Nr. 56 - Soziale Welt
Nr. 56 - Soziale Welt
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Ausgabe: November 2009<br />
Seite<br />
4<br />
Politische Aktionen<br />
in harten Zeiten<br />
Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>56</strong> Euro 1,80<br />
Mitglied i im „International n t n a Network of Street Papers“ INSP<br />
Rohrkrepierer!<br />
Seite<br />
6<br />
Die Neujustierung<br />
des Politischen<br />
Seite<br />
10<br />
Werkstatt Frankfurt<br />
Seite<br />
12<br />
Die Wahre Geschichte<br />
Schinderhannes<br />
Das Osloer Nebelkomitee<br />
hat überraschend<br />
den US-Präsidenten<br />
Barack Obama<br />
zum Nobelpreisträger<br />
für 2009 erklärt und<br />
damit international<br />
Staunen und Befremden<br />
ausgelöst. Es wird<br />
mehr über die Motivation<br />
des Nobelpreiskomitees<br />
gestritten als<br />
über die Frage, ob denn<br />
beim amerikanischen<br />
Präsidenten überhaupt<br />
eine Friedenspolitik<br />
sichtbar sei.<br />
Eine kleine Umfrage<br />
unter <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> Leser ergab ein Bild, das<br />
zwar nicht als repräsentativ gelten darf, aber<br />
die Stimmung zu dieser Entscheidung gut<br />
wiedergibt: Einmal ein erstauntes „Der hat<br />
doch noch gar keine Zeit gehabt, was zu leisten“,<br />
neunmal ein Klares „Wofür denn? Der<br />
hat noch nichts geleistet“, einmal „Der wird<br />
auch nichts leisten“ und einmal ein grobes<br />
„Wenn ein Amerikaner den Friedensnobelpreis<br />
bekommt, warum dann nicht auch<br />
Adolf Hitler?“<br />
Auf Vergabe und Annahme reagierte die<br />
Öffentlichkeit sehr zurückhaltend. Mehrere<br />
Friedensnobelpreisträger bezeichneten sie als<br />
verfrüht, so auch Lech Walesa. Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel gratulierte merkwürdig<br />
schmallippig: Obamas größter Verdienst sei<br />
es, ein etwas anderes Klima in die internationalen<br />
Verhandlungen gebracht zu haben.<br />
Das offizielle Organ des Vatikan, der Osservatore<br />
Romano, kritisierte die bislang von<br />
dem US-Präsidenten getroffenen Entscheidungen<br />
und befand es als schwierig, ihn als<br />
Pazifisten zu bezeichnen. Schwedens Dagens<br />
Nyheter befand, das Nobelkomitee haben<br />
Barack Obama einen Bärendienst erwiesen<br />
und würden die bereits jetzt unrealistischen<br />
Erwartungen an seine Person noch mehr<br />
zum Unerfüllbaren steigern. Eine Meinung,<br />
die ausgesprochenen, oder unausgesprochen<br />
weltweit geteilt wird. In Amerika wird je<br />
nach Parteizugehörigkeit gejubelt oder verdammt<br />
– das ist nichts Neues. Einhellig ist<br />
man der Meinung, dass das Nobelpreisko-<br />
mitee mit der Preisvergabe<br />
das Ziel verfolge,<br />
Barack Obama auf einen<br />
bestimmten Kurs<br />
festzulegen, was weder<br />
rechts noch links goutiert<br />
wird. Die Gräben<br />
sind für den US-Präsidenten<br />
noch tiefer geworden.<br />
Im Senat spitzt<br />
man die Bleistifte, um<br />
die nächsten Vorlagen<br />
des Präsidenten abzuschießen<br />
oder unmögliche<br />
Randbedingungen<br />
draufzusatteln. Und<br />
natürlich steht genau<br />
jetzt eine Entscheidung<br />
über mehr Soldaten für Afghanistan<br />
an. Aus der Sicht des US-Präsidenten<br />
notwendig für den eingeschlagenen Kurs<br />
zu Sieg und Rückzug – aus der Sicht eines<br />
Friedensnobelpreisträgers extrem bedenklich.<br />
Der US-Präsident hat einen schweren<br />
Stand und wird nunmehr im eigenen Land<br />
beargwöhnt. Unqualifiziertes Jubelgeschrei<br />
aus Europa erschwert die von ihm erwartete<br />
Politik. Für manche Menschen (und<br />
manche Preise) wäre es besser gewesen, die<br />
Auszeichnung abzulehnen.<br />
RS<br />
Bild: locatealawyer.com<br />
Deutsche Kinder ärmer als italienische und griechische Kinder!<br />
Seite<br />
14-15<br />
Anna Maria Sibylla<br />
Merian<br />
Seite<br />
16<br />
Ein Blick in die Natur<br />
Teil 3<br />
Die OECD<br />
hat eine Studie<br />
über die<br />
Lebensqualität<br />
von Kindern<br />
in den Wohlstandsländern<br />
der Erde vorgelegt.<br />
Peinlich<br />
für Deutschland:<br />
Im internationalen<br />
Vergleich ist<br />
hierzulande die Kinderarmut sehr hoch.<br />
Immerhin 16,3% aller Kinder leben in<br />
Deutschland in Familien mit relativ geringem<br />
Einkommen, ebenso viel wie in Irland.<br />
Nur Portugal, Spanien und Polen von den<br />
EU-Staaten haben noch höhere Prozentzahlen,<br />
alle anderen EU-Staaten liegen besser als<br />
Deutschland. Fast jedes sechste Kind lebt in<br />
Deutschland in Armut, im OECD-Durchschnitt<br />
nur jedes achte. Dabei gibt Deutschland<br />
je nach Altersgruppe 10-20% mehr<br />
Geld für Bildung, Dienstleistungen und direkte<br />
Finanztransfers für Kinder aus als der<br />
Durchschnitt der OECD-Staaten. Doch das<br />
Geld kommt einfach nicht bei den Kindern<br />
an.<br />
„Deutschland<br />
sollte seine<br />
Transfers<br />
stärker auf bedürftige<br />
Kinder<br />
konzentrieren“,<br />
meint<br />
Monika Queisser,<br />
Leiterin<br />
der Abteilung<br />
Sozialpolitik<br />
der OECD.<br />
Die Mittel für Kinder fließen in die allgemeine<br />
Finanzdisposition<br />
der Familien ein,<br />
für Bildung und Betreuung<br />
ist kein Geld<br />
da.Wie nicht anders<br />
zu erwarten, ist das<br />
Armutsrisiko besonders<br />
groß bei Alleinerziehenden.<br />
40%<br />
dieser Familien gelten<br />
als arm nach OECD-<br />
Definition.<br />
Zum Vergleich: Im<br />
Durchschnitt sind es<br />
nur 30%.<br />
Der Anteil der Kinder, die in Familien<br />
mit Alleinerziehenden aufwachsen, entspricht<br />
mit 18% dem üblichen Wert aller<br />
OECD-Länder. Im direkten Vergleich aller<br />
der 200 Seiten starken Studie bewerteten<br />
Kriterien kommt Deutschland nur im Gesundheitsbereich<br />
gut weg. Dagegen wird<br />
der schulische Bereich und insbesondere<br />
der Abstand zwischen guten und schlechten<br />
Schülern sehr stark bemängelt.<br />
RS<br />
Bilder: Bundestag.de
2<br />
P O L I T I K<br />
Wahl vorbei – Probleme bleiben<br />
Die Bundestagswahl hat ein eindeutiges Ergebnis gebracht: die viel beschworene Mehrheit links<br />
von der Mitte gibt es nicht. Dazu fehlen über eine Million Stimmen. Doch auch bei Schwarz/<br />
Gelb mag sich die richtige Jubelstimmung nicht einstellen: Zu klein sind die Handlungsspielräume,<br />
zu drängend die Probleme. Zu einer schnellen Regierungsbildung wird es reichen, zu Absichtserklärungen<br />
hinsichtlich der Überarbeitung der von Anfang an verfehlen Hartz IV-Regelung hat<br />
es schon gereicht. Doch beim Entwurf des Haushalts 2010 wird es zum Schwur kommen. Eine<br />
Wahl beseitigt vielleicht die Schuldigen, aber nicht das Problem.<br />
Warnschüsse vor den Bug gab es schon:<br />
Die Wirtschaftsweisen haben gegrollt und<br />
verlauten lassen, dass es gegenwärtig keinen<br />
Spielraum für eine Steuersenkung gäbe. Aus<br />
Brüssel kam der deutliche Hinweis, dass eine<br />
Staatsverschuldung über die Euro-Vereinbarung<br />
gegebenenfalls mit Strafe belegt würde.<br />
Das allerdings betrifft andere Staaten der EU<br />
genauso. Brüssel wird in Laufe des Jahres<br />
sehr fantasievolle Haushaltsentwürfe vorgelegt<br />
bekommen, nicht nur aus Portugal und<br />
Griechenland, sondern vor allen Dingen<br />
aus Frankreich und eben auch Deutschland.<br />
Hierzulande hat man die Haushaltsrisiken in<br />
einen Sonderhaushalt abgedrängt, was auf<br />
die Dauer nicht statthaft sein wird. Aus diesem<br />
Sonderhaushalt werden sich Garantieerklärungen<br />
des Staates in Zahlungsverpflichtungen<br />
verwandeln,<br />
die unter Heulen<br />
und Zähneklappern<br />
in echtem Geld<br />
ausgezahlt werden<br />
müssen.<br />
Schwarz / Gelb<br />
hat eine Reihe von<br />
Problemen, die mit<br />
schönen Worten<br />
nicht gelöst werden<br />
können: die Folgen<br />
der Bankenkrise<br />
müssen bewältigt,<br />
die Konjunktur angekurbelt,<br />
Beschäftigung<br />
gesteigert,<br />
Steuerverschwendung<br />
gestrichen<br />
und schließlich das<br />
Gesundheitssystem<br />
total renoviert werden.<br />
Und auch bei<br />
der Außenpolitik<br />
ist man keineswegs<br />
so einig wie nach<br />
Außen postuliert: Guido Westerwelle übt auf<br />
Staatsmann, die Kanzlerin möchte Außenpolitik<br />
lieber alleine betreiben – Steinmeier<br />
weiß ein Trauerliedchen davon zu singen.<br />
Nur ein paar Hinweise: Die Ankündigungen<br />
in Sachen Hartz IV sind löblich, aber<br />
was macht der arme Mensch, den die Jobagentur<br />
schon dazu gezwungen hat, seine Altersvorsorge<br />
aufzulösen oder sein Häuschen<br />
zu verkaufen? Bleibt es beim „Pech gehabt“<br />
oder wird die Nachbesserung schon wieder<br />
nachgebessert, bevor sie noch in Kraft getreten<br />
ist?<br />
Die Möglichkeit, neben Hartz IV künftig<br />
Nebeneinkünfte zu erwirtschaften, kippt<br />
vollständig die bisherige Arbeitsmarktpolitik<br />
der Un<strong>Soziale</strong>n Partei Deutschlands. Minijobs<br />
und Lohnausgleich über Wohngeld,<br />
Münteferings Hinterlassenschaft als Arbeitsminister,<br />
werden künftig von der arbeitenden<br />
Bevölkerung hohnlachend zurückgewiesen<br />
werden. Ganz klar macht die künftige Regelung<br />
eine Steuerreform unabdingbar, damit<br />
sich Leistung auch wirklich lohnt.<br />
Und wo, bitteschön, ist der strafbedrohte<br />
Unterschied zwischen dem Verbot sittenwidriger<br />
Niedriglöhne und einem vorgeschriebenen<br />
Mindestlohn? Wer legt denn fest, was ein<br />
sittenwidriger Lohn ist? Tarifverträge, die Jobagentur<br />
oder irgendein Richter nach Tageslaune?<br />
Auf die Antwort darf man gespannt<br />
sein.<br />
Weiter: Die FDP ist der Meinung, dass<br />
der Gesundheitsfonds gescheitert und darüber<br />
hinaus pleite ist. Wahrscheinlich hat sie<br />
damit recht. Die CDU, an der Schaffung dieses<br />
Monstrums beteiligt, mag nichts zugeben<br />
und steckt den Kopf in den Sand.<br />
Und noch ein Anekdötchen: Sehr viele<br />
sind schon sehr gespannt darauf, ob und<br />
wie ein Außenminister Guido Westerwelle<br />
der chinesischen Regierung erklären wird,<br />
dass er selber als FDP-Vorsitzender jede Entwicklungshilfe<br />
für die fernöstlichen Exportweltmeister<br />
gestrichen hat. Zumindest hatte<br />
er das seit Jahren und insbesondere auch<br />
im Wahlkampf immer wieder als Beleg für<br />
Haushaltssparmöglichkeiten angeführt.<br />
Amtliches Endergebnis für die Bundestagswahl 2009<br />
Ob Schwarz / Gelb erfolgreich sein wird,<br />
das wird sich zeigen. Langweilig wird es jedenfalls<br />
nicht werden.<br />
Die größte Partei<br />
waren die 18 Millionen Nichtwähler. Die<br />
Wahlbeteiligung ist erneut um 6,8 % auf<br />
hauchdünn über 70% abgesunken. Vor allem<br />
SPD- Wähler sind zu Hause geblieben. Der<br />
Ruf der Politiker ist noch schlechter als der<br />
von Gebrauchtwagenhändlern. Hier kommt<br />
eine Aufgabe auf alle demokratischen Parteien<br />
zu, um die Bürger wieder politisch zu<br />
interessieren. Hinweise, dass die Wahlbeteiligung<br />
in anderen Staaten, insbesondere den<br />
USA, noch weit unter dem deutschen Ergebnis<br />
liege, gelten nicht. Es kann nicht angehen,<br />
dass Wahlverweigerung zur Norm wird<br />
und die Nichtwähler mehr Stimmen haben<br />
als die Regierungsmehrheit!<br />
Prognosen und Spekulationen<br />
Was ist schneller als Raumschiff Enterprise<br />
bei Maximum Warp? Antwort: die SPD bei<br />
Personalentscheidungen nach einer verlorenen<br />
Wahl!<br />
Eilends hat man eine neue Parteispitze<br />
etabliert. Eine neue Verlierermannschaft<br />
setzt das SPD-Projekt 18 fort. Statt Analyse<br />
und Entscheidungen nur neue Gesichter,<br />
die obendrein noch vorbelastet sind – das<br />
ist einfach zu wenig. Wenn man sich schon<br />
als sozialdemokratische Partei wieder neu<br />
definieren will, geht das einfach nicht ohne<br />
harte Entscheidungen. Man kann keinem<br />
Bundesbürger gegenüber Hartz IV als soziale<br />
Großtat der SPD propagieren und soziale<br />
Gerechtigkeit fordern. Das ist einfach nicht<br />
glaubhaft, wie die Wahlergebnisse deutlich<br />
zeigen. Und auch in der Haltung gegenüber<br />
