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Nr. 66 - Soziale Welt

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Warten auf den Biss<br />

VERMISCHTES<br />

13<br />

Man soll sich über nichts auslassen, was<br />

man nicht einigermaßen kennt.<br />

Meine Meinung.<br />

Denken Sie nicht, daß das etwa eine Binsenweisheit<br />

ist; hören Sie sich nur um, die<br />

Leute reden pausenlos über einen Haufen<br />

Ereignisse, bei denen sie nicht dabei waren:<br />

z.B. über den Sozialismus, über 100000<br />

tote Neger, die Fundamentalisten, über die<br />

Mondlandung, na ja, vielleicht nicht gerade<br />

aktuell, also gut, über den Kometen, über die<br />

Steuer-, Krankheits-, Rentenreform, keiner,<br />

den ich kenne und der darüber faselt, ist ein<br />

Entscheidungsträger, wie es so schön heißt,<br />

niemand war dabei.<br />

Und dann quatschen die Leute unentwegt<br />

über Dinge, die sie noch nicht haben, nie kriegen<br />

werden oder sofort: z. B. Herzschrittmacher,<br />

21-Zimmer-Villa, künstlicher Darmausgang,<br />

Drillinge und Ferien auf dem Meeresboden.<br />

So, das ist jetzt mein Stichwort.<br />

Nicht, daß ich dort Urlaub machen wollte,<br />

aber vom Tauchen verstehe ich weiß Gott etwas.<br />

Bloß von anderen Dingen rede ich nicht:<br />

von Beinen nicht, von Autos, von Getränkeautomaten,<br />

von Schnaps, von Billard, halt,<br />

von Billard verstehe ich ein wenig, aber von<br />

Tennis, von Forstwirtschaft und von Tiefziehblechen,<br />

davon habe ich zugegebenermaßen<br />

überhaupt keine Ahnung, ich sage es frei und<br />

offen und äußere mich nicht darüber.<br />

Im Gegensatz zu meinen Freunden, also<br />

meinen Exfreunden.<br />

Die wußten angeblich immer über alles<br />

Bescheid, rissen großartig ihr Maul auf und<br />

alles ging durcheinander.<br />

Es ist jetzt Schluß damit, denn sie sind<br />

nicht mehr am Leben.<br />

Sie sind alle ausnahmslos eines unnatürlichen<br />

Todes gestorben, aber wer wen umgebracht<br />

hat, ist auf keine Weise mehr festzustellen,<br />

war es auch niemals. Es hat auch<br />

niemanden irgendwie interessiert außer unseren<br />

Hausmeister vielleicht, aber mit dem<br />

spricht niemand. Und die Polizei, ich verstehe<br />

wirklich nichts von Kriminalistik, die<br />

wurde nicht gerufen, die hat sicher andere<br />

Probleme, Bußgeldbescheide oder Korruption<br />

im Amt, wie gesagt, ich habe keine Ahnung.<br />

Jedenfalls, was meine früheren Freunde betrifft<br />

und ihr Ableben: können Sie sich vorstellen,<br />

daß man sich so schnell umbringen kann in<br />

einer Menge Leute, daß es hinterher keiner gewesen<br />

war und sein will? Also keiner persönlich.<br />

So wie bei einem Pilgeraufruhr in Mekka,<br />

bei einer Panik im Fußballstadion oder beim<br />

Football, wenn sie alle auf einen Haufen<br />

springen. Sehen Sie, schon wieder rede ich<br />

über Dinge, über die ich nichts weiß.<br />

Schluß damit.<br />

Nur soviel noch, daß von keinem meiner<br />

Freunde nach seinem Tode auch nur ein Fitzelchen<br />

übrig geblieben ist. Rein garnichts<br />

war mehr aufzufinden, nicht einmal ein Kassengebiss,<br />

also, wenn er eines gehabt hätte.<br />

Ich lese übrigens viel Tageszeitungen, ich<br />

habe sie nicht selbst abonniert, ich brauche<br />

ihm bloß über die Schulter zu blicken.<br />

Praktisch.<br />

Um übrigens noch einmal auf das Billard<br />

zurückzukommen: zwar spiele ich nicht<br />

selbst, weil es eben ohne Arme auch schlecht<br />

möglich ist (auch über Arme rede ich nicht,<br />

auch nicht über Finger, Armbanduhren,<br />

Trauringe oder Nagellack!), aber ich kenne<br />

den Tisch sehr gut, die Kugeln, die Queues<br />

und das weiße Zeug, womit sie immer so ein<br />

