Nr. 66 - Soziale Welt
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KOMMENTAR<br />
OCCUPY<br />
Frankfurt<br />
Seite 2<br />
Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>66</strong> Euro 1,80<br />
M i t g l i e d i m “ I n t e r n a t i o n a l Ne t w o r k o f S t r e e t Pa p e r s”<br />
„Sozialpolitisch links von mir<br />
ist die Wand“<br />
KINDERHILFE<br />
DIE ARCHE –<br />
Ein Interview mit<br />
Daniel Schröder<br />
Seite 5<br />
Der Sozialdemokrat Peter Feldmann: Neuer „Häuptling“ im Römer ist eine „Rothaut.“<br />
Peter Feldmann ist der neue Oberbürgermeister! In der Stichwahl am 25. März, erhielt<br />
MUSIK +<br />
SOZIALKRITIK<br />
Manu Chao<br />
er 57,4% der Stimmen, Boris Rhein, der große Favorit verlor die Wahl vernichtend mit<br />
nur 42,6% der Stimmen. Lesen Sie dazu den Kommentar auf Seite 4!<br />
Seiten 8+9<br />
Die Logik von Schwarz-Gelb<br />
– damit unterm Strich mehr bleibt:<br />
Keine Arbeit plus kein Betreuungsgeld<br />
HISTORISCHE<br />
PERSON<br />
Charles Dickens<br />
Seite 10<br />
UNSER REISETIPP:<br />
Golf von Neapel<br />
Teil 2<br />
Seite 16<br />
Im Koalitionsvertrag der FDP und<br />
CDU/CSU von 2009 wurde die Einführung<br />
des sogenannten Betreuungsgeldes<br />
vereinbart. Diese Geldleistung für<br />
Eltern, die sich in den ersten Jahren nach<br />
der Geburt ihres Kindes dazu entschließen<br />
keinen Kita-Platz für ihr Kind in Anspruch<br />
zu nehmen, soll 2013 eingeführt werden.<br />
Die Höhe der Zahlung soll pro Kind 150<br />
EUR betragen. Die Grundlage für den Gesetzesentwurf<br />
bietet der § 16 SGB VIII, der<br />
die allgemeine Förderung der Erziehung in<br />
der Familie regelt. Der Gesetzesentwurf<br />
soll bis Juli 2012 auf dem Tisch liegen. Die<br />
Idee für dieses Betreuungsgeld hatte als erster<br />
der Thüringer Ministerpräsident im<br />
Jahre 2007. Obwohl es innerhalb der CDU<br />
starken Wiederstand gegen die Einführung<br />
des Gesetzes gibt, will vor allem die CSU<br />
die Umsetzung. Eine Umfrage im April<br />
hatte ergeben, dass in der Bevölkerung<br />
Befürworter und Gegner des Betreuungsgeldes<br />
sich die Waage halten. Die Gegner<br />
glauben, daß durch das Betreuungsgeld ärmere<br />
und bildungsferne Eltern davon abgehalten<br />
werden, ihre Kinder in eine Kindertagesstätte<br />
zu geben.<br />
Das Betreuungsgeld ist in der Regierung, schon<br />
seit fünf Jahren, stark umstritten. Auch Arbeitgeber<br />
und Gewerkschaften sind dagegen. Die<br />
Kanzlerin hat nun im April ein Machtwort<br />
gesprochen und mitgeteilt, daß man zu der in<br />
der Koalitionsvereinbarung getroffenen Abrede<br />
stehe und dass noch vor der Sommerpause ein<br />
entsprechender Gesetzesentwurf vorliegen soll.<br />
In diesem Gesetzesentwurf wird auch geregelt,<br />
wer die Leistungen erhalten, bzw. beantragen<br />
kann. Zunächst sollen 100 EUR ausgezahlt werden<br />
und später 150 EUR. Es wird diskutiert,<br />
ob Harz IV Empfänger die Zahlung auf das Arbeitslosengeld<br />
II angerechnet bekommen, oder<br />
nur Gutscheine ausgestellt werden sollen.<br />
Irgendwie ist diese Logik nicht einsehbar gerade<br />
die, die schon zu wenig Geld haben, sollen<br />
bei einer, dem Wohle der Kinder dienenden<br />
Leistung, ausgeklammert und benachteiligt<br />
werden. Das Betreuungsgeld käme allen Eltern<br />
zugute, die sich entschließen Ihr Kind nicht in<br />
die Kita zu geben, unabhängig von der Höhe des<br />
einer Familie zur Verfügung stehenden Einkommens.<br />
Nur die Harz IV Eltern würden ausgespart.<br />
Um sich einmal zu überlegen, wie zynisch<br />
das ist, stelle man sich eine Familie mit einem<br />
Nettoeinkommen von 100.000 EUR im Jahr<br />
vor. Für zwei Kinder kämen zu diesem zur Verfügung<br />
stehenden Betrag noch 3.600 EUR plus<br />
Kindergeld im Jahr dazu, während die Harz IV<br />
Eltern mit zwei Kindern mit weniger als einem<br />
Fünftel dieses Betrages auskommen müssen und<br />
kein Betreuungsgeld zusätzlich erhielten.<br />
Kinderbetreuung ist eine Sache, die den Staat in<br />
besonderer Weise angeht. Kinderarmut ist eine<br />
Schande für eine Gesellschaft, die es sich auf der<br />
einen Seite leistet, Spekulationsverluste zu sozialisieren,<br />
während Teile der heranwachsenden<br />
Generation nicht einmal jeden Tag eine warme<br />
Mahlzeit hat.<br />
Vielleicht sollte man darüber nachdenken, ob<br />
Familien, die über ein hohes Einkommen verfügen,<br />
überhaupt noch Transferleistungen benötigen.<br />
Sollte man nicht lieber die, die an der<br />
Armutsgrenze vorbeischrammen, besser ausstatten?<br />
Damit die Kinder armer Familien, nicht<br />
von allem Anfang an, schon alleine dadurch benachteiligt<br />
sind, daß sie in eine ärmere Familie<br />
hineingeboren wurden.<br />
G.P.
2<br />
POLITIK<br />
Occupy Frankfurt –<br />
Im Schatten der modernen Kathedralen der Hochfinanz<br />
Ein Kommentar von Gerhard Pfeifer<br />
Frauen in Dadaab<br />
(Foto: Philip Hedemann)<br />
Occupy bedeutet im Englischen<br />
– besetzen; seit Oktober 2011,<br />
haben die Anhänger der gleichnamigen<br />
Bewegung einen kleinen Bereich der<br />
Grünanlagen im Schatten der Bankenhochhäuser<br />
besetzt. Die Aktivisten der Frankfurter<br />
Occupy Organisation errichteten dort<br />
am Willy-Brand-Platz ein Zeltlager. Seit<br />
über einem halben Jahr, ist dieses kleine<br />
Zelt-Dorf ein Symbol für den Protest gegen<br />
wilde Spekulationen und ruinöse Finanztransaktionen.<br />
Die Bewegung kam auf, als mit der Lehmann-<br />
Pleite, Anfang September 2008, die internationale<br />
Banken- und Finanzkrise, richtig ins<br />
Rollen kam. Tausende Menschen haben seither<br />
Ihren Protest gegen den unkontrollierten<br />
Kapitalismus demonstriert.<br />
Seit der Anti-Kapitalismus-Demonstration<br />
am 31. März, bei der es zu Straftaten, Gewalt<br />
und Verletzten gekommen war, ist das Camp<br />
vor der EZB mehr denn je umstritten.<br />
Die aktiven „Occupyer“ haben sich zwar<br />
eindeutig von allen Gewalthandlungen distanziert<br />
und rufen ausschließlich zur friedlichen<br />
Demonstration gegen die von ihnen angeprangerten<br />
Missstände auf, konnten aber doch<br />
die Ausschreitungen nicht verhindern. Auch<br />
für weitere Demonstrationen befürchten die<br />
Behörden jetzt gewalttätige Ausbrüche.<br />
Obwohl das Camp, auch nach eigenen<br />
Angaben der Aktivisten, aus dem Ruder gelaufen<br />
war, weil dort zunehmend obdachlose<br />
Personen Unterschlupf gesucht hatten und<br />
sich ein Müllplatz-artiges Chaos ausgebreitet<br />
hatte, verlängerte die Stadt Frankfurt zunächst<br />
die Genehmigung, nachdem entsprechende<br />
Aufräumungsaktionen durchfeührt<br />
worden waren.<br />
Bei meinen Recherchen zu diesem Beitrag<br />
suchte ich nach den Zielen der Bewegung.<br />
Es fiel mir schwer, Solche auszumachen, die<br />
man als Ziele, die seitens der Bewegung als<br />
Ganzes vertreten werden, bezeichnen könnte.<br />
Bei dieser Suche gelangte ich von der offiziellen<br />
Seite der Frankfurter Occupy auf die<br />
Seite von „Thomas Occupy“, der wohl mit<br />
dem Thomas vom Infostand identisch ist<br />
und – seltsamerweise – eine eigene Webseite<br />
zu der Occupy-Bewegung betreibt. Hier<br />
ist zu lesen, dass er für die Bestrafung von<br />
Nichtwählern sei – also für die Einführung<br />
einer scharf sanktionierten Wahlpflicht stehe.<br />
Zweitens sei er für die Steuerpflicht, für dauernd<br />
im Ausland lebende Deutsche und an<br />
dritter Stelle seiner Aufzählung steht die Bestrafung<br />
von Haustierhaltern, die die Hinterlassenschaften<br />
ihrer Haustiere nicht von öffentlichen<br />
Wegen etc. entfernen würden. Er<br />
schlägt einen Monatslohn – als angemessene<br />
Bestrafung – für ein solches Delikt vor. Diese<br />
drei Punkte, so T. auf seiner Internetseite Occupy-Politics,<br />
wären erst der Anfang. Er wäre<br />
dabei 100 Punkte aufzustellen, was aber noch<br />
geraume Zeit in Anspruch nähme. – Warten<br />
wir´s einmal ab, vielleicht kommen da ja<br />
noch bessere Vorschläge, sonst würde ich die<br />
genannten Punkte als eine Art „fundamentalpolitische“<br />
Bankrotterklärung betrachten<br />
wollen, die mich sehr enttäuscht hat.<br />
Auf der offiziellen Seite von Occupy<br />
Frankfurt aber wird darauf hingewiesen, dass<br />
die Ziele, die zunächst dort veröffentlicht<br />
wurden, nur die Privatmeinung einzelner<br />
Aktivisten gewesen seien, die nicht als – gemeinschaftlich<br />
vertreten – verstanden werden<br />
könnten; leider konnte ich nicht mehr ausmachen,<br />
welche das denn waren. Vielleicht<br />
waren es die „Ziele“ von T. Punkt?<br />
Davon abgesehen gab es jede Menge Verweise<br />
und auch Beiträge, die mich folgendermaßen<br />
schlau gemacht haben:<br />
Die Bewegung versteht sich als basisdemokratisch<br />
und plädiert für die Abstimmung des Volkes<br />
in allen Angelegenheiten – via Internet – also<br />
ganz ähnlich wie bei den Piraten. Wobei ich<br />
hier die Einschränkung machen muss, dass<br />
dies wohl auch nur die Meinung einiger Aktivisten<br />
ist. Auf der offiziellen Seite jedenfalls ist<br />
schwer auszumachen, was als gemeinschaftlicher<br />
Konsens gilt. Wenigsten einige, entscheidende<br />
Ziele zu konfigurieren – also zu einer<br />
Entscheidung darüber zu kommen, was man<br />
gemeinschaftlich erreichen möchte, war bisher<br />
nicht wirklich möglich.<br />
Zu dieser Unentschlossenheit stehend,<br />
wird darauf verwiesen, dass die Bewegung vor<br />
allem und zuerst auf Missstände aufmerksam<br />
machen will, was ja auch erreicht wurde!<br />
Aus den einzelnen Beiträgen und Vorschlägen<br />
ergibt sich eine Richtung; Occupy Frankfurt<br />
ist – grob gesagt – gegen eine unkontrollierte<br />
und freie Finanzwirtschaft. Wie die Regulierungen<br />
aber auszusehen haben, ist nicht einheitlich<br />
definiert. Eines ist immer wieder zu<br />
hören – es ginge um die Entmachtung der<br />
Banken. Dabei, wie das erreicht werden soll,<br />
gehen die Meinungen auseinander. Ich würde<br />
sagen das Spektrum geht von totaler Kontrolle,<br />
wie im Sozialismus, bis hin zu einer Art<br />
sozialer Marktwirtschaft, mit wesentlich stärkerer<br />
Gewichtung des sozialen Anspruchs.<br />
In einem persönlichen Gespräch mit einem<br />
der Aktivisten im Lager, hatte ich den<br />
Eindruck, dass es um eine völlige Erneuerung<br />
der bestehenden Systeme gehen soll,<br />
weil man die bestehende Ordnung marode<br />
und „gekauft“ hält.<br />
Wie auch immer, da die Folgen der katastrophalen<br />
Misswirtschaft einiger Finanzinstitute,<br />
die von Gier und Skrupellosigkeit<br />
geleitet waren, Allen vor Augen stand, war<br />
Occupy klar: So kann es nicht weiter gehen!<br />
Die Menschen, die sich aufgemacht haben<br />
ihrer Enttäuschung, Hilflosigkeit und auch<br />
Wut, Ausdruck zu verleihen, finden seither<br />
unter den „Türmen der modernen Hochfinanz“<br />
am Willy-Brand-Platz zusammen, um<br />
gemeinsam gegen diese Entwicklung zu protestieren.<br />
Die kleinen, vom Wind zerzausten,<br />
Zelte und die schäbigen Klamotten im Zeltlager<br />
spiegeln dabei den krassen Unterschied<br />
von Arm und Reich, von Mächtig und Ohnmächtig<br />
und von Groß und Klein, im Schatten<br />
dieser „Finanzkathedralen“, wieder. Das<br />
sich darbietende Bild spricht für sich selbst.<br />
Gegen diesen Unterschied will man eintreten<br />
und ist vor allem – dagegen, gegen unkontrollierten,<br />
menschenverachtenden Kapitalismus,<br />
gegen Ausbeutung, Unterdrückung und<br />
die Sozialisierung der Schulden von Kapitalgesellschaften,<br />
die im Besitz einiger Weniger<br />
sind. Die Mehrheit der Menschen in aller<br />
<strong>Welt</strong> ist arm; Reiche dürfen Ihren Reichtum<br />
unbegrenzt vergrößern, während die Armen<br />
immer ärmer werden. Dagegen will man Protest<br />
einlegen. Es gibt jede Menge Ideen und<br />
Vorschläge verschiedenster Provenienz, aber<br />
kein wirkliches Konzept, kein Patent-Rezept,<br />
wie es besser gemacht werden kann.<br />
„99 % - das sind wir“, so lautet einer Ihrer<br />
Wahlsprüche, aber 99 % sind sie noch lange<br />
nicht, dennoch kamen Tausende und es<br />
werden Tausende kommen, die gegen einen<br />
blinden Kapitalismus demonstrieren wollen.<br />
Darum wird es höchste Zeit, ein Konzept zu<br />
entwickeln, dass die Energie des Protestes<br />
in eine vernünftige und realisierbare Bahn<br />
leitet. Es wird darum gehen, auf demokratischem<br />
Weg, politische Verantwortung zu<br />
übernehmen; denn es ist leicht einen Sturm<br />
der Entrüstung zu schüren, schwer aber dagegen,<br />
politische Verantwortung zu tragen<br />
und sich für realistische Entscheidungen persönlich<br />
einzusetzen.<br />
Aus der Geschichte ist bekannt, dass die<br />
Unfähigkeit sich zu einigen, zum Versagen<br />
der Demokratie führen kann. Im Zusammenhang<br />
mit „Occupy“ war die Rede von<br />
einer Revolution – dies darf und kann nur<br />
bedeuten – eine friedliche Erneuerung der<br />
Internationalen Finanzwesen anzustoßen.<br />
Es bleibt zu hoffen, dass nicht die relative<br />
Orientierungslosigkeit der Initiatoren und<br />
Aktivisten dazu beiträgt, den an sich guten<br />
Impuls, in blinde Wut umschlagen zu lassen,<br />
sodass bei der nächsten Demonstration wieder<br />
die Steine fliegen. Die Bewegung kann<br />
sich nur dann mit Ihren Anliegen bewähren,<br />
wenn sich Vertreter wählen lassen, die in den<br />
Parlamenten und Regierungen an der Verantwortung<br />
mitwirken.<br />
Ohne eine gemeinsame Zielsetzung und<br />
eine vernünftige, demokratische Umsetzung,<br />
kann die Sache immer aus dem Ruder laufen.<br />
Wenn es dabei, unter dem Absingen von<br />
haarsträubenden Verschwörungsparolen, zu<br />
weiteren Ausschreitungen kommt, ist das der<br />
Sache nur nicht dienlich, sondern kriminell<br />
und demokratiefeindlich.<br />
Die Politikerinnen und Politiker haben die<br />
Botschaft von Occupy gehört. Viele setzen<br />
sich für eine gerechtere Finanzpolitik und<br />
eine bessere Ordnung des Bankenwesens ein;<br />
jetzt ist es wichtig, dass die, die protestieren,<br />
auch zu Mitwirkenden am demokratischen<br />
Prozess werden, Verantwortung übernehmen<br />
und auf eine gute Ordnung hinarbeiten. Nur<br />
dann wird die Bewegung nicht in der Bedeutungslosigkeit<br />
verschwinden.