der Linken muss Farbe bekannt werden:<br />
entweder Kampf bis aufs Messer durch eine<br />
tatsächlich wieder sozial ausgerichteten SPD<br />
oder windelweiche Koalitionen mit Altkommunisten<br />
und Tagträumern.<br />
Die Linke lebt genüsslich von der Krise<br />
der SPD. Das<br />
aber ist auf Dauer<br />
einfach zu wenig.<br />
Und Oskar hat mal<br />
wieder die Flatter<br />
gemacht, wie schon<br />
öfter, wenn tatsächlich<br />
Verantwortung<br />
droht. Wahrscheinlich<br />
sitzt er in Saarbrücken<br />
und bastelt<br />
an der nächsten<br />
Partei.<br />
Grün konnte<br />
zwar nicht Schwarz<br />
/ Gelb verhindern,<br />
wohl aber Oskar<br />
als saarländischen<br />
Ministerpräsidenten.<br />
Dies sehr zum<br />
Ärger von Künast<br />
und Trittin, den<br />
Mühlsteinen um<br />
den Hals dieser Partei.<br />
Jetzt will man<br />
einen Neuanfang<br />
durch eine linkere Ausrichtung suchen. Das<br />
kann nicht gut gehen. Binsenweisheit: Wenn<br />
sich drei Streithähne um Pfennige streiten,<br />
geht ein Anderer lachend mit der Mark weg.<br />
Noch dazu scheint man bei den Grünen<br />
nicht zu begreifen, dass sich ihre Art der ökologischen<br />
Ausrichtung schlicht und einfach<br />
erledigt hat. Jede andere Partei ist mittlerweile<br />
genauso ökologisch wie der Grünen. International<br />
sind die heiligen Kühe der Grünen<br />
überhaupt kein Thema mehr. Wenn die Erde<br />
eine Zukunft haben soll, dann wird sie ökologisch<br />
sein, aber nicht grün. Die <strong>Welt</strong> der<br />
Zukunft ist blau. Greenpeace weiß es schon,<br />
Trittin wird es nie lernen.<br />
RS<br />
Klares Votum,<br />
unklare Botschaften<br />
Mit dem Sieg von Schwarz-Gelb endete<br />
einer der uninspierertesten Wahlkämpfe, die<br />
die Bundesrepublik in sechzig Jahren gesehen<br />
hat. Wahlplakate, zum Verwechseln ähnlich;<br />
fast wortgleiche Botschaften; viele Köpfe,<br />
davon sehr viele völlig unbekannt und die<br />
meisten Anderen dem politischen Gegner<br />
herzlich zuwider<br />
Gekrönt wurde der „Wahlkrampf“ durch<br />
eine Fernsehdiskussion zwischen Merkel und<br />
Steinmeier, die die volle Qualität eines Gütetermins<br />
beim ländlichen Scheidungsrichter<br />
hatte. CDU und CSU gaben Lippenbekenntnisse<br />
zu einer neuen Konstellation ab, wären<br />
aber nach dem Eindruck, der vermittelt wurde,<br />
auch durchaus mit einer Fortsetzung der<br />
großen Koalition einverstanden gewesen.<br />
Die linke Seite der Politik war sich nur in<br />
einem einig: Schwarz-Gelb muss verhindert<br />
werden. Und sonst in nichts, nicht einmal in<br />
der Koalitionsfähigkeit miteinander. Aber wie<br />
das in der Strategie nun mal bekannterweise<br />
immer ist, sind Negativziele viel schwerer zu<br />
erreichen als Positivziele. Rot-Röter-Grün<br />
wurde nicht nur von der SPD abgelehnt,<br />
auch die Bevölkerung empfand dies als keine<br />
Wende, sondern als weitere Fortsetzung<br />
einer verfehlten Politik. Schwarz-Gelb hatte<br />
wenigsten einer Prediger für einen Neuanfang,<br />
wenn auch Westerwelle sich mehr als<br />
Rufer in der Wüste gefühlt haben muss; die<br />
Kanzlerin und insbesondere der bayerische<br />
Ministerpräsident waren nicht gerade hilfreich<br />
und mussten einen leichter Dämpfer<br />
hinnehmen<br />
.<br />
Ganz schlimm waren die Wahlslogans.<br />
Die CDU faselte von Kraft, die Deutschland<br />
fehle – der deutschen Politik fehlt es aber an<br />
Hirn. Steinmeier plakatierte, dass Deutschland<br />
mehr könne – fragt sich nur, warum er<br />
es in vier Jahren Regierungsbeteiligung nicht<br />
verwirklichen konnte. Die FDP, fast peinlich<br />
wortgleich, plakatierte Deutschland kanns<br />
besser. Das werden sie jetzt zeigen müssen.<br />
Grün war ohne Ideen, die Linke hängte<br />
Slogans von unerreichter Länge auf. So anziehend<br />
und so wortreich wie das Motto zu<br />
einem Parteikongress der SED – und genauso<br />
glaubhaft<br />
Während der ganzen langweiligen Veranstaltung<br />
musste ich an zwei Figuren aus der<br />
Augsburger Puppenkiste denken. Querro<br />
und Quarro sind zwei üble Erdmännchen<br />
in Kleiner König Kalle Wirsch. Sie zeichnen<br />
sich dadurch aus, dass sie ständig Klimmzüge<br />
machen und gegenseitig im Streit sind, wer<br />
denn die meiste „Kwaft“ habe. Natürlich<br />
geht das schief – sie enden besiegt.<br />
Denn „Kwaft“ ist uninteressant.<br />
Neue Ideen braucht das Land.<br />
Nun macht mal schön, in Abwandlung<br />
von einem berühmten Ausspruch von<br />
Theodor Heuss.<br />
RS
NACHRICHTEN 3<br />
Straßenzeitungen – eine publizistische Revolution weltweit<br />
Glasgow, The Big Issue Scotland<br />
- 1991 kam in London die erste Ausgabe<br />
der Big Issue auf die Straßen. Nicht das erste<br />
Objekt einer sozialen Einrichtung oder einer<br />
Obdachlosenzeitschrift, aber Ausgangspunkt<br />
einer Bewegung, die heute über 100 Publikationen<br />
in 37 Ländern auf fünf Kontinenten<br />
umfasst. „Big-Issue“ Pionier John Bird hatte<br />
diesen Erfolg<br />
nicht vorausgesehen.<br />
Aber gleich<br />
beim Start 1991<br />
kam Besuch aus<br />
Europa und Nordamerika.<br />
Auch<br />
dort war Obdachlosigkeit<br />
ein<br />
Problem, und<br />
auch dort sollte<br />
die Formel für<br />
eine Zeitung,<br />
die von Obdachlosen auf der Straße verkauft<br />
wird, umgesetzt werden. Diese Formel gilt<br />
sowohl für die Vertriebsweise als auch für die<br />
Inhalte: Vertrieb als Lebens- und Existenzhilfe<br />
für Obdachlose, Redaktion als Stimme für<br />
die Schwachen und Marginalisierten.<br />
Seit 1994 hat Big Issue eine internationale<br />
Abteilung und war an der Gründung von<br />
INSP, dem International Network of Street<br />
Papers, maßgeblich beteiligt. Schon sehr früh<br />
hat man festgestellt, dass eine Straßenzeitung<br />
die sozialen Belange lokal adressieren muss.<br />
Folglich entstanden Big Issue Ausgaben in<br />
Schottland, Wales und Nordengland. Auch<br />
in Belgien und Frankreich kamen schon<br />
1993 Straßenzeitungen nach diesem Modell<br />
als INSP-Mitglieder auf den Markt. Der<br />
Name The Big Issue wird sehr oft in Ländern<br />
eingesetzt, die englischsprachige Traditionen<br />
haben, wie Südafrika, Australien, Sambia,<br />
und Malawi. Aber es gibt auch eine Big Issue<br />
Japan. In vielen Sprachen lässt sich der<br />
Begriff Big Issue nicht gut übersetzen, und<br />
viele Zeitungen haben eigene Namen gefunden,<br />
wie die SOZIALE WELT in Frankfurt.<br />
Der derzeitige Chairman von INSP, Serge<br />
Lareault, gehört zu der Zeitung L´Itineraire<br />
aus Montreal. Er sagt: „Das Grundmodel von<br />
The Big Issue war großartig, aber es musste<br />
auf viele unterschiedliche Arten umgesetzt<br />
werden. In Nordamerika beispielsweise werden<br />
viele Zeitschriften von wohltätigen Organisationen<br />
betrieben, und die Verkäufer<br />
schreiben viele Beiträge. Aber der wesentliche<br />
Einfluss auf uns alle ist die Ausrichtung auf<br />
professionelles Verhalten in allen Belangen<br />
einer Zeitung.“<br />
Fußball gegen Hoffnungslosigkeit<br />
Lusaka, Sambia, IPS - Chibolya ist eine<br />
verwahrloste Wohngegend in der sambischen<br />
Hauptstadt Lusaka, in die sich selbst hartgesottene<br />
Polizisten kaum hinentrauen. Doch<br />
genau hier hat Patrick Lubinda die Fußballmannschaft<br />
Chibolya Queens gegründet, um<br />
speziell den Mädchen im Viertel eine Perspektive<br />
zu geben. Es fehlt an allem, selbst<br />
an Trikots und Fußbällen. „Nur die wenigsten<br />
Teams besitzen Fußbälle. So müssen die<br />
Mädchen oft kilometerweise laufen, um sich<br />
Bälle auszuleihen.“ In Sambia gibt es mehr als<br />
zwei Millionen Aidswaisen, von denen nach<br />
offiziellen Angaben 750.000 auf der Straße<br />
leben. Nur für 135.000 von ihnen gibt es<br />
staatlich finanzierte Jugendförderprogramme<br />
mit Ausbildung und sozialer Betreuung. Der<br />
Rest ist auf Eigeninitiative und private Hilfe<br />
wie zum Beispiel durch die Fußballmannschaft<br />
angewiesen, um eine wenn auch kleine<br />
Perspektive zu haben.<br />
Nach 90 Jahren wieder Zeltlager?<br />
Sacramento, CA – während die Rockband<br />
Papa Roach ihre neue Platte aufnahm, hat<br />
der Bürgermeister der kalifornischen Hauptstadt<br />
die Obdachlosen aus ihren Unterkünften<br />
vertreiben. Die Unterkünfte wurden<br />
geschlossen, eine große Zahl obdachloser<br />
Bürger stand auf der Straße. Der Bürgermeister,<br />
folgend dem Druck der Medien, öffnete<br />
ein altes Veranstaltungsgelände und ließ die<br />
Obdachlosen dort kampieren – solange die<br />
Presse da war. Danach wurde dieses zeitweilige<br />
Refugium wieder geschlossen. Die<br />
Organisation „Loaves and Fishes“, zu denen<br />
auch Papa Roach Lead Man Jacoby Shaddix<br />
gehört, fand ein Gesetzesloch. Ein viel beachteter<br />
Marsch, ähnlich den Hungermärschen<br />
der großen Depression in 1929, zum neuen<br />
Gelände fand statt. Auf dem neuen Gelände<br />
kann ein hoffentlich permanentes Lager aufgeschlagen<br />
werden. Wenigstens gibt es reines<br />
Trinkwasser und sanitäre Möglichkeiten. Jacoby<br />
Shaddix von Papa Roach, eine Metal<br />
Band mit mittlerweile sechs erfolgreichen<br />
Platten, stammt selbst aus einer Familie, die<br />
Obdachlosigkeit erfahren hat. Sein Vater sei<br />
durch Vietnam zerstört worden „Es klingt<br />
lächerlich, aber zuweilen haben wir sogar in<br />
einem Tipi gelebt“. Nicht nur Junkies, Geisteskranke<br />
und Verwahrloste verlieren ihre<br />
Wohnung, meint Shaddix: „Das sind ganz<br />
normale Amerikaner der Arbeiterklasse. Viele<br />
davon sind Vietnamveteranen, und zu diesen<br />
fühle ich eine große persönliche Verbundenheit.“<br />
Im Geist von 76<br />
Kapstadt, Südafrika / Big Issue South Africa<br />
- im Aufstand gegen Apartheid und rassische<br />
Unterdrückung haben die Schulkinder<br />
seinerzeit eine große Rolle gespielt. Doch die<br />
Benachteiligung der Kinder aus den Townships<br />
hat sich in 14 Jahren nicht wesentlich<br />
gebessert. Im Township Khayelitsha, so die<br />
Organisation Equal Education, haben lediglich<br />
3 von 53 Grundschulen so etwas wie<br />
eine funktionierende Bibliothek. Das dürfte<br />
kein Einzelfall sein. „Wir beziehen uns auf<br />
die Verfassung“, so Josliwa Dwayne, einer der<br />
Gründer. „Recht auf Gleichheit, Menschenwürde<br />
und Ausbildung für alle. Wir wollen<br />
keine Gutachten abliefern, sondern eine Basis<br />
für Aktion aufbauen.“ Alle normalen Proteste<br />
bei der Schulverwaltung und der Regierung<br />
sind bis jetzt fruchtlos verlaufen. In vielen<br />
Schulen gibt es zwar inzwischen Räume,<br />
insbesondere in den Neubauten. Doch diese<br />
sind leer – es gibt keine Bücher, keine Fotokopierer,<br />
keine Computer und insbesondere<br />
keine Mittel. Um diesem Mangel abzuhelfen,<br />
fanden am 22. September, dem Jahrestag einer<br />
ähnlichen Demonstration im Jahr 1976,<br />
ein Marsch der Schulkinder zum südafrikanischen<br />
Parlament statt. Bekannte Autoren<br />
haben an diesem Marsch teilgenommen mit<br />
dem Verlesen von Teilen ihrer Werke.<br />
Katastrophe nach der Katastrophe<br />
New Orleans / Making Change – nach<br />
dem Orkan Katrina sind Fehler in der Notfallorganisation<br />
offenbar geworden, die infolge<br />
staatlicher Inaktivität wohl auch an<br />
anderen Orten bei den unvermeidlichen<br />
Wetterkatastrophen wieder auftreten werden.<br />
Klimaforscher rechnen mit immer stärkeren<br />
und von allen Dingen häufigeren Ereignissen<br />
wie dieser Sturm, entlang der amerikanischen<br />
Küste, aber auch an anderen Orten.<br />
Folgende Defizite sind durch Katrina schlagend<br />
offensichtlich geworden:<br />
Fehlen von Notfallausweisen<br />
Auch für die Nutzung der Hilfseinrichtungen<br />
wurde in irgendeiner Form eine<br />
Identifikation verlangt.<br />
Nicht einfach<br />
für Amerikaner, wo<br />
es so etwas wie einen<br />
Personalausweis<br />
oder eine Ausweispflicht<br />
gar nicht<br />
gibt. Um wieder zu<br />
einem gültigen Ausweis<br />
zu kommen,<br />
war der Besuch von<br />
mehreren Behörden<br />
notwendig – aber an<br />
die nicht mehr existierende Adresse konnte<br />
