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Nr. 66 - Soziale Welt

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16 UNSER REISETIPP<br />

Der Golf von Neapel<br />

2. Teil: Die Stadt Neapel<br />

Blick auf den Golf, ca. 1930-1940<br />

(Gemälde von Otto Wild / artshop-berlin)<br />

Seit alters her ist allgemein bekannt,<br />

dass der Golf von Neapel die schönste<br />

Gegend der <strong>Welt</strong> ist. Das wussten<br />

schon die alten Griechen, welche die Stadt<br />

Neapolis (Neustadt) gründeten, entweder<br />

schon um 800 vor Christus, wahrscheinlich<br />

eher um 650 v. Chr. Auch die alten Römer<br />

wussten die Gegend zu schätzen und fast<br />

die ganze Hautevolee hatte hier prächtige<br />

Villen, sogar Kaiser Tiberius, der Nachfolger<br />

des ersten römischen Kaisers Augustus.<br />

Dieser hatte auch schon eine Vorliebe für die<br />

kleine Felseninsel, aber Tiberius verbrachte<br />

die letzten 10 Jahre seines Lebens hier und<br />

regierte höchst umsichtig das <strong>Welt</strong>reich,<br />

welches damals praktisch die ganze bekannte<br />

Zivilisation umfasste.<br />

Dass 80 Jahre nach dem Tod des Kaisers<br />

Sensationsjoumalisten wie Sueton und vor<br />

allem Tacitus dem über 70jährigen alle nur<br />

denkbaren Orgien und Grausamkeiten andichteten,<br />

entspricht nur dem rhetorischen<br />

Klischee des bösen Diktators auf seinem abgelegenen<br />

Schloss und ist pure Erfindung.<br />

Aber es sollte jetzt um die Großstadt Neapel<br />

gehen: Sie heißt ja nur in Deutschland<br />

Neapel. Die Italiener nennen sie aus irgendwelchen<br />

Gründen beharrlich Napoli. Aber<br />

sie sagen ja auch Torino statt Turin, Milano<br />

für Mailand, Venezia für Venedig, Firenze<br />

für Florenz. Und Neapel wird eben Napoli<br />

genannt.<br />

Die Geschichte von Neapel ist so kompliziert,<br />

dass man Seiten brauchte, um nur eine<br />

flüchtige Übersicht zu geben. Nach italienischen<br />

Herzögen, Normannen, Staufern,<br />

französischen Anjou, Spaniern, Habsburgern,<br />

Bourbonen, Napoleon, Garibaldi etc.<br />

wollen wir uns lieber die Gegenwart ansehen.<br />

Also Pizza: Wie kann man über Neapel reden,<br />

ohne die Pizza zu erwähnen? Hier wurde<br />

sie erfunden, auch wenn manche Amerikaner<br />

behaupten, sie stamme aus Chicago.<br />

Das stimmt nicht. Wahr dagegen ist, dass die<br />

berühmte Pizza Margherita am 11. Januar<br />

1889 von Raffaele Esposito erfunden wurde.<br />

Er nannte sie so zu Ehren der damaligen italienischen<br />

Königin Margarete von Savoyen,<br />

die bei ihm dieses in Norditalien unbekannte<br />

Arme-Leute-Essen bestellt hatte, um ihren<br />

Hofdamen eine Überraschung zu bereiten.<br />

Und er hatte auch die nationalistische Idee,<br />

die Farben der neuen italienischen Trikolore<br />

zu verwenden: Grün das Basilikum, weiß die<br />

Mozzarella, rot die Tomate. Dies war eine<br />

wenig bekannte exotische Frucht ans Amerika,<br />

welche bis dahin auch wie eine solche<br />

verzehrt worden war, etwa wie die Banane.<br />

Der Platz der Erfindung dieses simplen<br />

Gerichts existiert angeblich noch heute. Es<br />

handelt sich um die „Pizzeria Brandi“ (Salita<br />

Sant‘Anna di Palazzo -Tel. [081] 41 69 28),<br />

ganz nahe der grandiosen Galleria Umberto<br />

I. und dem schönsten Café Süditaliens, dem<br />

berühmten „Gran Caffe Gambrinus“.<br />

Die Pizzeria ist ein immer gut besuchtes großes<br />

Lokal mit mehreren Räumen auf zwei<br />

Stockwerken. Alle bekannten oder berühmten<br />

Italiener der letzten 100 Jahre waren<br />

irgendwann einmal hier. Natürlich gibt es<br />

nicht nur eine Sorte Pizza, sondern ein große<br />

Auswahl mit teils fantastischen Namen wie<br />

,.Pizza Sophia Loren“. Die Schauspielerin<br />