Getue machen.<br />

Jetzt könnten Sie denken, daß ich ein<br />

Bierzapfer bin in einem Billardcafe, aber wie<br />

könnte ich das ohne Arme, ohne Beine und<br />

ohne Durst. Von Durst verstehe ich auch rein<br />

gar nichts.<br />

Na gut, „bei gleicher Qualifikation werden<br />

Behinderte und Frauen bevorzugt eingestellt“,<br />

das gilt vielleicht für den öffentlichen<br />

Nahverkehr oder für eine Professur in Chinesisch,<br />

das ich übrigens nicht beherrsche,<br />

nicht einmal schlecht.<br />

Für einen öffentlichen Tresenkeeper gilt<br />

das aber nicht. Überhaupt, die Kneipenluft<br />

wäre mir sehr unbekömmlich.<br />

Ja, und Luft überhaupt, das ist auch so ein<br />

Kapitel für sich.... manchmal schnappt man<br />

regelrecht danach. Verschluckt sich gar. –<br />

Ich bin aber auch gar nicht behindert.<br />

Wozu braucht man bloß diese langen Anhängsel<br />

mit den unschönen eckigen Gelenken,<br />

sind die vielleicht elegant?<br />

Sind sie nicht, und betrachten Sie bitte<br />

einmal ein Kamel, das hat noch mehr Gelenke,<br />

das muß jedesmal darüber nachdenken,<br />

wie es sich eigentlich zusammenzufalten hat,<br />

wenn es sich hinsetzen will, eine Fehlkonstruktion<br />

ersten Ranges. Und es hat kein einziges<br />

Kardangelenk, das Kamel; so ein Wunder<br />

hat der liebe Gott dann doch nicht fertiggebracht<br />

wie die Kraftübertragung in einem<br />

Mercedes. Aber davon verstehe ich eigentlich<br />

überhaupt nichts, ich bemerkte schon, daß<br />

ich nicht über Verkehrsmittel rede.<br />

Und nochmal zum Billardspielen.... ich<br />

will es wirklich nicht selbst spielen, es bringt<br />

über kurz oder lang nur Unglück, <strong>Welt</strong>untergang,<br />

Sintflut. Darauf komme ich noch<br />

zurück.<br />

Ausführlich.<br />

Es ist der Grund, warum ich zur Zeit in einer<br />

winzigen stickigen Einraumwohnung hausen<br />

muß und überhaupt fast gestorben wäre. Bitte<br />

merken Sie sich folgenden Satz: es gibt nichts auf<br />

der <strong>Welt</strong>, was gefährlicher ist als Billardkugeln.<br />

Das hätten Sie nicht gedacht, was?<br />

Und ein kraftvoller Stoßer natürlich hinter<br />

dem Queue, es ist die Kombination, die es macht.<br />

Um diese Gefahr aus der <strong>Welt</strong> zu schaffen,<br />

habe ich angeregt, die Billardkugeln durch<br />

Christbaumkugeln zu ersetzen, solche aus<br />

Glas, die spiegeln. Dann würden die Spieler<br />

viel vorsichtiger mit ihrem Stock umgehen.<br />

Die Billardkugeln könnte man ja dann, damit<br />

die Billardkugelhersteller nicht arbeitslos<br />

werden (obwohl sie sich ja auf Christbaumkugeln<br />

umstellen könnten, langfristig jedenfalls),<br />

im Gegenzug an die Weihnachtsbäume hängen,<br />

sie blieben heil, wenn der Baum umfiele.<br />

Nur Vorteile, wohin man schaut.<br />

Aber, ich muß zugeben, es hört niemand auf mich.<br />

Ich kann auch nicht reden. Meistens schweige ich.<br />

Immer.<br />

Was mich aber so richtig stört an meinem<br />

Leben, das ist das eintönige Essen.<br />

Ich esse tatsächlich jeden Tag das gleiche.<br />

Seit Jahren.<br />

Obwohl ab und zu das Etikett auf den Dosen<br />

wechselt. Soweit ich das von hier aus erkennen<br />

kann und ich sehe nicht besonders gut.<br />

Vielleicht gibt es für Arm- und Beinlose nur<br />

eine Sorte Essen. Man muß nämlich nichts<br />

kleinschneiden. Man muß auch nichts kauen,<br />

obwohl, Zähne habe ich wirklich im Überfluss.<br />

Es ist auch immer die gleiche Portion, die<br />

mir gereicht wird, und manchmal ist es etwas<br />

muffig. So wie das Gesicht von dem lieben<br />

Billardspieler, wenn er verloren hat. Und er<br />

verliert eigentlich immer. Hinterher trinken<br />

sie dann Bier oder Prosecco, wenn sie welchen<br />