Unter der Brücke<br />
Rosemarie verkauft den FREIeBÜRGER<br />
seit der ersten Ausgabe und hat sich schon<br />
sehr früh bewusst für ein Leben auf der Straße<br />
entschieden. Hier fühlt sie sich wohl, der<br />
Zusammenhalt unter den Menschen gefällt<br />
ihr und auf der Straße hat sie es auch geschafft,<br />
von ihrer Sucht wegzukommen. Obwohl<br />
sie aus familiären Gründen oft in Freiburg<br />
weilt, ist Hamburg ihre Heimatstadt.<br />
Wenn sie dort ist, verkauft sie auch das Straßenmagazin<br />
Hinz und Kunzt.<br />
Lange hat Rosemarie direkt in der Mönckebergstraße,<br />
mitten in der Hamburger Innenstadt,<br />
gemeinsam mit anderen, Platte gemacht.<br />
Die Geschäftsleute duldeten das, weil<br />
sie sehr schnell feststellten, dass dies auch ein<br />
gewisser Schutz ist, denn Sachbeschädigungen,<br />
wie eingeschlagene Schaufenster, kommen<br />
seitdem nicht mehr vor. Man hat sich<br />
arrangiert und die wohnungslosen Menschen<br />
verlassen selbstverständlich vor Ladenöffnung<br />
ihre Platte.<br />
Seit Sommer 2011 lebt Rosemarie gemeinsam<br />
mit anderen unter der nun wohl<br />
bekanntesten Brücke Deutschlands. Nur ein<br />
paar Hundert Meter von den Hamburger<br />
Landungsbrücken entfernt, steht die Kersten-Miles-Brücke.<br />
Ihr Namensgeber war im<br />
Mittelalter Bürgermeister dieser Stadt, der<br />
den legendären Piraten Störtebecker und andere<br />
Seeräuber köpfen ließ.<br />
Schon seit Jahren schlafen unter dieser Brücke<br />
wohnungslose Menschen. Auch Rosemarie<br />
und ihre Kollegen schlafen dort. „Selbstverständlich<br />
kommt es auch bei uns ab und<br />
zu einmal zu kleineren Streitereien“, meint<br />
Rosemarie, „allerdings passiert das ja auch in<br />
ganz normalen Familien“. Im Laufe der Zeit<br />
haben sich auch die Nachbarn des angrenzenden<br />
Stadtteils St. Pauli an die Brückenbewohner<br />
gewöhnt und einige kommen des Öfteren<br />
vorbei, um Lebensmittel, Bekleidung oder<br />
warme Decken zu bringen. Sicherlich gibt<br />
es auch einige Menschen, die Angst vor den<br />
Bewohnern haben, allerdings gab es bisher<br />
keine nennenswerten Zwischenfälle, die diese<br />
Ängste zu rechtfertigen.<br />
Dies sah der Bezirksamtsleiter Hamburg<br />
Mitte, Markus Schreiber (SPD), allerdings<br />
anders. Nach seiner Ansicht habe es immer<br />
wieder Beschwerden von Anwohnern und<br />
Touristen über die „unerträgliche“ Situation<br />
gegeben. Dies konnte die dort zuständige<br />
NACHRICHTEN 3<br />
Polizei allerdings nicht bestätigen.<br />
Um die Obdachlosen unter<br />
der Brücke zu vertreiben,<br />
machte die Bezirksversammlung<br />
im Juni vergangenen Jahres<br />
100.000 Euro locker und ließ<br />
dort dicke Wackersteine aufschütten, damit<br />
die wohnungslosen Menschen auf diesem unebenen<br />
Boden nicht mehr schlafen konnten.<br />
Allerdings suchten sich die Wohnungslosen<br />
zwischen den Steinen eine gerade Fläche zum<br />
Schlafen. Deshalb ließ das Bezirksamt im September<br />
2011 einen Zaun für 18.000 Euro errichten,<br />
damit sich keiner mehr dort aufhalten<br />
konnte.<br />
Herr Schreiber hatte allerdings nicht mit<br />
der Solidarität und dem Widerstand der Hamburger<br />
gerechnet. Anwohner hingen an dem<br />
ungeliebten Zaun Protestschilder auf, legten<br />
Kränze und Blumen vorm Zaun nieder, um<br />
ihre Trauer über den Tod der Menschlichkeit<br />
zu bekunden. Nach einem St. Pauli Spiel kam<br />
es außerdem zu einer Protestdemonstration<br />
gegen die Ausgrenzungspolitik wohnungsloser<br />
Menschen mit über 1.000 Teilnehmern. Es<br />
entstand ein Runder Tisch „ Obdachlose unter<br />
der Kersten-Miles-Brücke“, um Lösungen<br />
zu finden. Der Vermittler Hans-Peter Strenge<br />
(Präsident der Synode der Nordelbischen Kirche)<br />
drängte Schreiber dazu, den Zaun sofort<br />
abzubauen, denn „solange der Zaun stehe,<br />
werde kein Obdachlosenvertreter bei einem<br />
‚runden Tisch‘ mitmachen“ (Hamburger<br />
Morgenpost 1.10.2011).<br />
Letztendlich musste Schreiber Anfang<br />
Oktober klein beigeben und nach nur zwei<br />
Sitzungen konnte der Runde Tisch seine<br />
Empfehlungen aussprechen. Ergebnis: Die<br />
wohnungslosen Menschen können weiterhin<br />
unter der Brücke bleiben und sollen von einem<br />
neu zu bildenden mobilen Sozialarbeiter-Team<br />
betreut werden. Die Brücke soll in<br />
regelmäßigen Zeitabständen, genauso wie<br />
andere Gehwege, gereinigt werden und die<br />
zuständige Sozialbehörde will über den Winter<br />
zusätzliche Schlafplätze für Obdachlose<br />
mit Hund bereitstellen. Mittlerweile gibt es<br />
hier sogar eine öffentliche Toilette, von der<br />
auch viele Touristen profitieren. Der City-<br />
Bürgermeister empfindet dieses Verhandlungsergebnis<br />
nicht als Niederlage sondern<br />
meint: „Ich bin ein Problem angegangen, vor<br />
dem sich viele weggeduckt haben“, sagte er<br />
im Anschluss an die Sitzung. Wenn es den<br />
Zaun nicht gegeben hätte, so glaubt er, wäre<br />
der Runde Tisch nicht so hochkarätig besetzt<br />
gewesen. „Und wenn alle Maßnahmen, die<br />
wir empfehlen, umgesetzt werden, habe ich<br />
auch finanziell mehr gewonnen als verloren“<br />
SNS/FREIEBÜRGER - GERMANY<br />
(Foto: Rosemarie Scheer)<br />
Wasserschulen<br />
lehren Nachhaltigkeit<br />
In Mexiko haben Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) in dürregeplagten Regionen<br />
so genannte Wasserschulen aufgebaut.<br />
Dort können die Menschen die nötigen<br />
Kenntnisse über einen nachhaltigen Umgang<br />
mit der kostbaren und immer knapper<br />
werdenden Ressource erwerben und zu einem<br />
verantwortlichen Ressourcenmanagement<br />
beitragen.<br />
Bereits seit mehreren Jahren werden Menschen<br />
in verschiedenen und vor allem wasserarmen<br />
Teilen des lateinamerikanischen<br />
Landes in Wasserschulen angeleitet. „Wir<br />
widmen uns den spezifischen Problemen der<br />
einzelnen Regionen und suchen nach konkreten<br />
Lösungen“, sagt die Vorsitzende von<br />
‚Calmécac‘, Araceli Díaz.<br />
Der Name ‚Calmécac‘ geht auf die Schulen<br />
zurück, die einst die Kinder der Adeligen<br />
im alten Aztekenreich besuchten. 2011<br />
eröffnete die NGO eine Wasserschule in der<br />
Stadt Taxco im Bundesstaat Guerrero, 150<br />
Kilometer südlich von Mexiko-Stadt. Promotoren<br />
aus zwölf umliegenden Gemeinden<br />
geben in der Einrichtung Kurse.<br />
Der Südwesten Mexikos leidet nicht nur<br />
unter einem Wassermangel, sondern auch<br />
unter einer starken Verschmutzung durch<br />
den Gold- und Silberbergbau. Spezielle<br />
Schutz- und Säuberungsmaßnahmen sind<br />
dort also dringend erforderlich.<br />
Die insgesamt schwierige Wasserversorgung<br />
in dem Land wird durch den Klimawandel<br />
weiter gefährdet. Mittel- bis längerfristig<br />
rechnen Experten mit negativen Folgen für<br />
die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion,<br />
die menschliche Gesundheit und<br />
die Artenvielfalt. Auch gibt die Übernutzung<br />
von mindestens 100 der 653 Aquifere des<br />
Landes Anlass zur Sorge.<br />
All diese Probleme sind auch anderen lateinamerikanischen<br />
Staaten bekannt. Auch<br />
dort wurden Wasserschulen gegründet, die<br />
den Menschen zudem Techniken der Wasseraufbereitung<br />
vermitteln. Die Rolle der<br />
Frau bei der Wasserversorgung wird ebenso<br />
thematisiert. In vielen Dörfern sind Frauen<br />
dafür verantwortlich, Wasser zu holen, zu lagern<br />
und zu verteilen.<br />
Individuelle Probleme,<br />
individuelle Lösungen<br />
Solche in den Gemeinden gesammelten<br />
Erfahrungen seien sehr wertvoll, so Edith<br />
Kauffer vom Zentrum für Forschung und<br />
höhere Studien in sozialer Anthropologie<br />
(CIESAS) in Mexiko-Stadt.<br />
Die Mitte und der Norden Mexikos werden<br />
seit einem Jahr von einer verheerenden<br />
Dürre heimgesucht, die Landwirtschaft und<br />
Viehzucht erheblich zusetzt. Mehrere Studien<br />
gehen davon aus, dass sie in den nördlichen<br />
Landesteilen noch länger anhalten wird.<br />
30 Prozent aller mexikanischen Haushalte<br />
sind dem Nationalen Statistikamt zufolge<br />
nicht an das öffentliche Wassernetz angeschlossen.<br />
15 Prozent beziehen ihr Wasser<br />
nur alle drei Tage aus anderen Quellen.<br />
Die Wasserschule in der Stadt Malinalco<br />
im zentralen Bundesstaat Mexiko konzentriert<br />
sich auf Maßnahmen zur Säuberung des<br />
San-Miguel-Flusses und zur Wiederaufbereitung<br />
von Brauchwasser. Sie konnte feststellen,<br />
dass allein 2008 an 125 Stellen Abwässer<br />
in den Fluss geleitet worden waren.<br />
Wasser ist Leben<br />
„Wir wollen erreichen, dass die Einwohner<br />
der Stadt sich der Verschmutzung<br />
der Gewässer bewusst werden“, erklärt die<br />
Schulleiterin Macaira Vera. „Die Menschen<br />
vor Ort müssen begreifen, dass sie sich selbst<br />
ihre Lebensgrundlage nehmen, wenn sie ihr<br />
Wasser verschmutzen.“<br />
Die Initiative hat dafür gesorgt, dass 125<br />
Biogasanlagen für den Privatgebrauch aufgestellt<br />
wurden. Eine Biogasanlage wird von jeweils<br />
18 Familien genutzt und kann sekündlich<br />
1,5 Liter Jauche verwerten. Außerdem<br />
wurden vier kommunale Kläranlagen gebaut.<br />
Zuvor waren die Abwässer ungefiltert in den<br />
Fluss geleitet worden.<br />
Jeden Monat wird die Qualität des Wassers<br />
in Malinalco überprüft. Außerdem sammelt<br />
die Organisation Geld für eine Pflanzenkläranlage<br />
und fördert Initiativen zur<br />
Wiederaufbereitung von Regenwasser. Die<br />
NGO setzt sich ferner dafür ein, dass Familien<br />
ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen.<br />
„Denn dadurch ändern sie ihre Konsumgewohnheiten“,<br />
betont Díaz.<br />
Prioritär geht es jedoch darum, mehr<br />
Menschen den Zugang zu fließendem Wasser<br />
zu ermöglichen, die Wasserqualität zu<br />
verbessern und den enormen Mangel an<br />
Kläranlagen zu beseitigen, sagt Kauffer. „Es<br />
gibt praktisch keinen Grenzfluss zwischen<br />
Mexiko, Guatemala und Belize, der nicht<br />
verseucht ist.“ In Chiapas, einem der ärmsten<br />
und zugleich wasserreichsten mexikanischen<br />
Bundesstaaten, gibt es zwar immerhin<br />
24 Kläranlagen. Doch nur die Hälfte arbeitet<br />
effizient.<br />
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen<br />
hatte 2010 eine Resolution verabschiedet,<br />
in der sie den Zugang zu sauberem<br />
Trinkwasser als Menschenrecht festschrieb.<br />
Der UN-Menschenrechtsrat erklärte diese<br />
Resolution für rechtlich bindend. Die Mitgliedsstaaten<br />
der <strong>Welt</strong>organisation sind damit<br />
dazu verpflichtet, ihre Gesetze entsprechend<br />
zu ändern. In Mexiko ist dies bisher<br />
allerdings nicht geschehen.<br />
www.street-papers.org / IPS<br />
(Foto: Mauricio Ramos/IPS)
4<br />
OB-WAHL IN FRANKFURT<br />
Der Rhein-Fall von Frankfurt<br />
Fortsetzung von Seite 1<br />
Wer hätte es gedacht, noch vor<br />
wenigen Wochen, meinte ein<br />
Frankfurter Geschäftsmann gegenüber<br />
einem Redaktionsmitglied: „…ja,<br />
der Feldmann, nach dem Wahlkampf wird<br />
keiner mehr an Ihn denken…!“<br />
Ist die Wahl Peter Feldmanns ein Zeichen<br />
für einen Aufbruch und eine Richtungsänderung,<br />
der Politik im Römer? Wie stehen die<br />
Grünen zum Wahlausgang und zu Feldmann<br />
und wie geht es weiter mit Schwarz-Grün?<br />
Diese Wahl ist für die Sozialdemokratie in<br />
Frankfurt eine große Chance! Jetzt ist zu hoffen,<br />
dass die Sternstunde Peter Feldmanns<br />
vom Sonntag dem 25.März, auch zu einer<br />
Sternstunde der Politik für mehr soziale Gerechtigkeit,<br />
Ausgleich und Miteinander von<br />
Arm und Reich und für mehr ökologische<br />
Rücksichtnahme wird.<br />
Bei aller Euphorie, trauriger Fakt ist, dass die<br />
Mehrheit der Frankfurter Bürgerschaft überhaupt<br />
nicht gewählt hat. Nur geringe 35,1%<br />
der Wahlberechtigten haben es zur Wahlurne<br />
geschafft. Dennoch, die Wahl ist gelaufen<br />
und sie ist für den Sozialpolitiker Feldmann<br />
– mehr als gut – gelaufen!<br />
Die Themen, die Feldmann im Wahlkampf<br />
auf seine Fahne geschrieben hat, haben den<br />
überwiegenden Teil der aktiven Wähler dazu<br />
gebracht, seinem sozialen Konzept – und<br />
ihm, dem engagierten SPD Politiker, ihre<br />
Stimme zu geben.<br />
Wie geht es nun weiter? Wie wird sich dass,<br />
was Feldmann sich vorgenommen hat, umsetzen<br />
lassen? Die Mehrheitsverhältnisse im<br />
Rat sind ja geblieben und weiterhin ist die<br />
Römerkoalition mit der absoluten Mehrheit<br />
der Mandate ausgestattet. Ja, man könnte sagen,<br />
was auch immer der Häuptling will, es<br />
wird nichts werden, wenn die Indianer nicht<br />
wollen.<br />
Könnte diese alte Redensart die politische<br />
Zukunft des neuen Oberbürgermeisters beschreiben?<br />
Die Sitzverteilung im Stadtparlament, 24<br />
Sitze bei den Grünen und 28 Sitze bei der<br />
CDU, gibt diesen beiden Parteien die absolute<br />
Mehrheit. Die Schwarz-Grüne Fraktion<br />
hat damit faktisch das Sagen.<br />
Mit diesem Szenario vertraut, wird Feldmann,<br />
der von sich selbst, am 27.03.2012,<br />
im HR sagte, „Es gibt nicht nur Hartz IV<br />
und Schröder, sondern da, wo die SPD ist,<br />
ist sozialpolitisch links die Wand.“, bei der<br />
Durchsetzung seiner Ziele, durch seine Argumente<br />
überzeugen müssen. Er hat dabei einen<br />
hohen Trumpf im Ärmel: die Wählerinnen<br />
und Wähler, die Ihm am 25. März – mehrheitlich<br />
– ihre Stimme gegeben haben.<br />
Die von Feldmann im Wahlkampf aufgenommenen<br />
Themen und die von Ihm angestrebten<br />
Ziele: die Verringerung des Fluglärms,<br />
die Beseitigung der Kinderarmut, die<br />
Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums, die<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen alter<br />
Menschen und des Miteinanders der Generationen<br />
sowie mehr soziale Gerechtigkeit<br />
in Frankfurt, finden die Unterstützung der<br />
Mehrheit der Wählergemeinde.<br />