natürlich nicht geschickt werden. Und auch<br />
viele der Behörden, z.B. lokale Einrichtungen<br />
für Geburtsurkunden, hatten die Wasser<br />
schlicht und einfach verschlungen.<br />
Schlechte Notunterkünfte<br />
Die Notfallunterkünfte gelten als formaldehydverseucht<br />
und demzufolge für einen<br />
permanenten Aufenthalt unbrauchbar. Die<br />
Administration Bush hat nichts getan – vor<br />
allem ältere und behinderte Personen finden<br />
keinen neuen Aufenthaltsort. Die Regierung<br />
Obama hat die Aufenthaltsfrist um zwei Monate<br />
verlängert und verkündet, dass es keine<br />
Zwangsräumungen geben werde, aber nicht<br />
unternommen, für die Betroffenen neuen<br />
Wohnraum zu schaffen. Und entgegen der<br />
Zusage sind sehr wohl Räumungsbescheide<br />
ergangen.<br />
Dank des Vaterlandes<br />
Über die Be(Miß)handlung von Veteranen<br />
aus Vietnam und dem Irak haben wir<br />
schon oft berichtet. Auch England, so The<br />
Big Issue in Scotland, ist leider nicht besser.<br />
Es gibt Veteranen der Auseinandersetzungen<br />
in Nordirland, dem Falklandkrieg, den<br />
Einsätzen im Irak und Afghanistan. In Edinburgh<br />
ist auf private Initiative eine Versorgungsstäte<br />
für Veteranen entstanden. Dort<br />
gibt es ein Kaffee, Sportmöglichkeiten und<br />
vor allem ein Büro, das sich bemüht, Unterbringung<br />
und medizinische Pflege zu organisieren.<br />
Sehr viele, wenn nicht alle der Klienten,<br />
leiden unter PTSD –Post-Traumatic<br />
Stress Disorder, medizinischer Fachausdruck<br />
für eine Vielzahl von schlecht diagnostizieren<br />
und noch schwieriger zu behandelten Störungen<br />
bis hin zum Nervenzusammenbruch<br />
und Selbstmord. 25% der 20.000 Soldaten,<br />
die die britische Armee jährlich verlassen,<br />
werden irgendwann einmal im Leben Obdachlosigkeit<br />
erfahren. Für kurz Dienende<br />
(bis 4 Jahre) ist die Unterstützung bei der<br />
Entlassung nur ein kurzes Gespräch ohne<br />
jede weitere Hilfe. Mittlerweile, so mutmaßt<br />
Stephen Robertson von der Vereinigung der<br />
regionalen Big Issue Ausgaben im UK, sind<br />
es über 300 Verkäufer, die Zeit in der Armee<br />
zugebracht haben oder Veteranen der kriegerischen<br />
Auseinandersetzungen sind. Das<br />
britische Verteidigungsministerium streitet<br />
Probleme vehement ab. Ein Veteran: „Die<br />
nehmen sich mehrere Monate, um uns zu<br />
Soldaten zu machen. Für den Weg zurück ins<br />
Zivilleben sollte genauso viel bezahlte Zeit da<br />
sein.“<br />
Auch Deutschland hat inzwischen seine<br />
Veteranen aus Afghanistan. Über deren Behandlung<br />
werden wir berichten. Traditionell<br />
ist der Dank des Vaterlandes bei uns ein<br />
Stück wertloses Blech und ein fester Arschtritt.<br />
RS<br />
Bild: INSP<br />
Hans-Peter Janzen †<br />
Am Ende hat sein Herz versagt. Hans-Peter<br />
Janzen, zuletzt stellvertretender Chefredakteur<br />
dieser Zeitschrift und seit langem für<br />
die Gestaltung zuständig, ist plötzlich und<br />
unerwartet verstorben. Er kam aus Flensburg,<br />
geboren im Jahr 1948, auf unerfindlichen<br />
Wegen nach Frankfurt. Er sprach nie<br />
darüber, auch über seine Familie nicht. Wir<br />
wissen, dass er in der Erwachsenenbildung<br />
gearbeitet und Computerunterricht gegeben<br />
hat. Computer und Musik waren die<br />
beiden großen Interessen und die Grundlage<br />
für seinen Freundeskreis in Frankfurt.<br />
Er hat mit Begeisterung getrommelt und<br />
Bassgitarre gespielt. In Frankreich kannte<br />
er sich einigermaßen aus und nahm an den<br />
Frankreichfahrten mit Begeisterung teil.<br />
Soweit das, was wir über ihn wissen oder<br />
besser nicht wissen.<br />
Wir von der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> kannten ihn als<br />
unseren Grafiker, Hersteller, Layouter und<br />
generell den Computer-Guru der Zeitung.<br />
Ein Job, den er mit großem Vergnügen und<br />
sichtbar sehr guten Ergebnissen durchgeführt<br />
hat.<br />
Er war auch (das ist falsch: eigentlich im<br />
ersten Sinne) Redakteur für sozialpolitische<br />
Angelegenheiten. Als solcher war er die linke<br />
Stimme in der Redaktion, die Stimme<br />
für soziale Verpflichtung und Antiglobalisierung.<br />
Ich darf das sagen, weil ich diese<br />
Stimme als Chefredakteur schätzte und ihr<br />
Raum in der Zeitung gab, sehr gerne sogar.<br />
Er hat versucht, in unserer Zeitung die<br />
Anliegen der Armen, Unterprivilegierten,<br />
Obdachlosen, derjenigen, die wie er selbst<br />
durch widrige Umstände aus der Wirtschaftswunderwelt<br />
ausgespuckt wurden, zu<br />
Tragen zu bringen. Das ist ihm gelungen. Er<br />
hatte noch viele Pläne für dringend notwendige<br />
Artikel, aber keiner davon kann jetzt<br />
mehr ausgeführt werden. Wir sind eben<br />
nicht Hans-Peter Janzen. Das ist mal so. Er<br />
ist nicht vergessen, und wir versprechen, seine<br />
Themen auch nicht.<br />
Er wird uns fehlen.<br />
Nachruf<br />
Er fehlt mir. Sehr sogar.<br />
Rüdiger Stubenrecht<br />
Unser Vorstand<br />
Unsere Redaktion<br />
Unsere Vereinsmitglieder
4 P O L I T I K<br />
Politische Aktionen in harten Zeiten<br />
Deutschland ist beunruhigt. Nichts scheint mehr zu funktionieren: Auch eine Wahl mit Regierungswechsel bringt wenig oder keine<br />
Änderungen an der sozialen Situation. Schon früher hatte man die Erfahrung machen müssen, dass Wahlversprechungen der Parteien<br />
nichts wert sind bei der Regierungsbildung. Gewerkschaften können demonstrieren ohne Ende, es bleibt ohne Erfolg, trotz Geldgeschenken<br />
und trotz Versprechungen geht der Jobabbau unverdrossen weiter. Was funktioniert denn eigentlich noch?<br />
In der Wirtschaft<br />
Was tun, wenn die Entlassung droht? Mit der<br />
Gewerkschaftsweste eine Mahnwache halten?<br />
Das hält das Begräbnis nicht auf. Für dieses<br />
Problem haben Arbeitnehmer in anderen<br />
Ländern weitaus radikalere Lösungen gefunden<br />
als hierorts jemals praktiziert. Einige<br />
Beispiele folgen:<br />
60 Beschäftigte des Transportunternehmens<br />
Serta stehen in La Vaupaliere im Norden<br />
Frankreichs neben 8000 Litern Gift. Sie<br />
drohen damit, sie in einen Seine-Zufluss zu<br />
kippen - Franzosen drohen mit Vergiftung<br />
der Seine - 23. August 2009 - Die <strong>Welt</strong> - Von<br />
Gesche Wüpper - Erst brennende Autoreifen,<br />
dann Geiselnahmen, dann Sprengdrohungen<br />
Der Protest in Frankreich eskaliert. Und es<br />
geht noch gefährlicher: Jetzt bedrohen Arbeiter<br />
einer insolventen Firma die Bevölkerung.<br />
Sie wollen Giftfässer in einen Seine-Zufluss<br />
kippen, wenn sie nicht je 15.000 Euro Abfindung<br />
bekommen - Ein sonniger Augustnachmittag<br />
in der Normandie. Die Männer sitzen<br />
an einem Klapptisch im Schatten unter<br />
dem Zeltdach und spielen Karten. Vom fast<br />
erloschenen Lagerfeuer zieht eine Rauchfahne<br />
herüber. „Noch etwas zu trinken?“, fragt<br />
Daniel und geht zu einem Kühlschrank in<br />
der ausgestatteten Kochecke. Eine Campingplatz-Idylle,<br />
könnte man meinen. Doch das<br />
Zelt befindet sich am Rand der Autobahn,<br />
mitten im Gewerbegebiet von La Vaupalière<br />
bei Rouen. Ein Ort, dessen Name bis vor<br />
kurzem selbst in Frankreich keiner kannte.<br />
Das hat sich gründlich geändert.<br />
Der Grund ist schon von der Autobahn<br />
aus zu sehen. „Serta en grève“ – „Serta im<br />
Streik“, verkündet das Plakat an der Brükke<br />
über der Ausfahrt. Danach folgen in Abständen<br />
von wenigen Metern die nächsten<br />
Botschaften. Mal sind sie mit weißer Farbe<br />
auf die Straße aufgesprüht, mal auf mit Totenköpfen<br />
verzierten Schildern, die das Eingangstor<br />
zum Transportunternehmen Serta<br />
zieren. Dahinter, auf dem von Lastwagen<br />
gesäumten Betriebsgelände: 24 mit toxischer<br />
Flüssigkeit gefüllte Fässer, fein säuberlich<br />
übereinandergestapelt, dazwischen Gasflaschen<br />
und blaue Kanister. „15.000 Euro,<br />
oder es fließt“, droht ein Schriftzug vor dem<br />
Gullydeckel, unter dem ein unterirdischer<br />
Zufluss der Seine strömt. Sollten sie keine<br />
Abfindungen bekommen, wollen die 52 Mitarbeiter<br />
des bankrotten Unternehmens den<br />
Fluss vergiften.<br />
Eine Drohung, die sich nun nicht mehr<br />
gegen den Arbeitgeber richtet, nicht einmal<br />
gegen den Staat – sondern gegen die Mitbürger.<br />
Der Arbeitskampf hat in Frankreich eine<br />
neue Dimension erreicht, die letzte Stufe einer<br />
explosiven Entwicklung. Seit Beginn des<br />
Jahres greifen wütende Arbeiter zu immer<br />
radikalen Mitteln, um ihren Forderungen<br />
Nachdruck zu verleihen – aus Angst, den Job<br />
zu verlieren, aus der Verzweiflung heraus, ohnehin<br />
nichts mehr zu verlieren zu haben. So<br />
nahmen Arbeitnehmer in mindestens zehn<br />
Unternehmen Manager stunden-, gar tagelang<br />
als Geiseln, um Abfindungen zu erpressen.<br />
Kidnapping hat in Frankreich Geschichte<br />
Bereits in den 70er-Jahren hielten Arbeiter<br />
ihre Chefs gefangen, um Forderungen<br />
durchzusetzen. Doch seit von der Entlassung<br />
bedrohte Mitarbeiter eines im Südwesten des<br />
Landes gelegenen Werks von Sony im März<br />
mit der Geiselnahme 45.000 Euro erpressten,<br />
ist die Methode fast üblich geworden.<br />
„Die Geiselnahmen sind ein zusätzliches<br />
Druckmittel, die allerletzte Waffe bei Verhandlungen“,<br />
erklärt Soziologe Guy Groux,<br />
der an der renommierten Politik-Hochschule<br />
Science Po Arbeiterproteste erforscht.<br />
Die allerletzte? Kaum. Im Juli drohten die<br />
Mitarbeiter des Autozulieferers New Fabris in<br />
Châtellerault, ihre Fabrik zu sprengen. Auch<br />
sie hatten Erfolg mit der Erpressung, ebenso<br />
wie die Nachahmer in anderen Firmen. Statt<br />
der Staatsanwaltschaft kamen regelmäßig<br />
Medien und Minister und machten zusätzlich<br />
Druck auf die Firmenleitungen, die sich<br />
so zu Zugeständnissen gezwungen sahen.<br />
Wut im Tonghua-Stahlwerk: Arbeiter des<br />
staatlichen Unternehmens in China haben<br />
einen Top-Manager erschlagen. Dessen Firma<br />
wollte Tonghua schlucken - und Tausende<br />
entlassen - Totgeschlagen - Nach Mord<br />
am Chef sagt Stahlfirma Fusion ab - 27. Juli<br />
2009 - welt.de - Aufgebrachte Stahlarbeiter<br />
haben in China den Geschäftsführer eines<br />
Unternehmens getötet. Deswegen scheitert<br />
nun eine geplante Fusion seiner Firma. Der<br />
Manager soll bei einer Übernahme mit der<br />
Entlassung von 30.000 Mitarbeitern gedroht<br />
haben. Chinesische Medien äußern<br />
Verständnis für die Arbeiter.<br />
Nachdem aufgebrachte Arbeiter den designierten<br />
Konzernchef zu Tode geprügelt haben,<br />
ist eine geplante Fusion von Stahlfirmen<br />
in China auf Eis gelegt worden. Die Übernahme<br />
der staatlichen Firma Tonghua durch<br />
den privaten Konzern Jianlong sei wegen der<br />
Proteste und der Tötung des Managers abgesagt<br />
worden, sagte ein Sprecher der Provinz<br />
Jilin im Nordosten von China.<br />
Jianlong-Chef Chen Guojun, der den fusionierte<br />
Stahlproduzenten hätte leiten sollen,<br />
war am 24. Juli von wütenden Arbeitern<br />
zu Tode geprügelt worden. Chen habe die<br />
Tonghua-Arbeiter „desillusioniert und provoziert“,<br />
als er mit der Entlassung von rund<br />
30.000 Mitarbeitern gedroht habe, berichtete<br />
die chinesische Staatspresse unter Berufung<br />
auf einen Polizeivertreter.<br />
Die Arbeiter schlugen den Manager demnach<br />
brutal zusammen, lieferten sich schwere<br />
Kämpfe mit der Polizei und hinderten Mediziner<br />
daran, den schwer verletzten Manager<br />
zu versorgen. Bei den Ausschreitungen wurden<br />
demnach rund 100 Menschen verletzt.<br />
Laut Informationszentrum für Menschenrechte<br />
und Demokratie warfen die Arbeiter<br />
dem Firmenchef auch Missmanagement<br />
vor. Zudem hätten sie dessen angebliches<br />
Monatseinkommen von umgerechnet rund<br />
300.000 Euro kritisiert. Frühere Stahlarbeiter<br />
in Tonghua erhalten demnach nur eine<br />
monatliche Rente von rund 20 Euro.<br />
Wut auf den Chef - Stahlarbeiter prügeln<br />
Geschäftsführer zu Tode<br />
Der Chef bekam umgerechnet 300.000<br />
