt man für in Ordnung, abgesehen<br />

von den grauenvollen Einbrüchen durch die<br />

Menschenopfer der zwei <strong>Welt</strong>kriege, die man<br />

durch natürliche Fruchtbarkeit und etwas<br />

Kindergeld auszubügeln hoffte. Diese Rechnung<br />

geht einfach nicht mehr auf.<br />

Hehre Worte, leere Taschen<br />

„“Wir wollen, dass auch in Zukunft alle<br />

Menschen in Deutschland unabhängig von<br />

Einkommen, Alter, sozialer Herkunft und<br />

gesundheitlichem Risiko weiterhin die notwendige<br />

medizinische Versorgung qualitativ<br />

hochwertig und wohnortnah erhalten und<br />

alle am medizinischen Fortschritt teilhaben<br />

können.“ So die Koalitionsvereinbarung in<br />

merklicher Verkennung der realen Umstände.<br />

Alle Fehlsichtigen müssen dank der unglaublichen<br />

Dummheit von Ulla Schmidt<br />

halbblind durch die Gegend stolpern, gesetzlich<br />

Versicherte müssen auf Behandlungstermine<br />

warten und von flächendeckend ähnlicher<br />

Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems<br />

kann nun wirklich keine Rede mehr<br />

sein. Statt dem aufsuchenden Hausarzt sollen<br />

es Gesundheitszentren richten, die aber für<br />

Alte und Gebrechliche schon körperlich und<br />

erst recht finanziell überhaupt nicht zugänglich<br />

sind.<br />

Klare Richtung,<br />

tapsende Schrittchen<br />

„Langfristig wird<br />

das bestehende<br />

Ausgleichsystem<br />

überführt<br />

in eine Ordnung<br />

mit mehr Beitragsautonomie,<br />

regionalen Differenzierungsmöglichkeiten<br />

und<br />

einkommensunabhängigen<br />

Arbeitnehmerbeiträgen,<br />

die sozial ausgeglichen<br />

werden“.<br />

So der Wortlaut.<br />

Dass ohne Ansicht<br />

des Einkommens<br />

abkassiert wird,<br />

haben wir schon<br />

erlebt. Der soziale<br />

Ausgleich lässt auf<br />

sich warten und<br />

wird wohl auch<br />

nie erfolgen. Der<br />

Arbeitgeberanteil<br />

soll fest bleiben,<br />

der Bevölkerung nimmt man die höheren<br />

Kosten ab, wobei es die unteren Einkommensgruppen<br />

natürlich am härtesten trifft.<br />

Statt Beitrag nach Leistungsfähigkeit eine<br />

maskierte Kopfpauschale; über die soziale<br />

Ungerechtigkeit ist man sich sehr wohl im<br />

Klaren, über die notwendigen sozialen Gegenmaßnahmen<br />

dagegen nicht mal ansatzweise.<br />

Der Wettbewerb soll den Ausgleich<br />

bringen, was in Grenzen sogar möglich<br />

wäre – gäbe es da nicht Ulla Schmidts Gesundheitsfonds,<br />

der den Wettbewerb wieder<br />

aufhebt. (Und bei der CDU recht beliebt<br />

ist). Aus dies hat jeder schon mitbekommen,<br />

denn die Postkästen waren voll damit: Briefe<br />

von Kassen, die Zusatzbeitrag einfordern,<br />

meist unter Hinweis auf gutes eigenes Wirtschaften<br />

und die Notwendigkeit, andere Kassen<br />

subventionieren zu müssen, und von anderen<br />

Kassen, die stolz darauf verweisen, dass<br />

sie den Zusatzbeitrag nicht erheben werden<br />

– weil sie die Tarife bereits vorher angehoben<br />

hatten oder bei nächster Gelegenheit doppelt<br />

anheben werden.<br />

Der Gegensatz ist eine Herausforderung<br />

für die Gesetzgebung: Offener Wettbewerb<br />

führt dazu, dass sich die Krankenkassen per<br />

Sonderangebot die lohnendsten Kunden<br />

herauspicken und versuchen, die anderen<br />

loszuwerden. Das steht im klaren Gegensatz<br />

zum angestrebten Ziel der umfassenden gesundheitlichen<br />

Absicherung für jeden. Ein<br />

Gesundheitsfonds negiert die Bemühungen<br />

um Vorteile im Wettbewerb und stülpt dem<br />

Versicherungswesen einen kostspieligen und<br />

aufwendigen Verwaltungsapparat über, dessen<br />

Versagen schon vor der Arbeitsaufnahme<br />

sicher ist.<br />

Unzufriedene Ärzte,<br />

unklare Aussagen<br />

„Nach kritischer Überprüfung wird die<br />

Honorarreform … zusammen mit den Beteiligten<br />

den erforderlichen Kurskorrekturen<br />

unterzogen..... Und: Wir wollen die Zahlung<br />

der Praxisgebühr in ein unbürokratisches<br />

Erhebungsverfahren überführen.“ Vielen<br />

Ärzten krampft sich bei diesen Aussagen<br />

der Magen zusammen. Man erwartet das<br />

Schlimmste und wird wohl auch nicht enttäuscht<br />

werden. Auf alle Fälle sammeln die<br />

Ärzteverbände - Niedergelassene ebenso wie<br />

die der Klinikärzte – schon mal ihre Bleisoldaten<br />

und bringen sie in Stellung. Es wird<br />

gestritten werden, und zwar heftig. Auch<br />

über die flächendeckende Versorgung, nach<br />

Koalitionsvereinbarung zunächst allerdings<br />

nur durch Anreize für die Niederlassung in<br />

Gebieten, wo es keine oder wenige Ärzte<br />

gibt. Das gab es bisher auch schon: Manche<br />

Gemeinde hat mit Geldscheinen nach dem<br />

Nachfolger für den örtlichen, aber überalterten<br />

Medizinmann gewunken, meist allerdings<br />

ohne Erfolg. Ob sich das ändert,<br />

bleibt abzuwarten. Dazu spielt vieles eine<br />

Rolle, von der Betreuung des medizinischen<br />

Nachwuchses in Richtung Allgemeinmedizin<br />

bis zur Kreditvergabe seitens der Banken bei<br />

der Existenzgründung der Ärzte. Auch die<br />

Krankenhäuser sollen gestärkt und die Arbeit<br />

dort, einschließlich des Belegarztsystems, gestärkt<br />

werden. Irgendwelche konkrete Aussagen,<br />

wie das Bitteschön aussehen soll: Fehlanzeige.<br />

Wir wissen es noch nicht.<br />

Haariges und<br />

Unverständliches<br />

„Die Patientenrechte wollen wir in einem<br />

eigenen Patientenschutzgesetz bündeln, das<br />

wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten<br />

am Gesundheitswesen erarbeiten werden.“<br />

Noch ein Gesetz, was regelt, was bereits geregelt<br />

ist. Braucht man das? Ist das die Arbeit<br />

wert?<br />

„Datensicherheit und informationelle<br />

Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten<br />

sowie der Versicherten haben für uns<br />

auch bei der Einführung einer elektronischen<br />

Gesundheitskarte höchste Priorität“. Sehr<br />

schön: Das ist ein feierliches Versprechen,<br />

sich an bestehende Gesetze zu halten und als<br />

solches eine Unverschämtheit dem Bürger<br />

gegenüber.<br />

Und schließlich die Pflegeversicherung:<br />

„Neben dem bestehenden Umlageverfahren<br />

(brauchen) wir eine Ergänzung durch Kapitaldeckung,<br />

die verpflichtend, individualisiert<br />

und generationsgerecht ausgestaltet<br />

sein muss…. Alle Bemühungen um eine<br />

finanzielle Absicherung des Pflegerisikos im<br />

Rahmen der Pflegeversicherung entbinden<br />

den Einzelnen aber nicht davon, seine Eigenverantwortung<br />

und Eigeninitiative zur Absicherung<br />

des Pflegerisikos und zur Gestaltung<br />

der Pflege wahrzunehmen.“ Das heißt im<br />

Klartext: Bürger, du wirst eine aufgeblähte<br />

Bürokratie bezahlen müssen, die wenig oder<br />

keine Leistungen erbringt. Willst du im Alter<br />

gepflegt werden, spar schon mal viel Geld<br />

oder kauf dir eine Pistole. Irgendwann wird<br />

es die auch mal auf Krankenschein geben –<br />

zwecks Verwaltungsvereinfachung aber nur<br />

mit Chipkarte.<br />

RS


6 SOZIALES<br />

Aushungern und Fordern<br />

Reinhard Jellen im Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz über die rechtswidrige Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1<br />

Seit 2005 hat sich in Deutschland die Armut (1), die Kinderarmut (2) und die Anzahl der Tafeln (3) verdoppelt. Der Niedriglohnsektor hat sich innerhalb der<br />

letzten zwanzig Jahre gleichfalls dupliziert. Während Einkommen aus Gewinnen und Vermögen um 36 Prozent (4) zugenommen haben, bleibt die Lohnquote<br />

(5) mit 66,2 Prozent auf einem historischen Tiefstand: Neun Prozentpunkte unter dem Spitzenniveau von 1974.<br />