In diesem klaren Votum wird deutlich, dass<br />
die sozialpolitischen Themen den Bürgern<br />
noch wichtiger geworden sind. ☺<br />
Die Stadtparlamentarier und damit Ihre<br />
Parteien werden also zukünftig Ihre eigene<br />
Position zu diesen beiden Themenkreisen<br />
noch deutlicher präsentieren müssen. Umso<br />
mehr es Feldmann und der SPD gelingt, die<br />
jeweiligen Positionen der politischen Gegner<br />
abzugrenzen, desto klarer wird das Wählervotum<br />
bei der nächster Kommunalwahl ausfallen.<br />
Es wird also sehr darauf ankommen, die<br />
Öffentlichkeit intensiv an den anstehenden<br />
Prozessen teilhaben zu lassen, indem eine<br />
kontinuierliche Informations- und Transparenz-Politik<br />
betrieben wird.<br />
Die unmittelbare und den Bürgern zugewandte<br />
Art von Herrn Feldmann, wird Ihm<br />
bei seiner Arbeit den notwendigen, mehrheitlichen<br />
Rückenwind geben. Solange er<br />
bei seinem Wirken die Bürger „auf dem<br />
Laufenden hält“ und sich nicht von seinem<br />
Kurs abbringen lässt, wird er mit der Unterstützung<br />
bei den nächsten Wahlen rechnen<br />
können.<br />
Die Regierungsfraktionen werden sich also<br />
sehr genau überlegen müssen, wo und wie sie<br />
mit dem Neuen zusammenarbeiten – oder<br />
ihn blockieren wollen. Die Bürgerinnen und<br />
Bürger haben jedenfalls Ihre Entscheidung,<br />
im Bezug auf die genannten Kern-Themen<br />
Feldmanns, schon getroffen.<br />
Nichts desto weniger, wird es aber auch den<br />
ganzen Einsatz, Kontinuität und Durchhaltevermögen,<br />
Kreativität und Kompetenz erfordern,<br />
die passenden Lösungen für die anvisierten<br />
Ziele zu erarbeiten. Dies wird, bis<br />
zur nächsten Kommunalwahl, nur im Miteinander<br />
der Parteien möglich sein.<br />
Feldmann hat sich kein geringes Pensum vorgenommen.<br />
Die Stadt Frankfurt ist ein internationales<br />
„Pflaster“ und der Bankenstandort<br />
Europas. Die zusammenzubringenden Interessen,<br />
auf diesem weit über die Stadt- und<br />
Landesgrenzen hinausreichenden Parkett,<br />
werden von Ihm sehr viel abfordern.<br />
Die Wählerinnen und Wähler, die Ihn jetzt<br />
zum OB gewählt haben, werden Ihn an der<br />
Umsetzung seiner Wahlversprechen messen.<br />
Ein wesentlicher Punkt wird dabei sicherlich<br />
die Fluglärmverringerung sein, die er als einen<br />
der fünf Hauptpunkte in seinem Ziele-<br />
Katalog benannt hat.<br />
Feldmann geht zuversichtlich in die Zukunft.<br />
In einem Interview, am 26.03, mit<br />
dem Hessischen Rundfunk, betonte er, dass<br />
er auf Zusammenabreit setze und bezog sich<br />
auf die Gemeindeordnung der Stadt, die ja<br />
diese Zusammenarbeit einfordere.<br />
Im Hinblick darauf, ist ein – nicht zu unterschätzender<br />
– Sachverhalt von Bedeutung:<br />
die Reaktion vieler Grünenparteianhänger.<br />
Etliche hatten nach der Wahl erklärt, dass sie<br />
selbst Feldmann gewählt hätten, weil sie den<br />
– rechts angesiedelten – Rhein nicht hätten<br />
wählen wollen. „Ich habe mich, ehrlich gesagt,<br />
gefreut, weil so einen Rechten wie den Boris<br />
Rhein kann man einfach nicht wählen“, meinte<br />
ein Frankfurter Grünen-Mitglied am Rande<br />
der Mitgliederversammlung am Mittwoch.<br />
„Ich bin damit sehr zufrieden“, sagte ein anderes<br />
Parteimitglied. „Ich war ein Anhänger von Peter<br />
Feldmann und habe ihn auch gewählt.“ So<br />
in dem Kommentar von Tobias Lübben, HR,<br />
zu lesen. Analysen der Stichwahl zeigten: Feldmann<br />
bekam vor allem in „grünen“ Stadtteilen<br />
„Oberwasser“. Das „Lagerdenken“ in Rot-<br />
Grün überwog wohl die schwarz-grüne Koalitionsregierung<br />
im Rathaus. So kommentierte<br />
denn auch der HR weiter: “ Offensichtlich gibt<br />
es in den Reihen der Grünenwähler sehr viele,<br />
die sich eher mit den Zielen Feldmanns, als mit<br />
den Vorstellungen Rheins und damit ja wohl<br />
ihres Koalitionspartners identifizieren können.“<br />
(Tobias Lübben, HR, 29.03.2012)<br />
Betrachtet man einmal die Inhalte des Koalitionsvertrages<br />
der Schwarz-Grünen Regierungskoalition<br />
vom 06.Mai 2011, so findet<br />
man dort – ist das nicht erstaunlich? – eben<br />
auch jene Punkte, die Feldmann – sinngemäß<br />
– im Wahlkampf vertritt. Es geht um Schaffung<br />
von mehr bezahlbarem Wohnraum, um<br />
Mehrgenerationenwohnen, um Integration,<br />
um Kinder-Ganztagesstätten, Schulausbau,<br />
Ganztagsschulen und auf Seite 23.f. auch um<br />
das Nachtflugverbot, für das sich die Koalitionspartner<br />
weiterhin konsequent einsetzen<br />
wollen. Die Lärmverminderung in der Stadt<br />
ist ein wichtiger Punkt in diesem Koalitionsvertrag.<br />
Außerdem finden sich darin noch<br />
viele gute Vorsätze, die auch der SPD recht<br />
sein dürften.<br />
Es wäre doch sehr erfreulich, wenn diese<br />
Gemeinsamkeiten, wenn sie vielleicht auch<br />
anders nuanciert sein mögen, dazu führen<br />
würden, dass die Umsetzung der Inhalte nun<br />
richtig Fahrt aufnimmt.<br />
Peter Feldmann sagte, dass er zu Gesprächen<br />
immer bereit sei; vielleicht werden diese Gespräche<br />
dazu führen, dass gemachte Versprechen<br />
umgesetzt werden und Frankfurt eine<br />
noch lebenswertere Stadt – für möglichst alle<br />
Bürger – wird, als sie das jetzt schon ist.<br />
Gerhard Pfeifer (Bilder von: wikimedia)<br />
Der Rhein stürzt in den Main
SOZIALES<br />
Die Arche<br />
Ein Interview mit Daniel Schröder<br />
5<br />
Über 2,6 Millionen Kinder in<br />
Deutschland leben in Armut. Die<br />
ARCHE kämpft dagegen an. In<br />
ihren Einrichtungen bietet sie den Kindern<br />
täglich kostenlos eine vollwertige, warme<br />
Mahlzeit und Frühstück. Hausaufgaben,<br />
sinnvolle Freizeitbeschäftigungen mit Sport<br />
und Musik und vor allem viel Aufmerksamkeit<br />
bilden den Fokus. Denn Kinder brauchen<br />
Bestätigung für ihr Selbstvertrauen. Sie<br />
brauchen das Gefühl wichtig zu sein und<br />
geliebt zu werden. Viele Kinder hierzulande<br />
erleben das Zuhause leider nicht.<br />
Wie sind sie zu dieser Tätigkeit gekommen?<br />
Ich bin als heutiger Leiter der ARCHE in<br />
Frankfurt am Main/Griesheim, durch Bernd<br />
Siggelkow, dem Gründer der ARCHE in Berlin,<br />
auf dieses Projekt aufmerksam geworden.<br />
Ich wollte bei Kindern die in Armut leben<br />
etwas bewirken und wurde von Bernd Siggelkow<br />
gefragt, ob ich es mir vorstellen könnte,<br />
in Frankfurt zu arbeiten. Daraufhin bin ich<br />
von Berlin nach Frankfurt gezogen.<br />
Darf jedes Kind kommen?<br />
Ja, jedes Kind darf herkommen, das in Armut<br />
lebt. Viele der Kinder bekommen wahrscheinlich<br />
nicht genug Aufmerksamkeit von<br />
ihren Eltern, weil diese arbeiten gehen. Hier<br />
ist jedes Kind herzlich willkommen.<br />
Hat die ARCHE besondere Ziele?<br />
Die Kinder dürfen vom 6. bis zum 12. Lebensjahr<br />
hierher kommen. Es gibt aber auch<br />
Ausnahmen, da können die Kinder etwas älter<br />
sein.<br />
Was wird mit den Kindern gespielt oder wie<br />
werden sie beschäftigt?<br />
Mit den Kindern wird Sport gemacht, es<br />
Eltern aus einem weiteren Umkreis können<br />
sich oftmals das Fahrgeld nicht leisten.<br />
Kann man der ARCHE auch Sachspenden<br />
überreichen, falls ja, welche?<br />
Ja, wir freuen uns z. B. über Spielzeug. Es muss<br />
aber Altersgerecht und nicht beschädigt sein.<br />
Die ARCHE hat auch eine eigene Kleiderbox.<br />
Hier kann Kleidung gespendet werden.<br />
Kann man der ARCHE auch Lebensmittel<br />
spenden wie bei der Tafel?<br />
Das kann man leider nicht, weil die ARCHE besondere<br />
Auflagen vom Gesundheitsamt zu beachten<br />
hat. Gewisse Lebensmittel dürfen nur zu<br />
gewissen Temperaturen aufbewahrt werden. Die<br />
ARCHE muss auch jeden Tag eine Essensprobe<br />
aufbewahren. Sollten die Kinder einmal erkranken,<br />
kann nachgewiesen werden, ob es am Essen lag.<br />
Mein persönlicher Eindruck über die ARCHE<br />
fällt sehr positiv aus. Die Mitarbeiter sind sehr<br />
um die Kinder bemüht und sie werden gut gefördert<br />
Das Interview wurde von Bernd Höflich geführt<br />
Was für eine Ausbildung brauchen die Mitarbeiter<br />
für die Tätigkeit in der ARCHE?<br />
Die Festangestellten der ARCHE benötigen<br />
eine pädagogische Ausbildung um die Kinder<br />
zu betreuen.<br />
Das Hauptthema der ARCHE ist die Förderung<br />
der Kinder, um ihnen so eine spätere<br />
Ausbildung zu ermöglichen.<br />
Schmeckt den Kindern das Essen das hier<br />
zubereitet wird?<br />
Wie viele Betreuer arbeiten hier?<br />
Es arbeiten meistens 10 Leute täglich in der<br />
ARCHE, 4 Festangestellte, Praktikanten<br />
und ehrenamtliche Mitarbeiter. Den Leuten<br />
macht es Spaß den Kindern etwas beizubringen<br />
und so auch etwas zu bewirken.<br />
Wie oft kommen die Kinder her?<br />
Die Kinder kommen fast jeden Tag zur AR-<br />
CHE um etwas Neues zu erleben und zu<br />
auch lernen.<br />
Aufgrund verschiedener Länderkulturen gibt<br />
es hier kein Schweinefleisch, es gibt Hühnchen,<br />
Fisch und viel Vegetarisches zu essen.<br />
Der Vorteil für die Arche ist, dass sie das<br />
Essen von einer großen Firma geliefert bekommt.<br />
Das Essen ist bereits fertig zubereitet.<br />
Das spart Zeit und somit können sich die<br />
Mitarbeiter mehr mit den Kindern beschäftigen.<br />
Es gibt aber auch Ausnahmen. Schmeckt<br />
den Kindern das Essen nicht, werden auf die<br />
schnelle z. B. Nudeln mit Ketchup oder Tomatensoße<br />
gemacht. Das kommt aber selten<br />
vor.<br />
Werden die Kinder in Gruppen aufgeteilt?<br />
Die Kinder teilen sich<br />
selber in Gruppen auf.<br />
Die Kinder haben unterschiedliche<br />
Bedürfnisse,<br />
die einen spielen Fußball,<br />
andere basteln oder<br />
malen lieber. Ihnen wird<br />
in der Regel nicht vorgeschrieben<br />
was sie zu machen<br />
haben.<br />
wird gebastelt und es wird getanzt. Auch<br />
wird Musik gemacht. Die Mitarbeiter reden<br />
viel mit den Kindern, denn sie sind neugierig<br />
und haben immer Fragen. Manchmal geht es<br />
aber auch ins Schwimmbad,<br />
da ist es vorteilhaft,<br />
wenn die Kinder einen<br />
Frankfurt Pass haben, damit<br />
können die Kosten<br />
gesenkt werden.<br />
Aus welchem Umkreis<br />
Frankfurts kommen die<br />
Kinder?<br />
(Fotos: ARCHE, Bernd Höflich)<br />
Diese Kinder sind auch weiterhin<br />
von Ihren Spenden abhängig!<br />
In welchem Alter dürfen<br />
die Kinder zur ARCHE<br />
kommen?<br />
Der größte Teil der Kinder<br />
kommt aus Griesheim.<br />
Sozialpolitische Nachrichten für Frankfurt im April/Mai 2012<br />
Caritas Frankfurt<br />
hat den Frühjahrs Rundbrief veröffentlich, der<br />
Rundbrief beschreibt die vielfältige Aktivitäten<br />
Frankfurter Kirchengemeinden in den Bereichen<br />
der sozialen Hilfen. Immerhin: Auch die<br />
katholische Kirche wirkt (politisch ?) öffentlich.<br />
Der Rundbrief ist erhältlich in der Alten<br />
Mainzer Gasse 10.<br />
Banken in Frankfurt<br />
verweigern auch derzeit noch immer obdachlosen<br />
Bürgern in Frankfurt die Einrichtung<br />
eines Girokontos.<br />
Wir können dies durch unsere Kontakte zu den<br />
Klienten bestätigen: Auch Frankfurt verhindert<br />
oft das Konto für Arme. Ob hier die Politik was<br />
ändert, wie im Artikel der Frankfurter Rundschau<br />
vom 26.April ausgeführt, bleibt dahingestellt. Wir<br />
können es nur fordern: Das Konto für Arme…<br />
Aktionsbündnis für bezahlbaren Wohnraum<br />
In den letzten Tagen hat sich das Aktionsbündnis<br />
gegründet.<br />
Weiter Infos unter der E-Mail:<br />
imren@ergindemir.de<br />
Wann ist Herr Feldmann<br />
(baldiger Oberbürgermeister) faul ?<br />
Der CDU Parteichef Uwe Becker hat in einem<br />
Interview in der Frankfurter Rundschau<br />
vom 13.April leider nicht klären können, zu<br />
welchen Zeitpunkten oder in welchen Intervallen<br />
Herr Feldmann faul sei. Wir bitten um<br />
Klarstellung !<br />
Vom JOB direkt in Hartz IV<br />
Der jähe Absturz aus einer sozialversicherten<br />
Beschäftigung in die Grundsicherung<br />
nach Hartz IV traf im letzten Jahr 736.832<br />
Menschen. Zuvor im Jahr 2008 waren es erst<br />
knapp 621.000 Personen.<br />
Eine bedenkliche Entwicklung aus Sicht der<br />
Gewerkschaften.<br />
Köppel ein rechtsnationaler Provokateur?<br />
Ein Roma Junge, der eine Pistole auf den Betrachter<br />
richtet, dieses Titelbild der Schweizer <strong>Welt</strong>woche<br />
sorgt für Diskussionen. Robert Köppel, Chefredakteur<br />
der Zeitung, verteidigt dieses Bild mit<br />
der Schlagzeile: Die Roma kommen zu Raubzügen<br />
durch die Schweiz. Methode Köppel: Auch Kinder<br />
politisch missbrauchen !<br />
RU
6<br />
OBDACHLOSENPROJEKT<br />
Kapstadt, an einem Spätnachmittag<br />
im Februar. Die Nachmittagssonne<br />
taucht die Straßen in ein warmes<br />
Licht und überall herrscht geschäftiges Treiben.<br />
Straßenhändler beginnen langsam ihre<br />
Wahren einzupacken und Menschenströme<br />
schieben sich in Richtung Bahnhof. Arbeiter<br />
in blauen Overalls und telefonierende Geschäftsleute<br />
laufen eilig an uns vorbei. Die<br />
vielen mit Einkäufen beladenen Frauen, die<br />
ihre Kinder mit Handtüchern auf den Rücken<br />
gebunden haben, sind etwas gemächlicher<br />
unterwegs. Und dazwischen Kinder in<br />
Schuluniformen, Touristen und hier und da<br />
ein Obdachloser, der versucht, den Vorbeieilenden<br />
ein paar Cents zu entlocken.<br />
Hautfarbe, Sprache, arm oder reich? All diese<br />
sonst so wichtigen Unterschiede verlieren in<br />
dem wuseligen Feierabend-Treiben scheinbar<br />
ihre Bedeutung. Das ist Mandelas Regenbogennation<br />
von ihrer schönsten Seite. Nur<br />
schade, dass der Großteil der Weißen und einige<br />
wenige Schwarze sich schon bald wieder<br />
in ihren reichen Vororten hinter hohen Mauern<br />
verschanzen werden, während die Mehrheit<br />
der Schwarzen und Coloureds (Farbige)<br />
zurück in ihre Township-Hütten und Häuschen<br />
kehren wird. Und nicht zu vergessen,<br />
die Obdachlosen, die erst gar kein zu Hause<br />
haben, wohin sie zurückkehren könnten.<br />