Euro im Jahr – Ex-Mitarbeiter nur 20 Euro<br />
monatlich. Das brachte einer Menschenrechtsgruppe<br />
zufolge Arbeiter in China in<br />
Rage. Sie hätten den Geschäftsführer einer<br />
Stahlfirma totgeprügelt. Hunderte Arbeiter<br />
wurden bei Protesten gegen eine Firmenübernahme<br />
verletzt.Stahlarbeiter in China:<br />
Viele der Beschäftigten in der Branche arbeiten<br />
hart und für wenig Geld. Bei Protesten<br />
gegen eine geplante Firmenübernahme gerieten<br />
Mitarbeiter eines Unternehmens mit<br />
der Polizei aneinander; den Geschäftsführer<br />
prügelten sie laut einem Bericht zu Tode Aus<br />
Wut über die geplante Übernahme ihres Unternehmens<br />
haben Stahlarbeiter in China einem<br />
Bericht zufolge ihren Geschäftsführer zu<br />
Tode geprügelt. Mehrere Hundert Menschen<br />
wurden bei Zusammenstößen mit der Polizei<br />
während der Protestaktion von 30.000 Arbeitern<br />
in der Stadt Tonghua verletzt, wie das<br />
in Hongkong ansässige Information Center<br />
for Human Rights and Democracy mitteilte.<br />
Die Angestellten der Tonghua Iron and<br />
Steel Group machten das Konkurrenzunternehmen<br />
Jianlong demnach für finanzielle<br />
Probleme ihrer Firma im vergangenen Jahr<br />
verantwortlich. Dem Jianlong-Geschäftsführer<br />
Chen Guojun war demnach 2008 ein<br />
Gehalt von drei Millionen Yuan (300.000<br />
Euro) ausgezahlt worden, während ehemalige<br />
Mitarbeiter im Ruhestand monatlich nur<br />
200 Yuan (20 Euro) erhielten, wie die Menschenrechtsgruppe<br />
weiter mitteilte.<br />
Die Angestellten der Tonghua Iron and<br />
Steel Group machten das Konkurrenzunternehmen<br />
Jianlong demnach für finanzielle<br />
Probleme ihrer Firma im vergangenen Jahr<br />
verantwortlich. Dem Jianlong-Geschäftsführer<br />
Chen Guojun war demnach 2008 ein<br />
Gehalt von drei Millionen Yuan (300.000<br />
Euro) ausgezahlt worden, während ehemalige<br />
Mitarbeiter im Ruhestand monatlich nur<br />
200 Yuan (20 Euro) erhielten, wie die Menschenrechtsgruppe<br />
weiter mitteilte.<br />
Jianlong hatte im vergangenen Jahr vorübergehend<br />
die Kontrolle über die Tonghua<br />
Iron and Steel Group inne und hat seine<br />
Übernahmepläne in diesem Jahr erneuert.<br />
Die Nachrichtenagentur AP berichtete, dass<br />
offizielle Stellen zwar den Konflikt unter den<br />
Stahlarbeitern, aber weder Angaben zu Verletzten<br />
oder dem Todesfall bestätigten.<br />
Frankreich - Arbeiter erzwingen mit<br />
Sprengdrohung 30.000 Euro, 17. Juli 2009<br />
Mit der Drohung, Firmeneigentum in die<br />
Luft zu sprengen, haben Arbeiter eines französischen<br />
Hebebühnenherstellers höhere<br />
Entlassungsabfindungen durchgesetzt. Gefeuerte<br />
Beschäftigte des Unternehmens JLG<br />
im südwestfranzösischen Tonneins bekommen<br />
nun 30.000 Euro.<br />
Mit der Drohung, Produktionsgüter ihrer<br />
Firma in die Luft zu jagen, haben Arbeiter<br />
des Maschinenbauers JLG in Frankreich<br />
Entlassungsabfindungen durchgeboxt. In der<br />
Nacht zum Freitag einigten sich Arbeitnehmervertreter<br />
mit der Geschäftsführung auf<br />
außerordentliche Prämien von 30.000 Euro,<br />
wie der Betriebsrat verkündete.<br />
Ein Ergebnis, dass eine neue Etappe im<br />
eskalierenden Kampf französischer Arbeiter<br />
markiert. Im Frühjahr wurden zahlreiche<br />
Manager als Geiseln genommen, weil sie sich<br />
wegen der Wirtschaftskrise zu Werksschließungen<br />
gezwungen sahen. Seit (heutigem)<br />
Freitag müssen sich sieben Angestellte des<br />
deutschen Reifenherstellers Continental vor<br />
Gericht verantworten, weil sie aus Wut über<br />
das Aus ihres Standortes eine Behörde verwüsteten.In<br />
dieser Woche nun kam es zu einer<br />
Serie von Sprengdrohungen. Die Mitarbeiter<br />
von drei Firmen kündigten an, Gasflaschen<br />
in die Luft zu jagen, sollten sie nicht über die<br />
Sozialpläne hinaus Abfindungen erhalten.<br />
Die Angestellten des insolventen Autozulieferers<br />
New Fabris setzten am Sonntag ein<br />
Ultimatum bis Ende des Monats. Die Belegschaft<br />
des Technikunternehmens Nortel<br />
erzwang am Mittwoch neue Verhandlungen.<br />
Die JLG-Beschäftigten hatten am Donnerstag<br />
Gasflaschen und mit Brennstoff besprühte<br />
Paletten vor fünf Hebebühnen platziert.<br />
Erst nach Zusicherung neuer Gespräche<br />
wurde die Sprengdrohung zurückgenommen.<br />
„Wir haben uns durchgesetzt“, jubelte JLG-<br />
Betriebsratschef Christian Amadio. Für alle<br />
53 Mitarbeiter, die ihren Job verlieren, zahlt<br />
der Maschinenbauer aus dem südwestlichen<br />
Tonneins 30.000 Euro.Das sind zwar 20.000<br />
weniger, als ursprünglich verlangt, dennoch<br />
fürchtet die Regierung, das Vorgehen könne<br />
nun noch weiter Schule machen. Vor einer<br />
um sich greifenden „Erpressung mit der Gasflasche“<br />
warnte Arbeitsstaatssekretär Laurent<br />
Wauquiez. Dadurch würde kein Job gerettet<br />
und der soziale Dialog torpediert.<br />
Zum Glück nichts Ernsthaftes vorgefallen<br />
Betriebsratschef Amadio schiebt der Geschäftsführung<br />
den Schwarzen Peter zu:<br />
„Es ist bedauerlich, was man alles machen<br />
musste, um das Ergebnis zu erzielen“, sagte<br />
er. „Zum Glück ist nichts Ernstes vorgefallen.“<br />
Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat<br />
durch einen Zickzackkurs nicht viel dazu<br />
beigetragen, die Lage zu entspannen. Einerseits<br />
gibt er sich unbeugsam. „Was sind das<br />
für Geschichten, Menschen zu kidnappen“,<br />
sagte er im Frühjahr. Gesetzesbrüche werde<br />
er nicht dulden. Andererseits lässt er sich als<br />
Retter von Standorten wie dem von Caterpillar<br />
feiern, die nach massiven Protesten dank<br />
staatlicher Hilfe und Vermittlung am Leben<br />
erhalten werden. „Um sich Gehör zu verschaffen,<br />
müssen die Aktionen immer stärker<br />
werden“, konstatierte ein Gewerkschaftsführer<br />
von Force Ouvrière gegenüber der Zeitung<br />
„Libération“.<br />
Text: hjs<br />
Bildquelle: kpd-ml.net
SOZIALES<br />
5<br />
Ein kritischer Brief an den Rowohlt Verlag<br />
In den letzten Monaten kam eine so genannte Streitschrift des jetzt konservativen Journalist Jan Fleischhauerauf den Markt.<br />
Fleischhauer meint, dass in der BRD linke Aktivisten die Politik des Staates bestimmen-wenn es nur schon so wäre. Neben<br />
vielen Ungereimtheiten stört insbesondere seine Unbedarftheit in der Darstellung der sozialen Bereiche - wer gestaltet<br />
eigentlich die sozialen Bezüge: die Banken, die Politik oder die zahlreichen Selbsthilfegruppen oder Bürgerinitiativen?<br />
Aus diesem Grunde unser Leserbrief; ob es zu einer Diskussion mit dem rechten Herrn Fleischhauer kommt?<br />
Sehr geehrter Herr Fleischauer,<br />
mein Name ist Reinhold Urbas und ich bin Vorsitzender des Vereins<br />
Armutsaktie e.V. / <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>.<br />
Wir sind eine kleine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die in<br />
Frankfurt eine Straßenzeitung sowie Musikprojekte für Menschen realisieren,<br />
die nicht mit Reichtum gesegnet sind. Diese Initiative ist auch<br />
dadurch entstanden, dass in der Bundesrepublik vor Jahren linke Politik<br />
möglich war, die sich an Menschen wandte, deren Möglichkeiten in<br />
diesen Kulturbereichen zu agieren begrenzt ist. Sie haben in Ihrem Buch<br />
Unter Linken diese Entwicklung meines Erachtens nicht aufgezeichnet,<br />
dass über diese Initiativen einiges an sozialer Bewegung in Deutschland<br />
entstanden ist, deren Wert nicht abzuschätzen ist. Ich bin auch darüber<br />
entsetzt, wie Sie in einer Form linke politische Haltung definieren, es<br />
gibt in der Bundesrepublik genügende Aktivitäten dieser Couleur, die<br />
sich um Menschen kümmern, die sonst keiner mehr will.<br />
Sie sollten sich auch deren Verantwortung bewusst sein. Vielleicht<br />
schaffen Sie es auch einmal, sich in diese Gruppen hineinzuversetzen<br />
und deren Existenzkampf mitzuspüren. Seit mehreren Jahren ist aufgrund<br />
solcher Haltungen, wie Sie sie aufführen, leider die Entwicklung<br />
eingetreten, dass diese Kleininitiativen ausgetrocknet werden, weil sie<br />
angeblich keine Funktion mehr für die Gesellschaft und die Bevölkerung<br />
haben. Vielleicht können Sie ja mal ein Buch darüber schreiben, mit<br />
welchen Schwierigkeiten freie Initiativen und Bürgerinitiativen derzeit<br />
zu kämpfen haben. Wir sind gerne dazu bereit, Ihnen unsere Situation<br />
zu schildern. Zur weiteren Information haben wir Ihnen eine unserer<br />
letzten Ausgabe der Straßenzeitung beigefügt. Vielleicht wäre es auch<br />
möglich, dass wir über das Internet eine Diskusion führen, die wir dann<br />
in unserer Zeitung abdrucken können.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Reinhold Urbas<br />
(1. Vorsitzender der Frankfurter Armutsaktie)<br />
Die Wahlen sind vorbei und das Hartz IV-<br />
Dilemma wird wohl erst mal so weiter gehen<br />
wie bisher. Die Chancen auf sinnvolle Sozialreformen,<br />
sind wohl auch eher gesunken,<br />
als gestiegen.<br />
Dabei zeigen die Statistiken des größten,<br />
deutschen Sozialgerichts in Berlin, wie dringend<br />
diese benötigt werden. Seit Inkrafttreten<br />
der immer kränkelnden Reform Anfang<br />
2005, wurde im Juni 2009 der 70.000 Fall in<br />
Berlin verhandelt. Nach Aussage der Justizsenatorin<br />
Gisela von Aue, muss dabei eine durschnittliche<br />
Bearbeitungszeit von über einem<br />
Jahr pro Fall eingeräumt werden.<br />
64% der Verfahren betrafen die Sozialreform<br />
in 2008 insgesamt. Über 100 Richter,<br />
teils als Teilzeitbeschäftigte angestellt, versuchen<br />
der Masse von Fällen Herr zu werden.<br />
Zum Vergleich: Vor der Reform in 2004<br />
waren 59 Richter beschäftigt. Für 2010 /<br />
2011 wurden weitere Stellen beantragt.<br />
Man kann sich denken, welche enormen<br />
Kosten diese verschlingen werden!<br />
Und die Chancen für einen Erfolg stehen<br />
nicht schlecht, für das für den ALG II-Empfänger<br />
kostenfreie Verfahren, da die vielfachen<br />
Form- und Verfahrensfehler der zuständigen<br />
Behörden anscheinend nicht abgestellt<br />
werden können.<br />
Ein Hauptproblem liegt darin, dass die<br />
Nicht alles gefallen lassen …<br />
Keine schlechten Chancen für Hartz IV Empfänger vor dem Sozialgericht<br />
von den Jobcentern gern benutzten Begriffe<br />
wie, „erforderlich“ und „angemessen“ im<br />
Gesetz nach wie vor nicht näher konkretisiert<br />
sind, wodurch viele Einzelheiten umstritten<br />
bleiben.<br />
Im Vergleich zu den anderen Rechtsgebieten<br />
ergab sich eine überdurchschnittliche<br />
Erfolgs- oder Teilerfolgsquote von ca. 50%.<br />
Jeder zweite Fall also ein Armutszeugnis<br />
für die Hartz IV-Reform!<br />
Wenn man sich persönlich auch schon<br />
mal in diesem fragwürdigen System befunden<br />
hat, liegt die Vermutung nahe, dass viele<br />
potenzielle Fälle aber auch erst gar nicht vor<br />
Gericht kommen. Viele ALG II-Empfänger<br />
haben nicht den Mut oder die Nerven sich<br />
gerichtlich zu wehren, sei es aus Angst oder<br />
aus schlichter Unwissenheit, dass ein Verfahren<br />
vor dem Sozialgericht kostenfrei ist.<br />
Gleichzeitig muss vom Betroffenen erwartet<br />
werden, dass er die Fehler erkennt, die<br />
die eigentlichen Verantwortlichen in einem<br />
scheinbar undurchsichtigen, bürokratischen<br />
Irrgarten gemacht haben.<br />
Aber die Zahlen sprechen eine deutliche<br />
Sprache. Es gibt also Möglichkeiten gegen<br />
dieses Ohnmachtsgefühl bei vielen Entscheidungen<br />
der Behörden vorzugehen.<br />
Es wird aber auch gewarnt von Leuten wie<br />
dem Direktor der Diakonie Sachsen, Christian<br />
Schönfeld. Er sagt, dass die rechtlichen<br />
Möglichkeiten gegen die oftmals willkürlich<br />
getroffenen Sanktionen oder Entscheidungen<br />
immer mehr verbaut werden.<br />
Probleme drohen bald bei Beratung oder<br />
Prozesskostenhilfe.<br />
Ebenso kritisierte er die ausufernde Bürokratie<br />
bis zur Undurchschaubarkeit der Berechnungsverfahren<br />
durch Eingreifen über<br />
neue Verordnungen.<br />
Auch auf den Umgang mit den den Betroffenen<br />
nahm er Bezug. „Wir stellen immer<br />