Ökonomische Entmachtung<br />

und gravierende Entrechtung<br />

Maßgeblicher Türöffner für diese Entwicklung<br />

sind die unter dem Begriff Hartz<br />

IV subsummierten Reformen des Arbeitsmarkts<br />

aus dem Jahr 2005. Mit der Abschaffung<br />

der Arbeitslosenhilfe und der Einführung<br />

einer Grundsicherung unterhalb des<br />

ehemaligen Sozialhilfeniveaus, indem staatliche<br />

Einmalleistungen der Sozialämter durch<br />

unzureichende Pauschalen (PDF) (6) ersetzt<br />

wurden und der (teilweisen) Verringerung<br />

des Schonvermögens (7) wurde bei Langzeitarbeitslosen<br />

eine verheerende Armutsspirale<br />

in Gang gesetzt. Doch damit hören die Zumutungen<br />

für Bezieher des Arbeitslosengelds<br />

II nicht auf, denn mit der ökonomischen<br />

Entmachtung geht eine gravierende Entrechtung<br />

einher. De facto nähert man sich durch<br />

die exponentielle Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien<br />

für Arbeit (8) hart der Grenze<br />

zur Zwangsarbeit. Die Alg-II-Bezieher bewegen<br />

sich nicht mehr als Rechtssubjekte,<br />

als Staatsbürger in der Gesellschaft, sondern<br />

werden zu reinen Pflichterfüllern degradiert.<br />

Sie sind auf den Status von Metöken und Heloten<br />

herabgesunken und werden - von Politikern<br />

wie Wolfgang Clement als „Parasiten“<br />

(9) beschimpft - für die öffentliche Hetzjagd<br />

freigegeben.<br />

Großzahl der Sanktionen widerrechtlich<br />

Zusätzlich zu dieser allgemeinen Machtlosigkeit<br />

und Erniedrigung sind Langzeitarbeitslose<br />

noch der Willkür der Behörden<br />

ausgesetzt. Denn die JobCenter und AR-<br />

GEN haben das Recht, die Zahlungen an<br />

Hartz-IV-Empfänger bis zum Wegfall der<br />

Leistung einzuschränken, falls diese ihren<br />

Anweisungen nicht Folge leisten. Letzteres<br />

ist für die Arbeitslosen durchaus schwieriger,<br />

als sich das anhört: Schließlich sind die<br />

Alg-II-Regelungen in etwa so kompliziert,<br />

wie das deutsche Steuerrecht, allerdings mit<br />

dem feinen Unterschied, dass Wohlbetuchte<br />

mit Hilfe juristischer Spezialisten Ausnahmeregelungen<br />

und Steuerschlupflöcher für<br />

sich ausfindig und zu ihrem Vorteil nutzen<br />

können, während man den Alg II-Bezieher in<br />

einem Dschungel voller Fußangel-Paragrafen<br />

und unklarer Regelungen, die sich mitunter<br />

gegenseitig widersprechen, alleine stehen<br />

lässt. Sanktionen sind nicht nur, aber auch<br />

ein Mittel, um den Sparvorgaben der Bundesagentur<br />

für Arbeit nachzukommen.<br />

Eine Großzahl davon ist rechtswidrig, wie<br />

die Anzahl der gewonnen Prozesse gegen die<br />

Maßnahmen beweist. Diese Anordnungen<br />

sind keine Bagatellmaßregeln, sondern gehen<br />

an die Existenz: In der Broschüre „Wer nicht<br />

spurt, kriegt kein Geld - Sanktionen gegen<br />

Hartz-IV-Beziehende - Erfahrungen, Analysen,<br />

Schlussfolgerungen“, welche von der<br />

Berliner Kampagne gegen Hartz IV herausgegeben<br />

wurde, ist zum Beispiel von einem<br />

Fall zu lesen, in dem ein Diabetiker sich aufgrund<br />

der Sanktionen kein Insulin und auch<br />

kein Essen mehr leisten konnte. Auch sind<br />

die Umstände der darin beschriebenen Sanktionen<br />

oftmals grotesk: Ein Epileptiker sollte<br />

auf einem Baugerüst arbeiten, eine Hartz IV-<br />

Bezieherin wurde vom Job-Center dazu angehalten,<br />

die „Nebentätigkeit“ Prostitution<br />

(12) gegen ihren Willen fortzusetzen.<br />

Über die drakonischen Strafen, die das Gesetz<br />

vorschreibt, und die zum Teil lebensgefährliche<br />

Sanktionierungspraxis von JobCentern<br />

und ARGEN sprach Telepolis mit Claudia<br />

Daseking und Solveig Koitz, welche die<br />

Broschüre mitverfasst haben und Mitinitiatorinnen<br />

des „Bündnis für ein Sanktionsmoratorium“<br />

(PDF) (13) sind, einer erstaunlich<br />

breiten Plattform namhafter Vertreter aus Politik,<br />

Erwerbsloseninitiativen, Wissenschaft<br />

und Kirche. Solveig Koitz arbeitet seit Jahren<br />

als Sozialberaterin für Hartz-IV-Beziehende.<br />

„Sanktionen kürzen die Leistungen bis<br />

unter das Existenzminimum“<br />

Die Sanktionsfälle gegen Hartz-IV-Bezieher<br />

in Ihrer Broschüre lesen sich geradezu kafkaesk.<br />

Haben Sie besonders krasse Beispiele<br />

ausgesucht?<br />

Claudia Daseking: Nein, die Fälle sind<br />

ein Querschnitt des alltäglichen Hartz-IV-<br />

Wahnsinns, auch wenn die meisten Fälle<br />

nicht derart grotesk sind wie die von ihnen<br />

genannten Beispiele. Wenn Sie sich im Internet<br />

die Unterzeichnerliste unseres Aufrufs<br />

für ein Sanktionsmoratorium (14) , also ein<br />

Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen, angukken,<br />

können Sie sehen, wie viele Leute aus<br />

sozialen Berufen den Aufruf unterschrieben<br />

haben, wie viele Leute aus caritativen Einrichtungen,<br />

Sozialberatungen, Schuldnerberatungen,<br />

Leute, die täglichen Umgang mit<br />

dem Leid haben. Dann sehen Sie, dass wir<br />

ganz dicht dran sind an der Wirklichkeit.<br />

2008 gab es 780.000 Sanktionen<br />

Was ist denn so schlimm an den Sanktionen?<br />

Solveig Koitz: Sanktionen kürzen die Leistungen<br />

bis unter das Existenzminimum.<br />

Um Missverständnissen vorzubeugen: Sanktionen<br />

betreffen nicht Fälle von Leistungsmissbrauch,<br />

sondern es geht um Menschen,<br />

die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen<br />

angewiesen sind und denen man irgendein<br />

Fehlverhalten vorwirft. Bei vielen Langzeitarbeitslosen,<br />

die über keinerlei Ressourcen verfügen<br />

und zum Beispiel kein Schonvermögen<br />

haben, führen diese Geldkürzungen sofort in<br />

blanke Not, in staatlich verordnete Not - wie<br />

man sie sich für Deutschland, einem Land<br />

mit Sozialstaat nicht vorstellen kann, wenn<br />

man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.<br />

Im vergangenen Jahr wurden mehr als<br />

780.000 Sanktionen verhängt. Es mag wenig<br />

klingen, dass „nur“ etwa drei Prozent<br />

der Alg-II-Beziehenden sanktioniert werden<br />

- wie es immer wieder verharmlosend und<br />

beschwichtigend angeführt wird, so auch<br />

vom Vorstandsmitglied der Bundesagentur<br />

für Arbeit, Heinrich Alt. Man muss sich aber<br />

vergegenwärtigen, wie viele Menschen dies<br />

massiv trifft. So mussten im Jahr 2008 knapp<br />

100.000 junge Erwachsene - die Altersgruppe<br />

der unter 25jährigen wird besonders hart<br />

sanktioniert - einen Teil des Jahres völlig<br />

ohne Geldmittel auskommen, in der Regel<br />

drei Monate lang, und haben von den Job-<br />

Centern, wenn überhaupt, nur Lebensmittelgutscheine<br />

erhalten.<br />

Ein zweiter Punkt ist die Hilflosigkeit,<br />

wenn man dem Sanktionsapparat ausgeliefert<br />

ist. Das ist entwürdigend. Die vielen erfolgreichen<br />

Klagen und Widersprüche dürfen<br />

nicht darüber hinwegtäuschen, dass weniger<br />

als zehn Prozent der Bestraften von diesen<br />

Rechtsmitteln Gebrauch machen. Über die<br />

meisten Menschen brechen die Sanktionen<br />

wie eine Katastrophe herein, und die Kraft<br />

geht dafür drauf, die Grundversorgung und<br />

drum herum den Alltag neu zu organisieren<br />

und die Sanktion psychisch zu verkraften.<br />

Für den Rechtsweg braucht man Energie<br />

und Zeit, außerdem Wissen oder zumindest<br />

Kontakte.<br />

Druck auf die regulär Beschäftigten<br />

Claudia Daseking: Und drittens wirken<br />

die Sanktionen nicht nur auf die Sanktionierten.<br />

Alle, die in die Nähe des Hartz-IV-<br />

Regimes kommen, stehen unter dem Druck,<br />

ganz schnell irgendeine Arbeit anzunehmen,<br />

egal um welchen Preis. So werden Menschen<br />

für den Niedriglohnsektor „zugerichtet“.<br />

Und diese Bedrohung spüren auch die noch<br />

Erwerbstätigen und sind zu vielerlei Zugeständnissen<br />

bereit. Statt „Arbeit muss sich<br />

wieder lohnen“ ist das Motto von Hartz IV<br />

eigentlich: „Arbeitslosigkeit muss weh tun“.<br />

Als Gerhard Schröder den Wirtschaftsgrößen<br />

in Davos 2005 verkündete, Deutschland<br />

habe einen der besten Niedriglohnsektoren<br />

aufgebaut, den es in Europa gibt, hat er dies<br />

als Erfolg des Umbaus des Sozialstaates, als<br />

unmittelbaren Erfolg von Hartz IV proklamiert<br />

(15).<br />

„Fast jede Arbeit zumutbar“<br />

Können Sie uns kurz schildern, in welchen<br />

Fällen Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende<br />

verhängt werden?<br />

Solveig Koitz: Die landläufige Meinung<br />

ist ja, sanktioniert würden die „Drückeberger“,<br />

also die, die sich weigern würden, Arbeit<br />

anzunehmen. Es ist tatsächlich einer der<br />

Gründe für Sanktionen, wenn sogenannte<br />

„zumutbare“ Arbeit abgelehnt, vereitelt oder<br />

abgebrochen wird. Ein Blick in die Sanktionsstatistik<br />

zeigt aber, dass dies ein eher seltener<br />

Sanktionsgrund ist, der nur etwa zehn<br />

Prozent der Fälle ausmacht. Dazu muss man<br />

auch wissen, dass schon ein Verhalten im<br />

Bewerbungsverfahren, das einem Arbeitgeber<br />

aus irgend einem Grund nicht gefällt, zu<br />

einer Sanktion führen kann. Hinzu kommt,<br />

dass fast jede Arbeit als zumutbar gilt, egal<br />

woher man beruflich kommt und wo man<br />

hin will, und fast egal, wie niedrig der Lohn<br />

ist, nur Lohnwucher darf es nicht sein. Aber<br />

nicht einmal daran halten sich die JobCenter<br />

und es werden Sanktionen verhängt, wenn<br />

sich Erwerbslose weigern, für Wucherlohn<br />

zu arbeiten. Wenn solche Sanktionen vor<br />

Gericht landen, werden sie aufgehoben, zum<br />

Beispiel in einem Fall, wo eine Frau Arbeit<br />

bei einem Textildiscounter für 4,50 € Stundenlohn<br />

nicht antreten wollte.<br />

Arbeitsverweigerung ist also ein seltener<br />

Sanktionsgrund. Wofür werden die meisten<br />

Sanktionen verhängt?<br />

Solveig Koitz: Über die Hälfte der Sanktionen<br />

betrifft Meldeversäumnisse, also wenn<br />

jemand zu einem Termin beim JobCenter<br />

nicht erscheint oder zu spät kommt. Der<br />

zweithäufigste Sanktionsgrund sind Verstöße<br />

gegen die sogenannte Eingliederungsvereinbarung,<br />

das waren 2008 etwa 17 Prozent der<br />

Sanktionen, zum Beispiel wenn zu wenig Bewerbungen<br />

vorgelegt wurden. Nur ein, zwei<br />

Bewerbungen weniger als in der Eingliederungsvereinbarung<br />

festgelegt, also zum Beispiel<br />

achtzehn Bewerbungen im Monat statt<br />

20, und eine Sanktion wird fällig.<br />

„Zwangsvertrag“<br />

Eine Zwischenfrage: Eine Eingliederungsvereinbarung,<br />

was ist das? Und zwanzig Bewerbungen<br />

im Monat, ist das realistisch? Bewerbungen<br />

müssen doch zielgerichtet sein, wenn<br />

man damit Erfolg haben will ...<br />

Solveig Koitz: Da sprechen Sie mehrere<br />

wunde Punkte an. Bewerbungen sind nicht<br />

billig und die Kosten dafür nicht im Regelsatz<br />

enthalten. Die JobCenter übernehmen<br />

aber Bewerbungskosten nur in bescheidener<br />

Höhe. Und wie viele Alg-II-Beziehende wagen<br />

es angesichts angedrohter Sanktionen,<br />

auf der Kostenübernahme der angeordneten<br />

Bewerbungen zu bestehen und im Ablehnungsfall<br />

weniger Bewerbungen zu schreiben?<br />

Die JobCenter dürfen eigentlich keine<br />

Bewerbungen verlangen, deren Kosten sie<br />

nicht erstatten. In der Praxis geschieht das<br />

aber.<br />

Was die Eingliederungsvereinbarungen<br />

betrifft: Diese müssen die JobCenter<br />

mit allen Alg-II-Beziehenden abschließen.<br />

Darin sollen, vereinfacht gesagt, für beide<br />

Seiten ihre im Gesetz allgemein angelegten<br />

Pflichten konkretisiert werden. Dabei<br />

ist schon das Wort „Vereinbarung“ irreführend,<br />

„Zwangsvertrag“ wäre hierfür eine<br />

passendere Bezeichnung, denn die Unterzeichnung<br />

steht der einen Seite nicht frei,<br />

die Unterschriftsverweigerung ist laut Gesetz<br />

ihrerseits ein Sanktionsgrund. Dabei wissen<br />

alle, die nur ein Fünkchen von Sozialarbeit<br />

verstehen, dass in diesem Bereich die unbedingte<br />

Freiwilligkeit der Kooperation eine<br />

essentielle Voraussetzung dafür ist, dass die<br />

Zusammenarbeit zwischen Betreuenden und<br />

Klienten gelingt, und dass die vereinbarten<br />

Ziele bestmöglich erreicht werden. Was diese<br />

Eingliederungs“vereinbarung“ laut Gesetz<br />

enthalten und wie sie zustande kommen soll,<br />

und wie das demgegenüber in den JobCentern<br />

gehandhabt wird, das sind weitere Probleme.<br />

„Überfordernde Pflichten“<br />

Claudia Daseking: Ja, zum Beispiel ist es<br />

der Normalfall, dass einem der fertige Entwurf<br />

zur sofortigen Unterschrift vorgelegt<br />

wird, ohne vorherige Besprechung, was darin<br />

aufgenommen werden sollte. Unter Umständen<br />

steht da viel Unverständliches drin, zum<br />

Beispiel lange Gesetzeszitate. Bei einem der<br />

in unserer Broschüre Porträtierten war es so,<br />

dass er überhaupt nicht verstanden hat, was<br />

er da unterschrieben hat - erklärt hat es ihm<br />

im JobCenter niemand, obwohl er krankheitsbedingte<br />

Auffassungsschwierigkeiten<br />

hat, von denen das JobCenter wusste.<br />

Zum Widersinn von Eingliederungsvereinbarungen,<br />

die überfordernde Pflichten<br />

enthalten und so zwangsläufig zu Sanktionen<br />

führen, nannte die Mitarbeiterin einer Sozialberatungsstelle,<br />

die wir im Rahmen unserer<br />

Erhebung befragt hatten, ein Beispiel aus ihrem<br />

Erfahrungsbereich: „Wenn einem 20jährigen<br />

Obdachlosen, dessen Leben chaotisch<br />

und instabil ist und der psychisch nicht belastbar<br />

ist, zehn Bewerbungen im Monat abverlangt<br />

werden, muss man sich nicht wun-


SOZIALES<br />

7<br />

dern, dass der scheitert.“<br />

Verstoß gegen Dienstanweisung<br />

Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium,<br />

in dem Sie mitwirken, hat soeben einen<br />

offenen Brief (PDF) (16) an den Vorstand<br />

der Bundesagentur für Arbeit geschrieben,<br />

weil durch die JobCenter entgegen einer<br />

BA-Anweisung weiterhin Sanktionen verhängt<br />