Doch wir, das sind Adam, Mani und ich,<br />
wollen noch gar nicht nach Hause. Für welchen<br />
Vorort sollten wir uns auch entscheiden?<br />
Adam ist schwarz, Mani ist coloured<br />
und ich bin weiss. Während wir uns einen<br />
Weg durch die Menschenmengen bahnen,<br />
denke ich darüber nach, dass Adam und Manie<br />
diese Straßen auch aus einer ganz anderen<br />
Perspektive kennen – nicht als Straßen um<br />
von A nach B zu gelangen, sondern als Ort<br />
an dem sich, bis vor ein paar Jahren, ihr ganzes<br />
Leben abspielte.<br />
Obdachlosigkeit ist ein weitverbreitetes Problem<br />
in Kapstadt. Eine der Ursachen dafür<br />
ist die alarmierende Arbeitslosenquote von<br />
35%, mit der Südafrika seit Jahren kämpft.<br />
Da die Aussichten auf einen Job auf dem<br />
Land besonders schlecht sind, ziehen viele<br />
junge Menschen in die großen Städte, um<br />
dort ihr Glück zu versuchen. Doch die Städte<br />
können die Flut von armen, häufig schlecht<br />
ausgebildeten Zuwanderern nicht mehr aufnehmen<br />
und so landen viele Glücksucher auf<br />
der Straße. Andere Obdachlose sind irgendwann<br />
einmal von zu Hause weggelaufen;<br />
häufig bereits als Kinder, weil sich niemand<br />
Am Kap der guten Hoffnung<br />
Eine Reportage von Stefanie Schütten<br />
um sie kümmerte oder weil sie die ewigen<br />
Streitereien oder die Prügel der Eltern nicht<br />
mehr ertragen konnten.<br />
Wir haben wir unser Ziel erreicht – eine<br />
schummerige Kneipe, in der man, mangels<br />
Fenstern, schnell jedes Zeitgefühl verliert.<br />
Wir machen es uns an einem Ecktisch bequem<br />
und dann beginnen Adam und Manie<br />
zu erzählen. Ich muss gestehen, dass ich nicht<br />
auf das vorbereitet war, was ich in den nächsten<br />
zwei Stunden zu hören bekomme. Zwar<br />
hatte ich nicht erwartet, dass das Leben als<br />
Obdachloser ein Zuckerschlecken sein würde,<br />
doch was die beiden tatsächlich schon<br />
alles mitgemacht haben, das war mir bisher<br />
noch nicht so klar. Man würde auch nicht<br />
darauf kommen, wenn man die freundlichen,<br />
besonnenen jungen Männer heute sieht.<br />
Manie war jahrelang als Gangster aktiv und<br />
saß bereits mehrmals im Gefängnis, obwohl<br />
er gerade einmal 21 Jahre alt ist. Er wuchs<br />
zwischen Drogen und Kriminalität auf und<br />
lebte schon als kleiner Junge mehr auf der<br />
Straße als zu Hause; eine Schule hat er nie besucht.<br />
Nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt,<br />
der etwa anderthalb Jahre zurück liegt,<br />
beschloss er sein Leben radikal zu ändern.<br />
Adam ist 25 Jahre alt und verließ nach dem<br />
frühen Tod seiner Eltern noch als Kind sein<br />
Geburtsland Tansania um in Südafrika auf<br />
eigene Faust sein Glück zu suchen. Anfangs<br />
wohnte er bei Verwandten in Johannesburg,<br />
doch als er sich dort nach einer Weile nicht<br />
Adam (mit Kappe) und Manie (mit Mütze)<br />
Das Rathaus in Kapstadt<br />
mehr willkommen fühlte, zog er weiter nach<br />
Kapstadt. Dort kannte er niemanden und<br />
landete auf der Straße – für sieben lange Jahre.<br />
Beide haben sie es letztendlich geschafft,<br />
das Kapitel Straße hinter sich zu lassen und<br />
ein neues Leben anzufangen – dank MylifE,<br />
eine Organisation, die sich für die Reintegration<br />
von Straßenkindern und –jugendlichen<br />
einsetzt, doch vor allem auch dank ihrer eigenen<br />
Willensstärke.<br />
Adam und Manie erzählen mir lebhaft von<br />
ihren Jahren auf den Straßen von Kapstadt<br />
und den umliegenden Townships. Immer<br />
wieder kommen wir dabei auf das Thema<br />
Drogen zu sprechen. „Drogen machen das<br />
Unerträgliche erträglich“, erläutert Adam,<br />
„und wenn man sonst nichts hat, bedeuten<br />
Drogen einem alles.“ Wenn man in Kapstadt<br />
über Drogen spricht, ist meist die Rede von<br />
„Tik“. Das ist eine synthetische Droge, deren<br />
Verbreitung in den letzten Jahren sprunghaft<br />
angestiegen ist und von der hier inzwischen<br />
mehr Menschen abhängig sind, als von Alkohol.<br />
Da Tik billig und relativ einfach herzustellen<br />
ist, ist die Droge vor allem unter<br />
Armen und Obdachlosen beliebt.<br />
Der Drogenhandel wird vielerorts von Gangs<br />
dominiert, die die Stadt, und vor allem die<br />
Townships, quasi unter sich aufgeteilt haben.<br />
Diese Gangs sind berüchtigt für ihre<br />
Brutalität; ein Großteil der 18.000 Morde,<br />
die jährlich in Südafrika begangen werden,<br />
geht auf Auseinandersetzungen zwischen solchen<br />
Banden zurück. Die vielen Tattoos auf<br />
Manies Armen zeugen von seiner eigenen<br />
Vergangenheit als Gangster. Erst murmelt<br />
er, nicht darüber sprechen zu wollen – aber<br />
dann tut er es doch: „Mit der Zeit stumpft<br />
man ab. Vor allem unter Drogen-Einfluss ist<br />
man zu vielem im Stande.“ Trotzdem fällt es<br />
mir schwer, mir diesen freundlichen jungen<br />
Mann, der mir da gegenübersitzt und mich<br />
Manie mit seiner kleinen Tochter<br />
aus traurigen Augen anblickt, als knallharten<br />
Gangster vorzustellen. Manies Geschichte,<br />
die Art, wie er von seiner schwierigen Kindheit<br />
erzählt, seine Gewissensbisse – das alles<br />
macht ihn so unglaublich menschlich. Er erwähnt<br />
auch, wie bitter es ist, jeden Tag aufs<br />
Neue mit diesen schrecklichen Erinnerungen<br />
aufzuwachen. Und doch will er durchzuhalten.<br />
Für kein Geld der <strong>Welt</strong> will er zurück in<br />
sein altes Gang-Leben, auch wenn diese Entscheidung<br />
von seinen früheren Kameraden<br />
nicht gerne gesehen wird. Er will aller <strong>Welt</strong><br />
zeigen, dass es möglich ist, sich zu ändern,<br />
egal wo man herkommt.<br />
Adam und Manie sind fest entschlossen, anderen<br />
„gestrandeten“ Jugendlichen als gutes<br />
Vorbild voranzugehen und ihnen zu zeigen,<br />
dass die Straße nicht die Endstation sein<br />
muss. Das ist ganz im Sinne des MylifE-Projekts,<br />
das Menschen wie Adam und Manie<br />
die nötige Unterstützung bietet um so einen<br />
sozialen Wandel in Gang zu bringen. Viele<br />
Jugendliche, denen MylifE irgendwann einmal<br />
geholfen hat, sind heute Vorbilder für<br />
andere junge Leute. Auch Adam und Manie<br />
haben bereits mehrere Sportprojekte und<br />
Workshops geleitet, in denen Jugendliche<br />
lernen, dass es Alternativen zum Leben auf<br />
der Straße gibt.<br />
Doch MylifE hat noch größere Pläne. In diesem<br />
Sommer soll am Eastern Cape, fernab<br />
von allen Städten, das erste MylifE-Peace Village<br />
entstehen. Die Bewohner dieses Dorfes<br />
werden nicht nur junge Obdachlose, sondern<br />
auch Jugendliche aus den ländlichen, häufig<br />
verarmten Regionen Südafrikas sein; Jugendliche,<br />
die auf der Suche nach Arbeit vielfach<br />
in die Städte ziehen, wo ein Großteil von<br />
ihnen auf der Straße endet. In dem MylifE-<br />
Dorf werden sie stattdessen die Möglichkeit<br />
bekommen, einen Beruf zu erlernen, den sie<br />
auch in ihren Heimatdörfern ausüben können.<br />
So soll Obdachlosigkeit an ihren Wurzeln<br />
bekämpft werden.<br />
Adam und Manie freuen sich auf das erste<br />
MylifE-Peace Village, in dem sie als Trainer<br />
und Mentoren eine wichtige Rolle spielen<br />
werden. Aus den Hilfesuchenden sind Helfer<br />
geworden und das, das gibt Hoffnung. Hoffnung,<br />
für die vielen anderen obdachlosen Jugendlichen<br />
in Kapstadt. Hoffnung für Adam<br />
und Manie, denen ich von Herzen wünsche,<br />
dass sie ihren eingeschlagenen Weg fortsetzen<br />
werden. Und nicht zuletzt, Hoffnung für<br />
Südafrika.<br />
Mehr lesen?<br />
MyLife: www.mylife.org.za/blog/<br />
Weitere Südafrikaeindrücke und Erfahrungen<br />
der Autorin:<br />
www.Steffi17101357.wordpress.com<br />
Text und Fotos: Stefanie Schütten
TECHNIK 7<br />
Wem gehört das Internet?<br />
Über den Kampf um das World Wide Web<br />
Anfang der 1960er Jahre wurden die<br />
Vorläufer des heutigen Internets, damals<br />
ARPANET, in den USA, vom<br />
Militär entwickelt. Dieses verabschiedete<br />
sich, wegen Sicherheitsbedenken, von diesem<br />
Projekt. Heute hätten sie es gerne wieder<br />
zurück, aber die Uhr lässt sich nicht so<br />
einfach zurückstellen. Mittlerweile kämpfen<br />
Regierungen, globale Unternehmen und<br />
nicht zuletzt, die „USER“ (Benutzer) um<br />
die Vorherrschaft:<br />
1. Können die Daten kontrolliert überwacht<br />
werden und von wem?<br />
der angeschlossenen Künstler. Tatsächlich ist<br />
dieser „Verein“ eine Art GEZ, die den Produzenten<br />
wohl - den Künstlern nur schlecht<br />
gerecht wird. Etliche Künstler haben sich bereits<br />
aus den Fängen staatlicher Umarmung<br />
zu befreien versucht, indem sie ihre Werke<br />
privat vermarkten. Andere boten ihre Musikstücke<br />
und Videos als freie Downloads an -<br />
dies sind natürlich auch Marketingaktionen.<br />
Während viele alles am liebsten kostenlos<br />
bekommen würden, habe ich noch nicht<br />
gehört, dass zum Beispiel gemalte Bilder, in<br />
einem freien Versandhandel erhältlich wären.<br />
2. Wer verdient Geld mit den unglaublichen<br />
Datenmengen?<br />
3. Hacker & Knacker<br />
(1.) Da sind wir wieder auf den Trip in den<br />
Überwachungsstaat. Einerseits wird ständig<br />
gepredigt, welcher Unrechtsstaat die DDR<br />
(Stasi etc.) früher war, andererseits wird der<br />
Bevölkerung ständig suggeriert: Ihr seid nur<br />
sicher, wenn wir euch überwachen können!<br />
Ein heftiger Streit über die Vorratsdatenspeicherung<br />
in Deutschland tobt seit Jahren. Ein<br />
halbes Jahr, oder so, - Testläufe bestätigen:<br />
Teurer Aufwand und wenig Erfolg. Die Politik<br />
hat die Internet-Provider (z.B. Telekom<br />
und 1&1) zum Aufbau von Überwachungstechniken<br />
verpflichtet. Den Providern wurde<br />
kein finanzieller Ausgleich in Aussicht gestellt.<br />
Gleichzeitig formiert sich Im Europäischen<br />
Parlament der Widerstand gegen das Anti-<br />
Piraterie-Abkommen ACTA, ein weiteres<br />
Gesetz zum Schutz geistigen Eigentums.<br />
Es sei hiermit grundsätzlich möglich, die<br />
(2.) Die Gewinner?<br />
Große Firmen, wie Sony/BMG, Warner<br />
Bros., Disney & Co., kämpfen angeblich<br />
gegen ihren Untergang. Jahrelang durch den<br />
Verkauf von Schellack & Vinyl-Schallplatten<br />
(3) Die Angreifer<br />
Seit der Affäre wikileaks und Julian Assange<br />
haben sich sogenannte Unterstützerorganisationen,<br />
wie Anonymous, dem Kampf gegen<br />
„böse“ Regierungen und Industrien auf die<br />
Fahnen geschrieben. Um erfolgreich dahin<br />
zu kommen, eine Große Website lahm zu legen,<br />
sind kriminelle Vorarbeiten notwendig.<br />
Es geht darum ein Bot-Netz aufzubauen, das<br />
sich über hunderte oder auch tausende PCs<br />
in Privathaushalten erstrecken kann. Hierzu<br />
muss in diese PCs, unbemerkt vom Besitzer,<br />
ein Trojaner injiziert werden, der das Gerät<br />
fernsteuerbar macht. Gleichzeitig kann der<br />
Trojaner, einmal aktiviert, große Mengen Datenmüll<br />
an eine bestimmte Website schicken.<br />
Machen dies alle Bot-Rechner gleichzeitig,<br />
bricht die Website zusammen. Anonymous<br />
Überhaupt: Datenspeicherung<br />
und Auswertung<br />
In den absolutistischen Regimen, wie Iran,<br />
China und auch Russland herrscht eine wahre<br />
Datensammelwut. Die USA und Europa<br />
sind scheinbar auf der gleichen Spur.<br />
Wir sollten uns vor Augen führen, was schon<br />
Jahre vorher, schiefgegangen war:<br />
Damals hatten, insbesondere, die USA, unzählige<br />
Spionagesatelliten ins All geschickt.<br />
Leider konnten die eingesammelten Daten<br />
gar nicht komplett gesichtet werden - Personal<br />
fehlte. Heute ist das noch komplizierter,<br />
da sich die Daten immer mehr anhäufen, für<br />
die Politiker macht das nichts - sie müssen<br />
die Daten nicht auswerten. Irgendein korrupter<br />
Angestellter - vielleicht.<br />
Die Europäische Union will die Bundesrepublik<br />
vor dem Europäischen Gerichts<br />
verklagen, um die Vorratsdatenspeicherung<br />
flächendeckend einzuführen. Der Bundesgerichtshof<br />
hatte die Einführung letztes Jahr<br />
abgelehnt.<br />
Grundrechte von Individuen auszuhebeln.<br />
Es werden gleichzeitig Vereinfachungen und<br />
Erweiterungen gefordert.<br />
und CD´s & DvD´s, so richtig fett geworden,<br />
fürchten sie nun um ihre Vormachtstellung.<br />
Es hatte sich in den vergangenen Jahren<br />
ein „Asoziales Netz“ von Kopierern gebildet,<br />
dem man jetzt entgegentreten<br />
müsse.<br />
Hierbei wurde viel<br />
über „Peer to Peer“<br />
(Rechner zu Rechner)<br />
geklagt. Mittlerweiler<br />
haben einige Firmen<br />
tatsächlich Gerichtsprozesse<br />
gewonnen<br />
und konnten hohe<br />
Schadenersatzforderungen<br />
einklagen.<br />
Mittlerweile hat der<br />
Online-Handel der<br />
„Großen“ die alten<br />
Umsatzzahlen längst<br />
übertroffen.<br />
Die „GEMA“, ein<br />
halbstaatliches Unternehmen<br />
in Deutschland,<br />
vertritt angeblich<br />
die Interessen<br />
selbst hat solche Trojaner zum Download ins<br />
Web gestellt.<br />
Einige große Bot-Netze konnten mit Hilfe<br />
von Anti-Viren-Firmen lahm gelegt werden,<br />
sogar Microsoft war schon bei der Aufdeckung<br />
nützlich.<br />
Eine immer beliebtere Methode zu viel Geld<br />
zu kommen, scheint das Abgreifen von Bankund<br />
Kreditkartendaten geworden zu sein. Allerdings<br />
stehen hier auch die Unternehmen<br />
in Verdacht, viel zu wenig in ihre IT-Sicherheit<br />
zu investieren.<br />
Bei der Flut neuer Gesetzesvorlagen aus Berlin,<br />
Brüssel oder auch Washington scheint<br />
eine „gerechte“, neue Copyright-Regelung<br />
immer noch in weiter Ferne. Anarchie ist<br />
genauso wenig wünschenswert, wie totale<br />
Überwachung. Dies wird uns auch noch<br />
die nächsten Jahre begleiten und kontroverse<br />
Diskussionen entfachen..<br />
hjs<br />
(Grafiken und Foto: : wikinedia)
8<br />
MUSIK UND SO<br />
Manu<br />
„Die Zukunft von der ich träume<br />
Als Sänger Manu Chao auf seiner letzten<br />