haben, und sie knabbern dazu Erdnüsse.<br />

Ich verstehe ja nichts vom Trinken.<br />

Und, na ja, ich bin kein Vegetarier. Wirklich<br />

nicht. Und bitte kein Salz!<br />

Sie reden auch häufig über ein sehr merkwürdiges<br />

Hobby, das sie ganz und gar gefangen<br />

nimmt. Sie stehen dann immer auf und breiten<br />

voreinander die Hände weit aus, sprechen von<br />

Ruten, von Ködern und vom Angeln.<br />

Ich habe keine Ahnung, was Angeln bedeutet.<br />

Es ist nicht das einzige, wovon ich<br />

nichts verstehe, das haben Sie sicherlich<br />

schon längst bemerkt. Es muß eine geheime<br />

Sache sein, denn sie erwähnen<br />

manchmal, daß man<br />

beim Angeln sehr schweigsam<br />

sein muß und auf keinen<br />

Fall gestört werden darf.<br />

Von der Ehefrau oder Spaziergängern.<br />

Oder vom Biss. Der Biss ist<br />

die Hauptsache.<br />

Was ist bloß der Biss? Der<br />

Biss stört das Angelschweigen,<br />

aber andererseits muß er wohl<br />

sein, denn stundenlang reden<br />

sie über nichts anderes. Und ich erfahre niemals,<br />

was dahintersteckt.<br />

Ja, und ich kenne keine Spaziergänger und<br />

keine Ehefrau.<br />

Warum ist die <strong>Welt</strong> nur so rätselhaft? Warum<br />

lese ich immer Zeitung? Die Überschriften<br />

jedenfalls, das andere ist meistens viel zu weit<br />

entfernt. Er hält es mir ja nicht vor die Nase.<br />

Seitdem ich in der Einraumwohnung<br />

lebe, ist die <strong>Welt</strong> noch viel undurchsichtiger<br />

geworden. Nehmen Sie das ruhig wörtlich.<br />

Grünlich, bräunlich.<br />

Und alles sieht aus, als sei es heftig in die<br />

Breite gegangen. Wie in einem dickmachenden<br />

Lachspiegel. Die Billardkugeln sehen aus wie<br />

bunte Ostereier und der Kopf des lieben Billardspielers<br />

erinnert stark an das Ding, was sie<br />

beim Football durch die Gegend schleppen.<br />

Das weiß ich aus dem Fernsehen.<br />

Endlich etwas, was ich kenne.<br />

Ich kenne aber eigentlich keinen Spiegel.<br />

Keinen richtigen. Weil ich niemals ausgehe.<br />

Einen Spiegel braucht nur der, der vor dem<br />

Ausgehen überprüfen will, ob die <strong>Welt</strong> seinen<br />

Anblick verträgt.<br />

Ich vermute, daß man, mit oder ohne<br />

Spiegel, meinen Anblick im allgemeinen<br />

nicht besonders liebt. Allenfalls Liebhaber<br />

lieben mich, ich könnte vermuten, daß der<br />

liebe Billardspieler mein Liebhaber ist.<br />

Sicher bin ich nicht. Aber er wirft mir zeitweise<br />

Blicke zu, die ich nicht zu interpretieren weiß.<br />

Vielleicht ist es Flirt, aber, was ist eigentlich Flirt?<br />

Wenn er nicht Billard spielt, sitzt er in<br />

dem Sessel und liest in einem Buch mit dem<br />

Titel „Die Kunst des richtigen Flirts“. Und<br />

schaut ab und zu in meine Richtung.<br />

Vermutlich übt er den Flirt.<br />

Keine Ahnung, was ich da unternehmen<br />

soll. Ich tue nichts, wie üblich.<br />

Das war schon immer das einzig richtige.<br />

Allerdings denke ich, er sollte sich lieber<br />

um sein Spiel kümmern, präziser zielen, vor<br />

allen Dingen nicht daneben.<br />

Wie gesagt, ich komme noch darauf zurück.<br />

Ja, und dann die Sache mit den Rindern,<br />

das wird auch immer mit uns in Verbindung<br />

gebracht. Die Rinderknochen, sozusagen.<br />

Sehr nervig, das.<br />

Es ist nichts besonderes dabei; aber z.B.<br />

das Kalb mit sieben Beinen, das dieser Tage<br />

in Sachsen in einem Kuhdorf zur <strong>Welt</strong> kam,<br />

dieser genetischen Sackgasse (was ist das bloß<br />

wieder in der Überschrift?) hat man schon sehr<br />

wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht.<br />

Na ja, es starb ja auch gleich nach der Geburt.<br />

Obwohl es mit den sieben Beinen hätte<br />