werden, wenn Alg-II-Beziehende ihre<br />

Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung<br />

verweigern. Sie fordern Aufklärung<br />

darüber, wie es dazu kommen konnte<br />

und sofortige Abhilfe. Können Sie mehr zum<br />

Hintergrund sagen?<br />

Solveig Koitz: Seit Dezember 2008 gibt<br />

es die Dienstanweisung der Bundesagentur<br />

für Arbeit , dass die Unterschriftsverweigerung<br />

unter die Eingliederungsvereinbarung,<br />

die laut Gesetz ein Sanktionsgrund ist, nicht<br />

mehr sanktioniert werden soll. Denn die<br />

Bundesregierung hat nach entsprechenden<br />

Gerichtsurteilen in der Begründung zu einer<br />

geplanten Gesetzesänderung eingeräumt,<br />

dass bei der jetzigen Gesetzesregelung gegen<br />

die Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, die<br />

ein Verfassungsgrundsatz ist. Im Vorgriff auf<br />

diese geplante Gesetzesänderung, die übrigens<br />

immer noch nicht erfolgt ist, hat dann<br />

die BA diese Dienstanweisung herausgegeben.<br />

Trotzdem werden in den JobCentern in<br />

nahezu unveränderter Höhe Sanktionen verhängt,<br />

wenn jemand die Unterschrift unter<br />

eine Eingliederungsvereinbarung verweigert<br />

hat, wie in den aktuellen Sanktionsstatistiken<br />

der BA zu sehen ist. Auch dieses Beispiel<br />

zeigt, wie notwendig ein Sanktionsmoratorium<br />

ist, um dem Handeln der JobCenter Einhalt<br />

zu gebieten.<br />

Gibt es denn noch weitere Sanktionsgründe?<br />

Solveig Koitz: Der dritthäufigste Sanktionsgrund<br />

- im Jahr 2008 waren es 11 Prozent<br />

der Fälle - ist die Weigerung, Eingliederungsmaßnahmen<br />

wie Ein-Euro-“Jobs“,<br />

Bewerbungstrainings und unbezahlte Praktika<br />

anzutreten oder fortzuführen. Im Gesetz<br />

sind weitere Sanktionsgründe festgelegt<br />

- die Pflichten von Hartz-IV-Beziehenden erschöpfen<br />

sich ja nicht im bisher Genannten.<br />

In der Sanktionspraxis kommen diese Fälle,<br />

wie zum Beispiel die Fortsetzung unwirtschaftlichen<br />

Verhaltens, nur selten vor. - Die<br />

Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit<br />

sagt aber nichts darüber aus, ob die Sanktionierten<br />

tatsächlich die genannten Pflichtverletzungen<br />

begangen haben oder ob ihnen<br />

ein Fehlverhalten nur unterstellt wurde. Auf<br />

den hohen Anteil rechtswidriger Sanktionen<br />

wollen wir noch zu sprechen kommen.<br />

„Bescheinigung für Bettlägerigkeit<br />

gefordert“<br />

Sie sagten, die meisten Sanktionen werden<br />

wegen Meldeversäumnissen verhängt. Aber<br />

kann man nicht erwarten, dass jemand, der<br />

staatliche Leistungen bekommt, zu den Terminen<br />

bei der Behörde erscheint, und zwar<br />

pünktlich?<br />

Solveig Koitz: Dass man irgendwo zu spät<br />

kommt, sollte natürlich nicht vorkommen,<br />

ist aber den meisten von uns schon mal passiert.<br />

Wenn man krank ist und deshalb nicht<br />

zu einem Termin ins JobCenter gehen kann,<br />

hat man zwar die Möglichkeit, einen Krankenschein<br />

zu schicken, aber es dauert mehrere<br />

Tage, bis die Post innerhalb des JobCenters<br />

auf dem richtigen Schreibtisch landet - in<br />

Berlin sind es durchschnittliche sechs Tage,<br />

wie uns ein JobCenter-Mitarbeiter verriet.<br />

Bis dahin kann schon das Sanktionsverfahren<br />

eingeleitet worden sein und muss dann mühsam<br />

wieder gestoppt werden. Dazu kommt,<br />

dass immer wieder JobCenter normale Krankenscheine<br />

nicht als Entschuldigung gelten<br />

lassen wollen, sondern Bescheinigungen für<br />

Bettlägerigkeit verlangt haben, die Ärzte normalerweise<br />

nicht ausstellen. Dieses Vorgehen<br />

hat die Bundesagentur für Arbeit inzwischen<br />

in einer Dienstanweisung als unzulässig gewertet.<br />

Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer<br />

bisherigen Erfahrungen mit dem JobCenter<br />

oder mit Behörden derart Angst davor<br />

haben, was im JobCenter mit ihnen gemacht<br />

wird, dass sie trotz der Sanktionsdrohung<br />

nicht zu einem Termin gehen. Und dann gibt<br />

es diejenigen, die wegen ernster psychischer<br />

Probleme oder einer Suchterkrankung nicht<br />

einmal ihren Alltag bewältigen können und<br />

ihre gesamte Post nicht zur Kenntnis nehmen.<br />

Das Klischee, dass Leute einfach zu faul<br />

sind, um morgens aufzustehen und ins Job-<br />

Center zu gehen, mag vereinzelt zutreffen,<br />

aber in vielen Fällen dürfte es an der Realität<br />

vorbeigehen.<br />

„Schwerwiegende Versorgungslücken“<br />

Claudia Daseking: Natürlich gibt es auch<br />

unter Erwerbslosen Leute, die „total verpeilt“<br />

sind, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen<br />

und die nicht mit Behörden umgehen<br />

wollen oder können, aus welchen Gründen<br />

auch immer. Aber kann es ein geeigneter<br />

Umgang damit sein, dass diesen Menschen<br />

das Existenzminimum gekürzt wird? Wir finden:<br />

nein. So ein Vorgehen mutet, gelinde<br />

gesagt, an wie der Versuch hilfloser Eltern,<br />

ihr unartiges Kind zur Einsicht zu bewegen,<br />

indem das Spielzeug weggenommen und<br />

das Kind ohne Abendbrot ins Bett geschickt<br />

wird.<br />

Nun ist das Leben als Hartz IV-Bezieher ohnehin<br />

kein Zuckerschlecken. Da muss es doch<br />

dramatisch sein, wenn das Geld noch weiter<br />

gekürzt wird...<br />

Claudia Daseking: So ist es. Das Arbeitslosengeld<br />

II soll das Existenzminimum abdecken<br />

und es ist zweifelhaft, ob das überhaupt<br />

gewährleistet ist. Es liegt auf der Hand,<br />

dass schwerwiegende Versorgungslücken entstehen,<br />

wenn an diesem Existenzminimum<br />

auch noch gekürzt wird. Diejenigen unter<br />

den Sanktionierten, denen vielleicht noch<br />

das physische Existenzminimum verbleibt,<br />

werden völlig vom gesellschaftlichen Leben<br />

abgeschnitten - oder auch sie hungern, um<br />

nicht darauf zu verzichten. Menschliche Existenz<br />

ist doch mehr als das nackte Überleben.<br />

Wenn ein Familienmitglied sanktioniert<br />

wird, sind alle im Haushalt davon betroffen,<br />

schließlich werden im Kühlschrank keine<br />

Trennfächer eingezogen. Wenn der Regelsatz<br />

eines Familienmitglieds komplett gestrichen<br />

wird oder sogar dessen Wohnkosten nicht<br />

übernommen werden, ist das besonders gravierend.<br />

Dann müssen zum Beispiel Eltern<br />

von den Regelsätzen ihrer Kinder leben.<br />

Wenn Mietschulden entstehen, trifft dies<br />

ebenso die nicht sanktionierten Familienmitglieder.<br />

Das ist Sippenhaft.<br />

Komplette Streichung der Leistungen<br />

Wie hoch fallen denn die Kürzungen des<br />

Hartz-IV-Geldes aus?<br />

Solveig Koitz: Das reicht von zehn Prozent<br />

des Regelsatzes für das erste Mal, wenn man<br />

einen Termin im JobCenter verpasst, über 30<br />

Prozent des Regelsatzes, wenn einem das erste<br />

Mal ein anderer Pflichtverstoß zur Last gelegt<br />

wird - vorausgesetzt, man ist mindestens 25<br />

Jahre alt, den unter 25jährigen wird schon<br />

beim ersten derartigen Pflichtverstoß 100<br />

Prozent vom Regelsatzes gekürzt. Bei wiederholten<br />

Pflichtverletzungen geht das ruckzuck<br />

bis zur vollständigen Streichung des gesamten<br />

Alg II, also von Regelsatz, Wohnkosten<br />

und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Kürzungen<br />

erfolgen jeweils für drei Monate.<br />

In der nächsten Ausgabe SOZIALE WELT:<br />

„Materielle Not bis hin zur Todesangst“<br />

LINKS<br />

(1) http://www.bpb.de/<br />

wissen/8SE20H,0,0,Ausgew%E4hlte_<br />

Armutsgef%E4hrdungsquoten.html<br />

(2) http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Kinderreport_2007<br />

(3) http://www.heise.de/tp/r4/artikel<br />

/30/30562/1.html<br />

(4) http://www.innovations-report.de/<br />

html/berichte/wirtschaft_fi nanzen/<br />

gewinnquote_volkseinkommen_<br />

historischem_hoechststand_<br />

123319.html<br />

(5) http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Lohnquote<br />

(6) http://www.der-paritaetische.<br />

de/uploads/tx_pdforder/regelsatzneuberechnung-2006_05.pdf<br />

(7) http://www.sozialhilfe24.de/<br />

soziale-themen/faq_67_<br />

vermoegensfreibetraege.html<br />

(8) http://www.sueddeutsche.de/<br />

politik/14/451723/text/<br />

(9) http://www.freitag.<br />

de/2005/43/05430702.php<br />

(10) http://www.amrande.<br />

de/pdfs/broschuere_zu_<br />

sanktionen_2008_11_24.pdf<br />

(11) http://www.hartzkampagne.de<br />

(12) http://www.sexworker.at/phpBB2/<br />

viewtopic.php?p=52027<br />

(13) http://www.sanktionsmoratorium.<br />

de/pdfs/aufruf_lang_fuer_stand.pdf<br />

(14) http://www.sanktionsmoratorium.<br />

de/<br />

(15) http://www.peter-stollenwerk.de/<br />

Rede_Davos.pdf<br />

(16)<br />

http://www.sanktionsmoratorium.de/<br />

pdfs/2_pm_ba_da_zu_sanktionen_<br />

wg_ev_verweig_2009_09_18.pdf<br />

(17) http://www.heise.de/tp/r4/<br />

artikel/31/31163/1.html<br />

Copyright © Heise Zeitschriften Verlag<br />

Für die freundliche Nachdruckgenehmigung<br />

bedanken wir uns bei Hn.<br />

Jellen, sowie dem Heise Zeitschriften<br />

Verlag / Hannover. Das Interview wurde<br />

erstmals in TELEPOLIS 9/2009 veröffentlicht.<br />

(Redaktion SOZIALE WELT)<br />

Neuer Anspruch Frankfurts: „Eine Integrationspolitik, die sich an alle richtet“<br />

– und, was dies für die Realität bedeutet<br />

In den letzten beiden Jahren ist mit der „Frankfurter Integrationsstudie“ 2008 und dem „Entwurf<br />

des Integrations- und Diversitätskonzepts für die Stadt Frankfurt am Main“ 2009 der<br />

Rahmen für das zukünftige Zusammenleben zwischen den Menschen aus 170 Nationen in<br />

Frankfurt erarbeitet worden. Während die Integrationsstudie die Situation der MigrantInnen<br />

und die Entwicklung der Integration analysiert, formuliert das Integrations- und Diversitätskonzept<br />

eine Integrationspolitik, „die sich an alle Bürgerinnen und Bürger, mit oder ohne<br />

Migrationshintergrund“ richtet. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass es darum gehen muss,<br />

folgende drei „Leitbilder“ umzusetzen:<br />

1. Chancengleichheit und Gleichberechtigung jedes und jeder Einzelnen<br />

2. Solidarität miteinander und Respekt voreinander<br />

3. Begegnung und Teilhabe einer möglichst großen Anzahl von Bürgern und Bürgerinnen-<br />

So beschreibt es zumindest das Konzept. Das hört sich gut an! Und eigentlich ist die Erarbeitung<br />

und Veröffentlichung des Integrations- und Diversitätskonzepts schon ein wichtiger<br />

Meilenstein für Frankfurt. Denn es beinhaltet einen umfassenden Anspruch von Integrationspolitik<br />

und artikuliert klare Erwartungen an die Politik und die Menschen in Frankfurt. Die<br />

Frage aber ist: Wie wird dies die täglichen Realitäten der Menschen verändern. Werden wir<br />

zunehmend mehrsprachige Kindertagesstätten haben?; wird es Quoten für MigrantInnen im<br />

öffentlichen Dienst geben?; oder wird es Kurse geben, damit sich Menschen ohne Migrationshintergrund<br />

– das heißt „Deutsche“ in der multikulturelle Einwanderungsgesellschaft Frankfurt<br />

„integrieren“?. Dies sind alles Fragen, an denen die kommunale Politik und Verwaltung<br />

mit den Frankfurtern in verschiedenen Bürgerforen arbeitet. Dies ist schon ein guter Schritt,<br />

aber es bleibt abzuwarten, was am Ende an konkreten Ergebnissen herauskommt. Jede und<br />

jeder kann sich mit seinen Wünschen und Beiträgen übrigens nicht nur bei den Veranstaltungen,<br />

sondern auch im Internet unter www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de einbringen. Wir<br />

sollten uns da einmischen, denn schließlich geht es um unser aller Zukunft. Damit der hohe<br />

Anspruch des Konzepts eingelöst werden kann, ist natürlich die Stärkung des Engagements<br />

von BürgerInnen in Frankfurt von zentraler Bedeutung, vor allem über ihre Vereine und Initiativen.<br />

Aufgerufen sind hier sowohl MigrantInnen als auch Deutsche. Sie müssen noch<br />

aktiver werden, wenn sich unser Verständnis von Integration und Integration – und das der<br />

Politik - ändern sollen. Lange wurde davon ausgegangen, dass sich MigrantInnen in Frankfurt<br />

und Deutschland in die deutsche Mehrheitsgesellschaft hineinfinden, also integrieren,<br />

müssen. Um das zu ermöglichen, gab es freiwillige und verpflichtende Maßnahmen für sie.<br />

Den MigrantInnen selbst, und ihren Erfahrungen, ihrer Geschichte und Kultur wurde kein so<br />

großer Stellenwert gegeben. Das, so zeigt sich, war eine vergebene Chance. Heute sehen wir,<br />

dass Frankfurt international geworden ist und bleiben wird. Frankfurt profitiert von der Vielfalt<br />

der Kompetenzen und Erfahrungen seiner Menschen. Dies ist eine Chance auch für die<br />

Zukunft, bedeutet aber, dass auch die Deutschen unter uns sich stärker auf die MigrantInnen<br />

zubewegen müssen. Diese Einsicht ist für viele Deutsche eher neu, aber ohne Alternative. Die<br />

Globalisierung wird Frankfurt auch in den nächsten Jahren prägen. Dies heißt, dass Menschen<br />

die Stadt verlassen, und andere neu dazukommen werden. Dies wird die Gesellschaft prägen<br />

und verändern. Zentral wird es sein, den Zusammenhalt in der Gesellschaft in Frankfurt<br />

zu erhalten. Daran muss kontinuierlich gearbeitet werden – von der Politik, der Verwaltung<br />

und den Menschen, denn dieser Wandel hört nicht auf. Er wird Bestandteil unseres Lebens<br />

bleiben. Dazu gehört natürlich ebenfalls, Unterschiedlichkeiten von Menschen auszuhalten.<br />

Dies wird auch in Zukunft immer wieder mal zu Konflikten führen. Auch dies gehört zum<br />

Zusammenleben von unterschiedlichen Nationen.<br />

Lynda Hamelburg


8 FRAUENTHEMEN - SOZIALE ORGANISATION<br />

Geschenke, Papier & Co. aus dem „SchubLaden“<br />

Neue Verkaufsstelle des Ausbildungsprojektes der FaPrik in Frankfurt Bornheim<br />

Im Schubladen findet man in der Regel allerhand Brauchbares. So auch in dem neuen gleichnamigen Laden der Ausbildungsinitiative<br />

FaPrik in Frankfurt. Geschenkartikel, Stifte, Papier, Kinderspielzeug und Bürobedarf - in der Spessartstraße, in unmittelbarer Nähe zum<br />