Tournee Argentinien besuchte,<br />
waren seine Auftritte wie immer von<br />
seiner Heiterkeit geprägt. Aber er gab auch<br />
politische Erklärungen ab. In Mendoza unterstützte<br />
er die Kampagne gegen Tagebau.<br />
In Neuquén spielte er auf einer Veranstaltung<br />
die 10 Jahre Arbeitnehmerrechte für<br />
Fabrikarbeiter feierte. Hier erklärt er, warum.<br />
Manu Chao bereiste im Rahmen seiner „La<br />
Ventura“ Tournee Argentinien und spielte<br />
mit seiner unverkennbaren Lebensfreude in<br />
voll besetzten Stadien. In Mendoza unterstützte<br />
er die Kampagne gegen den offenen<br />
Tagebau und in Neuquén trat er an den Feierlichkeiten<br />
„10 Años de Zanón“ (zum 10.<br />
Jahrestag der Arbeiterselbstverwaltung der<br />
Fliesenfabrik Zanón) auf. Manuel Cullen traf<br />
den Musiker und hörte ihm zu, was er zu sagen<br />
hatte. Im Gespräch erfuhr er u.a., dass<br />
Manu Chao die Konsumdiktatur und deren<br />
untragbare Anführer verurteilt.<br />
Panorama der 90er Jahre äussert erfolgreich.<br />
Mit ihrer unter dem Kunstwort „Patchanka“<br />
vereinten Vermischung von Rock n‘ Roll,<br />
lateinamerikanischen Rhythmen, Reggae,<br />
Rumba und französischem Chanson brachten<br />
sie es fertig, sich mit jedem neuen Album<br />
bis 1994 immer wieder frisch zu erfinden.<br />
Ihre Auftritte (finanziert dank einem Vertrag<br />
mit der multinationalen Plattenfirma Virgin)<br />
führten die Band von Bühnen in den USA<br />
bis zum Karl Marx Theater in Havanna und<br />
von notdürftigen Podien in den Bergen Ecuadors<br />
auf eine abenteuerliche Zugreise in den<br />
gefährlichen kolumbianischen Dschungel.<br />
Ausgebrannt und erschöpft von ihren langen<br />
Tourneen, löste sich die in der Pariser Peripherie<br />
ins Leben gerufene Band auf. Mano<br />
Chao verzichtet nur ungern auf riskante Unternehmen.<br />
Bald 20 Jahre sind es her, seit er<br />
mit Mano Negra in einem ganz anderen Puerto<br />
Madero als es heute existiert, das erste<br />
Mal in Argentinien vor Anker ging. Nun ist<br />
er mit seinem neuen Projekt „La Ventura“ zurückgekehrt.<br />
Die Chronik eines rebellischen und<br />
eigenwilligen Künstlers.<br />
Paris. 1828. Boulevard des Verbrechens. Der<br />
Inhaber eines Theaters bekommt Besuch<br />
von einem neuen Künstler, der ihn versucht<br />
an der Nase herum zu führen. Da sich der<br />
Geschäftsmann nicht von seinem Bluff überzeugen<br />
lässt, behauptet der junge Mann von<br />
sich: „Meine Darbietung zeugt von Originalität.“<br />
Der Mann richtet den Blick auf ihn<br />
und erwidert ganz gelassen: „Mein Freund,<br />
originell zu sein ist die älteste Sache der<br />
<strong>Welt</strong>.“ Diese Szene stammt aus dem französischen<br />
Filmklassiker „Les Enfants du Paradis“<br />
(Kinder des Olymp). Noch Tage nach seinen<br />
ausverkauften Konzerten in ganz Argentinien<br />
ruft er sich, ohne neues Lehrmaterial und<br />
vorausgeplante Kampagnen, diese Szene ins<br />
Gedächtnis.<br />
Das von Jacques Prévert während der Nazi-<br />
Besetzung geschriebene Drehbuch resümiert<br />
die gegenwärtige Philosophie dieses unermüdlichen<br />
Troubadours. Es gab jedoch eine<br />
Zeit, in der Chao und seine Bandmitglieder<br />
genau das Gegenteil symbolisierten. Die<br />
Band Mano Negra war im musikalischen<br />
Es lebe das Abenteuer<br />
„Der Name [la ventura] trägt das Wort Abenteuer<br />
in sich und ich interessiere mich dafür,<br />
weil es genau das ist, was ich mir vom Leben<br />
wünsche. Das es eben abenteuerlich ist.<br />
Heute beinhaltet „La Ventura“ (Glück auf<br />
Deutsch) die Parameter der Lernrisiken und<br />
nicht alles unter Kontrolle zu haben. Es geht<br />
darum, im Hier und Jetzt das Beste aus sich<br />
herauszuholen“, versichert er uns zum Tourneeschluss,<br />
der ihn Ende 2011 nach Mendoza<br />
führte. In Mendoza unterstützte er die<br />
Barrio La Gloria Kundgebung und hielt ein<br />
Protestschild gegen den offenen Tagebau. „La<br />
Ventura“ brachte ihn auch nach Neuquén,<br />
wo er zum zehnten Jahrestag der Besetzung<br />
der Compañeros auftrat und in die Nähe<br />
von Buenos Aires, zu dem am Stadtrand der<br />
Hauptstadt gelegenen Malvinas Argentinas<br />
Stadium, wo er dreimal vor ausverkauftem<br />
Haus auftrat.<br />
Seine Fähigkeit Menschen zusammen zu<br />
trommeln begründet er wie folgt: „Es gibt<br />
da etwas biologisches, das wir gemeinsam<br />
während den Jahren, die wir uns kennen,<br />
zusammen gebraut haben und das uns<br />
zwischendurch immer wieder zusammen<br />
bringt. Wir sind nicht auf die Medien angewiesen<br />
damit es passiert, was ich als gesunde<br />
Entwicklung bezeichne. Die Leute verstehen<br />
uns vielleicht nicht, weil alle immer denken,<br />
dass man Geld braucht um jemand zu sein.<br />
Allerdings sind wir der beste Beweis dafür,<br />
dass dies nicht zutrifft.“<br />
Diese Erkenntnis bekräftigt er, indem er anfügt:<br />
„Ich habe mehr mit Glaubwürdigkeit<br />
als mit Mode am Hut.“ Im Laufe des Gesprächs<br />
erzählt der Sänger und Songschreiber<br />
engagiert was er unter der Diktatur des<br />
Konsums versteht und wer seiner Meinung<br />
nach für die gegenwärtige Konsumkultur die<br />
Schuld trägt.“ Unsere gesamte Gesellschaft<br />
drängt einem heutzutage mittels Fernsehen<br />
und Werbung neue Produkte auf. Wenn man<br />
etwas besitzt, das vor mehr als zwei Jahren<br />
aus der Mode gekommen ist, wird es bereits<br />
als alt denunziert. Zumal bereits Kinder dem<br />
Konsumzwang unterliegen, weil man ihnen<br />
weiszumachen versucht, dass man niemand<br />
is,t wenn man nicht die modernsten<br />
und neuesten Produkte besitzt, haben wir<br />
es hier ganz klar mit einer Diktatur zu tun.<br />
Diese Entwicklung ist falsch und hat keine<br />
Zukunft. Schon heute sind nicht genügend<br />
Ressourcen für all die vielen neuen Sachen<br />
vorhanden, die uns von der Gesellschaft aufgeschwatzt<br />
werden. Das nenne ich diktatorische<br />
Auferlegung.“<br />
Hat sich diese Konsumdiktatur nie auf<br />
einen Bereich Ihres Lebens erstreckt?<br />
Ich persönlich war nie so. Ich war immer<br />
sehr gerne in Gesellschaft meiner langjährigen<br />
Gefährten, und darauf bin ich stolz. Ich<br />
mag meine alten Besitztümer, so auch meine<br />
Schuhe. Solange sie halten, liebe ich sie. Sie<br />
sind Teil meines Lebens. Ich trage Sorge für<br />
meine Schuhe und es ist mir völlig gleichgültig<br />
ob es inzwischen modernere Modelle auf<br />
dem Markt gibt. Das ist nicht das einzige,<br />
was uns mit der Konsumdiktatur entrissen<br />
wird. Auch die Achtung und der Respekt<br />
vor Menschen und Objekten geht verloren.<br />
Ein Objekt, das einem ein Leben lang einen<br />
guten Dienst erwiesen hat, sollte man nicht<br />
einfach, nur weil es jetzt eine neuere Version<br />
gibt, entsorgen. Von der menschlichen Ebene<br />
aus betrachtet ist dies schlechthin nicht fair.<br />
So möchte ich auf keinen Fall leben. Eine<br />
derartige Einstellung macht eine Gesellschaft<br />
krank. Man wird mit neuen Produkten bombardiert.<br />
Gerade eben weil es neu ist, fühlt<br />
man sich gezwungen, das neuartige Produkte<br />
zu konsumieren. Wen kümmert es, ob etwas<br />
neu ist?! Altes ist auch wertvoll. Wenn das
ZIALKRITIK<br />
Chao:<br />
, ist eine Zukunft des Teilens“<br />
Produkt in der Tat einen Beitrag zur persönlichen<br />
Verbesserung leisten würde, dann wäre<br />
es das erste Produkt, das ich haben wollte.<br />
Fürchte dich niemals vor der Zukunft und<br />
was auf dich zukommt, denn Du musst ohnedies<br />
dorthin. Obwohl ich glaube, dass die<br />
Zukunft wichtig ist, ist es die Gegenwart, die<br />
zählt, denn die Zukunft wird hier und jetzt<br />
gemacht. Sinnvoll ist was im Moment nützlich<br />
ist. Wichtig ist nicht was neu ist, sondern<br />
was brauchbar ist.<br />
Die Liebe zu Argentinien<br />
Nach den Auftritten mit seiner Band Mano<br />
Negro und mit der Wanderschaustellergruppe<br />
Royal de Luxe, die am Projekt Cargo ‚92<br />
mitgewirkt hatte, trieb es den französische<br />
Sohn spanischer, im Exil lebender Eltern,<br />
mehrmals alleine in die argentinische Pampa<br />
zurück. Hier baute er mit Radio La Colifata,<br />
dem Radiosender des Borda Krankenhauses,<br />
eine Kooperation der besonderen Art auf. Er<br />
half die Grundlagen für eine von verschiedenen<br />
Stilrichtungen geprägte Musikszene mit<br />
Punk-Gesinnung zu schaffen, in der er den<br />
Protagonisten verkörperte.<br />
Bevor 2007 sein neues Album „La Radiolina“<br />
erschien, demonstrierte er am Amerika-<br />
Gipfel in der glücklichen Stadt Mar de Plata<br />
gegen die Anwesenheit von Bush. An diesem<br />
Tag trat er nicht an der Seite anderer prominenter<br />
Gäste wie Silvio Rodrigues und den<br />
Präsidenten von Bolivien und Venezuela, Evo<br />
Morales und Hug Chavez, auf. „In meinem<br />
Leben hatte ich nie das Gefühl etablierten<br />
Politikern gleich gesinnt zu sein. Sollten<br />
politische Ämter eines Tages von Menschen<br />
wahrgenommen werden, die unsere gemeinsame<br />
Gegenwart und Zukunft positiv beeinflussen,<br />
dann wäre das mein Traum! Ich<br />
durfte dies jedoch noch nie erleben. In all<br />
meinen Stunden, Tagen, Jahren und in den<br />
verschiedenen Ländern, in denen ich gelebt<br />
habe, ist dies noch nie vorgekommen. Wir<br />
vertrauen von Zeit zu Zeit gewissen Leuten,<br />
aber letztendlich werden wir immer enttäuscht.<br />
Ich weiss nicht, ob es sich dabei um<br />
eine Art Korruption der Gene handelt, die<br />
sie vergessen lässt, woher sie kommen, sobald<br />
sie Macht riechen. Macht korrumpiert. Es ist<br />
nicht schön, das zu sagen, aber die Geschichte<br />
der Menschheit lehrt es uns“, meint er.<br />
Glauben Sie also, dass die Politik<br />
an sich etwas Negatives ist?<br />
Es gibt nur wenige Menschen in Machtpositionen,<br />
die nicht korrupt sind. Ausser ein<br />
paar Einzelfällen auf lokaler Ebene, in Städten<br />
oder kleineren Orten, sind mir keine<br />
Ausnahmen bekannt. Von Zeit zu Zeit habe<br />
ich Leute getroffen, die von Ihrer Stadt demokratisch<br />
gewählt wurden und die in meinen<br />
Augen ihr Bestmögliches geben. Allerdings<br />
macht man es sich zu leicht, wenn man<br />
sagt, dass alle korrupt sind. Das stimmt nicht<br />
Es gibt in der Tat Menschen, die es aufrichtig<br />
versuchen. Auf lokaler Ebene durfte ich<br />
gelegentlich Bekanntschaft mit solchen Persönlichkeiten<br />
schliessen. Generell betrachtet<br />
habe ich keine Ahnung was passiert. Wird<br />
vielleicht ihre Perspektive mit Antritt ihres<br />
Amtes ausgelöscht? Nein, wahrscheinlich<br />
sind die Dinge komplizierter als sie auf den<br />
ersten Blick erscheinen. In meinem ganzen<br />
Leben bin ich noch nie Menschen auf nationaler<br />
Ebene begegnet, denen ich 100% vertrauen<br />
kann. Wenn es hoch kommt, schenke<br />
ich Ihnen sporadisch zwischen 20 und 30%<br />
meines Vertrauens! Die Problematik ist nicht<br />
einfach, aber das ist der Traum. Die Vorstellung,<br />
dass die Menschen, die uns regieren<br />
und die wir gewählt haben, ihren Bürgern<br />
das Vertrauen schenken und es verstehen, das<br />
ist Utopie.<br />
Im Untergrund<br />
Zwei Tage vor der Demo sang und spielte der<br />
Texter von Politik Kills in einem bescheidenen<br />
Amphitheater vor knapp 50 Personen<br />
in der Nähe des Mar de Plata Hafens. Dank<br />
allem, was sich dort tat, durch die Mund-zu-<br />
Mund Propaganda sowie die verschiedenen<br />
Aufrufe und Kurzmitteilungen, schafften es<br />
Manu und seine Bandgitarren die Aufmerksamkeit<br />
von rund 500 Enthusiasten auf sich<br />
zu lenken. Das Spielen im Untergrund ist ein<br />
Brauch, dem seine Anhänger jeweils fiebrig<br />
entgegen eifern. Manu Chao meint dazu:<br />
„Ich denke viel nach und lokal als Künstler<br />
tätig zu sein fasziniert mich. Genau das ist es,<br />
was ich auch versuche zu tun. Unsere Stimme<br />
ist ein magisches und mächtiges Instrument,<br />
aber wir versuchen ihr immer ein bisschen zu<br />
entkommen und spielen am Boden, an Orten<br />
ohne Bühne, wo uns die Leute geografisch<br />
oder generationsbedingt gar nicht kennen.<br />
Wir füllten das Malvinas Argentinas Stadium<br />
insgesamt dreimal in der letzten Woche. Im<br />
Gegensatz dazu steht mein Auftritt vor drei<br />
Wochen an der Geburtstagsfeier eines Kochs,<br />
der in der Bar gegenüber meinem Haus arbeitet.<br />
Das gehört zu meinem Künstlerdasein.<br />
Die Bar gegenüber meinem Haus wird<br />
von der ganzen Nachbarschaft frequentiert<br />
und meine Nachbarn sind meine schärfsten<br />
Kritiker. Sie sind anspruchsvoller in einem<br />
guten Sinne des Wortes. Denn genau darum<br />
geht es ja schliesslich. Jeder Künstler, der sich<br />
seinen Nachbarn verpflichtet, sich als Teil der<br />
Gesellschaft sieht und ihr dienen will, bewegt<br />
mich.<br />
Für welche anderen Dinge, abgesehen von<br />
Ihrem Engagement für Ihre Nachbarschaft,<br />
lohnt es sich Ihrer Meinung nach zu kämpfen?<br />
Für die jüngeren Generationen ist mit dem<br />
technologischen Wandel und mit der Erfahrung<br />
mit freier Software eine Neudefinition<br />
von Eigentumsrechten entstanden. Es gibt<br />
Mittel und Wege mit denen man sich selbst<br />
organisieren kann, die Privateigentum durch<br />
die Übertragung von Daten und Informationen<br />
festlegen oder auch durch Technologie,<br />
die in Zusammenhang<br />
mit Biologie, Genetik,<br />
usw. steht. Vor ein<br />
paar Jahren hat man<br />
das Internet als die<br />
nächste grosse Revolution<br />
bezeichnet.<br />
Das ist zugleich wahr<br />
und falsch. Heutzutage<br />
sind die Internet-<br />
Kanäle stark kontrolliert.<br />
Du kannst tun<br />
was Du willst, Du<br />
kannst teilen was Du<br />
willst, aber es gibt drei<br />
bis vier, die das Ganze<br />
beherrschen und<br />
die Dir den Zugang<br />
jederzeit entziehen<br />
können … Nun vielleicht<br />
können Sie die<br />
Verbindung nicht allen<br />
verweigern, weil es<br />
immer Leute gibt, die<br />