wieder fest, dass die Betroffenen zunehmend<br />
wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden“,<br />
erklärte er im August in Dresden.<br />
Trotzdem sollte man sich nicht entmutigen<br />
lassen, und den Kopf in den Sand stekken.<br />
Auch wenn es schwierig ist, eine gute Beratungsstelle<br />
zu finden.<br />
Das Problem liegt oft darin, dass es viele<br />
Hilfsangebote für jedes einzelne Problem<br />
gibt, doch keiner koordiniert diese. Was aber<br />
der Fall sein müsste, weil oft multiple Probleme<br />
in einem Hartz IV-Haushalt existieren.<br />
Staatliche Organisationen sind darauf ausgelegt<br />
vorübergehende Probleme zu lösen und<br />
setzen eine fortlaufende und gute Informiertheit<br />
voraus, mit der man oft einfach überfordert<br />
ist.<br />
Man steht aber nicht alleine da, weil die<br />
Jobcenter und Behörden wohl auch nicht<br />
gewährleisten können, immer ausreichend<br />
informiert zu sein, um Anträge von denen<br />
teilweise die komplette Existenz eines Betroffenen<br />
abhängt, fair und fehlerlos zu bearbeiten.<br />
Wer kann also helfen? In Frankfurt gibt es<br />
die Möglichkeit sich rechtlich beraten zulassen<br />
beim Amtsgericht. Unter Vorlage des Bewilligungsbescheides<br />
kann man sich umsonst<br />
oder für 10 Euro beraten lassen. Eine weitere<br />
Möglichkeit der Hilfestellung bietet das<br />
Frankfurter-Arbeitslosen-Zentrum (FALZ),<br />
an der Friedberger Anlage 24.<br />
Als Fazit bleibt, in den Worten der „Red<br />
Hot Chili Peppers“:<br />
Fight Like A Brave, Don`t Be A Slave!<br />
... hier noch ein paar kleine Tipps von uns,<br />
wie sich so manche Problemme beim Amt<br />
vermeiden lassen!<br />
Oft enstehen Probleme durch leicht vermeidbare<br />
Fehler. Schlechte Vorbereitung,<br />
Unsicherheit und Nervosität sind oft Gründe,<br />
weshalb der Gang zum Amt, unbefriedigend<br />
verläuft.<br />
Dies lässt sich z.B. vermeiden, indem man<br />
sich vorbereitet.<br />
TIPP 1: Inhaltlich vorbereiten<br />
(was will ich, welche Rechte habe ich).<br />
TIPP 2: zeitlich vorbereiten<br />
(keine anderen kurz dahinter liegenden Termine).<br />
TIPP 3: Sachlich bleiben – trotz Gefühlswallungen<br />
(Entspannte Gestik entspannt das<br />
Gegenüber).<br />
TIPP 4: Beharrlich bleiben<br />
(Fragen klären, nicht abwimmeln lassen).<br />
TIPP 5: Unverständliches erklären lassen<br />
(Beharrlichkeit erspart oft Wege).<br />
TIPP 6: Nicht unter Zeitdruck setzen lassen<br />
(Beratungs- und Aufklärungspflicht des Amtes).<br />
TIPP 7: Keine Paradeuniform anziehen<br />
(Normale saubere Kleidung tut es auch).<br />
TIPP 8: Keine Originale aus der Hand geben<br />
(evt. Kopien vorbereiten oder verlangen).<br />
TIPP 9: Bestätigung, Quittierung des Besuches<br />
Steffen Heck<br />
Bild und Grafik: Sozialgericht Berlin
6 SOZIALES<br />
Als gesellschaftspolitische Teilpraxen ist der Zusammenhang zwischen den drei Politikfeldern evident: Gerade die allgegenwärtige Krise des globalen<br />
(kapitalistischen) Wirtschaftssystems zwingt zu Neujustierungen internationaler und nationaler Strategien zur Herstellung von Gerechtigkeit,<br />
Verantwortung und Sicherheit. Gerade hier zeigt sich aber auch die Anfälligkeit, je nach (wirtschaftlicher) großpolitischer Wetterlage<br />
die professions- und sozialpolitischen Grundlagen sozialer Arbeit den vermeintlich vorgängigen wirtschaftlichen Sachzwängen anzupassen.<br />
Unabsehbar sind die zu projektierenden<br />
Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise,<br />
hartnäckig geschwiegen wird deshalb über<br />
die Folgen für die öffentlichen Haushalte.<br />
„Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen<br />
Haushalte in Deutschland ist in den ersten<br />
Monaten des Jahres drastisch gestiegen. Das<br />
Statistische Bundesamt bezifferte den Fehlbetrag<br />
in den Kassen von Bund, Ländern und<br />
Gemeinden am Dienstag fürs erste Quartal<br />
auf insgesamt 37,8 Milliarden Euro. Gegenüber<br />
dem Defizit von 22 Milliarden im entsprechenden<br />
Vorjahreszeitraum bedeutet dies<br />
einen Anstieg um 15,8 Milliarden Euro oder<br />
gut 70 Prozent. (...) Am stärksten stieg nach<br />
ihren Angaben das Finanzierungsdefizit der<br />
Länder, und zwar allein um 10,6 Milliarden<br />
Euro auf 13,3 Milliarden Euro. Insgesamt erhöhten<br />
sich die Einnahmen der öffentlichen<br />
Haushalte in den ersten drei Monaten 2009<br />
um 0,2 Prozent auf 245,5 Milliarden Euro.<br />
Gleichzeitig stiegen die öffentlichen Ausgaben<br />
jedoch um 5,8 Prozent auf 283,3 Milliarden“<br />
(Associated Press vom 30.06.2009).<br />
Neujustierung<br />
Die Neujustierung des Politischen<br />
Professionspolitik, Wirtschaft und Sozialpolitik<br />
Von Prof. Dr. Gaby Flösser, TU Dortmund,<br />
Lehrstuhl Handlungsfelder und Institutionen<br />
Insofern die soziale Arbeit im Wesentlichen<br />
aber von diesen öffentlichen Haushalten abhängig<br />
ist, sollte sie deren Entwicklung interessieren.<br />
Einschätzungen über die Folgen der<br />
Krise für die soziale Arbeit allerdings gibt es<br />
kaum. Stattdessen beherrschen die Bewegungen<br />
auf den nationalen Arbeitsmärkten die<br />
Debatten, die seit mindestens 25 Jahren währende<br />
Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft<br />
hat nun ihre empirische Basis gefunden. Die<br />
weit reichenden Konsequenzen für die nie<br />
Inkludierten oder dauerhaft Exkludierten<br />
bleiben jedoch außen vor. Sicher ist nur, dass<br />
reformiert werden muss, Legitimation durch<br />
Aktionismus erzielt werden soll. Geopfert<br />
werden dem bloßen Reformdruck dann die<br />
Erkenntnisse eines komplexeren Zusammenhangs<br />
zwischen sozialer Arbeit, Wirtschaftsund<br />
Sozialpolitik: Nicht länger ist das eine<br />
System der Produzent gesellschaftlichen<br />
Reichtums, das andere ein subventionierter<br />
Teilbereich und das dritte der Verwalter des<br />
Armenhauses, heute besteht mehrheitlich Einigkeit<br />
über die Sinnhaftigkeit sozialer Investitionen<br />
und das Wirtschaftssystem selbst ist<br />
zum größten Subventionsempfänger geworden.<br />
Diese Verschiebungen und Veränderungen<br />
der definitorischen Lufthoheit über die<br />
Notwendigkeiten und Bedingungen sozialer<br />
Arbeit erzwingen eine Neujustierung des Politischen<br />
und verweisen im gleichen Atemzug<br />
auf die politische Fundierung sozialer Arbeit.<br />
Die soziale Arbeit als „policy based profession“<br />
(POPPLE/LEIGHNINGER 2007)<br />
nicht nur in ihren Abhängigkeiten, sondern<br />
auch in ihrem gestaltenden Einfluss auf die<br />
Gesellschaftspolitik zu thematisieren und zu<br />
hinterfragen, ist Absicht dieser Veranstaltungen.<br />
Das Thema „Politik der Profession als<br />
Stärkung des <strong>Soziale</strong>n — Herausforderung<br />
und Verantwortung der sozialen Arbeit als<br />
gesellschaftliche Aufgabe“ weist darauf hin,<br />
dass es für die Profession dringend ist, sich in<br />
der Auseinandersetzung mit den führenden<br />
Berufsverbänden über die sich immer wieder<br />
neu stellenden gesellschaftlichen Aufgaben<br />
zu verständigen und darüber zu diskutieren,<br />
in welcher weise Professionspolitik als Gesellschaftspolitik<br />
betrieben werden kann und<br />
muss. Der gegenwärtige Zustand, dass Arbeitgeber<br />
(Wohlfahrtsverbände, Kommunen<br />
etc.) sich anmaßen, gleichzeitig als Verwalter<br />
der Professionen gewissermaßen in Erscheinung<br />
zu treten, ist nicht hinnehmbar, da in<br />
deren Perspektive auch immer eigene Interessen<br />
deutlich werden. Offen stehende Probleme<br />
in dieser Hinsicht sind die Besoldung, die<br />
Ausstattung der Praxis mit professionellen<br />
Fachkräften, die zunehmende Differenzierung<br />
der Arbeitsfelder und dadurch auch intendierte<br />
Öffnungen für andere Disziplinen<br />
etc. Darüber hinaus geht es aber prinzipiell<br />
um die gegenwärtig hochaktuelle Grundfrage<br />
nach der gesellschaftlichen Definition des<br />
<strong>Soziale</strong>n. Wenn wir davon ausgehen, dass die<br />
Armuts- und Prekariatspopulation zunehmen<br />
wird und die existenzielle Sicherung<br />
einer großen Anzahl von Betroffenen immer<br />
am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze<br />
liegen mit gravierenden Folgen für die Kinder<br />
und Jugendlichen, so ist es höchste Zeit, dass<br />
sich die soziale Arbeit, falls sie dazu in der<br />
Lage ist, aus professionspolitischen Gründen<br />
sich in diese Debatte einmischt oder sogar<br />
die Führungsrolle übernimmt. Dieses in aller<br />
Offenheit zu diskutieren mit den Berufsverbänden<br />
und Gewerkschaften ist eine wichtige<br />
Etappe in der Realisierung eines derartigen<br />
Anliegens.<br />
Gemeinsame Projekte<br />
<strong>Soziale</strong> Arbeit und Wirtschaft meint die<br />
vorsichtige Annäherung zweier gesellschaftlicher<br />
Teilsysteme, die erst mühsam begreifen,<br />
dass über die Kompensation strukturfunktionaler<br />
Defizite des Wirtschaftssystems<br />
hinaus der sozialen Arbeit eine produktive<br />
Rolle in der Gestaltung der modernen Gesellschaften<br />
zukommt. Zwar sind die Erträge<br />
sozial staatlicher Sicherung für die Wirtschaft<br />
schon lange benannt und die Opportunitätskosten<br />
für den Fall des Sozialstaatsabbaus<br />
berechnet, weder in der Theorie noch in der<br />
Praxis gelingen jedoch herrschaftsfreie oder<br />
auch nur vorurteilsfreie Diskurse. Unterhalb<br />
dieser Debatten haben allerdings schon vielfältige<br />
Auslotungen und gemeinsame Projekte<br />
Realisierungschancen für sich entdeckt. So<br />
ist die soziale Arbeit heute wieder ein fester<br />
Bestandteil von Unternehmen geworden,<br />
die Organisation sozialer Dienstleistungen<br />
in privat gewerblicher Trägerschaft, die Wiedereinführung<br />
der Betriebssozialarbeit oder<br />
die Schaffung neuer Unternehmensbereiche,<br />
z.B. dem des Diversity Managements, hat innerhalb<br />
der mikroökonomischen Gestaltung<br />
ihren festen Platz und auch in der sozialen<br />
Arbeit sind prinzipielle Einwendungen gegenüber<br />
betriebswirtschaftlichen Strategien<br />
in der alltäglichen Praxis eher die Ausnahme,<br />
der Kategorienstreit wird - wenn überhaupt<br />
- dann auf der disziplinären Ebene geführt.<br />
Unter der Hand verändern sich aber Handlungslogiken,<br />
die Mutation des Sozialpädagogen<br />
zum Case Manager hat ihren Preis,<br />
auch wenn die sich nicht in berufs- und<br />
gleichstellungspolitischen Forderungen umsetzen<br />
lässt. Die Ökonomisierung der sozialen<br />
Arbeit hat darüber hinaus ein Pendant<br />
in der Pädagogisierung der Betriebswirtschaft<br />
gefunden, Sozialkompetenz und soft skills,<br />
Teamfähigkeit und Lösungsorientierung<br />
sind auch hier nicht mehr wegzudenken.<br />
Der sozialen Arbeit ist mithin ihr streitbares<br />
Gegenüber abhanden gekommen. Den<br />
pragmatischen Projekten droht allerdings<br />
bei allzu kleinräumiger Sicht das Politische<br />
abhanden zu kommen, der Zeitgeist siegt<br />
und keiner hat ihn produziert. Auch die Sozialpolitik<br />
selbst kämpft in mehreren Arenen<br />
gleichermaßen. Dabei verschwimmen vor allem<br />
die klassischen Frontstellungen zwischen<br />
Arbeit und Kapital inklusive ihrer Akteure.<br />
Initiativen, aktionsorientierte Gruppierungen,<br />
konkrete Anliegen und direkte Mandate<br />
fordern Visionäre und Utopisten heraus und<br />
verlangen nach sichtbaren und nachhaltigen<br />
Bearbeitungsformen sozialer Probleme. Sozialstaatliche<br />
Agenturen wie die private Fürsorge,<br />
insbesondere aber auch die intermediären<br />
Instanzen in der Produktion von Wohlfahrt<br />
geraten angesichts der revitalisierten Szenerie<br />
von streitbaren Befürwortern und Gegnern<br />
einer hoheitlich verordneten Daseinsvorsorge<br />
in Bedrängnis. Individuelle Freiheit wird<br />
gegen individuelle Sicherheit ausgespielt,<br />
Standortpolitik konkurriert mit der subjektorientierten<br />
Idee des „guten Lebens“ oder<br />
auch nur des „gelingenderen Alltags“.<br />
Sozialpolitische Konzepte des Forderns<br />
und Förderns und die dahinter liegenden<br />
Ideen des aktivierenden oder investierenden<br />
Staates offenbaren Möglichkeiten eines<br />