stammt immerhin aus Pozzuoli, was heute<br />

ein neapolitanischer Vorort ist. Und sie war<br />

natürlich auch schon hier zu Gast.<br />

Wer hier eine Pizza gegessen hat oder auch<br />

anderswo in einem guten Lokal am Golf von<br />

Neapel, wird danach mit einer Pizza bei einem<br />

Italiener in Deutschland beträchtliche<br />

Schwierigkeiten haben, was den Geschmack<br />

angeht. Man kann das nicht vergleichen. Bei<br />

uns ist der Käse, wenn es überhaupt noch<br />

wirklicher Käse ist, meist keine Mozzarella,<br />

und wenn doch, keine von den Büffeln<br />

der Campagna, sondern von gewöhnlichen<br />

norddeutschen oder bayerischen Kühen.<br />

Und selbst wenn es Büffelmozzarella ist,<br />

so ist sie (es heißt wegen des Schluß-A des<br />

Wortes die Mozzarella.) in Deutschland nie<br />

so frisch, wie sie sein sollte, nämlich vom selben<br />

Tag!<br />

Die auch in Deutschland in den letzten 20<br />

Jahren bekannt gewordene Vorspeise Tomaten-Mozzarella-Basilikum<br />

(Rot-weiß-grün!)<br />

ist am Golf von Neapel ein Frühstück und<br />

wird von wirklichen Enthusiasten nach 12<br />

Uhr so wenig gegessen wie Weißwürste von<br />

echten Münchnern, einer Stadt, die von Italienern<br />

„Monaco“ genannt wird.<br />

Aber Essen hin oder her (in Klammern sei<br />

noch gesagt, dass auch die Tomaten und die<br />

Basilikumblätter Süditaliens vollkommen<br />

anders, sehr viel aromatischer schmecken<br />

als alles in Mitteleuropa.), es gibt in Neapel<br />

noch viel Interessanteres.<br />

Kunstliebhaber werden feststellen, dass sie<br />

mit ein paar Tagen in der Stadt, auch mit<br />

einer Woche, nicht einmal 20 % der wichtigsten<br />

künstlerischen Sehenswürdigkeiten<br />

auch nur flüchtig abhaken können. Zwei der<br />

großartigsten kunsthistorischen Museen Europas<br />

findet man hier: das archäologische mit<br />

griechischen und römischen Altertümern,<br />

die sich womöglich nur mit dem Nationalmuseum<br />

in Athen vergleichen lassen, und<br />

das „Museo di Capodimonte“, was in einem<br />

riesigen Palazzo untergebracht ist. Hier gibt<br />

es alles: eine bedeutende Gemäldesammlung<br />

vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (Masaccio,<br />

Mantegna, Tizian, Caravaggio und<br />

zwei Dutzend anderer hervorragender Maler),<br />

Plastiken, Kunsthandwerk, Säle voller<br />

Erinnerungen an Napoleon, Mokkatassen,<br />

Porzellan und Keramik, Schmuck.<br />

Wer alles genau studieren wollte, müsste<br />

nicht einen langen Urlaub in Neapel verbringen,<br />

sondern für immer herziehen. Eine<br />

Nachts in Neapel<br />

(Foto: wikimedia commons)<br />

verlockende Vorstellung? Vielleicht, je nachdem:<br />

Neapel ist sehr lebendig und sehr laut. An<br />

der alten Hauptstraße „Via Toledo“ steht<br />

noch immer (vielleicht neben der Wasserstraße<br />

Canal Grande in Venedig) die größte<br />

Ansammlung der prächtigsten Paläste der<br />

<strong>Welt</strong>, soweit es um die Zeit zwischen Mittelalter<br />

und Rokoko geht. Dabei gelten die<br />

Treppenhäuser speziell in dieser Straße als<br />

die bombastischsten je gebauten. Heute<br />

sind viele der vor allem im Innern protzigen<br />

Bauten Büros, simple Pensionen im l. oder<br />

2. Stock, Handwerksbetriebe, aber selbst die<br />

oft recht heruntergekommenen Treppenhäuser<br />

lassen einen gelegentlich erwarten, dass<br />

einem gleich ein prächtig gewandeter Adliger<br />

begegnet, mindestens Fürst Visconti.<br />

Die Via Toledo ist nach wie vor die Hauptstraße<br />

der Stadt. Sie heißt nicht nach der spanischen<br />

Stadt Toledo, sondern nach einem<br />

spanischen Vizekönig gleichen Namens. Sie<br />

ist der Inbegriff Neapels, einst und bis in die<br />