Bornheimer Uhrtürmchen gibt es Nützliches und Ausgefallenes.<br />

Der Schubladen setzt neue Akzente in Frankfurt<br />

Bornheim. Ständer mit Gruß- und Geschenkkarten<br />

stehen im Außenbereich des Ladens und bilden<br />

bunte Markierungen. Sie ziehen Neugierige<br />

und potenzielle Käufer in das große Ladenlokal.<br />

Falls die Außentemperaturen es zulassen, sind die<br />

Eingangstüren des Marktes in der Spessartstraße<br />

11 weit geöffnet. Rechts und links des Eingangs<br />

brennen Kerzen in zwei großen roten Kerzenhäuschen.<br />

Über die gesamte Front des Verkaufsraumes<br />

erstrecken sich Schaufenster. Sie lassen viel Licht<br />

herein und geben auch den Vorbeieilenden einen<br />

Einblick in den Laden.<br />

Drinnen ist es hell und geräumig. In weißen<br />

raumhohen Regalen entlang der Wände wird<br />

die Ware präsentiert: Notizbücher, Aktenordner,<br />

Schulhefte, Kalender, Blocks, Stifte, Geschenkpapier<br />

und Fotoalben. Die Ware ist nicht nur<br />

funktional, sondern bietet auch etwas fürs Auge.<br />

Manches ist ausgefallen, kräftige Farben dominieren.<br />

Taschen im bunten, blumigen Schubladen-<br />

Design hängen an einem Ständer. In einer Glasvitrine<br />

liegt Schmuck aus, der im Auftrag verkauft<br />

wird. Tücher werden in einem Wühlkorb angeboten.<br />

Im Hintergrund spielt leise Musik.<br />

An einem runden Tisch kann der Kunde Platz<br />

nehmen und, falls er will, das freundliche Verkaufs-Ambiente<br />

bei einer Tasse Kaffee genießen.<br />

Zu sehen gibt es genug. An der Decke hängen<br />

Lampenschirme aus weißem, grünem, rotem<br />

und orangenem Papier. Auf einem Tisch in der<br />

Der Eingangsbereich von der Spessartstrasse<br />

Mitte des Raumes wird eine kleine Auswahl an<br />

<strong>Welt</strong>musik-Musik-CDs präsentiert. Fingerpuppen<br />

und selbst produzierte Frucht-Seife, die nach<br />

Gewicht verkauft wird, runden das Angebot im<br />

Ausbildungsmarkt ab. Bei der Auswahl der Artikel<br />

achten die Initiatorinnen vor allem im Bereich<br />

der Büroartikel auf eine umweltfreundliche Herstellung<br />

und entsprechende Qualitätssiegel. Seit<br />

Oktober des vergangenen Jahres ist der Schubladen<br />

in der Spessartstraße eröffnet. Zuvor wurde<br />

er jahrelang in der Eichwaldstraße, einer kleinen<br />

Seitenstraße der Berger Straße, betrieben.<br />

„Der neue Laden gefällt mir sehr gut. Der andere<br />

war etwas klein. Hier können wir die Ware<br />

schön präsentieren“, sagt<br />

Jana. Die 18-jährige ist<br />

seit einem Jahr in dem<br />

Ausbildungsprojekt der<br />

FaPrik. Jana ist im zweiten<br />

Lehrjahr und will im<br />

März 2010 die Prüfung<br />

zur Einzelhandelskauffrau<br />

ablegen. „Mit dem<br />

Hauptschulabschluss ist<br />

es heute schwierig, einen<br />

Ausbildungsplatz zu finden“,<br />

lautet ihre Erfahrung.<br />

Sie absolvierte zunächst<br />

ein unentgeltliches<br />

Praktikum und hoffte<br />

darüber einen Einstieg in<br />

die Arbeitswelt zu finden.<br />

Doch ohne Erfolg. Über<br />

eine Freundin stieß sie auf<br />

das überbetriebliche Projekt der gemeinnützigen<br />

Ausbildungs- und Handelsgesellschaft FaPrik.<br />

„Hier kommen mehr Menschen vorbei als im<br />

alten Laden. Die Lage ist einfach besser,“ sagt Steffi.<br />

„Wir haben jetzt mehr Spielsachen für Kinder<br />

und mehr Kunden.“ Die 21-Jährige ist wie ihre<br />

Kollegin im zweiten Lehrjahr.<br />

Insgesamt sind 20 junge Frauen<br />

in Projekte der FaPrik eingebunden<br />

und werden zurzeit zu Verkäuferinnen<br />

oder zu Einzelhandelskauffrauen<br />

ausgebildet.<br />

Sie arbeiten im Schubladen<br />

und absolvieren darüber hinaus<br />

mehrmonatige Praxisphasen in<br />

einem der externen Partnerbetriebe<br />

der FaPrik. Ab Januar wird<br />

Steffi im Woolworth auf der Berger<br />

Straße im Einsatz sein. Sie<br />

freut sich, über den Schubladen<br />

einen Zugang zum Beruf gefunden<br />

zu haben: „Immer nur Absagen,<br />

das war deprimierend.“<br />

Nach dem Abschluss der Hauptschule<br />

war Steffi lange arbeitslos.<br />

Während eines Berufsvorbereitungsjahres<br />

wurde sie auf die<br />

überbetriebliche Ausbildungsinitiative<br />

der FaPrik aufmerksam.<br />

„Jede macht alles“, skizzieren die jungen<br />

Frauen die Arbeitsteilung im Schubladen. Feste<br />

Zuständigkeitsbereiche beispielsweise für eine<br />

bestimmte Warengruppe gibt es nicht. Kasse machen,<br />

Bestellungen aufgeben, Kunden beraten,<br />

Regale auffüllen und dekorieren - das sind Tätigkeiten,<br />

die im Rahmen eines Arbeitstages anfallen.<br />

Normalerweise sind vier Auszubildende an<br />

einem Verkaufstag im Laden. Fachlich unterstützt<br />

werden sie von einer Ausbilderin.<br />

„Es gibt viele Gestaltungsmöglichkeiten“, sagt<br />

Danielle Frey-Wendel, Ausbilderin im Schubladen.<br />

„Ob wir neue Produkte mit ins Sortiment<br />

Interessante Angebote in angenehmer Athmosphäre<br />

Das Team<br />

nehmen, oder selbst etwas zum Verkauf herstellen,<br />

oder neu dekorieren, der Schubladen wird<br />

sich immer wieder verändern. Die Azubis können<br />

ihre Vorstellungen einbringen.“<br />

Im PC-Raum stehen nicht nur Computer, sondern<br />

auch einige Nähmaschinen zur Verfügung,<br />

an denen die Auszubildenden nach Anleitung die<br />

aktuelle Taschenkollektion aus Stoff herstellen.<br />

Darüber hinaus ist in den neuen Räumlichkeiten<br />

auch Platz für eine moderne Küche, in der<br />

zusammen gekocht werden kann. Das passiert<br />

auch manchmal, denn auch das <strong>Soziale</strong>, der Zusammenhalt<br />

der Gruppe und eine gute Lern- und<br />

Arbeitsatmosphäre, sollen im Schubladen nicht<br />

zu kurz kommen.<br />

Sind keine Kunden zu beraten, bleibt Zeit,<br />

das in der Berufsschule Gelernte mit den Kolleginnen<br />

oder der Ausbilderin nachzuarbeiten oder<br />

sich auf Prüfungen vorzubereiten. Für die Fächer<br />

Mathematik und Deutsch stehen eigens Nachhilfelehrer<br />

zur Verfügung, die den Lehrstoff mit den<br />

Azubis durchgehen. Ein Schwerpunkt der Schulungen<br />

bildet das Training zur Verbesserung der<br />

deutschen Sprachkenntnisse. „Man muss schon<br />

lernen. Wenn man nichts tut, schafft man es<br />

nicht“, sagt Jana. Sie hat die externe Praxisphase<br />

beim Buchhandelsfilialisten Thalia absolviert und<br />

ist überzeugt, dass der Einzelhandel die richtige<br />

Branche für sie ist. Kunden beraten und bedienen,<br />

das mache am meisten Spaß.<br />

„Der neue Laden motiviert ungemein. Wir<br />

haben alle in die Planung, die Renovierung, den<br />

Umzug und die Dekoration einbezogen“, sagt<br />

Ingelore Berndt, Diplom-Sozialpädagogin und<br />

Projektleiterin im Schubladen. Die Erfolgsbilanz<br />

kann sich sehen lassen: 80 Prozent schaffen die<br />

Prüfung und fast alle finden auch einen Arbeitsplatz<br />

auf dem ersten Arbeitsmarkt, sagt Berndt.<br />

Nicht selten leisten die angehenden Verkäuferinnen<br />

und Einzelhandels-Kauffrauen in den externen<br />

Partnerunternehmen überzeugende Arbeit<br />

und werden nach Abschluss der Ausbildung eingestellt.<br />

Die hohe Motivation der Teilnehmerinnen,<br />

endlich den Einstieg in die Arbeitswelt zu<br />

schaffen, in Verbindung mit der gezielten Betreuung<br />

und Unterstützung sind Schlüsselfaktoren<br />

für den Erfolg der überbetrieblichen Ausbildung.<br />

Die jungen Frauen werden mit ihren Problemen<br />

und Themen nicht allein gelassen. Ingelore<br />

Berndt ist im Schubladen die Ansprechpartnerin<br />

für alle sozialen Themen. „Das können familiäre<br />

Probleme sein, Beziehungsprobleme oder auch<br />

Schwierigkeiten in der Schule“, sagt Berndt. Bei<br />

Bedarf führt sie entsprechende Beratungsgespräche<br />

und vermittelt je nach Problemlage auch an<br />

externe Beratungsstellen in der Stadt weiter. „Wir<br />

wollen mit der sozialpädagogischen Betreuung<br />

die Belastungen mindern und die jungen Frauen<br />

in die Lage versetzen, die Ausbildung durchzuhalten<br />

und erfolgreich abzuschließen.“ Die Unterstützung<br />

ist weitreichend: So wird bei Bedarf<br />

auch mal eine Ernährungsberatung organisiert,<br />

oder die Verbraucherberatung zu einem Vortrag<br />

über Handy-Verträge ins Haus geholt. Doch bei<br />

aller Förderung ist eines klar: „Wir lassen uns<br />

nicht auf der Nase rumtanzen. Wir fragen gezielt<br />

nach, wenn jemand beispielsweise oft zu spät<br />

kommt“, sagt Berndt. Falls notwendig werden als<br />

letzte Mittel auch Abmahnungen und Kündigungen<br />

ausgesprochen.<br />

Als Projektleiterin für die laufenden Ausbildungsgänge<br />

ist Ingelore Berndt auch die Kontaktperson<br />

für die externen Ausbildungspartner.<br />

Neben Thalia und Woolworth bieten Karstadt,<br />

Meder und Idee den Azubis des Schubladens die<br />

Möglichkeit, in andere Bereiche reinzuschnuppern<br />

und Erfahrung in einem Unternehmen des<br />

Azubis, die im neuen Laden arbeiten werden<br />

so genannten ersten Arbeitsmarktes zu sammeln.<br />

Aktuell laufen zwei Ausbildungsprojekte im<br />

Schubladen. Neben acht jungen Frauen im zweiten<br />

Lehrjahr ist im Sommer 2009 ein weiterer<br />

Ausbildungsgang mit zwölf Teilnehmerinnen gestartet.<br />

Finanziert werden die überbetrieblichen<br />

Bildungsmaßnahmen gemeinsam vom Land Hessen,<br />

der Stadt Frankfurt und dem Europäischen<br />

Sozialfonds oder, wie beim jüngsten Projekt, vom<br />

Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt.<br />

„Man kommt gerne zur Arbeit. Die Atmosphäre<br />

ist toll hier“, sind sich Steffi und Jana einig.<br />

Das Einzige, was nicht passt, ist das insgesamt<br />

niedrige Azubi-Gehalt. Große Sprünge, wie beispielsweise<br />

eine eigene Wohnung zu unterhalten,<br />

sind damit natürlich nicht möglich. Doch das<br />

Problem kennen alle Auszubildenden.<br />

si. auch S.9 unten links FaPrik<br />

Liz<br />

(Fotos: Britta Jagusch/FaPrik)


FREIZEIT IN FRANKFURT<br />

9<br />

Ein Stück China mitten in Frankfurt- der Bethmann-Park mit Chinesischem Garten<br />

Die Lage einer der schönsten, frei zugänglichen Parkanlagen Frankfurts: zwischen Konstablerwache, Hessen-Denkmal und dem<br />

Merianplatz in Bornheim. Hier liegt der liebevoll gepflegte Bethmann-Park, der auch im Winter ein beliebter Ruhepol, Spielplatz und<br />

Besichtigungspunkt für Jung und Alt ist. Wenn man Fragen zur vielfältigen Pflanzenwelt hat, gibt es dort auch eine Beratungsstelle<br />

im Gewächshaus.<br />

Das Gelände, damals noch außerhalb der<br />

Stadt gelegen, wurde 1783 von der Familie<br />

von Bethmann erworben. 1941 ging der Park<br />

in städtischen Besitz über. Entsprechend des<br />

Zeitgeschmacks wurde der Park mehrfach<br />

umgestaltet und ergänzt um einen Schaugarten<br />

mit Beratung für Blumen- und Pflanzenfreunde.<br />

Schon die Familie von Bethmann<br />

hatte ostasiatische Gewächse angepflanzt und<br />

gehegt. 1983 wollte man einen im Rahmen<br />

der Münchner Internationalen Gartenschau<br />

angelegten chinesischen Garten in den Bethmannpark<br />

verlegen. Das erwies sich als nicht<br />

machbar, aber mit chinesischer Hilfestellung<br />

(27 Container mit Baumaterial und 16 eigens<br />

angereisten chinesischen Facharbeitern)<br />

konnte dieser Teil am 7. Oktober 1989 als<br />

Frühlingsblumengarten eröffnet werden. Im<br />

Gedenken an das Tian´anmen-Massaker erhielt<br />

er wenige Wochen später den Namen<br />

„Garten zum himmlischen Frieden“.<br />

Der Chinesische Garten besteht aus einem<br />

original chinesischen See und einem<br />

Bergtempel, einem sehr schönen Wasserfall,<br />

der in einen kleinen See mündet – der „jaspisgrüne<br />

Teich“. Hier gibt es viele original<br />

chinesische Schätze zu bewundern. Löwenskulpturen<br />

bewachen die Brücke, Pavillons<br />

und Galerien orientieren sich in Gestaltung<br />

und Platzierung an die Shuikou-Gärten in<br />

Hunzhou.<br />

Er ist ein Geschenk der chinesischen Provinz<br />

Anhui und einem traditionellen Kaufmannspark<br />

in dieser Provinz nachempfunden.<br />

Ich kann jedem einen Besuch empfehlen.<br />

Hier ergeben sich ganz „überstädtische“ Ansichten.<br />

GM<br />

(Photos: Wikipedia)<br />

Das beeindruckende Eingangstor zum Garten des himmlischen Friedens<br />

Hier stehen erfahrene Gärtner der Stadt<br />

Frankfurt beratend zur Stelle. Aber da die<br />

gesamte Parkanlage ständig gepflegt werden<br />

muss, gibt es dort feste Beratungstermine, die<br />

am Gewächshaus aushängen.<br />

Auch hat der gesamte Park feste Öffnungszeiten,<br />

da er gegen nächtlichem<br />

Vandalismus geschützt werden muss.<br />

Haustiere dürfen leider auch nicht mitgebracht<br />

werden. Dies ist aber bei genauerem<br />

Hinsehen auch verständlich.<br />

Wunderbare Bepflanzung<br />

Der Weg von der Bergerstrasse zur Friedberger Landstrasse<br />

FaPrik<br />

Die gemeinnützige FaPrik gGmbH ist ein anerkannter Träger der Jugendberufshilfe und wurde 1985 vom<br />

Verein zur Förderung von Ausbildungsprojekten im kaufmännischen Bereich gegründet.<br />

Zielgruppe sind junge Frauen, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gefunden haben.<br />

FaPrik betreibt verschiedene Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten:<br />

... Schubladen: Das Ausbildungsprojekt in Bornheim bildet junge Frauen zur Kauffrau im Einzelhandel aus.<br />

... Startorante: Die FaPrik hat auf dem ehemaligen Teves-Gelände im Gallusviertel das Stadtteilrestaurant<br />

„Startorante“ eröffnet. Durch das Restaurant und die dazugehörende Großküche entstanden insgesamt zehn<br />

Ausbildungsplätze für junge Frauen, ob zur Fachkraft im Gastgewerbe, zur Köchin oder zur Restaurantfachfrau.<br />

Darüber hinaus konnte die FaPrik ihr Angebot in der Berufsvorbereitung von zehn auf 15 Plätze<br />

erweitern.<br />

... die Berufsvorbereitungsprojekte BVB, QuO und START II bieten jungen Frauen eine Berufswahlorientierung<br />

und berufliche Qualifizierung. In START II werden darüber hinaus zwei außerbetriebliche Ausbildungsplätze<br />

für den Beruf Fachkraft im Gastgewerbe angeboten.<br />

... die Maßnahme EIBE unterstützt Jugendliche an drei Berufsschulen beim Einstieg in das Berufsleben.<br />

... In der Berufsorientierung START I können sich junge Frauen auf den Erwerb des Hauptschulabschlusses<br />

vorbereiten und sich beruflich orientieren.<br />

Finanziert werden die verschiedenen Projekte durch die EU, das Land Hessen, das Jugend- und Sozialamt der<br />

Stadt Frankfurt, die Agentur für Arbeit und das Rhein-Main-Jobcenter.<br />

Hier noch ein paar Daten:<br />

Größe 3,1 ha, Öffnungszeiten ganz-<br />

jährig von 7 Uhr bis Einbruch der<br />

Dunkelheit, an Samstagen, Sonn-<br />

und Feiertagen von 10 Uhr bis Ein-<br />

bruch der Dunkelheit.<br />

Seit März 2005 ist die FaPrik durch den Verein Weiterbildung Hessen e.V. zertifiziert.<br />

Pavillon


10<br />

BETROFFENE<br />

Obdachlosenunterkunft-<br />

Wohnwagen völlig ausgebrannt<br />

Seckbach. Am Samstag, den 20.12.2009 gegen 4.50 Uhr, brannte auf dem Gelände der<br />

Maria-Rosenkranz-Gemeinde in der Wilhelmshöher Straße 64 ein Wohnwagen aus, der als<br />

Obdachlosenunterkunft diente. Als die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr an der Brandstelle<br />

eintrafen, stand der Wagen bereits total in Flammen. Der Brand drohte auf einen zweiten<br />

Wagen überzugreifen. Die beiden Männer, die zu dieser Zeit in den Wagen untergebracht<br />

waren, hatten sich noch vor dem Eintreffen der Feuerwehr in Sicherheit bringen können. Ein<br />

Bewohner zog sich eine Rauchvergiftung und Unterkühlung zu und musste in eine Klinik zur<br />

weiteren Versorgung gebracht werden. Denn er war bei Temperaturen von minus 14/15 Grad,<br />

nur mit Unterhose bekleidet, nach draußen gesprungen. Laut seiner Auskunft war er am<br />

Abend zwischen 20:00 und 21:00 Uhr nach Hause gekommen, hatte die Heizung auf großer<br />

Stufe eingeschaltet und sich schlafen gelegt. Als er durch Brandgeruch wach wurde, brannte<br />

der Wagen im Vorderbereich schon. Er warf seine Kleidung, die er fand, hinaus und sprang<br />

hinterher. Mit seinem Handy alarmierte er die Feuerwehr. Bis zum Eintreffen der Feuerwehr<br />

entfernte er noch sämtliche Gasflaschen vom Wagen, unter Gefährdung seiner selbst. Inzwischen<br />

ist der Betroffene wieder in einem Wohnwagen untergebracht und hat das Erlebnis<br />

einigermaßen gut verkraftet. Also doch noch Glück im Unglück.<br />

Wir wünschen ihm alles Gute fürs neue Jahr. Der Sachschaden wird auf ca. 20.000 Euro<br />

geschätzt. Über die Brandursache liegen noch keine Erkenntnisse vor. Die Polizei hat die Ermittlungen<br />

aufgenommen.<br />

Bruno Szrubin<br />

Interviews mit Bewohnern des Wohnheims<br />

in der Weserstraße<br />

Urbas: Vielen Dank, Antonio, dass du dich heute hier bereit erklärst dieses Interview zu führen. Du<br />

weißt ja, dass in diesem Jahr wird das Hartz IV-Programm 5 Jahre alt. Was hälst du denn von diesem<br />

sozialen Versicherungssystem?<br />

Antonio: Ich halte nicht viel davon. Man wird von diesem Programm nur ausgenutzt.<br />