neuen „contract social“, eines Gesellschaftsvertrags,<br />
der nicht nur die erforderlichen<br />
Leistungen des Staates limitiert (z.B. im Sinne<br />
des Liberalismus), sondern der zugleich<br />
auch die geforderten (Eigen-) Leistungen<br />
der Bürgerinnen und Bürger reguliert. Dies<br />
allerdings funktioniert nicht ohne zu benamende<br />
Protagonisten, gesellschaftliche Institutionen,<br />
die dem politischen Willen Ausdruck<br />
verleihen.<br />
Die soziale Arbeit spielt dabei eine<br />
uneindeutige Rolle, indem sie weder<br />
Ross noch Reiter, vor allem aber ihren<br />
Eigenanteil an der Abarbeitung<br />
der vermeintlich zwanghaften Imperative<br />
sozialpolitischer Programmatiken<br />
verschweigt, um frühzeitig Einfluss<br />
nehmen zu können.<br />
Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung<br />
der Autorin und des Veranstalters dem Band<br />
„Sozial Extra 7/8 09 zum 7. Bundeskongress<br />
entnommen.<br />
Quelle: www.sozialextra.de<br />
Seit mehr als fünf Jahren<br />
ist das Café Pflasterstrand<br />
an der Weseler Werft ein<br />
beliebtes Ziel für ein kunterbuntes<br />
Publikum: In den<br />
warmen Monaten treffen<br />
sich hier Studenten, Bänker,<br />
und Fahrradausflügler,<br />
Frankfurter und Touristen.<br />
Kein Wunder, hat der unter<br />
einem riesigen, aufwändig<br />
sanierten Lastkran gelegene<br />
Frankfurter raus, Yuppies rein - Aus für das Café Pflasterstrand<br />
Biergarten seinen ganz eigenen<br />
urbanen Charme. Gern<br />
macht man es sich hier auf<br />
einem der ausrangierten<br />
Gemüsekarren bequem, die<br />
einstmals der im Jahr 2004<br />
zerstörten Importhalle als<br />
Fuhrwerk dienten.<br />
Bald aber ist Schluss. Der<br />
Pachtvertrag der Betreiber<br />
Martin Wüstinger und Udo<br />
Flick<br />
läuft Ende des Jahres<br />
aus und wird nicht<br />
verlängert.<br />
ratmeter Terrasse und<br />
Aussichtsplattform<br />
versehenes „Gastronomieprojekt“<br />
hochziehen.<br />
Zwar hatten auch sie<br />
sich für eine bundesweite<br />
Ausschreibung<br />
beworben, die ein<br />
Auswahlgremium aus<br />
Stadt, Europäischer<br />
Zentralbank und<br />
Ortsbeirat veröffentlicht<br />
hat. Den<br />
Zuschlag jedoch<br />
bekam Thomas<br />
Klüber, Inhaber der<br />
Szene-Bar Walden<br />
in der Innenstadt.<br />
Dieser lässt in Kürze<br />
sein mit 200 Quad-<br />
Aus Sicht des Rathauses<br />
ist es offenbar vonnöten,<br />
dem demnächst<br />
anreisenden, kaufkräftigen<br />
Klientel der neuen EZB eine angemessene<br />
Lokalität zu bieten.<br />
So heißt es denn künftig an der Weseler<br />
Werft Style statt gepflegter Müßiggang. Wüstinger<br />
und Flick sind zwar enttäuscht über<br />
den erzwungenen Ausstieg, haben aber bereits<br />
neue Pläne. Die Gastronomen beziehen<br />
im Herbst die Räume der ehemaligen Nordbar<br />
im Bunker in der Glauburgstraße. Vorher<br />
lassen sie es aber<br />
am Mainufer noch<br />
einmal krachen: Am<br />
31. Oktober steigt die<br />
große Pflasterstrand-<br />
Abschiedsparty.<br />
Text und Bilder:<br />
Marc-Alexander<br />
Reinbold
SOZIALES, MULTI-KULTI<br />
Ukraine: spontane persönliche Eindrücke von der<br />
Politik und sozialem Leben<br />
7<br />
Anfang September 2009 bin ich wieder in die Ukraine, nach Uschhorod gekommen. Dass ich in Deutschland wohne, erlaubt mir, von der Ukraine<br />
immer wieder einen neuen Eindruck zu bekommen, wenn ich meine Eltern besuche. Diesmal hat mich am meisten die Situation im politischen und<br />
sozialen Leben des Landes beeindruckt.<br />
Ich bin in der Zeit der Vorbereitungen zu<br />
den Parlamentswahlen 2009 gekommen. Es<br />
fanden Konzerte statt, die vom „Blok Juliji<br />
Tymoschenko“ (Partei von Julia Timoschenko)<br />
organisiert wurden. Ich habe bemerkt,<br />
dass sogar unter politisch aktiven Bürgern<br />
zurzeit eine politische Desorientierung<br />
herrscht. Weil die Menschen mit der wirtschaftlichen<br />
Situation im Lande unzufrieden<br />
sind, meinen sie, dass die Regierung sich an<br />
ihre Versprechungen, die während der letzten<br />
Wahlen gegeben wurden, nicht gehalten hat.<br />
Viele Menschen sind deswegen enttäuscht<br />
und sind bereit, praktisch jeden zu wählen,<br />
der noch nicht in der Regierung war.<br />
Die unstabile politische Situation verursacht<br />
eine Instabilität in der Gesetzgebung. Die<br />
Vertreter der funktionierenden Institutionen<br />
Die Ukrainer lernen es die Zeit zu rechnen<br />
Mein persönliches Verständnis von Integration<br />
ist: es soll und muss in Frankfurt /<br />
Deutschland einen offenen Raum für Migranten<br />
geben, in dem sie ihre Lebensperspektiven<br />
entwickeln können. Integration<br />
muss nicht eine Einbahnstraße sein, sondern<br />
sollte für die Deutschen und Migranten einen<br />
Nutzen haben. Jeder und jede sollte die<br />
Vorteile von Deutschland sehen und von der<br />
Freiheit in diesem demokratischen Land profitieren<br />
können. Manchmal wird Integration<br />
missverstanden oder falsch aufgefasst. Ich<br />
habe mich sehr gefreut, dass die Bundeskanzlerin<br />
Integration weiter thematisiert hat.<br />
Es gibt nämlich heute viele Migranten in<br />
Deutschland, und sie sind jetzt ein Teil von<br />
dieser Gesellschaft geworden. Auch wenn sie<br />
Möglichkeiten für neue Innovationen und<br />
Ideen haben, haben sie bislang wenig Einfluss<br />
auf die Entwicklungen in diesem Land.<br />
Woran das liegt, das weiß ich nicht. Vielleicht<br />
Neue Familie (im Vordegrund), im Hintergrund steigen die<br />
Mitfahrer in den Bus ein<br />
mehr an<br />
den politischen<br />
Druck des Staates<br />
gewohnt ist und frei über<br />
das eigene Schicksal entscheiden<br />
will. Es sind verschiedene<br />
Meinungen im<br />
Funk über die herrschenden<br />
Parteien zu hören,<br />
und es ist kaum vorstellbar,<br />
dass diese Vielfalt der<br />
Meinungen durch eine<br />
Partei beendet werden<br />
könnte.<br />
Es ist eine Tendenz zu<br />
bemerken, nach europäischem<br />
Standard leben zu<br />
finden“ zu tun. Dadurch<br />
unterscheiden sich die<br />
Bürger von Transkarpathien,<br />
wo sich Uschhorod<br />
befindet, immer wieder<br />
vom Rest der Ukraine. Sie<br />
wohnen in einem Teil der<br />
Ukraine, der vom anderen<br />
Land durch die Berge<br />
getrennt ist. Deswegen<br />
versteht sich der andere<br />
Teil der Ukraine beinahe<br />
als anderes Volk. Man soll<br />
aber eindeutig über eine<br />
neue Generation sprechen,<br />
eine neue Jugend, die nicht<br />
Beobachtungen zur Integration<br />
liegt es an der Sprache oder an der Kommunikation<br />
zwischen Migranten und Deutschen,<br />
denn sie sind ja von unterschiedlichen<br />
Kulturen geprägt. Obwohl Integration nicht<br />
neu ist, glaube ich, dass viele noch nicht verstanden<br />
haben, dass es Integration schon seit<br />
Jahrzehnten gibt. Ich glaube, die Deutschen<br />
können von den Migranten lernen. Dafür<br />
müssen sie aber offen für die Kreativität sein,<br />
mit der die Migranten in dieser Gesellschaft<br />
beitragen. Im Gegensatz müssen Migranten<br />
aber auch die eigenen Chancen für sich sehen<br />
und dafür bereit sein, vor allem die deutsche<br />
Sprache und die Kultur zu erlernen und<br />
zu verstehen; obwohl es nicht immer einfach<br />
ist, muss dies der erste Schritt sein.<br />
Zum einen glaube ich, dass Offenheit, Toleranz<br />
und Akzeptanz für Menschen in dieser<br />
Gesellschaft sichtbarer sein müssen. Zum<br />
anderen aber müssen wir der Kreativität und<br />
den Innovationen von Migranten - und natürlich<br />
auch Deutschen - Raum geben und<br />
sie damit einladen, sich für die Gesellschaft<br />
zu engagieren.<br />
Bei Integration geht es nicht nur darum,<br />
die Sprache oder die Kultur zu lernen oder<br />
zu verstehen, sondern auch darum, dass sich<br />
eine Mentalität entwickelt, wo sowohl Deutsche<br />
als auch Migranten sich gern und aktiv<br />
füreinander und die gemeinsame Gesellschaft<br />
einsetzen.. Wir müssen dieses Potenzial als<br />
einen Vorteil in Deutschland sehen, denn<br />
schließch können die unterschiedlichen Kulturen<br />
und Menschen dieses Land bereichern.<br />
Heute sprechen wir über Integration. In<br />
der Zukunft werden wir über eine international<br />
geprägte Gesellschaft in Deutschland<br />
reden, in der die Menschen die richtige Mentalität<br />
für ein offenes und produktives Zusammenleben<br />
haben müssen.<br />
Wenn ich das mit meinen Erfahrungen<br />
in England vergleiche, dann glaube ich, dass<br />
„Looking For Eric“<br />
vermeiden es, Verantwortung zu übernehmen.<br />
Das gilt auch in Bezug auf das Ausstellen<br />
der Bescheinigungen<br />
und Bestätigungen. Die<br />
Gesetze treten in Kraft<br />
und außer Kraft. Ständig<br />
werden andere Dokumente<br />
verlangt.<br />
Es ist eine apolitische<br />
Einstellung der 14-19-jährigen<br />
Jugendlichen festzustellen.<br />
Sie kennen weder<br />
Parteien noch ihre Programme.<br />
Es zeigt sich eine<br />
Tendenz, alles „nur für das<br />
eigene persönliche Wohlbewollen<br />
und sich auch so zu benehmen. Immer<br />
mehr Jugendliche wollen einen guten<br />
Arbeitsplatz finden, oder ein zweites Studium<br />
machen, um ein Diplom zu erwerben,<br />
das für die Arbeitssuche verwendbar ist.<br />
Dadurch wurde bei mir ein Eindruck erweckt,<br />
dass in der Ukraine neue Weichen<br />
geschaffen werden. Noch stehen sie, bald<br />
aber werden sie in Bewegung gebracht. Dann<br />
werden die verrosteten Mechanismen des<br />
unabhängigen Landes in Gang gesetzt und<br />
wir werden feststellen, wie fest sie sind.<br />
Yevheniya Genova<br />
Die Ukrainer mögen es. miteinander zu kommunizieren<br />
Deutschland etwas lernen kann. So ist in<br />
England dass Zusammenleben von verschiedenen<br />
Kulturen und Menschen mehr Normalität<br />
als bei uns in Deutschland. Dafür<br />
ist dort, auch von der Regierung, schon früh<br />
mehr getan worden als bei uns. Einwanderung<br />
wurde dort schon früh als Realität akzeptiert.<br />
England zeigt aber auch, dass das<br />
Zusammenleben oft auch schwierig ist. Dafür<br />
gibt es gute Gründe, denn auch in England<br />
gibt es keine gleichen Bildungschancen,<br />
um nur ein Beispiel zu nennen.<br />
Entscheidend für mich ist aber, dass in<br />
England das Zusammenarbeiten von Engländern<br />
und Migranten für gemeinsame Innovationen<br />
und Kreativität besser funktioniert.<br />
Denn der Umgang von Engländern und Migranten<br />
ist von gegenseitiger Akzeptanz und<br />
viel Pragmatismus gekennzeichnet.<br />
Lynda Hamelburg<br />
Regisseur Ken Loach hat den ehemaligen Fußballstar Eric Cantona als kernigen Lebenscoach in Szene gesetzt<br />
Der britische Regisseur Ken Loach zählt<br />
zu den Altmeistern des sozialrealistischen<br />
Kinos. Als er für das IRA-Drama „The<br />
Wind That Shakes The Barley“ 2006 mit der<br />
Goldenen Palme von Cannes geehrt wurde,<br />
reagierte die internationale Presse jedoch<br />
nicht durchweg mit Beifall. Ein Umstand,<br />
der kein Problem für den bekennenden<br />
Trotzkisten dargestellt haben dürfte.<br />
Loachs linkes Kino gibt von jeher Anlass<br />
zu kleinen als auch größeren Kontroversen.<br />
Die oft sozialistisch angehauchten Werke<br />
des engagierten Filmemachers beschäftigen<br />
sich zumeist in kritischer Weise mit den<br />
sozialen Themen unserer <strong>Welt</strong>, insbesondere<br />
aber mit brisanten sozialen Situationen in<br />
seinem Heimatland Großbritannien. Aktuell<br />
meldet sich der mittlerweile 72-jährige<br />
Autorenfilmer mit einem tragikomischen<br />
Alltagsmärchen zurück. „Looking For<br />
Eric“ spielt in einem präzise gezeichneten<br />
Arbeitermilieu. Geschildert wird die<br />
urkomische Geschichte eines lebensmüden<br />
Briefträgers, der von seinem großen Idol,<br />
dem ehemaligen Fußballspieler Eric<br />
Cantona (spielt sich selbst) wachgerüttelt<br />
wird. „Looking For Eric“ erzählt von der<br />
stürmischen Leidenschaft für Fußball, von<br />
Freundschaft, Liebe und von Hoffnung.<br />
Die warmherzige Mischung aus Spaß und<br />
naturalistischem Drama gewann dieses Jahr<br />
