10 HISTORISCHE PERSON Charles Dickens - Der Dichter der sozialen <strong>Welt</strong> Charles Dickens war sicherlich einer der engagiertesten Schriftsteller, die gegen soziale Ungerechtigkeit ihre Stimme erhoben. Dieses Jahr feiert die gebildete <strong>Welt</strong>, soweit sie ihn noch kennt, seinen 200. Geburtstag. Er wurde am 7. 2.1812 in der englischen Provinz geboren und nicht einmal 60 Jahre alt. Er gilt als Begründer des sozialen Romans und zugleich als Meister des Humors. Seine eigene arme Kindheit hat ihn fürs Leben geprägt - Kinderarbeit war damals noch eine Selbstverständlichkeit wie heute in Indien und vielen anderen Ländern - und hat den Schriftsteller dazu geführt, dass er trotz allem persönlichen finanziellen Erfolg immer für die Armen und Unterprivilegierten eintrat. Wenn er im Ausland war, interessierten ihn weniger die großartigen Kirchen und Paläste, sondern vor allem Schulen, Armenhäuser, Gefängnisse und ähnliche Einrichtungen und er beurteilte z. B. angeblich fortschrittliche Länder wie die USA vor allem danach. Damit machte er sich nach dem Bericht über seine Amerikareise sein großes amerikanisches Publikum auf Jahre hinaus zum Feind, aber die Wahrheit über die soziale <strong>Welt</strong> und Anklage, wo es ihm nötig schien, war ihm immer wichtiger. Er schrieb 15 Romane, die alle zur <strong>Welt</strong>literatur gehören, vier Bände Erzählungen und mehrere Reiseberichte. Überall sind die Zustände der kleinen Leute, die der ganz Armen (heute würde man sagen: Hartz-IV-Empfänger, Obdachlose und Entwurzelte, besonders auch die armen Kinder) ein wichtiges Thema. Eine traurige Jugend Charles Dickens wurde am 7. 2.1812 in der englischen Provinz geboren. Als er 11 Jahre alt war, fand seine kleinbürgerliche Kindheit ein jähes Ende. Der Vater musste ins Schuldgefängnis, damals ging so etwas wegen ein paar Schulden sehr schnell, aber die Familie zog mit, was nicht ungewöhnlich war. Die Schuldgefängnisse in England unterschieden sich kaum von den Mietskasernen, nur dass die Verurteilten nicht arbeiten durften, sondern ihre Kinder zur Arbeit schicken mussten wie andere Arme allerdings auch. Der junge Dickens musste zuerst in einer Fabrik für Schuhwichse arbeiten, bestimmt nicht der angenehmste >Job< für ein Kind. Arbeitszeiten waren auch für Kinder selten kürzer als für Erwachsene, 10 bis 12 Stunden am Tag waren normal. Und der Verdienst einer ganzen Familie reichte nicht für mehr als für das billigste Essen und oft für nur ein armseliges Zimmer für eine mehrköpfige Familie. Auch die Schule und damit die Bildung war in erster Linie eine Frage des Geldes - ist das heute wirklich anders? Dickens hat sein Leben lang und schon in der Kindheit seine mangelhafte und nur gelegentliche Schulbildung bedauert. Schon mit 14 Jahren scheint es ihm als Gehilfe in einer Anwaltskanzlei gelungen zu sein auf eigene Initiative hin Stenographie zu lernen und so Gerichts- und bald sogar Parlaments- Stenograph zu werden. Als immer noch sehr junger Mann wurde er ein erfolgreicher Reporter und schrieb Skizzen aus dem Alltagsleben, die veröffentlicht und honoriert wurden: Er verdiente eigenes Geld. Mit 25 Jahren wurde er berühmt, als er in Fortsetzungen, ursprünglich Erläuterungen zu dem erfundenen >Pickwick ClubOliver Twist< über einen armen Jungen und seine Probleme mit der damaligen englischen <strong>Welt</strong>... Auch der Roman >David Copperfield< gilt heute häufig als Kinderbuch, weil er ein Kind als Hauptperson hat. Dieser Roman ist besonders stark autobiographisch. Der Vater Davids stirbt, als dieser noch ein Kind ist. Der brutale Stiefvater treibt die Mutter in den Tod, der Junge quält sich auf einer perversen Schule, muss aber schon mit 10 Jahren in einer Fabrik arbeiten. Die meist furchtbaren Verhältnisse in Schulen und Fabriken hat Dickens sein Leben lang angeprangert. David Copperfield flieht schließlich zu einer Tante, kommt auf eine angenehme reformierte Schule und kann, nach vielen Abenteuern und Rückschlägen, sich eine bescheidene Karriere als Reporter erarbeiten - ganz ähnlich wie Charles Dickens selbst. In Nebenhandlungen lernt der Leser Figuren kennen, die noch heute in England sprichwörtlich sind, wie den verantwortungsscheuen Mr. Micawber und den widerlichen Intrigant Uriah Heep. Auch diesen Roman schrieb Dickens in Fortsetzungen, die vom Publikum jeweils schon ungeduldig erwartet wurden, und er wusste meist nicht, wie es jeweils weitergehen würde. Er schrieb ohne genauen Plan und ohne alle Notizen, aber das war damals nichts Ungewöhnliches. Dostojewski z. B. hatte oft schon einen ganzen Roman an eine Zeitung verkauft, bevor er noch das erste Kapitel geschrieben hatte und musste in der Folge hektisch das oft schon ausgegebene Voraushonorar abarbeiten. Schon zu dieser Zeit unternahm Dickens ausgedehnte Vorlese-Reisen, z. T. durch Nordamerika, auf denen er enorme Summen verdiente und sein Ansehen als beliebtester Schriftsteller der englischsprachigen <strong>Welt</strong> festigte. Er muss ein begnadeter Vorleser gewesen sein, hatte in früher Jugend auch einmal mit dem Gedanken gespielt, Schauspieler zu werden und kalkulierte die Wirkungen seiner Auftritte sehr genau. Besonderen Wert legte er auf das damals besonders beeindruckende Schaurige, z. B. Mordszenen. Den Erfolg seines Auftritts konnte er daran messen, wie viele Frauen ohnmächtig aus dem Saal getragen werden mussten! Noch vor dem Unheimlichen und dem sozialen Engagement, besonders wo es um Kinder, miserable Schulen und unmenschliche Fabrikarbeit ging, war er aber für seinen Humor berühmt. Nicht nur in >David Copperfield< gibt es unvergessliche Nebenfiguren voller kurioser Schrullen, die aber immer mit Verständnis dargestellt werden - außer bei wahren Bösewichtern, Verbrechern und Ausbeutern der armen Leute, die auch nicht besser wegkommen als richtige Gangster, die sie ja auch sind. Wahrscheinlich hat Dickens mit seinen viktorianischen Unterhaltungsromanen langfristig mehr zur Verbesserung der Situation der Armen und der Kinder der Armen beigetragen als Friedrich Engels mit analytischen Schriften über die Lage der arbeitenden Klasse, Dickens teils auf oft recht sentimentale Art, aber eben öffentlichkeitswirksam. Das Spätwerk Der Roman, den Dickens nach >David Copperfield< schrieb, war der erste, für den er sich vorher einen genauen Plan machte: >BleakhausGolemManufactum
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