auf alternative Möglichkeiten<br />
zurückgreifen<br />
können. Für die<br />
meisten Menschen<br />
wird die Leitung jedoch<br />
durch diese drei<br />
bis vier Menschen<br />
überwacht.<br />
Sie sprechen von Eigentumsrechten an<br />
Informationen und Wissen. Wie steht<br />
es mit sonstigen Eigentumsansprüchen?<br />
Nun gut, letzten Endes ist alles wiederverwertbar.<br />
Vor tausend Jahren mit Erde, heutzutage<br />
mit Megapixel…aber was verändert<br />
werden muss, ist die Art und Weise, in der<br />
wir teilen, was wir haben. Das ist die Sache.<br />
Wem das Land gehört und wer es bearbeitet<br />
kann nicht ein und dieselbe Person sein.<br />
Wem gehört die Software und wer arbeitet<br />
mit ihr? Hier geht es um neue Technologien,<br />
im Grunde genommen handelt es sich<br />
jedoch um eine uralte Debatte, die in allen<br />
Bereichen geführt wird. Heutzutage patentieren<br />
Menschen sogar Saatgut. Es ist letztendlich<br />
völlig absurd, aber ich glaube nicht,<br />
dass sich die Zukunft in diese Richtung entwickeln<br />
wird. Ich denke das rein intuitiv, weil<br />
ich nicht wirklich weiss, wie sich die Zukunft<br />
gestalten wird. Allerdings träume ich von einer<br />
Zukunft, in der Ansichten wie „das gehört<br />
mir und ich werde es Dir vermieten“ der<br />
Vergangenheit angehören. Diese ewig gleiche<br />
Diskussion enthält nichts neues, sie ist uralt.<br />
Auszüge<br />
„Die Vorstellung, dass die Menschen, die uns<br />
regieren und die wir gewählt haben, ihren<br />
Bürgern das Vertrauen schenken, es respektieren<br />
und verstehen, das ist Utopie.“<br />
„Ich denke viel nach und lokal als Künstler<br />
tätig zu sein fasziniert mich. Genau das<br />
ist es, was ich auch versuche zu tun. Unsere<br />
Stimme ist ein magisches und mächtiges Instrument,<br />
wir versuchen ihr jedoch immer<br />
ein bisschen zu entkommen und spielen an<br />
Orten, wo uns die Leute gar nicht kennen.<br />
„Heutzutage patentieren Menschen sogar<br />
Saatgut. Es ist letztendlich völlig absurd, aber<br />
ich glaube nicht, dass sich die Zukunft in diese<br />
Richtung entwickeln wird.“<br />
„Wir müssen die Art und Weise verändern, in<br />
der wir teilen, was wir haben.“<br />
9<br />
www.street-papers.org<br />
Hecho en Buenos Aires - Argentina
10<br />
HISTORISCHE PERSON<br />
Charles Dickens - Der Dichter der sozialen <strong>Welt</strong><br />
Charles Dickens war sicherlich einer<br />
der engagiertesten Schriftsteller, die<br />
gegen soziale Ungerechtigkeit ihre<br />
Stimme erhoben. Dieses Jahr feiert die gebildete<br />
<strong>Welt</strong>, soweit sie ihn noch kennt, seinen<br />
200. Geburtstag. Er wurde am 7. 2.1812 in<br />
der englischen Provinz geboren und nicht<br />
einmal 60 Jahre alt. Er gilt als Begründer des<br />
sozialen Romans und zugleich als Meister des<br />
Humors.<br />
Seine eigene arme Kindheit hat ihn fürs Leben<br />
geprägt - Kinderarbeit war damals noch<br />
eine Selbstverständlichkeit wie heute in Indien<br />
und vielen anderen Ländern - und hat den<br />
Schriftsteller dazu geführt, dass er trotz allem<br />
persönlichen finanziellen Erfolg immer für die<br />
Armen und Unterprivilegierten eintrat.<br />
Wenn er im Ausland war, interessierten ihn<br />
weniger die großartigen Kirchen und Paläste,<br />
sondern vor allem Schulen, Armenhäuser,<br />
Gefängnisse und ähnliche Einrichtungen und<br />
er beurteilte z. B. angeblich fortschrittliche<br />
Länder wie die USA vor allem danach. Damit<br />
machte er sich nach dem Bericht über seine<br />
Amerikareise sein großes amerikanisches Publikum<br />
auf Jahre hinaus zum Feind, aber die<br />
Wahrheit über die soziale <strong>Welt</strong> und Anklage,<br />
wo es ihm nötig schien, war ihm immer wichtiger.<br />
Er schrieb 15 Romane, die alle zur <strong>Welt</strong>literatur<br />
gehören, vier Bände Erzählungen und<br />
mehrere Reiseberichte. Überall sind die Zustände<br />
der kleinen Leute, die der ganz Armen<br />
(heute würde man sagen: Hartz-IV-Empfänger,<br />
Obdachlose und Entwurzelte, besonders<br />
auch die armen Kinder) ein wichtiges Thema.<br />
Eine traurige Jugend<br />
Charles Dickens wurde am 7. 2.1812 in der<br />
englischen Provinz geboren. Als er 11 Jahre<br />
alt war, fand seine kleinbürgerliche Kindheit<br />
ein jähes Ende. Der Vater musste ins Schuldgefängnis,<br />
damals ging so etwas wegen ein<br />
paar Schulden sehr schnell, aber die Familie<br />
zog mit, was nicht ungewöhnlich war. Die<br />
Schuldgefängnisse in England unterschieden<br />
sich kaum von den Mietskasernen, nur dass<br />
die Verurteilten nicht arbeiten durften, sondern<br />
ihre Kinder zur Arbeit schicken mussten<br />
wie andere Arme allerdings auch. Der junge<br />
Dickens musste zuerst in einer Fabrik für<br />
Schuhwichse arbeiten, bestimmt nicht der<br />
angenehmste >Job< für ein Kind. Arbeitszeiten<br />
waren auch für Kinder selten kürzer als<br />
für Erwachsene, 10 bis 12 Stunden am Tag<br />
waren normal. Und der Verdienst einer ganzen<br />
Familie reichte nicht für mehr als für das<br />
billigste Essen und oft für nur ein armseliges<br />
Zimmer für eine mehrköpfige Familie. Auch<br />
die Schule und damit die Bildung war in erster<br />
Linie eine Frage des Geldes - ist das heute<br />
wirklich anders? Dickens hat sein Leben lang<br />
und schon in der Kindheit seine mangelhafte<br />
und nur gelegentliche Schulbildung bedauert.<br />
Schon mit 14 Jahren scheint es ihm als Gehilfe<br />
in einer Anwaltskanzlei gelungen zu sein auf<br />
eigene Initiative hin Stenographie zu lernen<br />
und so Gerichts- und bald sogar Parlaments-<br />
Stenograph zu werden. Als immer noch sehr<br />
junger Mann wurde er ein erfolgreicher Reporter<br />
und schrieb Skizzen aus dem Alltagsleben,<br />
die veröffentlicht und honoriert wurden:<br />
Er verdiente eigenes Geld.<br />
Mit 25 Jahren wurde er berühmt, als er in<br />
Fortsetzungen, ursprünglich Erläuterungen zu<br />
dem erfundenen >Pickwick ClubOliver Twist< über<br />
einen armen Jungen und seine Probleme mit<br />
der damaligen englischen <strong>Welt</strong>...<br />
Auch der Roman >David Copperfield< gilt<br />
heute häufig als Kinderbuch, weil er ein Kind<br />
als Hauptperson hat.<br />
Dieser Roman ist besonders stark autobiographisch.<br />
Der Vater Davids stirbt, als dieser noch<br />
ein Kind ist. Der brutale Stiefvater treibt die<br />
Mutter in den Tod, der Junge quält sich auf<br />
einer perversen Schule, muss aber schon mit<br />
10 Jahren in einer Fabrik arbeiten. Die meist<br />
furchtbaren Verhältnisse in Schulen und Fabriken<br />
hat Dickens sein Leben lang angeprangert.<br />
David Copperfield flieht schließlich zu<br />
einer Tante, kommt auf eine angenehme reformierte<br />
Schule und kann, nach vielen Abenteuern<br />
und Rückschlägen, sich eine bescheidene<br />
Karriere als Reporter erarbeiten - ganz<br />
ähnlich wie Charles Dickens selbst.<br />
In Nebenhandlungen lernt der Leser Figuren<br />
kennen, die noch heute in England sprichwörtlich<br />
sind, wie den verantwortungsscheuen<br />
Mr. Micawber und den widerlichen Intrigant<br />
Uriah Heep.<br />
Auch diesen Roman schrieb Dickens in Fortsetzungen,<br />
die vom Publikum jeweils schon<br />
ungeduldig erwartet wurden, und er wusste<br />
meist nicht, wie es jeweils weitergehen würde.<br />
Er schrieb ohne genauen Plan und ohne<br />
alle Notizen, aber das war damals nichts<br />
Ungewöhnliches. Dostojewski z. B. hatte oft<br />
schon einen ganzen Roman an eine Zeitung<br />
verkauft, bevor er noch das erste Kapitel geschrieben<br />
hatte und musste in der Folge hektisch<br />
das oft schon ausgegebene Voraushonorar<br />
abarbeiten.<br />
Schon zu dieser Zeit unternahm Dickens<br />
ausgedehnte Vorlese-Reisen, z. T. durch<br />
Nordamerika, auf denen er enorme Summen<br />
verdiente und sein Ansehen als beliebtester<br />
Schriftsteller der englischsprachigen <strong>Welt</strong> festigte.<br />
Er muss ein begnadeter Vorleser gewesen<br />
sein, hatte in früher Jugend auch einmal<br />
mit dem Gedanken gespielt, Schauspieler zu<br />
werden und kalkulierte die Wirkungen seiner<br />
Auftritte sehr genau. Besonderen Wert legte<br />
er auf das damals besonders beeindruckende<br />
Schaurige, z. B. Mordszenen. Den Erfolg seines<br />
Auftritts konnte er daran messen, wie viele<br />
Frauen ohnmächtig aus dem Saal getragen<br />
werden mussten!<br />
Noch vor dem Unheimlichen und dem sozialen<br />
Engagement, besonders wo es um Kinder,<br />
miserable Schulen und unmenschliche Fabrikarbeit<br />
ging, war er aber für seinen Humor<br />
berühmt. Nicht nur in >David Copperfield<<br />
gibt es unvergessliche Nebenfiguren voller<br />
kurioser Schrullen, die aber immer mit Verständnis<br />
dargestellt werden - außer bei wahren<br />
Bösewichtern, Verbrechern und Ausbeutern<br />
der armen Leute, die auch nicht besser wegkommen<br />
als richtige Gangster, die sie ja auch<br />
sind.<br />
Wahrscheinlich hat Dickens mit seinen viktorianischen<br />
Unterhaltungsromanen langfristig<br />
mehr zur Verbesserung der Situation der Armen<br />
und der Kinder der Armen beigetragen<br />
als Friedrich Engels mit analytischen Schriften<br />
über die Lage der arbeitenden Klasse, Dickens<br />
teils auf oft recht sentimentale Art, aber eben<br />
öffentlichkeitswirksam.<br />
Das Spätwerk<br />
Der Roman, den Dickens nach >David Copperfield<<br />
schrieb, war der erste, für den er sich<br />
vorher einen genauen Plan machte: >BleakhausGolemManufactum
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11
12<br />
FAMILIE / VERMISCHTES<br />
Für die schnelle Küche<br />
Rezept: Gulaschsuppe<br />
Zutaten für 4 Personen:<br />
500 g Rindfleisch<br />
60 g Schmalz<br />
200 g Zwiebeln<br />
1 Esslöffel Mehl<br />
1,25 Liter Fleischbrühe<br />
250 g Kartoffeln<br />
2 Grüne Paprikaschoten<br />
5 Tomaten<br />
1 Glas Rotwein<br />
Salz, Pfeffer, Majoran und Paprika<br />
Zubereitung:<br />
Gulasch in Schmalz anbraten und Zwiebeln hinzufügen, das Mehl darüber stäuben.<br />
Mit der Fleischbrühe aufgießen und die Gewürze hinzufügen. Nun ca. 40 Minuten bei mittlere<br />
Hitze köcheln lassen. Tomaten in das heiße Wasser geben, die Schale von den Tomaten<br />
entfernen. Kartoffeln schälen, Tomaten und Paprikaschoten klein schneiden und hinzufügen<br />
und nochmals ca. 30 Minuten kochen lassen. Dann mit Rotwein abschmecken. Die Gulaschsuppe<br />
mit Stangenweißbrot servieren.<br />
Bernd Höflich<br />
Fabel: Der Kater<br />
Fabel: Hund, Hahn und Fuchs<br />
Es war einmal ein Kater,<br />
der brummte täglich sehr,<br />
Da sprach zu Ihm sein Vater:<br />
„Komm Söhnchen, einmal her.“<br />
Und als das Söhnchen zu ihm kam,<br />
der Vater einen Maulkorb nahm<br />
und steckt´ ihm Maul und Nas hinein,<br />
damit er lerne freundlich sein.<br />
Da lief er sehr betrübt umher und brummte gar nicht mehr.<br />
(Unbekannter Autor, Deutschland, um 1800)<br />
Antifabel<br />
Das arme kleine Tierchen,<br />
das brummte gar nicht mehr:<br />
Der Korb ging ihm ans Nierchen,<br />
bedrückte es zu sehr.<br />
Es wollte von der weiten <strong>Welt</strong>,<br />
von Erde, Meer und Himmelszelt<br />
nichts wissen, wollte einsam sein.<br />
Doch leider ging es dabei ein.<br />
Der Vater lief vergrämt umher:<br />
Sein Brummi fehlt ihm sehr.<br />
(Johann Friedrich Konrad * 21. März 1817)<br />
- Kindern den Mund zu verbieten und sie an ihrer persönlichen Entfaltung zu<br />
hindern, hat immer schlimme Folgen. Kinder müssen sich ausprobieren können.<br />
Zum Ausprobieren gehört es auch, eigene, kontroverse Meinungen vertreten zu<br />
lernen.<br />
Die Kultur des Streitens ist eine hohe Kunst, die der Mensch nicht früh genug<br />
erlernen kann. Streiten können – bedeutet: sich mit anderen auseinanderzusetzten<br />
und dabei gleichzeitig, die Meinung des Gegenübers zu respektieren.<br />
Kinder brauchen einen geschützten Raum, indem sie sich mit den Eltern streiten<br />
können, ohne Gefahr zu laufen, dabei Schaden zu nehmen. Geduld, liebevolle<br />
Einfühlung und die Bereitschaft, mit Argumenten überzeugen zu wollen, gehören<br />
dazu. Kinder brauchen Freiraum, genauso wie klare Grenzen. Diese Grenzen<br />
müssen aber liebevoll, sinnvoll und gerecht sein.<br />
Nur wer sich selbst behaupten kann, während er den Anderen respektiert, der<br />
hat die Chance zu einem gelungenen, frohen Leben und der Fähigkeit zu echter<br />
Gemeinschaft mit anderen Menschen.<br />
(GP)<br />
Ein Hund und ein Hahn hatten Freundschaft geschlossen und machten zusammen<br />
eine Wanderung. Als es Abend wurde, stieg der Hahn zum Übernachten auf einen<br />
Baum, der Hund aber schlief unten an der Wurzel, wo der Baum hohl war. Da nun<br />
der Hahn noch in der Nacht, wie es seine Gewohnheit ist, krähte, hörte ihn ein<br />
Fuchs. Er kam gleich heran, und, unten stehenbleibend, bat er:<br />
„ Komm doch herunter! Ich möchte gern das Tier, das eine so schöne Stimme hat,<br />
begrüßen!“ Darauf sagte der Hahn: „ Du musst erst den Türhüter wecken, der da<br />
unten schläft! Wenn der öffnet, komme ich.“ Wie nun der Fuchs den Türhüter zu<br />
sprechen versuchte, da sprang schon der Hund auf ihn zu und zerriss ihn.<br />
( Äsop)<br />
Die Moral von der Geschichte: Du kannst, auch des Nachts, noch so laut krähen,<br />
es kann dir nichts geschehen, wenn Du den richtigen Freund an der richtigen<br />
Stelle hast.<br />
(Fotos: wikimedia.org)
Warten auf den Biss<br />
VERMISCHTES<br />
13<br />
Man soll sich über nichts auslassen, was<br />
man nicht einigermaßen kennt.<br />
Meine Meinung.<br />
Denken Sie nicht, daß das etwa eine Binsenweisheit<br />
ist; hören Sie sich nur um, die<br />
Leute reden pausenlos über einen Haufen<br />
Ereignisse, bei denen sie nicht dabei waren:<br />
z.B. über den Sozialismus, über 100000<br />
tote Neger, die Fundamentalisten, über die<br />
Mondlandung, na ja, vielleicht nicht gerade<br />
aktuell, also gut, über den Kometen, über die<br />
Steuer-, Krankheits-, Rentenreform, keiner,<br />