Urbas: Wer nutzt dich aus?<br />

Antonio: Ja, das ist so, dass ich hierfür das Haus 70,- EURO bezahlen muß, weil ich hier übernachte<br />

und das wird mir von meiner Unterstützung abgezogen, ohne dass ich in irgendeiner Form da Einfluß<br />

nehmen kann und das finde ich sehr ungerecht. Die machen mit uns was sie wollen. Wir werden da<br />

nicht gefragt.<br />

Urbas: Hast du den mit deinem Sachbearbeiter auf dem Amt schon gesprochen?<br />

Antonio: Ja, der kann aber auch nichts machen. Er sagt, er ist gebunden an bestimmte Weisungen.<br />

Urbas: Also bist du insgesamt mit dem Hart IV-System nicht zufrieden?<br />

Antonio: Das ist richtig, ich bin sehr unzufrieden damit. Wir haben kaum Möglichkeiten uns darin zu<br />

bewegen, wir bekommen alles vorgeschrieben, es wird einfach mit uns gemacht, was man will.<br />

Urbas: Vielen Dank für das Gespräch.<br />

Brennender Wohnwagen<br />

Bericht von einem Bewohner des abgebrannten Wohnwagens<br />

(FOTO: Feuerwehr Frankfurt a-M.)<br />

H.U. (Name ist der Redaktion bekannt) ist ein 70-jähriger geborener Frankfurter und<br />

hatte ca. 1 Jahr in dem jetzt abgebrannten Wohnwagen gelebt. Was hat er nach dem<br />

folgenschweren Brand.erlebt? Hier sein Bericht:<br />

Da ich alle meine Papiere verlor, habe ich große Schwierigkeiten, bei Behörden Hilfe zu<br />

bekommen.<br />

Wenn mir die Betreuer vom Wohnwagen-Projekt nicht helfen würden, wäre ich ganz schön<br />

aufgeschmissen. Ich habe auch immer noch Schwierigkeiten, mich ganz zwanglos im neuen<br />

Wohnwagen zu bewegen. Zunächst wollte ich gar nicht mehr wieder in einen Wohnwagen<br />

einziehen.<br />

Aber, wo sollte ich denn nach meinem Krankenhausaufenthalt denn hin? Ich ging zwar nach<br />

der Entlassung für ein paar Wochen zu Bekannten, wo ich die Zeit über Weihnachten und<br />

Neujahr verbringen konnte. Noch heute halte ich mich lieber bei Freunden in Nordhessen<br />

auf. Auch reagiere ich, wenn ich im Wohnwagen bin, leicht schreckhaft auf jedes Geräusch,<br />

das ich höre. Was mich aber am Meisten an der ganzen Sache ärgert, ist, dass man ein<br />

Ermittlungs-Verfahren gegen mich in die Wege geleitet hat. Wegen grob fahrlässiger<br />

Brandstiftung. Dazu habe ich eine Aussage bei der Polizei machen müssen. Ich werde nun<br />

abwarten müssen, was dabei herauskommt. Da ich Rentner bin, habe ich viel Zeit zum<br />

Nachdenken und hoffe trotzdem, dass ich diese schreckliche Nacht bald vergessen kann. Des<br />

Weiteren würde es mich freuen, wenn es endlich mit dem Einzug in das Wohnstift klappen<br />

würde. Ich habe mich schon sehr lange vormerken lassen,. Dort würde ich dann endlich<br />

zur Ruhe kommen. Mein Leben war ja auch ganz schön bewegt, ich bin 30 Jahre zur See<br />

gefahren.<br />

Ich bedanke mich hier nochmal bei allen, die mir geholfen haben, wieder neu anzufangen.<br />

Ich freue mich auf alles, was in diesem neuen Jahr noch auf mich zu kommt.<br />

Urbas: Guten Tag Joachim. Ich freu mich, dass du bereit bist, hier für die Zeitung <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> ein Interview<br />

zu geben. Wie lange bist du schon im Wohnheim?<br />

Joachim: Ja, seit dem 17. diesen Monats.<br />

Urbas: Du weisst ja auch, dass die Hartz IV-Regelung, also relativ neue Regelung im Sozialbereich, fünf<br />

Jahre alt wird. Was hälst du denn davon?<br />

Joachim: Ich weiss davon sehr wenig. Ich bin erst seit einigen Tagen hier in der Bundesrepublik. Ich<br />

hatte in den Philippinen gelebt und wurde dort an sich nicht sehr gut von der dortigen Botschaft unterstützt.<br />

Ich habe 43 Jahre in den Philippinen wohnen müssen. Die deutsche Botschaft hat mir erst jetzt<br />

seit mehreren Anträgen einen Ausweis ausgestellt.<br />

Danke für alles - H.U.!<br />

Urbas: Das verstehe ich, dass du wenig dazu sagen kannst, vielleicht kannst du uns mal mitteilen, wie<br />

du dich in dem Wohnheim fühlst und was so deine Ziele sind?<br />

Joachim: Ja, ich finde es in dem Wohnheim sehr gut. Es ist sehr sauber und sehr ordentlich. Ich wünsche<br />

mir natürlich, dass ich meine Frau und meinen Kindern, die noch in den Philippinen sind, dass<br />

ich diese unterstützen kann und hoffe, dass meine Ziele, dass ich irgendwo hier festen Fuß fassen kann,<br />

sich umsetzen lassen.<br />

Urbas: Vielen Dank für die Bereitschaft auch für die Zeitung mal so deinen Lebensweg hier zu schildern.<br />

Wir drücken dir die Daumen, dass alles so klappt.


BETROFFENE<br />

11<br />

Urbas: Sie wissen, dass die Hartz IV- Regelung nun 5 Jahre alt geworden ist. Was halten sie denn davon?<br />

Karlheinz: Ich war betroffen. Ich war auch Hartz IV-er, ich bekomme meine Grundsicherung.<br />

Urbas: Und, wie hast das empfunden?<br />

Karlheinz: Ja, dieser ganze Wechsel war nicht so einfach. Ich selbst habe dann im laufe der Jahre einfach<br />

Einbußen gehabt, ich hatte weniger Geld es war alles sehr unklar, undurchsichtig. Auch die Mitarbeiter<br />

bei dem Ämtern wussten eigentlich gar nicht so richtig bescheid. Ich bin Alleinstehender und musste<br />

mich eigentlich damit abfinden, aber ich glaube dass es für Familien noch viel schwieriger ist, als für<br />

jemand wie mich alleine ist. Familien müssen auf sehr vieles verzichten, so im privaten als auch im<br />

gesellschaftlichen Bereich. Das finde ich nicht sehr gut.<br />

Frankfurt hat eine große Persönlichkeit verloren<br />

des Kapuzinerklosters und der kirchlichen<br />

Einrichtungen am Liebfrauenberg hat er<br />

sich stets bemüht. Für seine Gemeinde und<br />

seine Armen war er stets eilig unterwegs, im<br />

Ordenshabit und auch bei größter Kälte in<br />

seinen unvermeidlichen Sandalen. Viele Beamte<br />

haben ihn als ständigen Mahner kennen<br />

gelernt und vielleicht sogar heimlich<br />

verflucht, denn er ließ niemals locker.<br />

Urbas: Vielen Dank. Du hattest mir erzählt, dass du auch malst und sehr künstlerisch tätig bist.<br />

Karlheinz: Kunst ist für mich etwas Kostbares. Es gibt mir sehr viel Seelenfrieden. Kunst hilft mir, die<br />

Probleme des Alltages ein Stück in den Griff zu bekommen. Ich kann abschalten, ohne dass ich die<br />

eigentlichen Probleme aber vergesse. Ich hatte schon mehrere Ausstellungen mit meinen Bildern in<br />

einzelnen Einrichtungen. Es macht mir sehr viel Spaß meine Bilder zu malen.<br />

Interviews und Photos Reinhold Urbas<br />

Bruder Wendelin ist tot. Das schreibt sich<br />

schnell, aber es ruft eine Fülle von Bildern<br />

wach. In erster Linie an einen stets freundlichen,<br />

scheinbar immer lachenden Kapuzinermönch<br />

mit etwas schütterem Haupthaar<br />

und dichtem Bart. Bei jedem, den er getroffen<br />

hat, hinterließ er einen bleibenden Eindruck.<br />

Insbesondere bei allen jenen, die in<br />

Frankfurt etwas mit Obdachlosenarbeit zu<br />

tun haben oder selbst betroffen sind. Sein<br />

Franziskustreff, den er 1992 ins Leben gerufen<br />

hat, ist zur festen Institution in Frankfurt<br />

geworden. Der Kapuzinerorden hat<br />

zugesagt, dieses Werk von Bruder Wendelin<br />

fortzuführen und einen kommissarischen<br />

Leiter ernannt.<br />

70 Jahre ist er geworden, der aus dem<br />

Emsland stammende Helmut Gerigk, aus<br />

dem 1956 ein Kapuziner und 1961 endgültig<br />

Bruder Wendelin wurde. Sein Orden<br />

schickte ihn 1992 nach Frankfurt, um<br />

„die Obdachlosigkeit in geordnete Bahnen<br />

zu führen“. So kam er in die kleinste<br />

Gemeinde des Bistums Limburg an den<br />

Liebfrauenberg. Auch um die Erhaltung<br />

Seit letztem Herbst konnte er aufgrund<br />

einer schweren Erkrankung nicht mehr im<br />

Liebfrauenkloster leben. Er wurde im Kapuzinerkloster<br />

in Münster, dem Ort seiner<br />

feierlichen Profeß, betreut. Dort verstarb er<br />

am 5. Februar 2010.<br />

Unter großer Beteiligung der Frankfurter<br />

Bevölkerung und der Stadtverwaltung,<br />

Oberbürgermeisterin Roth voran, wurde er<br />

am 11 Februar 2010 auf dem Hauptfriedhof<br />

in der Grabstätte des Kapuzinerordens<br />

beigesetzt.<br />

Wenn ein Mann Gottes heimgeht,<br />

sind Worte der Trauer nicht angemessen.<br />

Aber sehr wohl angemessen ist<br />

es, dazu aufzufordern, dass sein Werk<br />

fortgesetzt werde und sein Nachfolger<br />

in diesem Werk jede mögliche Unterstützung<br />

erhalte.<br />

Rüdiger Stubenrecht<br />

Vorstand<br />

Redaktion<br />

Vereinsmitglieder<br />

Eine Gitarre ist die beste Waffe- Musikprojekt hilft<br />

Slum-Kindern in Rio<br />

‚Terra Encantada‘, verwunschenes Land, heißt die Favela im Norden von Rio de Janeiro. Der<br />

Alltag in dem Armenviertel sieht jedoch anders aus. Auf den Straßen türmen sich Müllberge,<br />

in den baufälligen Hütten gibt es weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Inmitten<br />

dieser trostlosen <strong>Welt</strong> hat der Rockmusiker Daniel Sant‘Anna ein Orchester gegründet, das<br />

Kindern und Jugendlichen helfen soll, einen Weg aus dem Elend zu finden.<br />

Die jungen Slumbewohner, die tagsüber auf Gitarren Beethovens ‚Ode an die Freude‘ zupfen,<br />

hören nachts vor ihren Häusern Schüsse fallen. Die Polizei, das haben sie gelernt, steht<br />

nicht auf der Seite der Armen. Für die Leute sei es eine schlimme Erfahrung, als Außenseiter<br />

am Rande der Gesellschaft zu leben, sagt Sant‘Anna. Wenn jemand aus der Favela Arbeit suche,<br />

könne er von vornherein sicher sein, nichts zu erreichen.<br />

Als der Musiker sein Projekt ‚Verzauberte Gitarren‘ gründete, wollte er den Kindern in<br />

dem Slum ihre Selbstachtung zurückgeben. Einige Eltern hatten 2003 eine verlassene Fabrik<br />

besetzt, in deren Umkreis rasch eine Baracke nach der anderen aus dem Boden wuchs. Inzwischen<br />

wohnen etwa 800 Familien in ‚Terra Encantada‘.<br />

Geld hatte Sant‘Anna zwar nicht, wohl aber Freunde, die ihm eines Tages ihre alten Gitarren<br />

gaben. Zwei Mal in der Woche hält er nun seine Kurse ab, jeder kann daran teilnehmen.<br />

Die einzige Bedingung ist, dass die Nachwuchsmusiker zur Schule gehen müssen. Anfangs<br />

hätten sie nicht recht gewusst, welche Musik ihnen am besten gefiel, erinnert er sich.<br />

Musizieren stärkt sozialen Zusammenhalt<br />

Einige standen auf populäre ‚Pagode‘-Rhythmen, die anderen auf Funk. Sant‘Anna gefiel<br />

der Musikstil nicht. Vor allem die unverblümten sexuellen Anspielungen hielt er für gefährlich,<br />

zumal in einer Gegend, in der Mädchen häufig schon mit zwölf oder 13 Jahren schwanger<br />

werden. Inzwischen hat sich der Horizont der Kursteilnehmer geweitet. Sie hören brasilianische<br />

Volksmusik ebenso gern wie Klassik oder internationalen Pop. „Wir sind alles Note für<br />

Note durchgegangen, und sie waren hellauf begeistert“, berichtet der Projektgründer. Auch<br />

der soziale Zusammenhalt wurde stärker. Die Kinder fassten Vertrauen zueinander und sind<br />

Freunde geworden.<br />

In einem Raum spielt eine Gruppe von Musikern einen Song des jamaikanischen Reggae-<br />

Königs Bob Marley. Fortgeschrittene üben schwierige Akkorde, andere versuchen sich an einem<br />

Flamenco oder an Antonio Carlos Jobims berühmter ‚Garota de Ipanema‘. Sant‘Anna<br />

geht es weniger darum, Berufsmusiker auszubilden. Die Musik solle die Kinder vor allem in<br />

die Gesellschaft hineinbringen, wünscht er sich. Irgendwann kommen sie vielleicht in die<br />

Favela-Zeitung oder ins Fernsehen. All das gibt ihnen mehr Selbstwertgefühl. Eine Gruppe<br />

hat bereits zwei CDs aufgenommen und ist schon einige Male aufgetreten.<br />

Die ‚Verzauberten Gitarren‘ erinnern an das große Sozialprojekt ‚El Sistema‘, das der Ökonom<br />

und Dirigent José Antonio Abreu vor 35 Jahren im benachbarten Venezuela ins Leben<br />

gerufen hatte. In dem staatlich finanzierten Jugendorchestersystem musizieren inzwischen<br />

rund 300.000 Kinder und Jugendliche. Alle spielen sofort gemeinsam im Orchester, Fortgeschrittene<br />

unterrichten Anfänger. Damit werden Hemmschwellen rasch abgebaut.<br />

Thiago Vianna da Silva verbrachte sechs Jahre in dem Projekt in ‚Terra Encantada‘ und<br />

arbeitet heute selbst als Musiklehrer in verschiedenen Armenvierteln. Noch immer träumt er<br />

davon, sich eines Tages eine elektrische Gitarre zu kaufen. Thiago hatte Sant‘Anna irgendwann<br />

gefragt, ob er mit den anderen Jugendlichen in seinen Kursen Musik machen könnte. Er wollte<br />

nicht in die Kriminalität abrutschen wie viele seiner Freunde, die Drogen verkauften und<br />

früher oder später umgebracht wurden.<br />

In einem sozial unterentwickelten Viertel wie ‚Terra Encantada‘ sei es sehr schwer, mit der<br />