in Cannes den Hauptpreis der ökumenischen<br />
Jury. In den Frankfurter Kinos ist der Film ab<br />
dem 5. November 2009 zu sehen.<br />
Text: Artur<br />
Bild : bakiniz.com
8<br />
FRAUENTHEMEN - SOZIALE ORGANISATION<br />
Geben Sie Gewerbefreiheit, Frau Kanzlerin!<br />
Das älteste Gewerbe der <strong>Welt</strong> ist gar keines.<br />
Zumindest in den Augen der deutschen<br />
Steuerbehörden. Zwar kassiert der Staat Steuern<br />
ein. Doch viel zu viele Probleme werden<br />
unter den Tisch gekehrt. Einkünfte aus sexuellen<br />
Dienstleistungen sind keine Gewerbeeinnahmen,<br />
sondern „sonstige“ Einkünfte.<br />
Es gibt noch immer restriktive Regelungen<br />
im Ordnungsrecht, deren Begründung<br />
klingt wie aus dem tiefsten wilhelminischen<br />
Zeitalter. Ganz und gar nicht geklärt sind die<br />
Belange, die sich aus der Tatsache ableiten,<br />
dass viele Sexarbeiterinnen dem Geld nach<br />
Deutschland gefolgt sind und nicht über legalen<br />
Aufenthalt verfügen.<br />
Seit 1998 kämpft Doña Carmen in der<br />
Elbestraße im Rotlichtviertel Frankfurts für<br />
Rechte und bessere Lebensbedingungen für<br />
die Sexarbeiterinnen in Frankfurt. Der gemeinnützige<br />
Verein versteht sich als Prostituiertenselbsthilfeorganisation,<br />
insbesondere<br />
für Prostitutionsmigrantinnen und deren<br />
Kinder. Der Name erklärt sich aus den Umständen<br />
der Prostitution in Frankfurt: Zum<br />
Zeitpunkt der Gründung waren viele der<br />
Sexarbeiterinnen aus Kolumbien und den<br />
Philippinen rekrutiert, sehr oft nicht gerade<br />
freiwillig, und konnten sich nur im Spanischen<br />
artikulieren. Welcher Deutsche kann<br />
schon Quetschua oder Tagalog? Das hat sich<br />
gewandelt, heute kommt der „Nachschub“<br />
vorwiegend aus Osteuropa. Und dem Menschenhandel<br />
wird schärfer nachgegangen<br />
als vielleicht früher. Zwar konnte man mit<br />
vielen der örtlichen Bordellbetreibern Qualitätsstandards<br />
aushandeln, aber vertraglich<br />
geregelte Beschäftigungsverhältnisse sind<br />
noch immer schlecht möglich – die Parteien<br />
bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone,<br />
denn einen anerkannten Beruf als Prostituierte<br />
gibt es nicht. Insbesondere gibt es<br />
keine „Green Card“- ähnliche Regelungen,<br />
die Prostitutionsmigrantinnen legale Tätigkeit<br />
und legalen Aufenthalt erlauben würde.<br />
Dafür streitet der Verein. Allen voran Juanita<br />
Rosinna Henning, seit 1991 Sozialarbeiterin<br />
unter den Prostituierten in Frankfurt und<br />
Mitbegründerin von Doña Carmen. Der<br />
Verein betreibt eine Beratungsstelle, organisiert<br />
Gesprächskreise, Bordellführungen,<br />
und gibt die Zeitung La Muchacha heraus.<br />
Scharfzüngig und hartnäckig kämpft Juanita<br />
Henning wie die Zeitung des Vereins für<br />
Rechte und gegen Razzien mit mehr oder<br />
weniger Erfolg. Wir haben verschiedentlich<br />
darüber berichtet. Es wurde Zeit, sich über<br />
den derzeit erreichten Stand zu unterhalten.<br />
Was tut D.C. (Doña Carmen)?<br />
Wir vertreten die sozialen und politischen<br />
Rechte von Prostituierten.<br />
Wir leisten Sozialarbeit, sind Streetworker,<br />
informieren in Schulen, Universitäten<br />
und auch im Konfirmandenunterricht über<br />
Prostitution. Wir leisten politische Bildungsarbeit.<br />
Der Verein unterstützt die Menschen, die<br />
sich mit der Thematik Prostitution auseinander<br />
setzen wollen. Dazu zählen Ärzte, Professoren<br />
von Universitäten, Sozialarbeiter und<br />
andere.<br />
Wer unterstützt D.C.?<br />
Alle, die unsere<br />
politischen Ziele<br />
unterstützen, private<br />
Leute, Prostituierte,<br />
die Förderungsmitglieder<br />
werden wollen.<br />
Auch die Justiz<br />
indirekt, indem<br />
wir Strafgelder erhalten,<br />
da wir ein<br />
gemeinnütziger<br />
Verein sind.<br />
Wir erhalten keine staatliche Unterstützung,<br />
da wir in keinen Kooperationsvertrag<br />
mit der Polizei oder der Staatsanwalt gehen.<br />
Es findet kein Informationsaustausch statt.<br />
für Frauen und Männer.<br />
Es geht auch darum, ein erweitertes Bewusstsein<br />
dahingehend zu schaffen, das sexuelle<br />
Lustbefriedigung auch gelebt werden<br />
kann, ohne dass Liebe oder eine soziale Bindung<br />
vorhanden sein müssen.<br />
Was haben sie erreicht?<br />
Wir sind noch nicht am Ende unserer Legalisierungsarbeit<br />
für das älteste Gewerbe der<br />
<strong>Welt</strong>. Ein zweiter Anlauf ist nötig, um die<br />
vollständige Legalisierung zu erreichen. Konkret<br />
heißt das, dass die Sittenwidrigkeit der<br />
Prostitution abgeschafft wird.<br />
Was ist das derzeitige Ziel des Vereins?<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer<br />
jüngsten Entscheidung die Wohnungsprostitution<br />
in reinen Wohnungsgebieten verboten.<br />
Begründung: Jugend und Anstand ist vor<br />
Prostitution zu<br />
schützen, die das<br />
Anstandsgefühl<br />
aller billig und gerecht<br />
Denkender<br />
überschreitet.<br />
Für uns klingt<br />
das wie aus wilhelminischen<br />
Zeiten<br />
und heutzutage<br />
unverständlich.<br />
Doña Carmen Logo<br />
Haben Sie die Legalisierung<br />
von<br />
Prostituierten erreicht? Was ist noch zu tun?<br />
Nein! Im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch)<br />
ist klar und deutlich erwähnt worden, dass<br />
Prostitution nicht mehr sittenwidrig ist. Die<br />
Sonderparagrafen im Straf- und Ordnungsrecht<br />
müssen abgeschafft werden. Das Ziel<br />
Was sind die Interessen und Anliegen von D.C.? ist, das Politikerinnen diese Gesetze abschaffen.<br />
Es geht um die Anerkennung von Prostitution<br />
als Beruf und um Entkriminalisierung derungen übernommen, dass man die Son-<br />
Besonders SPD-Frauen haben unsere For-<br />
des gesamten Wirtschaftszweiges- und zwar derbesteuerung nach dem Düsseldorfer Verfahren<br />
einstellt. Es ist das Verfahren, das gegen<br />
Grundgesetz und Abgaben-Verordnung<br />
verstößt.<br />
Was wurde aus dem Protest gegen die Prostitutionsgegner<br />
im Europäischen Parlament?<br />
Der Bericht der Prostitutionsgegner wurde<br />
zurückgezogen.<br />
Kriminalisierung von Frauen?<br />
Es gibt solche und solche Kunden. Wir<br />
sind gegen Kriminalisierung von Freiern.<br />
Letztendlich geht es um die Unterdrückung,<br />
die die Frauen seit Jahrhunderten schmerzhaft<br />
eingeprügelt bekamen und zwar mithilfe<br />
der christlichen Kirchen. Dies wurde auch<br />
auf die Männer übertragen.<br />
„Initiativkreis Prostitution“: Wer trifft sich<br />
in dieser Runde, trifft er sich noch immer?<br />
Alle Leute, die sich in irgendeiner Weise<br />
für das Thema interessieren. Dazu zählen<br />
u.a.:<br />
Frauen, Freier, Professoren, Wohnungs-<br />
Prostitutions-Besitzer/innen, Frauenrechtler/<br />
innen und Politiker/innen.<br />
Was hat die Prostitution mit den „staatenlosen<br />
Kindern“ zu tun?<br />
Da wo Frauen sind, sind auch Kinder. Mit<br />
der Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“<br />
haben wir erreicht, dass Kinder, die<br />
keinen Aufenthaltsstatus haben, in die Schule<br />
gehen können.<br />
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin<br />
viel Erfolg für Ihre so wichtige Arbeit!<br />
Das Interview mit Juanita Henning, Sprecherin<br />
„Doña Carmen“ führte Armgart Wisent,<br />
Redaktion „<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>“.<br />
Nachdem die Bahnhofsmissionen in<br />
Deutschland im September 1939 verboten<br />
wurden, und in den Kriegsjahren kein kirchlicher<br />
Dienst am Bahnhof bestand, wurde<br />
die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung<br />
nach dem Ende des zweiten <strong>Welt</strong>krieges<br />
sehr schnell offenbar.<br />
Am Frankfurter Hauptbahnhof herrschte<br />
eine recht unüberschaubare Situation. Durch<br />
die Zerstörung der Städte und die Verschiebung<br />
von Grenzen hatten viele Menschen<br />
ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Die<br />
Hoffnung, in den westlichen Besatzungszonen<br />
bessere Chancen für ein weiteres Leben<br />
zu haben, brachte viele dazu, sich auf den<br />
Weg dorthin zu machen. Täglich kamen<br />
bis zu dreitausend Personen im Frankfurter<br />
Hauptbahnhof an: Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer,<br />
Vertriebene und andere Menschen,<br />
die durch den Krieg ihren Lebensmittelpunkt<br />
verloren hatten.<br />
In Frankfurt angekommen, fanden sie zunächst<br />
eine weitgehend zerstörte Stadt vor, in<br />
der es ohnehin schwer war, zu überleben. Zunächst<br />
wurde der 1941 gebaute Süd-Bunker<br />
des Hauptbahnhofes als Notunterkunft genutzt.<br />
Unter schweren organisatorischen und<br />
hygienischen Bedingungen war dieser Bunker<br />
für viele Menschen ein erster Ruhepunkt<br />
auf dem Weg in ein neues Leben. Im Laufe<br />
der Monate kamen immer mehr Menschen,<br />
die in dem Bunker erste Zuflucht suchten,<br />
Die Bahnhofsmission<br />
Schauplatz des Lebens und der Geschichte am Bahnhof<br />
darunter vermehrt Frauen und Kinder. Angesichts<br />
der immer schwieriger werdenden<br />
Situation meldete das Fürsorgeamt die dringende<br />
Notwendigkeit der Neugründung einer<br />
Bahnhofsmission an. Der Caritasverband<br />
und die Evangelische Innere Mission, die<br />
ohnehin bereits die Fürsorgearbeit am Bahnhof<br />
für sich beansprucht hatten, reagierten<br />
schnell. Der Süd-Bunker wurde erster Sitz<br />
der neu gegründeten Bahnhofsmission, die<br />
zusammen mit dem Roten Kreuz die Leitung<br />
der Unterkunft übernahm.<br />
Während darin etwa 1200 Personen sitzenden<br />
Aufenthalt finden konnten, suchten<br />
dort tatsächlich täglich bis zu 2500 Personen<br />
pro Nacht Zuflucht. So herrschte ständige<br />
Überbelegung. Ein Teil des Bunkers wurde<br />
in dieser Zeit für Frauen und Kinder reserviert,<br />
in einem anderen wurden Amputierte,<br />
Kriegsversehrte und männliche Jugendliche<br />
untergebracht. Bis Oktober 1945 stieg<br />
die Zahl der täglichen Belegungen auf etwa<br />
4500 an, was die ohnehin schwierigen hygienischen<br />
Bedingungen noch steigerte. Die<br />
wenigen Toiletten und Waschstellen waren<br />
ständig verstopft und liefen über, die Reinigung<br />
des gesamten Bunkers bereitete immer<br />
wieder Schwierigkeiten. Hinzu kam, dass<br />
der Eingang zur Abteilung A offenbar vom<br />
Einsturz bedroht war und eine Sanierung<br />
aufgrund von Materialmangel nicht möglich<br />
war.<br />
1947 wurde eine Baracke auf dem Bahnhofsvorplatz<br />
speziell für durchreisende Jugendliche<br />
sowie die örtliche obdachlose Jugend<br />
gebaut. In der Baracke gab es zwanzig<br />
Betten. Bereits Ende Mai wurden in der<br />
Baracke dreißig bis vierzig Übernachtungen<br />
täglich gezählt. Sie blieb bis Oktober 1950<br />
in Betrieb.<br />
Die neu gegründete Bahnhofsmission erhielt<br />
Räume im Bahnhofsgebäude, die sich<br />
am Südausgang befanden und konnte so die<br />
Arbeit der Vorkriegsjahre wiederaufnehmen.<br />
Die ursprünglich auf den Schutz reisender<br />
Mädchen und junger Frauen konzentrierte<br />
Arbeit der Bahnhofsmission in Frankfurt<br />
hatte sich seit ihrer Gründung im Jahre 1897<br />
bereits immer wieder gewandelt. Neben dem<br />
Hauptziel des Mädchenschutzes orientierte<br />
sich die ökumenisch arbeitende Einrichtung<br />
stets an den Erfordernissen der jeweiligen<br />
Zeit und der gesellschaftlichen Situation. In<br />
den Jahren nach dem Kriege etablierte sich<br />
die Bahnhofsmission erneut als Anlaufstelle<br />
für alle Menschen, die am Bahnhof Hilfe<br />
bedurften. Reisende mit Behinderungen,<br />
alleinreisende Kinder, Menschen mit psychischen<br />
Schwierigkeiten und Obdachlose<br />
gehörten bald zu den Gästen. An der damaligen<br />
Dienstkleidung, dem blauen „Schwesternkleid<br />
Eva“ und der Armbinde mit dem<br />
Emblem der Bahnhofsmission konnte man<br />
die Mitarbeiterinnen auf dem Bahnsteig erkennen.<br />
Mit der Zeit, als der Zugverkehr sich<br />
allmählich wieder normalisierte, gehörten<br />
vermehrt auch Umsteigehilfen für Reisende<br />
zu ihren Aufgaben.<br />
Noch bis weit in die fünfziger Jahre gab<br />