den ich kenne und der darüber faselt, ist ein<br />
Entscheidungsträger, wie es so schön heißt,<br />
niemand war dabei.<br />
Und dann quatschen die Leute unentwegt<br />
über Dinge, die sie noch nicht haben, nie kriegen<br />
werden oder sofort: z. B. Herzschrittmacher,<br />
21-Zimmer-Villa, künstlicher Darmausgang,<br />
Drillinge und Ferien auf dem Meeresboden.<br />
So, das ist jetzt mein Stichwort.<br />
Nicht, daß ich dort Urlaub machen wollte,<br />
aber vom Tauchen verstehe ich weiß Gott etwas.<br />
Bloß von anderen Dingen rede ich nicht:<br />
von Beinen nicht, von Autos, von Getränkeautomaten,<br />
von Schnaps, von Billard, halt,<br />
von Billard verstehe ich ein wenig, aber von<br />
Tennis, von Forstwirtschaft und von Tiefziehblechen,<br />
davon habe ich zugegebenermaßen<br />
überhaupt keine Ahnung, ich sage es frei und<br />
offen und äußere mich nicht darüber.<br />
Im Gegensatz zu meinen Freunden, also<br />
meinen Exfreunden.<br />
Die wußten angeblich immer über alles<br />
Bescheid, rissen großartig ihr Maul auf und<br />
alles ging durcheinander.<br />
Es ist jetzt Schluß damit, denn sie sind<br />
nicht mehr am Leben.<br />
Sie sind alle ausnahmslos eines unnatürlichen<br />
Todes gestorben, aber wer wen umgebracht<br />
hat, ist auf keine Weise mehr festzustellen,<br />
war es auch niemals. Es hat auch<br />
niemanden irgendwie interessiert außer unseren<br />
Hausmeister vielleicht, aber mit dem<br />
spricht niemand. Und die Polizei, ich verstehe<br />
wirklich nichts von Kriminalistik, die<br />
wurde nicht gerufen, die hat sicher andere<br />
Probleme, Bußgeldbescheide oder Korruption<br />
im Amt, wie gesagt, ich habe keine Ahnung.<br />
Jedenfalls, was meine früheren Freunde betrifft<br />
und ihr Ableben: können Sie sich vorstellen,<br />
daß man sich so schnell umbringen kann in<br />
einer Menge Leute, daß es hinterher keiner gewesen<br />
war und sein will? Also keiner persönlich.<br />
So wie bei einem Pilgeraufruhr in Mekka,<br />
bei einer Panik im Fußballstadion oder beim<br />
Football, wenn sie alle auf einen Haufen<br />
springen. Sehen Sie, schon wieder rede ich<br />
über Dinge, über die ich nichts weiß.<br />
Schluß damit.<br />
Nur soviel noch, daß von keinem meiner<br />
Freunde nach seinem Tode auch nur ein Fitzelchen<br />
übrig geblieben ist. Rein garnichts<br />
war mehr aufzufinden, nicht einmal ein Kassengebiss,<br />
also, wenn er eines gehabt hätte.<br />
Ich lese übrigens viel Tageszeitungen, ich<br />
habe sie nicht selbst abonniert, ich brauche<br />
ihm bloß über die Schulter zu blicken.<br />
Praktisch.<br />
Um übrigens noch einmal auf das Billard<br />
zurückzukommen: zwar spiele ich nicht<br />
selbst, weil es eben ohne Arme auch schlecht<br />
möglich ist (auch über Arme rede ich nicht,<br />
auch nicht über Finger, Armbanduhren,<br />
Trauringe oder Nagellack!), aber ich kenne<br />
den Tisch sehr gut, die Kugeln, die Queues<br />
und das weiße Zeug, womit sie immer so ein<br />
Getue machen.<br />
Jetzt könnten Sie denken, daß ich ein<br />
Bierzapfer bin in einem Billardcafe, aber wie<br />
könnte ich das ohne Arme, ohne Beine und<br />
ohne Durst. Von Durst verstehe ich auch rein<br />
gar nichts.<br />
Na gut, „bei gleicher Qualifikation werden<br />
Behinderte und Frauen bevorzugt eingestellt“,<br />
das gilt vielleicht für den öffentlichen<br />
Nahverkehr oder für eine Professur in Chinesisch,<br />
das ich übrigens nicht beherrsche,<br />
nicht einmal schlecht.<br />
Für einen öffentlichen Tresenkeeper gilt<br />
das aber nicht. Überhaupt, die Kneipenluft<br />
wäre mir sehr unbekömmlich.<br />
Ja, und Luft überhaupt, das ist auch so ein<br />
Kapitel für sich.... manchmal schnappt man<br />
regelrecht danach. Verschluckt sich gar. –<br />
Ich bin aber auch gar nicht behindert.<br />
Wozu braucht man bloß diese langen Anhängsel<br />
mit den unschönen eckigen Gelenken,<br />
sind die vielleicht elegant?<br />
Sind sie nicht, und betrachten Sie bitte<br />
einmal ein Kamel, das hat noch mehr Gelenke,<br />
das muß jedesmal darüber nachdenken,<br />
wie es sich eigentlich zusammenzufalten hat,<br />
wenn es sich hinsetzen will, eine Fehlkonstruktion<br />
ersten Ranges. Und es hat kein einziges<br />
Kardangelenk, das Kamel; so ein Wunder<br />
hat der liebe Gott dann doch nicht fertiggebracht<br />
wie die Kraftübertragung in einem<br />
Mercedes. Aber davon verstehe ich eigentlich<br />
überhaupt nichts, ich bemerkte schon, daß<br />
ich nicht über Verkehrsmittel rede.<br />
Und nochmal zum Billardspielen.... ich<br />
will es wirklich nicht selbst spielen, es bringt<br />
über kurz oder lang nur Unglück, <strong>Welt</strong>untergang,<br />
Sintflut. Darauf komme ich noch<br />
zurück.<br />
Ausführlich.<br />
Es ist der Grund, warum ich zur Zeit in einer<br />
winzigen stickigen Einraumwohnung hausen<br />
muß und überhaupt fast gestorben wäre. Bitte<br />
merken Sie sich folgenden Satz: es gibt nichts auf<br />
der <strong>Welt</strong>, was gefährlicher ist als Billardkugeln.<br />
Das hätten Sie nicht gedacht, was?<br />
Und ein kraftvoller Stoßer natürlich hinter<br />
dem Queue, es ist die Kombination, die es macht.<br />
Um diese Gefahr aus der <strong>Welt</strong> zu schaffen,<br />
habe ich angeregt, die Billardkugeln durch<br />
Christbaumkugeln zu ersetzen, solche aus<br />
Glas, die spiegeln. Dann würden die Spieler<br />
viel vorsichtiger mit ihrem Stock umgehen.<br />
Die Billardkugeln könnte man ja dann, damit<br />
die Billardkugelhersteller nicht arbeitslos<br />
werden (obwohl sie sich ja auf Christbaumkugeln<br />
umstellen könnten, langfristig jedenfalls),<br />
im Gegenzug an die Weihnachtsbäume hängen,<br />
sie blieben heil, wenn der Baum umfiele.<br />
Nur Vorteile, wohin man schaut.<br />
Aber, ich muß zugeben, es hört niemand auf mich.<br />
Ich kann auch nicht reden. Meistens schweige ich.<br />
Immer.<br />
Was mich aber so richtig stört an meinem<br />
Leben, das ist das eintönige Essen.<br />
Ich esse tatsächlich jeden Tag das gleiche.<br />
Seit Jahren.<br />
Obwohl ab und zu das Etikett auf den Dosen<br />
wechselt. Soweit ich das von hier aus erkennen<br />
kann und ich sehe nicht besonders gut.<br />
Vielleicht gibt es für Arm- und Beinlose nur<br />
eine Sorte Essen. Man muß nämlich nichts<br />
kleinschneiden. Man muß auch nichts kauen,<br />
obwohl, Zähne habe ich wirklich im Überfluss.<br />
Es ist auch immer die gleiche Portion, die<br />
mir gereicht wird, und manchmal ist es etwas<br />
muffig. So wie das Gesicht von dem lieben<br />
Billardspieler, wenn er verloren hat. Und er<br />
verliert eigentlich immer. Hinterher trinken<br />
sie dann Bier oder Prosecco, wenn sie welchen<br />
haben, und sie knabbern dazu Erdnüsse.<br />
Ich verstehe ja nichts vom Trinken.<br />
Und, na ja, ich bin kein Vegetarier. Wirklich<br />
nicht. Und bitte kein Salz!<br />
Sie reden auch häufig über ein sehr merkwürdiges<br />
Hobby, das sie ganz und gar gefangen<br />
nimmt. Sie stehen dann immer auf und breiten<br />
voreinander die Hände weit aus, sprechen von<br />
Ruten, von Ködern und vom Angeln.<br />
Ich habe keine Ahnung, was Angeln bedeutet.<br />
Es ist nicht das einzige, wovon ich<br />
nichts verstehe, das haben Sie sicherlich<br />
schon längst bemerkt. Es muß eine geheime<br />
Sache sein, denn sie erwähnen<br />
manchmal, daß man<br />
beim Angeln sehr schweigsam<br />
sein muß und auf keinen<br />
Fall gestört werden darf.<br />
Von der Ehefrau oder Spaziergängern.<br />
Oder vom Biss. Der Biss ist<br />
die Hauptsache.<br />
Was ist bloß der Biss? Der<br />
Biss stört das Angelschweigen,<br />
aber andererseits muß er wohl<br />
sein, denn stundenlang reden<br />
sie über nichts anderes. Und ich erfahre niemals,<br />
was dahintersteckt.<br />
Ja, und ich kenne keine Spaziergänger und<br />
keine Ehefrau.<br />
Warum ist die <strong>Welt</strong> nur so rätselhaft? Warum<br />
lese ich immer Zeitung? Die Überschriften<br />
jedenfalls, das andere ist meistens viel zu weit<br />
entfernt. Er hält es mir ja nicht vor die Nase.<br />
Seitdem ich in der Einraumwohnung<br />
lebe, ist die <strong>Welt</strong> noch viel undurchsichtiger<br />
geworden. Nehmen Sie das ruhig wörtlich.<br />
Grünlich, bräunlich.<br />
Und alles sieht aus, als sei es heftig in die<br />
Breite gegangen. Wie in einem dickmachenden<br />
Lachspiegel. Die Billardkugeln sehen aus wie<br />
bunte Ostereier und der Kopf des lieben Billardspielers<br />
erinnert stark an das Ding, was sie<br />
beim Football durch die Gegend schleppen.<br />
Das weiß ich aus dem Fernsehen.<br />
Endlich etwas, was ich kenne.<br />
Ich kenne aber eigentlich keinen Spiegel.<br />
Keinen richtigen. Weil ich niemals ausgehe.<br />
Einen Spiegel braucht nur der, der vor dem<br />
Ausgehen überprüfen will, ob die <strong>Welt</strong> seinen<br />
Anblick verträgt.<br />
Ich vermute, daß man, mit oder ohne<br />
Spiegel, meinen Anblick im allgemeinen<br />
nicht besonders liebt. Allenfalls Liebhaber<br />
lieben mich, ich könnte vermuten, daß der<br />
liebe Billardspieler mein Liebhaber ist.<br />
Sicher bin ich nicht. Aber er wirft mir zeitweise<br />
Blicke zu, die ich nicht zu interpretieren weiß.<br />
Vielleicht ist es Flirt, aber, was ist eigentlich Flirt?<br />
Wenn er nicht Billard spielt, sitzt er in<br />
dem Sessel und liest in einem Buch mit dem<br />
Titel „Die Kunst des richtigen Flirts“. Und<br />
schaut ab und zu in meine Richtung.<br />
Vermutlich übt er den Flirt.<br />
Keine Ahnung, was ich da unternehmen<br />
soll. Ich tue nichts, wie üblich.<br />
Das war schon immer das einzig richtige.<br />
Allerdings denke ich, er sollte sich lieber<br />
um sein Spiel kümmern, präziser zielen, vor<br />
allen Dingen nicht daneben.<br />
Wie gesagt, ich komme noch darauf zurück.<br />
Ja, und dann die Sache mit den Rindern,<br />
das wird auch immer mit uns in Verbindung<br />
gebracht. Die Rinderknochen, sozusagen.<br />
Sehr nervig, das.<br />
Es ist nichts besonderes dabei; aber z.B.<br />
das Kalb mit sieben Beinen, das dieser Tage<br />
in Sachsen in einem Kuhdorf zur <strong>Welt</strong> kam,<br />
dieser genetischen Sackgasse (was ist das bloß<br />
wieder in der Überschrift?) hat man schon sehr<br />
wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht.<br />
Na ja, es starb ja auch gleich nach der Geburt.<br />
Obwohl es mit den sieben Beinen hätte<br />
sehr schnell davonlaufen können.<br />
Wenn die Billardspieler nicht da sind, ist<br />
niemand da.<br />
Oder sie sind da und spielen Billard.<br />
Räumen rum.<br />
Ja.<br />
Oder nicht.<br />
Oft ist nichts, rein gar nichts.<br />
In mir ist dann auch nichts.<br />
Ich schwimme, also bin ich. Das reicht.<br />
Und nach einiger Zeit, meist gegen neun<br />
Uhr abends, kurz, bevor das Licht ausgeht,<br />
fange ich an zu warten.<br />
Ich habe das Warten auf diese kurze Zeitspanne<br />
von etwa fünfzehn Minuten verschoben,<br />
weil es dann nicht so lange dauert.<br />
Wenn ich schon morgens anfangen würde<br />
mit dem Warten, es dauerte wirklich viel zu<br />
lange, endlose Tage, Wochen, Monate.<br />
Jahrzehnte möglicherweise.<br />
Falls ich sehr alt werden sollte.<br />
Absolut zu lange. Unerträglich.<br />
Ich verkürze mir das Warten auf eine Viertelstunde<br />
täglich, so daß es fast Spaß macht.<br />
Denn wenn das Licht ausgeht, schlafe ich<br />
schlagartig ein.<br />
Natürlich sieht man es mir nicht an, weil<br />
ich nichts zum Zuklappen habe. Keine Bettdecke,<br />
keine Augenlider.<br />
Es schaut auch niemals jemand zu.<br />
Alles ist automatisch.<br />
Ja, was ich noch bemerken wollte: ich warte<br />
auf anderes Futter. Es muß sich eines Tages<br />
die Gelegenheit ergeben, endlich einmal<br />
etwas ganz anderes in den Rachen zu kriegen.<br />
Das Maul voller Zähne, aber nichts zum<br />
Beißen, es ist, ehrlich gesagt, zum verrückt<br />
werden. Jeden Tag kommt der liebe Billardspieler<br />
mit seinem Esspulver, seinen Futterflocken<br />
an, er glaubt, er tut mir was gutes.<br />
Ich habe etwas anvisiert, einen saftigen<br />
Happen, etwas frisches, das mich an die alten<br />
Zeiten erinnert. Rohes Fleisch, Knorpel,<br />
Blut, Vitamine, Lebendiges.<br />
Was sind bloß Vitamine?<br />
Ich weiß es nicht.<br />
Egal, ich muß nur noch ein paar Tage warten,<br />
bis er wieder gesund ist. Sonst stecke ich<br />
mich noch an. An seinem Schnupfen.<br />
Ein paar Tage noch.<br />
J.Krämer<br />
(Bild: hjs)<br />
Nachbemerkung des Autors:<br />
Der Finanzsachbearbeiter Karl Hermann<br />
Pflegestock wurde, nachdem er in einem<br />
Wutanfall seine gesamte Wohnungseinrichtung<br />
zertrümmert hatte, in die örtliche Heilund<br />
Pflegeanstalt, geschlossene Abteilung,<br />
eingewiesen. Dem behandelnden Psychiater<br />
gab er zu Protokoll, er habe das jahrelange<br />
Anstarren durch seinen Piranha in einem<br />
kleinen kugelförmigen Becken nicht mehr<br />
ertragen können. Früher habe er ein großes<br />
Aquarium besessen mit einem ganzen Piranhaschwarm<br />
und eigentlich hätten sich die<br />
Tiere recht gut vertragen. Aber dann fingen<br />
die Fische an, sich urplötzlich in Phasen eines<br />
rigorosen Kannibalismus selbst zu dezimieren<br />
und schließlich sei nur noch ein einziger<br />
übrig geblieben. Zu allem Überfluss sei<br />
auch noch das Unglück mit dem Billardball<br />
passiert, der leider das Piranhabecken zerstört<br />
habe und mithin auch den Teppichboden;<br />
aus Geldmangel habe er den verbliebenen<br />
einzigen Fisch in ein rundes Goldfischglas<br />
setzen müssen, was diesem offenbar nicht<br />
gut bekommen sei. Eines Abends beim Füttern<br />
des Tieres sei dieses plötzlich blitzartig<br />
aus dem Wasser gesprungen und habe sich<br />
in seiner Nase verbissen. Da sei er schließlich<br />
durchgedreht und habe alles kurz und klein<br />
geschlagen.<br />
Herrn Pflegestocks Geruchsorgan war leider<br />
nicht mehr zu retten. Er hat vom Piranhahalten<br />
die Nase voll und möchte sich in<br />
Zukunft nur noch dem Angelsport widmen.