sehr schnell davonlaufen können.<br />

Wenn die Billardspieler nicht da sind, ist<br />

niemand da.<br />

Oder sie sind da und spielen Billard.<br />

Räumen rum.<br />

Ja.<br />

Oder nicht.<br />

Oft ist nichts, rein gar nichts.<br />

In mir ist dann auch nichts.<br />

Ich schwimme, also bin ich. Das reicht.<br />

Und nach einiger Zeit, meist gegen neun<br />

Uhr abends, kurz, bevor das Licht ausgeht,<br />

fange ich an zu warten.<br />

Ich habe das Warten auf diese kurze Zeitspanne<br />

von etwa fünfzehn Minuten verschoben,<br />

weil es dann nicht so lange dauert.<br />

Wenn ich schon morgens anfangen würde<br />

mit dem Warten, es dauerte wirklich viel zu<br />

lange, endlose Tage, Wochen, Monate.<br />

Jahrzehnte möglicherweise.<br />

Falls ich sehr alt werden sollte.<br />

Absolut zu lange. Unerträglich.<br />

Ich verkürze mir das Warten auf eine Viertelstunde<br />

täglich, so daß es fast Spaß macht.<br />

Denn wenn das Licht ausgeht, schlafe ich<br />

schlagartig ein.<br />

Natürlich sieht man es mir nicht an, weil<br />

ich nichts zum Zuklappen habe. Keine Bettdecke,<br />

keine Augenlider.<br />

Es schaut auch niemals jemand zu.<br />

Alles ist automatisch.<br />

Ja, was ich noch bemerken wollte: ich warte<br />

auf anderes Futter. Es muß sich eines Tages<br />

die Gelegenheit ergeben, endlich einmal<br />

etwas ganz anderes in den Rachen zu kriegen.<br />

Das Maul voller Zähne, aber nichts zum<br />

Beißen, es ist, ehrlich gesagt, zum verrückt<br />

werden. Jeden Tag kommt der liebe Billardspieler<br />

mit seinem Esspulver, seinen Futterflocken<br />

an, er glaubt, er tut mir was gutes.<br />

Ich habe etwas anvisiert, einen saftigen<br />

Happen, etwas frisches, das mich an die alten<br />

Zeiten erinnert. Rohes Fleisch, Knorpel,<br />

Blut, Vitamine, Lebendiges.<br />

Was sind bloß Vitamine?<br />

Ich weiß es nicht.<br />

Egal, ich muß nur noch ein paar Tage warten,<br />

bis er wieder gesund ist. Sonst stecke ich<br />

mich noch an. An seinem Schnupfen.<br />

Ein paar Tage noch.<br />

J.Krämer<br />

(Bild: hjs)<br />

Nachbemerkung des Autors:<br />

Der Finanzsachbearbeiter Karl Hermann<br />

Pflegestock wurde, nachdem er in einem<br />

Wutanfall seine gesamte Wohnungseinrichtung<br />

zertrümmert hatte, in die örtliche Heilund<br />

Pflegeanstalt, geschlossene Abteilung,<br />

eingewiesen. Dem behandelnden Psychiater<br />

gab er zu Protokoll, er habe das jahrelange<br />

Anstarren durch seinen Piranha in einem<br />

kleinen kugelförmigen Becken nicht mehr<br />

ertragen können. Früher habe er ein großes<br />

Aquarium besessen mit einem ganzen Piranhaschwarm<br />

und eigentlich hätten sich die<br />

Tiere recht gut vertragen. Aber dann fingen<br />

die Fische an, sich urplötzlich in Phasen eines<br />

rigorosen Kannibalismus selbst zu dezimieren<br />

und schließlich sei nur noch ein einziger<br />

übrig geblieben. Zu allem Überfluss sei<br />

auch noch das Unglück mit dem Billardball<br />

passiert, der leider das Piranhabecken zerstört<br />

habe und mithin auch den Teppichboden;<br />

aus Geldmangel habe er den verbliebenen<br />

einzigen Fisch in ein rundes Goldfischglas<br />

setzen müssen, was diesem offenbar nicht<br />

gut bekommen sei. Eines Abends beim Füttern<br />

des Tieres sei dieses plötzlich blitzartig<br />

aus dem Wasser gesprungen und habe sich<br />

in seiner Nase verbissen. Da sei er schließlich<br />

durchgedreht und habe alles kurz und klein<br />

geschlagen.<br />

Herrn Pflegestocks Geruchsorgan war leider<br />

nicht mehr zu retten. Er hat vom Piranhahalten<br />

die Nase voll und möchte sich in<br />

Zukunft nur noch dem Angelsport widmen.

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