30er Jahre des letzten Jahrhunderts eine der<br />

vornehmsten Straßen Europas, Inbegriff italienischer<br />

Mode.<br />

Ein großer Dichter und Dandy und Nationalheld<br />

wie Gabriele d‘Annunzio hätte niemals<br />

Handschuhe oder Krawatten getragen,<br />

die nicht aus Neapel stammten.<br />

Heute ist die Via Toledo eine merkwürdig<br />

faszinierende Mischung aus Palästen, Luxus<br />

und Ramsch. Es gibt noch immer Maßschneider<br />

und Boutiquen, in deren Schaufenstern,<br />

falls sie so modern oder ordinär<br />

sind, überhaupt welche zu haben. Anzüge<br />

oder Kostüme für viele Tausende (und nicht<br />

Lire, wo man von Millionen reden müsste)<br />

ausstellen, und direkt daneben die üblichen<br />

Baseballmützen und Polohemden made in<br />

Bangladesh<br />

Auf allen Bürgersteigen stehen Verkäufer<br />

von allerbilligstem Kram, Schmuck, Kinderspielzeug,<br />

Kleidern. Die meisten stammen<br />

aus dem Senegal, von der Elfenbeinküste,<br />

aus Algerien. Silberne Ohrringe mit einem<br />

Dutzend Edelsteinen werden für 2 € angeboten,<br />

sind aber schnell auf einen heruntergehandelt.<br />

Jede Viertelstunde fährt ein Polizeiauto im<br />

Schritttempo durch die Straße, die teilweise<br />

Fußgängerzone ist, ohne Sirene, aber mit<br />

Blaulicht. Die Straßenhändler können also<br />

die Polizeiwagen rechtzeitig kommen sehen.<br />

Dann nehmen sie ihren meist winzigen und<br />

leicht tragbaren Verkaufsstand unter den<br />

Arm und gehen für zwei, drei Minuten um<br />

die Ecke in eine Nebenstraße, bitten die<br />

Touristen, mit denen sie gerade gefeilscht<br />

haben, kurz mit, und etablieren sich nach<br />

Vorbeifahrt des Polizeiautos wieder auf dem<br />

Bürgersteig.<br />

Alle diese Verkäufer von billigsten, kleinen<br />

Industrieprodukten stehen hier natürlich illegal<br />

und ohne Lizenz. Alle werden von der<br />

Polizei ebenso wenig wirklich verfolgt wie<br />

die auch meist afrikanischen armen und sicherlich<br />

nie reich werdenden Verkäufer von<br />

falschen Gucci-Taschen. Dieselben Szenen<br />

kann man in Florenz oder Venedig genauso<br />

sehen.<br />

Natürlich weiß jeder italienische Polizist, was<br />

hier passiert. Jeder Tourist, der nicht ganz geblendet<br />

ist, bemerkt es nach spätestens zwei<br />

Tagen. Aber das ist eben Italien. Leben und<br />

leben lassen.<br />

Man hat am Golf von Neapel Erfahrung damit.<br />

Seit über 200 Jahren ist hier Touristenland,<br />

das älteste überhaupt. Seit man im 18.<br />

Jahrhundert begonnen hatte, Pompeji auszugraben,<br />

- es war am 24. August 79 n. Chr. bei<br />

einem Ausbruch des Vesuv verschüttet worden<br />

- musste man das als Gebildeter einfach<br />

gesehen haben. Die antike Stadt ist übrigens<br />

bis heute erst zu zwei Drittel freigelegt. In<br />

Italien hat man Zeit, auch wenn speziell alle<br />

Neapolitaner immer in Eile wirken. Massentourismus<br />

gab es damals noch nicht, Reisen<br />

zum Vergnügen und für die Bildung waren<br />

nur etwas für wenige Reiche.<br />

Und heute? Wirklichen Massentourismus<br />

gibt es auch heute nicht. Natürlich findet<br />

man überall Touristen, aber die Massen sind<br />

anderswo, dort, wo die endlosen Strände sind<br />

und wo es inkl. Anreise & all-inclusive pauschal<br />

billiger ist, Dom. Rep., Kuba, Seychellen,<br />

Thailand...<br />

Niemand macht in einer Großstadt wie Neapel<br />

wirklich Urlaub, trotz all der Sehenswürdigkeiten.<br />

Man bleibt vielleicht zwei<br />

Tage, aber es gibt hier fast keine Strände,<br />

was inzwischen das Einzige zu sein scheint,<br />

was Touristen in wirklichen Massen anziehen<br />

kann.<br />

MF<br />

Markt in der Altstadt<br />

(Foto: blogspot.com)

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