14<br />
VEREINSmeldungen / Impressum<br />
•Die Tafel Nordwest sucht dringend FahrerInnen für Lebensmittel!<br />
Die Lebensmittel werden knapp<br />
bei der Tafel Nordwest, da<br />
noch Transportkapazitäten<br />
fehlen. Im schlimmsten Fall müsste<br />
die Lebensmiittelausgabe von einem<br />
wöchentlichen Turnus auf 14 Tage<br />
ausgedehnt werden. Dies wäre für alle<br />
Betroffenen mehr als ärgerlich, da auch<br />
viele, verderbliche Lebensmittel nicht<br />
für 14 Tage aufbewahren können.<br />
Die Leiterin; Frau Burger, der Tafel<br />
Nordweststadt, sucht daher händeringend<br />
engagierte Bürger mit eigenem<br />
PKW, die bereit sind, beim Warentransport<br />
behilflich zu sein.<br />
Ihr Engagement wird gut bezahlt!<br />
Die Arbeitszeit erstreckt sich über die<br />
Vormittagsstunden ab ca. 8.30 Uhr.<br />
Der Transport kann an einem oder auch<br />
mehreren Tagen erfolgen.<br />
Wenn Sie sich aktiv engagieren möchten,<br />
so melden Sie sich bitte bei:<br />
Frau Helga Burger<br />
Tel.: 57 14 57<br />
Frau Burger (ganz links) und ihre MitarbeiterInnen<br />
(Foto: GP)<br />
Anzeige<br />
So finden Sie uns:<br />
Straßenbahn: 11 Richtung Höchst,<br />
Zuckschwerdtstr.Haltestelle:<br />
Schwalbacher Str.<br />
S-Bahn:S3-S6<br />
Haltestelle: Galluswarte<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> - Termine 2012<br />
(Kartenquelle: openmaps.org)<br />
M u s i k z u m m i t m a c h e n -<br />
f ü r a l l e M e n s c h e n<br />
B i l d e r a u s u n s e r e m<br />
Ü b u n g s r a u m i n H ö c h s t<br />
Vorstandssitzung: VS<br />
Redaktionskonferenz: RK<br />
Mitgliederversammlung: MV<br />
Monat Sitzung Datum<br />
Uhrrzeit<br />
Mai RK Mi., 16.05. 19:00<br />
Mai VS Do., 31.05. 18:00<br />
Mai MV Do., 31.05 18:30<br />
Mai RK Do., 31.05. 19:00<br />
Juni RK Mi., 06.06. 19:00<br />
Juni VS Do., 28.06 18:00<br />
Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />
Lahnstr. 37<br />
60326 Frankfurt am Main<br />
Tel.: 069-373 00 568<br />
Fax.: 069-254 97 248<br />
E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />
Internet: www.soziale-welt-ffm.de<br />
Redaktion:<br />
Martin Fischer, Yevheniya Genova,<br />
Bernd Höflich, Johannes Krämer,<br />
Gerhard Pfeifer, Thomas Schindler,<br />
Silvia Schöpf, Stefanie Schütten,<br />
Reinhold Urbas (v.i.S.d.P.)<br />
Wir treffen uns Montags:<br />
Lahnstr. 37<br />
Frankfurt-Gallus<br />
9.00 - 12.00 Uhr<br />
und Dienstags:<br />
Karl-Blum-Allee 1-3<br />
Frankfurt-Höchst<br />
10.00 - 13.00 Uhr<br />
Die nächsten Termine 2012:<br />
5. + 6.3., 12. + 13.3.,<br />
19. + 20.3., 26. + 27.3.,<br />
2. + 3.4. + 10.4.<br />
Kontakt: Reinhold Urbas * Tel.: 06109 - 22527 * E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />
Layout und Satz:<br />
Hans-Jürgen Schöpf<br />
Bürozeit:<br />
Mo, Mi, Do 9 - 15 Uhr, Fr 9 - 12.30 Uhr<br />
Am Dienstag bleibt das Büro geschlossen<br />
Zeitungsverkauf:<br />
Mo., Mi., Fr. 10.00 - 12.00 Uhr<br />
und nach telefonischer Vereinbarung!<br />
Auflage: 3.500<br />
Druck: CARO-Druck<br />
Kasseler Str. 1a<br />
60486 Frankfurt am Main
KULTUR<br />
Unsere Buchempfehlungen Frühsommer 2012<br />
15<br />
Tagebuch eines Obdachlosen<br />
Protokoll eines Selbstverlustes<br />
Der Verlust des Ortes ist der Verlust eines Anderen,<br />
des letzten Anderen, des Phantoms,das<br />
einem empfängt, wenn man in seine einsame<br />
Wohnung zurückkehrt<br />
Der Autor Marc Augé beschreibt in seinem<br />
Roman sein Abstieg zum Obdachlosen, Sehr<br />
genau schildert er die Zusammenhänge des<br />
Verlustes der Wohnung, der Freunde und<br />
den Verlust an der sinnvollen Teilnahme an<br />
der Gesellschaft. Sehr lesenswert!!!!<br />
Marc Augé Tagebuch eines Obdachlosen<br />
becksche reihe 10.95 Euro<br />
ISBN 978-3-406-63080-4<br />
Empört Euch!<br />
Die Bücherliste:<br />
von Stéphane Hessel (Ullstein)<br />
Freiheit statt Kapitalismus<br />
von Sahra Wagenknecht (Campus Verlag)<br />
Business as usual<br />
Krise und Scheitern des Kapitalismus<br />
von Paul Mattick (Edition Nautilus)<br />
Die Schock-Strategie<br />
Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus<br />
von Naomi Klein (Fischer)<br />
Das befremdliche Überleben<br />
des Neoliberalismus<br />
Postdemokratie II<br />
von Colin Crouch (Suhrkamp)<br />
Gegen den Neoliberalismus andenken<br />
Linke Wissenspolitik und sozialistische Perspektiven<br />
von Alex Demirovic und Christina<br />
Kaindl (VSA)<br />
Wir sind viele<br />
Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus<br />
von Heribert Prantl (Süddeutsche)<br />
Die bösen Geister des<br />
himmlischen Bereichs<br />
Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert<br />
von Slavoj Zizek (Fischer)Magazine:<br />
Krisen lieben<br />
Kursbuch Ausgabe 170<br />
(Hg. Armin Nassehi)<br />
Krisen des Kapitalismus<br />
Lettre International Ausgabe 95<br />
(Hg. Frank Berberich)<br />
Arbeit<br />
Die Gazette Das Politische Kulturmagazin<br />
Ausgabe 33 (Hg. Fritz Glunk)<br />
Moralische Klarheit<br />
Leitfaden für erwachsene Idealisten<br />
von Susan Neiman (Hamburger Edition)<br />
Zehn Mythen der Krise<br />
Heiner Flassbeck (Suhrkamp)<br />
Transparenzgesellschaft<br />
Byung-Chul Han (Matthes& Seitz)<br />
Die Ökonomie von Gut und Böse<br />
Tomas Sedlacek (Carl Hanser)<br />
Neoliberalismus, Hochtechnologie,<br />
Hegemonie<br />
Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen<br />
Produktions- und Lebensweise.<br />
Eine Kritik von Mario Candeias, A.-Verlag)<br />
Warum Marx Recht hat<br />
Terry Eagleton (Ullstein)<br />
Fleischmarkt<br />
Weibliche Körper im Kapitalismus<br />
Laurie Penny (Edition Nautilus)<br />
Zusammengestellt von RU<br />
(Scans von hjs, wikimedia)<br />
Der kommende Aufstand<br />
von Unsichtbares Komitee<br />
(Edition Nautilus)<br />
Occupy! Die ersten Wochen in New York<br />
Eine Dokumentation von Carla Blumenkranz<br />
u.a. (Suhrkamp)<br />
Die Optimierungsfalle<br />
Philosophie einer humanen Ökonomie von<br />
Julian Nida-Rümelin (Irisiana)
16 UNSER REISETIPP<br />
Der Golf von Neapel<br />
2. Teil: Die Stadt Neapel<br />
Blick auf den Golf, ca. 1930-1940<br />
(Gemälde von Otto Wild / artshop-berlin)<br />
Seit alters her ist allgemein bekannt,<br />
dass der Golf von Neapel die schönste<br />
Gegend der <strong>Welt</strong> ist. Das wussten<br />
schon die alten Griechen, welche die Stadt<br />
Neapolis (Neustadt) gründeten, entweder<br />
schon um 800 vor Christus, wahrscheinlich<br />
eher um 650 v. Chr. Auch die alten Römer<br />
wussten die Gegend zu schätzen und fast<br />
die ganze Hautevolee hatte hier prächtige<br />
Villen, sogar Kaiser Tiberius, der Nachfolger<br />
des ersten römischen Kaisers Augustus.<br />
Dieser hatte auch schon eine Vorliebe für die<br />
kleine Felseninsel, aber Tiberius verbrachte<br />
die letzten 10 Jahre seines Lebens hier und<br />
regierte höchst umsichtig das <strong>Welt</strong>reich,<br />
welches damals praktisch die ganze bekannte<br />
Zivilisation umfasste.<br />
Dass 80 Jahre nach dem Tod des Kaisers<br />
Sensationsjoumalisten wie Sueton und vor<br />
allem Tacitus dem über 70jährigen alle nur<br />
denkbaren Orgien und Grausamkeiten andichteten,<br />
entspricht nur dem rhetorischen<br />
Klischee des bösen Diktators auf seinem abgelegenen<br />
Schloss und ist pure Erfindung.<br />
Aber es sollte jetzt um die Großstadt Neapel<br />
gehen: Sie heißt ja nur in Deutschland<br />
Neapel. Die Italiener nennen sie aus irgendwelchen<br />
Gründen beharrlich Napoli. Aber<br />
sie sagen ja auch Torino statt Turin, Milano<br />
für Mailand, Venezia für Venedig, Firenze<br />
für Florenz. Und Neapel wird eben Napoli<br />
genannt.<br />
Die Geschichte von Neapel ist so kompliziert,<br />
dass man Seiten brauchte, um nur eine<br />
flüchtige Übersicht zu geben. Nach italienischen<br />
Herzögen, Normannen, Staufern,<br />
französischen Anjou, Spaniern, Habsburgern,<br />
Bourbonen, Napoleon, Garibaldi etc.<br />
wollen wir uns lieber die Gegenwart ansehen.<br />
Also Pizza: Wie kann man über Neapel reden,<br />
ohne die Pizza zu erwähnen? Hier wurde<br />
sie erfunden, auch wenn manche Amerikaner<br />
behaupten, sie stamme aus Chicago.<br />
Das stimmt nicht. Wahr dagegen ist, dass die<br />
berühmte Pizza Margherita am 11. Januar<br />
1889 von Raffaele Esposito erfunden wurde.<br />
Er nannte sie so zu Ehren der damaligen italienischen<br />
Königin Margarete von Savoyen,<br />
die bei ihm dieses in Norditalien unbekannte<br />
Arme-Leute-Essen bestellt hatte, um ihren<br />
Hofdamen eine Überraschung zu bereiten.<br />
Und er hatte auch die nationalistische Idee,<br />
die Farben der neuen italienischen Trikolore<br />
zu verwenden: Grün das Basilikum, weiß die<br />
Mozzarella, rot die Tomate. Dies war eine<br />
wenig bekannte exotische Frucht ans Amerika,<br />
welche bis dahin auch wie eine solche<br />
verzehrt worden war, etwa wie die Banane.<br />
Der Platz der Erfindung dieses simplen<br />
Gerichts existiert angeblich noch heute. Es<br />
handelt sich um die „Pizzeria Brandi“ (Salita<br />
Sant‘Anna di Palazzo -Tel. [081] 41 69 28),<br />
ganz nahe der grandiosen Galleria Umberto<br />
I. und dem schönsten Café Süditaliens, dem<br />
berühmten „Gran Caffe Gambrinus“.<br />
Die Pizzeria ist ein immer gut besuchtes großes<br />
Lokal mit mehreren Räumen auf zwei<br />
Stockwerken. Alle bekannten oder berühmten<br />
Italiener der letzten 100 Jahre waren<br />
irgendwann einmal hier. Natürlich gibt es<br />
nicht nur eine Sorte Pizza, sondern ein große<br />
Auswahl mit teils fantastischen Namen wie<br />
,.Pizza Sophia Loren“. Die Schauspielerin<br />
stammt immerhin aus Pozzuoli, was heute<br />
ein neapolitanischer Vorort ist. Und sie war<br />
natürlich auch schon hier zu Gast.<br />
Wer hier eine Pizza gegessen hat oder auch<br />
anderswo in einem guten Lokal am Golf von<br />
Neapel, wird danach mit einer Pizza bei einem<br />
Italiener in Deutschland beträchtliche<br />
Schwierigkeiten haben, was den Geschmack<br />
angeht. Man kann das nicht vergleichen. Bei<br />
uns ist der Käse, wenn es überhaupt noch<br />
wirklicher Käse ist, meist keine Mozzarella,<br />
und wenn doch, keine von den Büffeln<br />
der Campagna, sondern von gewöhnlichen<br />
norddeutschen oder bayerischen Kühen.<br />
Und selbst wenn es Büffelmozzarella ist,<br />
so ist sie (es heißt wegen des Schluß-A des<br />
Wortes die Mozzarella.) in Deutschland nie<br />
so frisch, wie sie sein sollte, nämlich vom selben<br />
Tag!<br />
Die auch in Deutschland in den letzten 20<br />
Jahren bekannt gewordene Vorspeise Tomaten-Mozzarella-Basilikum<br />
(Rot-weiß-grün!)<br />
ist am Golf von Neapel ein Frühstück und<br />
wird von wirklichen Enthusiasten nach 12<br />
Uhr so wenig gegessen wie Weißwürste von<br />
echten Münchnern, einer Stadt, die von Italienern<br />
„Monaco“ genannt wird.<br />
Aber Essen hin oder her (in Klammern sei<br />
noch gesagt, dass auch die Tomaten und die<br />
Basilikumblätter Süditaliens vollkommen<br />
anders, sehr viel aromatischer schmecken<br />
als alles in Mitteleuropa.), es gibt in Neapel<br />
noch viel Interessanteres.<br />
Kunstliebhaber werden feststellen, dass sie<br />
mit ein paar Tagen in der Stadt, auch mit<br />
einer Woche, nicht einmal 20 % der wichtigsten<br />
künstlerischen Sehenswürdigkeiten<br />
auch nur flüchtig abhaken können. Zwei der<br />
großartigsten kunsthistorischen Museen Europas<br />
findet man hier: das archäologische mit<br />
griechischen und römischen Altertümern,<br />
die sich womöglich nur mit dem Nationalmuseum<br />
in Athen vergleichen lassen, und<br />
das „Museo di Capodimonte“, was in einem<br />
riesigen Palazzo untergebracht ist. Hier gibt<br />
es alles: eine bedeutende Gemäldesammlung<br />
vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (Masaccio,<br />
Mantegna, Tizian, Caravaggio und<br />
zwei Dutzend anderer hervorragender Maler),<br />
Plastiken, Kunsthandwerk, Säle voller<br />
Erinnerungen an Napoleon, Mokkatassen,<br />
Porzellan und Keramik, Schmuck.<br />
Wer alles genau studieren wollte, müsste<br />
nicht einen langen Urlaub in Neapel verbringen,<br />
sondern für immer herziehen. Eine<br />
Nachts in Neapel<br />
(Foto: wikimedia commons)<br />
verlockende Vorstellung? Vielleicht, je nachdem:<br />
Neapel ist sehr lebendig und sehr laut. An<br />
der alten Hauptstraße „Via Toledo“ steht<br />
noch immer (vielleicht neben der Wasserstraße<br />
Canal Grande in Venedig) die größte<br />
Ansammlung der prächtigsten Paläste der<br />
<strong>Welt</strong>, soweit es um die Zeit zwischen Mittelalter<br />
und Rokoko geht. Dabei gelten die<br />
Treppenhäuser speziell in dieser Straße als<br />
die bombastischsten je gebauten. Heute<br />
sind viele der vor allem im Innern protzigen<br />
Bauten Büros, simple Pensionen im l. oder<br />
2. Stock, Handwerksbetriebe, aber selbst die<br />
oft recht heruntergekommenen Treppenhäuser<br />
lassen einen gelegentlich erwarten, dass<br />
einem gleich ein prächtig gewandeter Adliger<br />
begegnet, mindestens Fürst Visconti.<br />
Die Via Toledo ist nach wie vor die Hauptstraße<br />
der Stadt. Sie heißt nicht nach der spanischen<br />
Stadt Toledo, sondern nach einem<br />
spanischen Vizekönig gleichen Namens. Sie<br />
ist der Inbegriff Neapels, einst und bis in die<br />
30er Jahre des letzten Jahrhunderts eine der<br />
vornehmsten Straßen Europas, Inbegriff italienischer<br />
Mode.<br />
Ein großer Dichter und Dandy und Nationalheld<br />
wie Gabriele d‘Annunzio hätte niemals<br />
Handschuhe oder Krawatten getragen,<br />
die nicht aus Neapel stammten.<br />
Heute ist die Via Toledo eine merkwürdig<br />
faszinierende Mischung aus Palästen, Luxus<br />
und Ramsch. Es gibt noch immer Maßschneider<br />
und Boutiquen, in deren Schaufenstern,<br />
falls sie so modern oder ordinär<br />
sind, überhaupt welche zu haben. Anzüge<br />
oder Kostüme für viele Tausende (und nicht<br />
Lire, wo man von Millionen reden müsste)<br />
ausstellen, und direkt daneben die üblichen<br />
Baseballmützen und Polohemden made in<br />
Bangladesh<br />
Auf allen Bürgersteigen stehen Verkäufer<br />
von allerbilligstem Kram, Schmuck, Kinderspielzeug,<br />
Kleidern. Die meisten stammen<br />
aus dem Senegal, von der Elfenbeinküste,<br />
aus Algerien. Silberne Ohrringe mit einem<br />
Dutzend Edelsteinen werden für 2 € angeboten,<br />
sind aber schnell auf einen heruntergehandelt.<br />
Jede Viertelstunde fährt ein Polizeiauto im<br />
Schritttempo durch die Straße, die teilweise<br />
Fußgängerzone ist, ohne Sirene, aber mit<br />
Blaulicht. Die Straßenhändler können also<br />
die Polizeiwagen rechtzeitig kommen sehen.<br />
Dann nehmen sie ihren meist winzigen und<br />
leicht tragbaren Verkaufsstand unter den<br />
Arm und gehen für zwei, drei Minuten um<br />
die Ecke in eine Nebenstraße, bitten die<br />
Touristen, mit denen sie gerade gefeilscht<br />
haben, kurz mit, und etablieren sich nach<br />
Vorbeifahrt des Polizeiautos wieder auf dem<br />
Bürgersteig.<br />
Alle diese Verkäufer von billigsten, kleinen<br />
Industrieprodukten stehen hier natürlich illegal<br />
und ohne Lizenz. Alle werden von der<br />
Polizei ebenso wenig wirklich verfolgt wie<br />
die auch meist afrikanischen armen und sicherlich<br />
nie reich werdenden Verkäufer von<br />
falschen Gucci-Taschen. Dieselben Szenen<br />
kann man in Florenz oder Venedig genauso<br />
sehen.<br />
Natürlich weiß jeder italienische Polizist, was<br />
hier passiert. Jeder Tourist, der nicht ganz geblendet<br />
ist, bemerkt es nach spätestens zwei<br />
Tagen. Aber das ist eben Italien. Leben und<br />
leben lassen.<br />
Man hat am Golf von Neapel Erfahrung damit.<br />
Seit über 200 Jahren ist hier Touristenland,<br />
das älteste überhaupt. Seit man im 18.<br />
Jahrhundert begonnen hatte, Pompeji auszugraben,<br />
- es war am 24. August 79 n. Chr. bei<br />
einem Ausbruch des Vesuv verschüttet worden<br />
- musste man das als Gebildeter einfach<br />
gesehen haben. Die antike Stadt ist übrigens<br />
bis heute erst zu zwei Drittel freigelegt. In<br />
Italien hat man Zeit, auch wenn speziell alle<br />
Neapolitaner immer in Eile wirken. Massentourismus<br />
gab es damals noch nicht, Reisen<br />
zum Vergnügen und für die Bildung waren<br />
nur etwas für wenige Reiche.<br />
Und heute? Wirklichen Massentourismus<br />
gibt es auch heute nicht. Natürlich findet<br />
man überall Touristen, aber die Massen sind<br />
anderswo, dort, wo die endlosen Strände sind<br />
und wo es inkl. Anreise & all-inclusive pauschal<br />
billiger ist, Dom. Rep., Kuba, Seychellen,<br />
Thailand...<br />
Niemand macht in einer Großstadt wie Neapel<br />
wirklich Urlaub, trotz all der Sehenswürdigkeiten.<br />
Man bleibt vielleicht zwei<br />
Tage, aber es gibt hier fast keine Strände,<br />
was inzwischen das Einzige zu sein scheint,<br />
was Touristen in wirklichen Massen anziehen<br />
kann.<br />
MF<br />
Markt in der Altstadt<br />
(Foto: blogspot.com)