Mafia zu konkurrieren, erklärt Sant‘Anna. In den Medien würden die Verbrecher zu Helden<br />

erhoben, deshalb wollten viele so sein wie sie. Seinen Schülern versucht der Musiker dagegen<br />

zu vermitteln, dass ein Instrument mehr wert sei als jede Waffe. Jugendliche wie Thiago haben<br />

das rasch verstanden. „Mein Leben hat sich total verändert“, sagt er. „Vorher hing ich nur auf<br />

der Straße herum und spielte Fußball. Respekt hatte ich vor niemandem. Die Musik hat mich<br />

aber dazu gebracht, andere zu achten.“<br />

Finanzielle Hilfe fließt spärlich<br />

Trotz des sichtbaren Erfolgs steht Sant‘Annas Projekt wegen mangelnder Finanzierung auf der<br />

Kippe. Damit alle 45 Kinder und Teenager zwischen acht und 15 Jahren Unterricht erhalten,<br />

springen auch die fortgeschrittenen Schüler ein. Die Nichtregierungsorganisation IBISS stellt<br />

den Musikern kostenlos Räume zur Verfügung, mehr Unterstützung gibt es bisher nicht.<br />

Sant‘Anna selbst lebt von dem, was er auf den Tourneen mit seinen Bands verdient. Er klagt<br />

darüber, dass er nicht genug Geld hat, um den Kindern auch etwas zu essen zu geben. „Um<br />

keine Amateure mehr zu sein, brauchen wir mehr Profis“, stellt er fest. Damit meint er nicht<br />

nur Musiklehrer, sondern auch Sozialhelfer, die die Kinder in ihrem Alltag begleiten. „Was<br />

außerhalb der Unterrichtsräume passiert, wissen wir nicht.“<br />

Viele Slumbewohner kommen nie über die Grenzen der Favela hinaus. Die jungen Musiker<br />

haben auf ihren kleinen Tourneen aber schon mehr gesehen und waren sogar im Zentrum von<br />

Rio. Das ist zwar nicht so weit von ihrem Zuhause entfernt. Dennoch hat ihnen die Musik<br />

bereits die Türen zur großen weiten <strong>Welt</strong> geöffnet.<br />

Von Fabiana Frayssinet, STREET NEWS


12 KULTUR<br />

Unsere Musik-, Film- und Buchempfehlung des Monats<br />

Unser Filmtipp<br />

Salsa, Funk, Afrobeat und Rap<br />

Rock and Rumba aus Afrika von der Rollstuhlband Staff Benda Bilili<br />

Ein Film von Lilo Mangelsdorff: Esel, Hund, Katze, Hahn und andere Musikanten<br />

läuft derzeit in einigen Programmkinos in der Bundesrepublik.<br />

Der Film zeigt auch in Ausschnitten die sozial kulturelle Arbeit der Musikgruppe Yankadi,<br />

die von Aktiven der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> vor ca. 5 Jahren gegründet wurde. Die Gruppe tritt bei<br />

Sommerfesten und sonstigen Gelegenheiten mit <strong>Welt</strong>musik und Bluesstücken auf. Der Film<br />

ist sehr sehenswert.<br />

Als weitere Empfehlung für einen Film, weisen wir auf das Werk von dem Filmregisseur<br />

Jan Peters hin. Der Film mit dem Titel Time`s Up ist eine Coproduktion von Cloes und<br />

Comedian in der Bundesrepublik. Jan Peters hat auch in diesem Film die Arbeit der Redaktion<br />

der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> gefilmt. Die Thematik der Arbeit wird durch das Team sehr klar aufgezeigt.<br />

Der Film ist ebenfalls sehr sehenswert. Es ist davon auszugehen, dass auch dieser Streifen in<br />

den Programmkinos in der BRD zu sehen ist.<br />

In unserer heutigen Ausgabe empfehlen wir die CD der Gruppe Staff Benda Bilili mit dem<br />

Namen Tres Tres Fort. Die CD ist erschienen bei Crammed Disc, 2009 und ist in sämtlichen<br />

guten CD-Läden erhältlich. Die Band spielt Rumba aus dem Kongo. Es sind Musiker,<br />

die aufgrund ihres Lebensschicksals behindert sind. Sie sitzen im Rollstuhl oder gehen mit<br />

Stützen. Sie haben jahrelang in ihrer Hauptstadt Kinshasa Straßenmusik gespielt, sie wurden<br />

von französischen Reportern entdeckt und befinden sich derzeit auf einer <strong>Welt</strong>tournee. Ihre<br />

Musik ist so überzeugend, dass die französischen Reporter die Gruppe förderten und somit einem<br />

breiten <strong>Welt</strong>publikum vorstellen können. Die meisten Musiker erlitten Kinderlähmung<br />

und mussten sich mit ihren Lähmungen durchs Leben schlagen. Gerade in einem ausgelaugten<br />

und bettelarmen Land wie dem damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik<br />

Kongo, war das nicht einfach. Durch Bekanntschaften in den Krankenhäusern fand sich die<br />

Band zusammen, sie waren alle begeistert von der Musik. Alle hatten natürlich auch musikalische<br />

Erfahrung bereits seit ihrer Kindheit. Sie hatten in Kirchengemeinden gesungen und<br />

gespielt. Sie taten sich zusammen und konnten durch die gemeinsame Arbeit auf der Straße<br />

den Lebensunterhalt etwas bestreiten. Sie spielten vor Restaurants, auf öffentlichen Plätzen,<br />

dort wo sie ihr Publikum finden konnten. Wie sie selbst mitteilten, seien sie für alles offen,<br />

wir spielen, was uns gefällt.<br />

Es ist eine mitreißende Musik, die man von der CD hören kann. Nach Mitteilung von<br />

Konzertbesuchern sei auch das Konzert sehr lebendig. Manche nicht behinderten Rockgruppen<br />

können noch einiges von ihrer Dynamik und Bewegungsfreude lernen, so ein Kommentar.<br />

Daher Staff Benda Bilili die CD, die wir empfehlen.<br />

Preis: 16,99<br />

Unser Buchtipp in dieser Ausgabe<br />

Fabrizio Gatti: Bilal, ein Illegaler auf dem Weg nach Europa<br />

Gatti, ein renommierter italienischer Journalist hat sich als Illegaler auf die berüchtigten<br />

Transitrouten von Afrika nach Europa begeben.<br />

Bilal ist sein Deckname. In diesem Buch schildert er die erschütternde Odyssee<br />

von Millionen heimlicher Einwanderer nach Europa. Es ist an sich ein sehr trauriges<br />

Buch, aber es zeigt andererseits auch die realistischen Auswirkungen eines<br />

kapitalistischen Europas. Das Buch ist im Verlag Kunstmann erschienen.<br />

ISBN: 3888975875<br />

Preis: 24,90 €<br />

Libri<br />

RU


KULTURGESCHICHTE<br />

13<br />

Die Wahre Geschichte: Störtebeker<br />

Gottes Freund und aller <strong>Welt</strong> Feind<br />

Selbst unter den zahlreichen Piraten<br />

der <strong>Welt</strong> ragt er heraus: Klaus<br />

Störtebeker. Enorm erfolgreich,<br />

listig, kampfgewandt und trinkfreudig,<br />

endete er doch auf dem<br />

Hamburger Grashof durch Henkershand.<br />

Die Legende hat schon<br />

längst die historische Person<br />

überwuchert und unkenntlich gemacht.<br />

Nicht einmal das Bild von<br />

ihm, das in unseren Schulbüchern<br />

abgebildet war, stellt ihn dar.<br />

Piraten gab und gibt es weltweit. Ihre Namen<br />

sind aus Filmen und Romanen bekannt: Aus<br />

England Drake, Raleigh, Morgan – in der<br />

zweiten Hälfte ihres Lebens hochgeachtet<br />

als Emissäre Ihrer Majestäten. Amerika steuert<br />

die Kapitäne Kidd, Blackbeard und Jean<br />

Lafitte bei, Frankreich L´Ollonais und Surcouf,<br />

die Türkei Chaireddin Barbarossa und<br />

Torgut Reis. In Malaysia soll Sandokan sein<br />

Unwesen getrieben haben, aber der ist die<br />

Erfindung eines italienischen Autors und so<br />

historisch wie Kara ben Nemsi.<br />

Ob es den Klaus Störtebeker so gab, wie<br />

ihn die Legende beschreibt, ist zumindest<br />

zweifelhaft. Unstreitig ist dagegen, dass es<br />

einen sehr erfolgreichen Piraten namens<br />

Störtebeker gab, der je nach Sachlage mit<br />

Schweden, Dänen, Friesen und der Hanse<br />

paktierte, viele Schlupfwinkel besaß und je<br />

nach Sachlage seine früheren Verbündeten<br />

plünderte. Besonders die Schiffe der Hanse<br />

hatten zu leiden. Eine speziell entsandte<br />

Flotte mit einer Wunderwaffe als Zentrum<br />

brachte ihn schließlich zu Fall. Das Seeräuberwesen<br />

ging allmählich dem Ende zu – in<br />

Nord- und Ostsee waren Nationalstaaten<br />

entstanden, die Marine und Seefahrt unter<br />

strenger Kontrolle hielten, war sie doch eine<br />

Haupteinnahmequelle der neuen Staaten<br />

und Staatsoberhäupter. Die Piraterie verlegte<br />

sich nach der Karibik.<br />

Die Legende<br />

Er soll, so will Fama wissen, um 1360 entweder<br />

in Rotenburg an der Wümme oder in<br />

Wismar geboren worden sein. Sein Ende soll<br />

er am 20. Oktober 1401 durch das Henkerschwert<br />

gefunden haben. Die Hinrichtung<br />

ist bezeugt, das Datum nicht und schon gar<br />

nicht, dass er selbst zu den 73 Hingerichteten<br />

gehörte. Damit schloss sich eine Karriere, die<br />

in Film und Fernsehen immer wieder herhalten<br />

musste.<br />

Peinlich: Die meisten der „Quellen“ sind<br />

erst im folgenden Jahrhundert entstanden.<br />

Eine Legende wurde als viel zu schön befunden,<br />

um sie zu hinterfragen, statt dessen<br />

wurde sie weidlich ausgeschmückt. Einiges<br />

stimmt, anderes ist vermutlich völlig frei erfunden.<br />

Im Stadtbuch von Wismar ist festgehalten,<br />

dass zwei Bürger wegen einer heftigen Schlägerei<br />

ausgewiesen wurden – einer davon wird<br />

als „nicolao Störtebeker“ bezeichnet. Das war<br />

1380. Ob das der Freibeuterkapitän war, ist<br />

zweifelhaft, aber immerhin möglich. Störtebeker<br />

heißt nichts Anderes als Stürz-den-Becher<br />

und weist auf große Trinkfestigkeit hin<br />

– er soll in der Lage gewesen sein, einen 4-Liter<br />

Humpen Wein oder Bier ohne abzusetzen<br />

in einem Zug leer zu trinken. Doch ähnliche<br />

„Großtaten“ sind in Norddeutschland nicht<br />

selten und zu dieser Zeit, wo selbst die Patienten<br />

im Krankenhaus Rechtsanspruch auf<br />

einen Liter Wein am Tag hatten, war Trunksucht<br />

wohl übliches Merkmal. Ein großer<br />

Becher wurde in Hamburg aufbewahrt, aber<br />

beim großen Brand 1842 zerstört. Eine historische<br />

Prüfung ist also nicht möglich.<br />

Was belegt ist<br />

Nord- und Ostsee waren zu Störtebekers Zeiten<br />

sehr umkämpfte Gebiete. Dänemark und<br />

Schweden bekämpften sich mal wieder auf<br />

das heftigste – Dänemark mit hanseatischer<br />

Hilfe unter Königin Margarete I, Schweden<br />

mit König Albrecht und Piratenhilfe. Ebenfalls<br />

mit dabei war Mecklenburg mit Ambitionen<br />

auf die nordischen Throne, der Deutsche<br />

Orden und natürlich die Städte und<br />

der Bund der Hanse. Ab 1385 blockierten<br />

Hanseaten und Dänen die schwedische Küste.<br />

Das war Anlass für eine Geschäftsidee für<br />

die wilden Kapitäne: Man belud sein Schiff<br />

mit Lebensmitteln und löschte die Fracht mit<br />

erheblichem Gewinn in Stockholm. Auf dem<br />

Heimweg konnte man ja noch ein paar fette<br />

Hanskoggen kapern und reichlich beladen<br />

heimkehren. Man nannte sie Vitalienbrüder<br />

- Victuals nennt man Lebensmittel noch<br />

heute auf Englisch. Der König von Schweden<br />

hatte ihnen eine Heimstadt in Visby<br />

auf Grönland gewährt und Wismar erlaubte<br />

den Verkauf der erbeuteten Waren auf dem<br />

Markt.<br />

Königin Margarete, nach zeitgenössischem<br />

Urteil ebenso schön wie schlau und gewissenlos,<br />

trieb eine Politik wechselnder Allianzen,<br />

bei dem letztlich die Vitalienbrüder aus ihren<br />

Schlupfwinkeln vertrieben wurden. Wenn<br />

die zeitgenössische Einschätzung stimmt,<br />

muss sie sehr schön gewesen sein. Jedenfalls<br />

war ihre Politik des Schaukelns und Verrats<br />

überaus erfolgreich. Die Vitalienbrüder<br />

mussten sich schon 1396 aus der Ostsee zurückziehen.<br />

Visby war von Deutschordensrittern<br />

zerstört worden, der schwedische Löwe<br />

leckte seine Wunden und überlegte sich den<br />

nächsten Schlag. Die Hanse aber war reicher<br />

und hochfahrender denn je.<br />

1396 fand Störtebeker und seine Kapitäne<br />

wie Gödeke Michels, Hennig Wichmann,<br />

Klaus Scheldt und Magister Wigbold einen<br />

neuen Unterschlupf in Ostfriesland beim<br />

Häuptling Keno ten Broke. Er soll eine Tochter<br />

des Häuptlings geheiratet haben. Belegt<br />

ist das nicht. Auch soll er den Kirchturm von<br />

St. Marien als Ausguck benutzt haben - der<br />

Kirchturm heißt deshalb noch heute Störtebekerturm.<br />

Auch mit Holland konnte er<br />

einen Vertrag schließen, mit Graf Albrecht I<br />

von Bayern, damals auch Graf von Holland<br />

Störtebeker aus dem Schulbuch<br />

und Hennegau. Das kam gerade rechtzeitig,<br />

denn die Hanse setzte die Ostfriesen unter<br />

gewaltigen Druck, weshalb die dortige Operationsbasis<br />

verloren ging. Der am 15 August<br />

beurkundete Vertrag nannte 8 Hauptleute<br />

der Vitalienbrüder, darunter einen Johann<br />

Stortebeker. Gödeke Michels entkam nach<br />

Norwegen; beide Fraktionen setzten ihre<br />

Plünderungen der Hanseflotten fort.<br />

Nun langte es den Hamburgern. Eine<br />

große Flotte wurde versammelt, eine große<br />

Kogge namens Bunte Kuh mit den schwersten<br />

Geschützen bestückt, die man bis dato<br />

auf der See jemals gesehen hatte. Am 22. April<br />

1400 wurde Störtebeker und seine Flotte<br />

von den Befehlshabern Hermann Lange<br />

und Nikolaus Schoke vor Helgoland gestellt<br />

und aufgebracht. Störtebeker und 30 seiner<br />

Kumpane wurden nach Hamburg gebracht<br />

und zum Tode verurteilt. Die Legende besagt,<br />

dass er sich vom Bürgermeister Kersten<br />

Miles Pardon für alle seine Spießgesellen ausbedungen<br />

habe, an denen er nach der Enthauptung<br />

vorbei schreiten werde. Der Fama<br />

nach hat er es auf 11 Personen gebracht,<br />

bevor ihm der Scharfrichter ein Bein stellte.<br />

Das dürfte erfunden sein; jedenfalls wurden<br />

alle hingerichtet. Insgesamt soll der Scharfrichter<br />

Meister Rosenfeld an diesem Tage<br />

73 Piraten enthauptet haben, eine stattliche<br />

sportliche Leistung, falls sie denn vollbracht<br />

worden sein sollte. 1878 wurde beim Bau der<br />

Speicherstadt ein Schädel mit einem Nagel<br />

im Kopf gefunden und prompt zum Störtebekerschädel<br />

erklärt. Da es bei Piraten in<br />

Hamburg vorher und nachher üblich war,<br />

die abgehauenen Köpfe auf einen Pfahl zu<br />

nageln, ist die Zuschreibung zumindest sehr<br />

fragwürdig. 1401 war für die Vitatienbrüder<br />

das Ende gekommen: Simon von Utrecht<br />

fing auch Gödecke Michels und Magister<br />

Wigbold. Die Hamburger machten kurzen<br />

Prozess mit den beiden und 80 Mitgefangenen.<br />

Die Sage will wissen, dass Störtebeker dem<br />

Senat für seine Freilassung eine goldene Kette<br />

anbot, deren Länge um die ganze Stadt<br />

reichen sollte. Der Senat soll entrüstet abgelehnt<br />

haben, was nicht sehr wahrscheinlich<br />

ist. Man hätte ihn einfach die Kette abliefern<br />

und dann sang- und klanglos verschwinden<br />

lassen. Auch eine Sage – als sein Schiff verkauft<br />

und verschrottet wurde, soll einer der<br />

Masten mit Gold, der zweite mit Silber, der<br />

dritte mit Kupfer ausgegossen gewesen sein –<br />

natürlich ein Schwindel, denn ein dermaßen<br />

toplastiges Schiff wäre sofort gekentert.<br />

Nach der Legende, nun Geschichte<br />

Es gab den Vitalienbruder Johann Störtebeker,<br />

mit dem Herzog Albrecht einen Vertrag<br />

geschlossen hatte. Er war Kaufmann<br />

aus Danzig, der Piraterie durchaus zugetan<br />

und wurde in zeitgenössischen Quellen mit<br />

Name und Tätigkeit mehrfach erwähnt. Zuletzt<br />

in Danzig – im Jahr 1413. Also kann er<br />

gar nicht 1401 in Hamburg enthauptet worden<br />

sein. Der Name Klaus taucht erst rund<br />

hundert Jahre später auf, zuerst bei Hermann<br />

Korners „Chronica Novella“, denn 1518 in<br />

der sehr weit verbreiteten „Wandalia“ von<br />

Albert Krantz.<br />

Jeder versuchte, sich der Legende zu bemächtigen<br />

– es gibt viele angebliche Schatzorte,<br />

u.A. auch auf Rügen. Die Stralsunder<br />

Brauerei braut unter Störtebeker, es gibt<br />

Störtebeker-Freilichtspiele, Sportvereine,<br />

Denkmäler. In Verden gibt es alljährlich eine<br />

„Störtebekerspende“, bei der vier Fässer Heringe<br />

und 530 Brote an die Bürger verteilt<br />

werden. Er habe, so die Legende, der Kirche<br />

in Verden sieben Fenster (wegen der sieben<br />

Todsünden) gespendet haben. Diese Fenster<br />

tragen allerdings das Wappen des Verdener<br />

Bischofs Kettelhodt.<br />

Die DDR wollte die Vitalienbrüder (auch<br />

Likedeeler geheißen) als sozialistisches Element<br />

für sich deklarieren, wegen des Prinzips<br />

der Gleichverteilung der Beute. Rock- und<br />

Punkbands haben ihn für sich entdeckt, aber<br />

es gab auch ein rechtsextremes Informationsportal<br />

mit seinem Namen.<br />

Ob ja- das Bild aus unseren Schulbüchern.<br />

Es zeigt einen Mann mit verwegenem Bart<br />

und noch verwegener aufgesetztem Hütchen.<br />

Doch dieses von Daniel Hopfer gestaltete<br />

Bild stellt den Schalksnarren Hans von Rosen<br />

dar, der 100 Jahre nach Störtebeker am<br />

Hof Kaiser Maximilians gelebt hat.<br />

Der Schädel–<br />

Neuer Akt der Piraterie?<br />

Am 9. Januar wurde es bemerkt: in der Hamburger<br />

Speicherstadt fehlte der 1878 gefundene<br />

angebliche Störtebeker-Schädel. Der ist<br />

allerdings vermutlich gar nicht von ihm. 2004<br />

scheiterte ein Versuch, aus dem Schädel DNA-<br />

Proben zu entnehmen und mit präsumtiven<br />

Nachfahren zu vergleichen. Es bleibt dabei: ein<br />

Schädel eines Mannes, dessen Kopf um 1400<br />

abgehauen und am Gerichtsort auf einen Pfosten<br />

genagelt wurde. Nun ist dieser Schädel Opfer<br />

eines frechen Aktes der Piraterie geworden.<br />

Ob aus Sammelleidenschaft, im Auftrage oder<br />

zwecks Erpressung von Lösegeld, mag sich<br />

noch herausstellen.<br />

Störtebeker lebt!<br />

RS<br />

(Bildquellen Wikipedia)


14<br />

Künstler des Monats<br />

„Mer darf gar net so viel denke!“<br />

Lia Wöhr - ein Multitalent aus dem Gallusviertel<br />

Lia Wöhr ist heute auch in Frankfurt fast<br />

vergessen. Jüngere Frankfurter erinnern<br />

sich nicht mehr an sie. Die Frau ist 1994<br />

gestorben nach einem langen und bewegten<br />

Leben, in dem sie keineswegs nur in<br />

Frankfurt wirkte, ja nicht einmal nur in<br />

Deutschland.<br />

Vielmehr hatte sie, als sie mit den Hesselbachs<br />

und dem Blauen Bock in ganz West-Deutschland<br />

populär wurde, im Grunde schon mehrere<br />

Karrieren hinter sich und war teilweise in Italien,<br />

Spanien, England, Portugal und Südamerika<br />

bekannter als in ihrer Heimat.<br />

Aber der Reihe nach:<br />

Lia (Kurzform von Elisabeth) Wöhr wurde<br />

am 26. 7. 1911 im Frankfurter Gallusviertel als<br />

Tochter eines Bäckers geboren. Schon als Kind<br />

trat sie als Tänzerin auf, ihrem ersten Traumberuf,<br />

nachdem sie die Oper Salome gesehen hatte.<br />

Im Jahre 1924 -da war sie also gerade einmal<br />

13 Jahre alt und hatte schon fünf Jahre als Tänzerin<br />

hinter sich! - gab sie das Tanzen auf: Für<br />

den damaligen Zeitgeschmack mit knabenhaft<br />

dünnen Tänzerinnen wuchs sie zu sehr, wurde<br />

„für eine Tänzerin etwas zu kräftig“, das heißt,<br />

sie begann von einem Mädchen, zu einer Frau<br />

zu werden.<br />

Lia Wöhr und Liesel Christ (Hintergrund) bei einer Vereinsfeier<br />

Sie ging weiterhin zur Schule und begann<br />

1927 eine Ausbildung an der Schauspielschule,<br />

die sie 1929 abschloss. Mit 18 Jahren schon<br />

bekam sie nach Auftritten als Chansonsängerin<br />

in Berlin ein Engagement am Stadttheater<br />

Halberstadt. Hier trat sie vier Jahre lang teils in<br />

Revuen auf, sang, übernahm aber auch Sprechrollen,<br />

trotz ihres nie ganz unterdrückten hessischen<br />

Akzents, der später im Radio und im<br />

Fernsehen gerade einen Teil ihrer Popularität<br />

ausmachen sollte.<br />

Sie brachte 1933 den Mut auf, ihr<br />

Engagement zu kündigen, weil einer<br />

jüdischen Kollegin, gekündigt worden<br />

war.<br />

Aber es gelang der energischen Frau, sich<br />

weiterhin durchzubeißen und dem Theater treu<br />

zu bleiben. An der Frankfurter Oper wurde sie<br />

immerhin Soubrette und auch Souffleuse und<br />

spielte seit 1935 ebenfalls in Frankfurt die verschiedensten<br />

Rollen, vor allem Chargen und<br />

Salondamen für ein Jahresgehalt von 1500<br />

Reichsmark. Sie war immer zäh und ließ sich<br />

nicht unterkriegen.<br />

1937 gelang es ihr sogar, die Regie einer<br />

Lia Wöhr und Heinz Schenk als Wirtin und Oberkellner in einer Sendung „Zum Blauen<br />

Bock“ des hessischen Rundfunks im Mai 1979<br />

(FOTO: DPA)<br />

Operninszenierung zu übernehmen. Damals<br />

hielt das vermutlich noch niemand realistisch,<br />

vielleicht nicht einmal sie selbst, aber wer weiß,<br />

für einen Hinweis auf die Zukunft.<br />

Vor allem in den 50er Jahren machte sie sich<br />

in Italien einen Namen als Opernregisseurin.<br />

Der Name war<br />

Elisabetta Wöhr,<br />

und sie inszenierte<br />

u. a. „Fidelio“,<br />

aber auch Verdi<br />

und Wagner, nicht<br />

nur in Rom, sondern<br />

ebenso in<br />

Madrid, London,<br />

Portugal, Mexiko<br />

und Südamerika.<br />

Dies war nun nach<br />

Tänzerin, Sängerin<br />

und Schauspielerin<br />

schon ihre<br />

vierte Karriere, in<br />

Deutschland war<br />

sie aber noch immer<br />

weitgehend<br />

(FOTO: FR) unbekannt. Sie<br />

sprach fünf Sprachen,<br />

wobei das Hessische, welches ihre Eigentliche<br />

war, nicht einmal mitgezählt ist.<br />

„Ich hab‘ kaa Zeit für Geschwätz,<br />

ich muss butze!“<br />

Das begann sich langsam zu ändern, seitdem<br />

sie ab 1945, also nach der Hitlerzeit, auch<br />

bei Radio Frankfurt arbeitete. Hier und auf<br />

verschiedenen Bühnen gab sie wie schon früher<br />

Chansons und Sketche in der klassischen Kabaretttradition<br />

zum Besten, z. B. seit 1947 als<br />

Hessemädche - sie war ja auch erst 36 Jahre alt.<br />

Sie trat im Hörfunk des Hessischen Rundfunks<br />

auf in den damals sehr populären Sendungen<br />

Frankfurter Wecker und Auf ein frohes<br />

Wochenende, mit so prominenten Unterhaltern<br />

wie Peter Frankenfeld und Hans-Joachim<br />

Kulenkampff, die beide später ihre eigenen,<br />

überaus beliebten Fernsehshows hatten. Auch<br />

Wolf Schmidt, der geistige Vater der Hesselbachs<br />

und Babba all der späteren Fernsehserien<br />

war schon mit dabei.<br />

Parallel - was machte sie nicht alles quasi<br />

gleichzeitig! - wurde sie erste weibliche Produzentin<br />

des Deutschen Femsehens, nicht von<br />

Sketchen, sondern von Bachs Johannespassion<br />

und Strawinskys Feuervogel. Sie sprach in den<br />

Hörfunkproduktionen der Hesselbachs die<br />

Mama, die in den folgenden Femsehproduktionen<br />

von Liesel Christ gespielt wurde. Lia<br />

Wöhr begnügte sich mit der allerdings markanten<br />

Nebenrolle der Putzfrau Siebenhals<br />

(ohne welche die Putzfrau der Lindenstraße<br />

kaum denkbar ist) und sie dirigierte die ganzen<br />

Fernseh-Hesselbachs als Produzentin.<br />

Zu all dem produzierte sie auch noch eine<br />

der zu ihrer Zeit beliebtesten Femsehshows Der<br />

Blaue Bock mit Heinz Schenk als Moderator,<br />

der gar kein Hesse, sondern ein Mainzer, also<br />

immerhin Rheinhesse war. Sie selbst war nicht<br />

nur die Produzentin der Sendung, sondern<br />

auch die Wirtin des Blauen Bock.<br />

Halbherzige Ehrung<br />

Diese Sendung sollte ursprünglich in der<br />

noch immer existierenden Wirtschaft „Zum<br />

Grauen Bock“ in Alt-Sachsenhausen produziert<br />

werden. Aber bald stellte man zum einen<br />

fest, dass die Wirtschaft für damalige Fernsehproduktionen,<br />

in der immerhin auch bekannte<br />

Opernsänger auftraten, zu klein war, zum<br />

anderen machte der damalige Wirt einen Rückzieher<br />

und zog auch den Namen seines Lokals<br />

zurück, hauptsächlich aus einer gewissen Angst<br />

vor zu viel fremdem Publikum. So wurden der<br />

Name und die Farbe passend zu dem im Apfelwein<br />

ganz heimlich versteckten Alkohol in<br />

Blau geändert. Der Bock aber blieb. Hessisch<br />

gehört ja zu den Dialekten, wo man auch üble<br />

Grobheiten so sagen kann, dass sie fast freundlich<br />

klingen.<br />

Diese Sendung wurde im Gegensatz zur ursprünglichen<br />

Planung (Funkausstellung 19<strong>57</strong>)<br />

nicht an einem Ort produziert, sondern damals<br />

ganz ungewöhnlich in verschiedenen Hallen, in<br />

unterschiedlichen, auch kleineren Orten, was<br />

dort jeweils für großes Aufsehen sorgte.<br />

Gerade beim Blauen Bock arbeitete Lia<br />

Wöhr eng mit Heinz Schenk zusammen, beide<br />

Vollblut-Theatermenschen, sie mehr Lenkerin<br />

im Hintergrund, er mehr die Rampensau, dem<br />

kein Kostüm und kein Witz zu banal oder zu<br />

schmutzig war.<br />

Aber ohne Lia Wöhr wäre Heinz Schenk<br />

sicher auch nicht geworden, was er war: Rotzfrecher<br />

Kellner neben dem unvergleichlichen<br />

Reno Nonsens, während Frau Wöhr eher im<br />

Hintergrund blieb und die beiden Spinner und<br />

volkstümlichen „Nonsens-Artisten“ unter ihrer<br />

Aufsicht machen ließ.<br />

Die Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin,<br />

Redakteurin, Produzentin war auch<br />

in verschiedenen Kino- und Fernsehfilmen zu<br />

sehen. Vor allem aber engagierte sie sich im Alter<br />

für kranke und behinderte Kinder, bis sie<br />

1994 in Oberursel sterben musste, wie wir alle<br />

irgendwann.<br />

Lia Wöhr wird bei denen, die sie kannten,<br />

immer unvergessen bleiben, und sei es nur als<br />

Frau Siebenhals.<br />

Martin Fischer<br />

Man wünscht sich mehr. Die Stadt Frankfurt hat ein Plätzchen am Rande<br />

des Gallusviertels nach ihr benannt. Der ist auf den offiziellen Stadtkarten<br />

nicht mal überall eingezeichnet und liegt da, wo die Kölner Straße<br />

von der Frankenalle abgeht. Dort steht ein Gedenkstein, den der Hessische<br />

Rundfunk spendiert hat. Und einen Lia-Wöhr-Weg gibt es auch, in<br />

Weißkirchen. Dürftig, oder?


Familienseite<br />

15<br />

Rezept des Monats<br />

Wanns aahm jo helfe dhet….<br />

Wenn dem Frankfurter nichts anderes einfällt, was er essen möchte, greift er auf die altbewährten<br />

Frankfurter Würstchen zurück. Das geht schnell, schmeckt gut und lässt sich<br />

vielseitig abrunden – mit einem von dem hm-zig Rezepten für Kartoffelsalat, die es in<br />

Deutschland gibt, mit Sauerkraut, fast jedem anderen Gemüse oder ganz einfach mit Senf<br />

und Brötchen. Zum Winter darf es mal was anderes sein. Wir ziehen jahreszeitlich passend<br />

den Würstchen einen warmen Mantel an.<br />

So geht es: Wir brauchen pro Person ein Paar Würstchen, 2 Scheiben Hartkäse, 2 Scheiben<br />

Schinken und außerdem Blätterteig und Eigelb zum Bestreichen.<br />

Für die Würstchen kauft man seine Lieblingsmarke oder beim Metzger des Vertrauens, der<br />

Käse sollte Hartkäse sein, der zum Überbacken geeignet ist – wenn im Zweifel, hilft die<br />

Käsetheke. Und dann muss man noch die Tiefkühlabteilung besuchen und fertigen Blätterteig<br />

kaufen. Den kann man auch selbst machen, aber fertiger geht einfach schneller und Teig<br />

machen ist nicht jedermanns bzw. jederfrau Sache.<br />

Man nimmt ein Würstchen und umwickelt es mit einer Scheibe Käse und dann einer Scheibe<br />

Schinken. Dann wird der Blätterteig ausgerollt und in Scheiben geschnitten, groß genug,<br />

dass man das Wurst/Käse/Schinken – Röllchen einwickeln kann. Das Ganze kommt mit der<br />

Naht nach unten auf ein Backblech. Dann den Ofen auf 180 Grad vorheizen und indessen<br />

die Röllchen mit Eigelb bestreichen. Solange backen lassen, bis eine goldbraune Farbe<br />

entstanden ist.<br />

Das duftende Resultat kann man als kräftige Vorspeise an einem kalten Tag essen – oder<br />

auch, zusammen mit einem großen Salat, als Hauptgericht. Normal sind zwei Würstchenrollen<br />

pro Person, aber es gibt auch Menschen, die mehr davon haben wollen. Und auch<br />

ganz einfach bekommen können, denn die Zubereitung ist wahrlich keine Kunst und gelingt<br />

sogar, wenn die ganze Meute der Besucher in der Küche rumsteht, ein Gläschen trinkt und<br />

quatscht. Guten Appetit!<br />

RS<br />

Fühle den Trommelschlag, du kannst in ihn eintauchenliebe<br />

dich und deinen Körper, ohne Hektik- entspannt.<br />

YANKADI<br />

… mecht mer ganz laut schenne iwwer<br />

des Wetter, wos sisch des Johr Winter<br />

geheiße hatt. Alsfortt kalt, des mecht<br />

nix, wanns-de gut oogezoge bist. Mehr<br />

Schnee als in den annere Johrn, und des<br />

auch noch richtig unangenehm: Wor er<br />

getaut, kom dann glei die nächst Ladung.<br />

Voll of die Eisplacke, weil mit<br />

dem Berjersteig räume habbes weder<br />

die Zuständische bei de Stadtverwaltung<br />

noch die Besitzer von dene Heiser. So<br />

schliddert mer dorch die Gejend, flucht<br />

und is alsfortt in Gefohr, uff de Schnauz<br />

zu knalle. Lobend erwähne muß mer<br />

die RMV, die hott an dene Haltestelle<br />

vorbildlich geräumt und gestreut – ich<br />

habb ganze Gebirge von Splitt doderfo<br />

an meine Stiwwel ins<br />

Haus getrache.<br />

Mich hatt es aach erwischt<br />

– wo isch spät<br />

nachts bei Schneefall<br />

nach Haus gekomme<br />

bin, bin isch hingeknallt<br />

un hab mer die<br />

Schulter grindlich verballert.<br />

Des dhut immer<br />

noch weh, awwer<br />

gebroche is nix unn<br />

richtisch verletzt is nor<br />

mein Stolz. Kaa Wunner,<br />

wanns-de in diefster<br />

Nacht uff de Knie<br />

rutsche musst, weil de<br />

kann Halt hast uf dem<br />

Schnee unn dir die Baa aafach wegrutsche<br />

beim Versuch, uffzustehe. Und<br />

dann habb isch noch Mieh gehabbt, die<br />

Schlissel in die Dier ze bringe, weil isch<br />

kaa Handschuh anhatt un die Finger<br />

grauslich geforn warn.<br />

Zwaa Woche konnt isch mein Flijel net<br />

rührn unn die Hand net hewwe. Des is<br />

net schee, insbesunnere wanns-de wos<br />

schreibe willst und die Händsche zum<br />

Arbeite trage mußt. Buchstäblich. Isch<br />

hatt die rechte Hand gebraucht, um dei<br />

link Händsche uff die Dasdadur ze leje.<br />

Kaan Scherz.<br />

Noja, jetzt isses wohl vorbei unn mir<br />

kenn uns uffs Friejohr<br />

freue. Awwer die<br />

Winterklamotte unn<br />

insbesunne die Winterstiwwel<br />

mit de angeblisch<br />

rutschfeste<br />

Sohle wegzeräume,<br />

des trau isch mich noch<br />

net. Mer hadde aach<br />

schun Schneefall im<br />

April, des is zwar lang<br />

her, awwer dem Johr is<br />

wohl net zu traue.<br />

Maan grollend<br />

Ihne Ihrn<br />

Riewwedippel<br />

I M P R E S S U M<br />

Musik zum mitmachen- für alle Menschen!<br />

Wir treffen uns:<br />

Montag 10.00 - 12.00 Uhr<br />

Windmühlstrasse 9<br />

Frankfurt-Bahnhofsgegend<br />

Montags ab 16.00 Uhr<br />

Karl-Blum-Allee 1-3<br />

Frankfurt-Höchst<br />

Kontakt: Reinhold Urbas Tel.: 06109 - 22527 E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />

Sie möchten bei der<br />

„<strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong>“ mitwirken?<br />

Interessenten und Mitmacher<br />

sind uns jederzeit herzlich<br />

willkommen!<br />

Unsere Termine<br />

Redaktionskonferenz<br />

11.03.2010 18.00 Uhr<br />

25.03.2010 18.00 Uhr<br />

08.04.2010 18.00 Uhr<br />

Vorstandsitzung<br />

30.03.2010 17.00 Uhr<br />

28.04.2010 17.00 Uhr<br />

26.05.2010 17.00 Uhr<br />

Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />

Windmühlstr. 9<br />

60329 Frankfurt am Main<br />

Tel.: 069-373 00568<br />

E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />

Chefredakteur:<br />

Rüdiger Stubenrecht (v.i.S.d.P.)<br />

Layout und Gestaltung:<br />

Hans-Jürgen Schöpf ( C.v.D.)<br />

Redaktion:<br />

Martin Fischer , Linda Hamelburg,<br />

Elisabeth Kapell, Aribert Kirschner,<br />

Silvia Schöpf, Bruno Szrubin,<br />

Funda Toprakci, Reinhold Urbas,<br />

Armgard Wisent<br />

Bürozeit:<br />

Mo. - Fr. 08.00 - 13.00 Uhr<br />

Zeitungen: Mo., Mi., Fr.10.00 - 12.00 Uhr<br />

und nach telefonischer Vereinbarung!<br />

Auflage: 3.000<br />

Druck: CARO-Druck<br />

Ökohaus,<br />

Kasseler Str. 1a,<br />

60486 Frankfurt am Main


16 Unser Ausflugstipp<br />

Winter<br />

Auf der abgekühlten Wasseroberfläche hat<br />

sich ein feiner, gläserner Eisfilm gebildet – es<br />

ist Winter geworden. Nur noch wenig Licht<br />

dringt durch die zarte Eisdecke in die abgeschlossene,<br />

geheimnisvolle <strong>Welt</strong> der Unterwasserbewohner.<br />

Die glitzernden Spiegelbilder<br />

des Herbstes sind verschwunden, es bleiben<br />

verschwommene Schatten zurück. Nackt<br />

und kahl heben sich die Silhouetten der<br />

Bäume gegen den winterlichen Himmel. Ein<br />

eiskalter Graupelschauer leitet den winterlichen<br />

Tag ein. Stille herrscht am See. Nur das<br />

Knistern der auftreffenden Graupelkörnchen<br />

ist zu vernehmen. Verwelkte Blätter werden<br />

den angrenzenden Bäumen und Sträuchern<br />

herübergeweht, wirbeln und tanzen durch<br />

die Luft, bis sie vom Eis festgehalten werden.<br />

Angefroren ragen abgestorbene Schilfhalme<br />

starr und steif empor.<br />

Eine Stockente wagt einen Landeversuch<br />

auf der glatten Eisfläche, doch der Regen<br />

hat einen dünnen Wasserfilm darauf hinterlassen.<br />

Hilflos schlitternd bleibt sie auf dem<br />

Bauch liegen. Draußen auf dem See gleiten<br />

Höckerschwäne auf der letzten offenen Wasserfläche.<br />

Gelassen ertragen sie den Schneeregen.<br />

Geschützt durch ihr Federkleid, kann er<br />

ihnen nichts anhaben.<br />

Inzwischen ist der See völlig zugefroren, und<br />

Ein Blick in die Natur - Teil 4<br />

Der vierte und letzte Teil meines Berichts über die Jahreszeiten im Naturschutzgebiet<br />

„Große Lache von Geinsheim“, beschließt nun diese Serie.<br />

Nach einigen kälteren Nächten überzieht Raureif Bäume, Blätter und Gräser. Die Landschaft sieht,<br />

wie mit Puderzucker überzogen, aus. Ganz allmählich hat der Winter Einzug gehalten. .<br />

darunter wird das Licht schwach und schwächer.<br />

Der Sauerstoffgehalt nimmt ständig ab.<br />

Doch bildet die geschlossene Eisdecke auch<br />

eine isolierende Schutzhülle für viele Bewohner.<br />

Trotz langer Frostperioden oder extremer<br />

Temperaturschwankungen bleibt das Wasser<br />

darunter temperiert und gefriert nicht. Winterknospen<br />

von Teichlinsen und Tausendblatt<br />

sind auf den Boden abgesunken, ähnlich<br />

prall gefüllt mit Reservestoffen wie die<br />

kräftigen Wurzelstöcke von Laichkräutern,<br />

Seerosen und Sumpfschwertlilien, die den<br />

schlammigen Boden durchziehen. Sie bilden<br />

ideale Schlupfwinkel für zahlreiche kleine<br />

Kreaturen wie die Larven von Köcher- und<br />

Schlammfliegen. An ruhigen, neblige Tagen<br />

zieht uns die fahle Schönheit dieser Landschaft<br />

in ihren Bann. In ihrer Anmut gleicht<br />

sie japanischen Tuschezeichnungen. An zarte<br />

Pinselstriche erinnern die schlanken Halme<br />

von Schilf und Binsen – an schwarze Kleckse<br />

die dunklen Köpfe der Teichbinse. Im Hintergrund<br />

heben sich die dunkelgrauen Schatten<br />

der Schwarzpappeln von Flechtwerk der<br />

kahlen Winterzweige ab. Der Raureif hat die<br />

Konturen von Zweigen und Blättern mit kristallenen<br />

Linien nachgezeichnet. Das zarte<br />

Adernetz der Laubblätter und die Muster der<br />

ineinander verwobenen, trockenen Grashalme<br />

entfalten ihre Schönheit. Doch langsam<br />

hebt sich der zarte Grauschleier, und die ersten<br />

Sonnenstrahlen entfachen ein Feuerwerk<br />

von blinkenden und blitzenden Kristallen –<br />

der Winter zeigt sich in seiner ganzen Pracht.<br />

Das Teichhuhn verlässt den Schutz des<br />

Röhrichts und sucht sich, ängstlich sichernd,<br />

einen Weg über das<br />

Eis zur offenen Wasserfläche.<br />

Blässhühner<br />

sammeln sich<br />

jetzt an den nicht zugefrorenen<br />

Seen.<br />

Das neue Jahr ist<br />

angebrochen, die<br />

Sonne steigt höher<br />

und gewinnt allmählich<br />

wieder an<br />

Kraft. Die Tage werden<br />

länger. Unruhe<br />

bricht aus unter den<br />

Wasservögeln – die<br />

Balzzeit wird eingeleitet.<br />

Immer mehr<br />

Blässhuhnpaare sondern<br />

sich aus dem<br />

Winterverband ab<br />

und verteidigen ihr<br />

kleines Brutrevier<br />

recht zänkisch und aggressiv gegen Eindringlinge.<br />

Hitzige Verfolgungsjagden spielen<br />

sich draußen auf dem Wasser ab. Blässhühner<br />

stürzen sich mit vorgestreckten Köpfen,<br />

fauchend und zeternd aufeinander. Auch<br />

am Reiherhorst haben die Balzzeremonien<br />

begonnen. Stockentenerpel prangen wieder<br />

in ihrem glänzenden Frühlingsgefieder. Ihre<br />

smaragdgrünen Köpfe und Nacken glitzern<br />

im Sonnenlicht, wenn sie ihre Erwählte auf<br />

dem Wasser umwerben. Unter ständigem<br />

Kopfnicken, Aufrichten der Vorderkörper<br />

und Schnabeleintauchen schwimmen sie neben<br />

dem Weibchen her.<br />

Die Luft ist erfüllt vom Geruch modernden<br />

Holzes, und in der feuchten Atmosphäre<br />

schieben sich einige Pilze durch die Moospolster.<br />

An umgestürzten Bäumen und Stubben<br />

häufen sich die oft in langen Reihen dachziegelartig<br />

wachsenden Baumpilze: Porlinge<br />

und Trameten.<br />

Draußen auf dem Wasser regt sich noch<br />

kein Leben. Düster, kahl und bleiern liegt der<br />

See vor unseren Augen. Weder Seerosenblätter<br />

oder Wasserlinsen beleben seine Oberfläche,<br />

noch zerreißen springende Fische diese<br />

Stille. Nichts stört diese Wasseroberfläche, als<br />

ob Gift jegliches Leben zum Erlöschen gebracht<br />

hätte. Aber die Stille täuscht – denn<br />

dieser See, dieses Kleinod inmitten eines<br />

Naturschutzgebietes<br />

lebt! Ein Ort der<br />

Ruhe, der Beschaulichkeit<br />

und des<br />

Nachdenkens. Heute<br />

mit dem Ausklingen<br />

des Winters schweift<br />

unser Blick über die<br />

scheinbar leblosen<br />

Wasserflächen, und<br />

wir träumen von der<br />

Zeit des wieder sprudelnden,<br />

pulsierenden<br />

Lebens, von tanzenden<br />

Eintagsfliegen,<br />

von springenden<br />

Fischen und von den<br />

zwischen farbenprächtigen<br />

Blüten summenden<br />

Bienen – vom<br />

Sommer.<br />

Ich hoffe, Ihnen hat die Exkursion in die Natur<br />

über die vier Jahreszeiten gefallen.<br />

Somit bleibt mir nur noch, Ihnen wunderschöne<br />

Tage in der Natur zu wünschen.<br />

Mit freundlichen Grüssen verbleibe ich,<br />

Ihr Aribert Kirschner (Text und Fotos)

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