es viel Arbeit mit Flüchtlingen, Kriegsheimkehrern,<br />
und Entlassenen aus der Kriegsgefangenschaft.<br />
Bis Januar 1951 war der Süd-<br />
Bunker als Notunterkunft in Betrieb, danach<br />
wurden andere Unterkünfte durch die Bahnhofsmission<br />
betrieben. 1949 wurde auf dem<br />
ehemaligen Häuser- und Vorgartengelände<br />
des im Kriege zerstörten Platzes der Republik<br />
ein eigenes Wohnheim der evangelischen<br />
Bahnhofsmission aus Baracken errichtet.<br />
Täglich waren sieben Sammeltransporte mit<br />
je bis zu 280 Ostflüchtlingen zu betreuen.<br />
Die Betreuung, Verpflegung und Unterbringung<br />
des Flüchtlingsstroms stellte in dieser<br />
Zeit eine der Hauptaufgaben der Bahnhofsmission<br />
dar. Ab 1952 kam ein Zustrom von<br />
Berliner Flüchtlingen hinzu. Die westlichen<br />
Besatzungsmächte hatten Flüge für Ausreisewillige<br />
organisiert, die täglich Flüchtlinge in<br />
verschiedene westliche Städte, darunter auch<br />
Frankfurt, brachten. Die Bahnhofsmission<br />
war eine wichtige Stelle in der Betreuung<br />
der Flüchtlinge und ihrer Weiterleitung und<br />
Unterbringung in verschiedene Auffanglager.<br />
Seit dem Februar 1953 wurde ein ständiger<br />
Dienst der Bahnhofsmission am Frankfurter<br />
Flughafen eingerichtet. Mit einem Bus
SOZIALE ORGANISATION IN FRANKFURT<br />
9<br />
wurden die Flüchtlinge zur Bahnhofsmission<br />
gebracht, wo man sich erst einmal um<br />
Verpflegung und Versorgung mit benötigter<br />
Kleidung kümmerte. Alleine im Zeitraum<br />
zwischen dem Februar und Mai 1953 brachten<br />
693 Flugzeuge 30.989 Flüchtlinge nach<br />
Frankfurt, die von der Bahnhofsmission betreut<br />
wurden.<br />
Ende 1954 bezog die Bahnhofsmission<br />
neue Räume, ebenfalls am Südausgang gelegen,<br />
wo sie nun im Kellergeschoss auch einen<br />
Schlafraum für weibliche Reisende besaß. An<br />
die Stelle der Arbeit mit Flüchtlingen trat mit<br />
den Jahren des Wirtschaftswunders und der<br />
Konsolidierung einer neuen <strong>Welt</strong>ordnung<br />
vermehrt der Dienst an Reisenden und Menschen,<br />
die bei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />
Neuordnung der westdeutschen<br />
Gesellschaft keinen Platz für sich gefunden<br />
hatten. In der Nachfolge der „Wandererfürsorge“<br />
der Jahre zwischen den <strong>Welt</strong>kriegen<br />
wurde für Obdachlose und Arme Getränke,<br />
Aufenthalt und Gespräch angeboten. Erst in<br />
derr sechziger Jahren wurde das Angebot auf<br />
eine bescheidene Essensausgabe erweitert.<br />
Neben den alltäglichen Arbeiten begaben<br />
sich in der Bahnhofsmission immer wieder<br />
auch kuriose Geschichten, besonders dann,<br />
wenn Reisende aus fernen Ländern zu betreuen<br />
waren. Einmal kam ein Reisender<br />
aus Afrika mit einem großen Koffer in die<br />
Bahnhofsmission, der wissen wollte, wo eine<br />
Bank sei. Der Koffer war schwer angefüllt<br />
mit Münzgeld. Mit Bedauern mussten die<br />
Helferinnen ihm erklären, dass Hartgeld in<br />
Banken nicht eingetauscht wird. Schließlich<br />
konnte Kontakt zu einem Verwandten von<br />
ihm hergestellt werden, der dem Unglücklichen<br />
weiterhalf.<br />
In den sechziger Jahren kam es, bedingt<br />
durch das so genannte Wirtschaftswunder,<br />
zu massenhaften Anwerbungen von Gastarbeitern.<br />
Ausländische Reisende, die nach<br />
Deutschland zogen, um hier zu arbeiten, kamen<br />
in großer Zahl mit dem Zug an, und<br />
der Frankfurter Hauptbahnhof war für viele<br />
von ihnen der Ort, an dem sie erste Eindrücke<br />
von ihrer neuen Heimat sammeln konnten.<br />
Auch viele von ihnen gehörten zu den<br />
Gästen der Bahnhofsmission.<br />
Angesichts der in den achtziger Jahren immer<br />
höheren Besucherzahlen bei nun regelmäßig<br />
drei täglichen Essensausgaben gab es<br />
bald nur wenig Gelegenheit zum Gespräch<br />
mit den Besuchern, wenn es sich nicht gerade<br />
um Stammgäste handelte. Viele Menschen<br />
fanden in der Bahnhofsmission so<br />
über viele Jahre eine Anlaufstelle und vielleicht<br />
ein wenig Beheimatung, darunter viele<br />
liebenswerte Sonderlinge und Frankfurter<br />
Originale wie das „Herbertchen“, das den<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einmal<br />
einen Gartenzwerg mitbrachte, den er aus<br />
einem Frankfurter Garten geklaut hatte. Mit<br />
der Zeit kamen verstärkt Drogenabhängige<br />
und psychisch Kranke hinzu, die in der<br />
Bahnhofsmission ein offenes Ohr und Vermittlungsangebote<br />
zu spezialisierten Stellen<br />
finden.<br />
mit den Jahren des Wirtschaftswunders<br />
und der Konsolidierung einer neuen <strong>Welt</strong>ordnung<br />
vermehrt der Dienst an Reisenden<br />
und Menschen, die bei der gesellschaftlichen<br />
und wirtschaftlichen Neuordnung der<br />
westdeutschen Gesellschaft keinen Platz für<br />
sich gefunden hatten. In der Nachfolge der<br />
„Wandererfürsorge“ der Jahre zwischen den<br />
<strong>Welt</strong>kriegen wurde für Obdachlose und<br />
Arme Getränke, Aufenthalt und Gespräch<br />
angeboten. Erst in derr sechziger Jahren wurde<br />
das Angebot<br />
auf eine<br />
bescheidene<br />
Essensausgabe<br />
erweitert.<br />
Neben den<br />
alltäglichen<br />
Arbeiten begaben<br />
sich<br />
in der Bahnhofsmission<br />
immer wieder auch kuriose<br />
Geschichten, besonders dann, wenn Reisende<br />
aus fernen Ländern zu betreuen waren.<br />
Einmal kam ein Reisender aus Afrika mit<br />
einem großen Koffer in die Bahnhofsmission,<br />
der wissen wollte, wo eine Bank sei. Der<br />
Koffer war schwer angefüllt mit Münzgeld.<br />
Mit Bedauern mussten die Helferinnen ihm<br />
erklären, dass Hartgeld in Banken nicht eingetauscht<br />
wird. Schließlich konnte Kontakt<br />
zu einem Verwandten von ihm hergestellt<br />
werden, der dem Unglücklichen weiterhalf.<br />
In den sechziger Jahren kam es, bedingt<br />
durch das so genannte Wirtschaftswunder,<br />
zu massenhaften Anwerbungen von Gastarbeitern.<br />
Ausländische Reisende, die nach<br />
Deutschland zogen, um hier zu arbeiten, kamen<br />
in großer Zahl mit dem Zug an, und<br />
der Frankfurter Hauptbahnhof war für viele<br />
von ihnen der Ort, an dem sie erste Eindrücke<br />
von ihrer neuen Heimat sammeln konnten.<br />
Auch viele von ihnen gehörten zu den<br />
Gästen der Bahnhofsmission.<br />
Angesichts der in den achtziger Jahren immer<br />
höheren Besucherzahlen bei nun regelmäßig<br />
drei täglichen Essensausgaben gab es<br />
bald nur wenig Gelegenheit zum Gespräch<br />
mit den Besuchern, wenn es sich nicht gerade<br />
um Stammgäste handelte. Viele Menschen<br />
fanden in der Bahnhofsmission so über<br />
viele Jahre eine Anlaufstelle und vielleicht ein<br />
wenig Beheimatung, darunter viele liebenswerte<br />
Sonderlinge und Frankfurter Originale<br />
wie das „Herbertchen“, das den Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern einmal einen<br />
Gartenzwerg<br />
mitbrachte,<br />
den er aus<br />
einem Frankfurter<br />
Garten<br />
geklaut hatte.<br />
Mit der Zeit<br />
kamen verstärkt<br />
Drogenabhängi-<br />
ge und psychisch Kranke hinzu, die in der<br />
Bahnhofsmission ein offenes Ohr und Vermittlungsangebote<br />
zu spezialisierten Stellen<br />
finden.<br />
Behinderte, Kranke und alleinreisende<br />
Kinder werden bis heute betreut. Bestohlene<br />
Reisende und solche ohne Geld bekommen<br />
erfahrene Hilfestellung dabei angeboten, eine<br />
Fahrkarte zu organisieren. Seit 2004 ist die<br />
regelmäßige Essensausgabe der Bahnhofsmission<br />
abgeschafft, da es inzwischen viele<br />
Stellen in Frankfurt gibt, die frisch zubereitetes<br />
Essen anbieten und die notdürftige Vergabe<br />
von Margarinebroten und gespendeten<br />
Lebensmitteln, Andachtsraum vor allem aus<br />
den Läden im Bahnhof, nicht mehr sinnvoll<br />
erschien.<br />
Mit dem Umzug in wiederum neue Räume<br />
an Gleis 1 im Sommer 2005 gingen auch<br />
verschiedene Veränderungen im Hilfsangebot<br />
der Bahnhofmission einher. Nun tragen<br />
die Helferinnen und Helfer leuchtend blaue<br />
Westen. Der Schwerpunkt der Arbeit mit<br />
Obdachlosen, Drogenabhängigen, psychisch<br />
Kranken und Armen hat sich stärker in Richtung<br />
Beratung entwickelt. Für alleinreisende<br />
Kinder gibt es seit 2004 den Betreuungsservice<br />
„Kids on Tour“ in Kooperation mit der<br />
Deutschen Bahn. Für Menschen, die in der<br />
Hektik des Bahnhofs etwas Ruhe suchen und<br />
sich besinnen möchten, bietet die Bahnhofsmission<br />
nun einen Raum der Stille an.<br />
Nach wie vor ist die Bahnhofsmission eine<br />
wichtige Anlaufstelle im Hauptbahnhof für<br />
alle Menschen, die ein Problem oder eine<br />
Sorge haben, sie ist Schauplatz von Schicksalen<br />
und menschlichen Begegnungen am<br />
Rande der Betriebsamkeit. Hier ist etwas von<br />
der Seele des Frankfurter Hauptbahnhofs<br />
spürbar, der stets die unterschiedlichsten<br />
Menschen anzieht.<br />
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung<br />
von Autor und Verlag<br />
Allgemeine Sozialberatung in Bornheim<br />
Neue Anlaufstelle für Menschen in Not ab Oktober in Kooperation von Pfarrgemeinde und Caritas - St. Josef<br />
Informationen, Rat und Hilfe bei allen Fragen und Problemen des Alltags können sich Bornheimer Bürgerinnen und Bürger ab<br />
Oktober 2009 bei der „Allgemeinen Sozialberatung“ (ASB) der katholischen Pfarrgemeinde St. Josef Bornheim holen. Regelmäßig<br />
montags von 16:00 Uhr bis 18:00 Uhr finden sie im Gemeindehaus in der Berger Straße 135 im Cäciliensaal Ansprechpartner,<br />
die ein offenes Ohr für sie haben. Ein Team von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Pfarrei<br />
engagiert sich für Menschen in Not. Die Beratung ist kostenlos und vertraulich. Alle sind willkommen, die Hilfe brauchen.<br />
„Als christliche Pfarrgemeinde entspricht<br />
es unserem Selbstverständnis und unserem<br />
Auftrag, dass wir da sind, für Menschen in<br />
Not“, erklärt Martin Dorda, Pastoralreferent<br />
der Pfarrgemeinde, der neben sechs freiwillig<br />
Engagierten zum Beratungsteam gehört. Von<br />
dieser christlichen Grundeinstellung getragen,<br />
hat die Gemeinde die Idee zum Projekt<br />
„ASB“ entwickelt und zusammen mit dem<br />
Caritasverband Frankfurt e. V. dieses soziale<br />
Beratungsangebot aufgebaut.<br />
Um sich auf ihren ehrenamtlichen Dienst<br />
vorzubereiten, haben sich die Ehrenamtlichen<br />
über das Frankfurter Hilfenetz informiert,<br />
verschiedene soziale Einrichtungen<br />
besichtigt und grundlegende Fähigkeiten erworben<br />
wie zum Beispiele Gesprächstraining.<br />
Am 28. September startet die „Allgemeinen<br />
Sozialberatung St. Josef Bornheim“ mit der<br />
offiziellen Eröffnung und Vorstellung.<br />
Die ASB ist eine Erstkontaktstelle, wo<br />
Menschen in Notlagen und Konfliktsituationen,<br />
die Gesprächsbedarf haben, direkt in<br />
ihrem Stadtteil Ansprechpartner finden. Hier<br />
bekommen sie problemlos erste Informationen,<br />
Rat und Hilfe. Eine Anmeldung für<br />
diese offene Sprechstunde ist nicht nötig.<br />
Gute Erfahrungen mit anderen ehrenamtlich<br />
organisierten Beratungsstellen in katholischen<br />
Pfarreien, die ebenfalls in Kooperation<br />
mit dem Caritasverband Frankfurt entstanden<br />
sind, zeigen,<br />
wie wirkungsvoll<br />
ein solches Angebot<br />
ist. Die ehrenamtlich<br />
tätigen<br />
Gemeindemitglieder<br />
kennen alle<br />
Ressourcen im<br />
Stadtteil und die<br />
örtlichen Gegebenheiten.<br />
Sie haben<br />
den Überblick<br />
über das ganze<br />
Spektrum an<br />
Unterstützungsmöglichkeiten<br />
und können oft<br />
sehr schnell ganz<br />
konkrete Nachbarschaftshilfe<br />
organisieren. Die<br />
vertraute Umgebung<br />
und die Solidarität<br />
unter den<br />
Stadtteilbewoh-<br />
St.-Josephskirche<br />
Frankfurt am Main-Bornheim<br />
nern erleichtern<br />
die Beratungsgespräche.<br />
In der neuen Beratungsstelle sind<br />
alle Menschen willkommen, unabhängig von<br />
ihrer religiösen, kulturellen oder nationalen<br />
Zugehörigkeit.<br />
Aufgabe der<br />
ehrenamtlich Engagierten<br />
ist es,<br />
zunächst einmal<br />
zuzuhören. Dass<br />
sie ihre Sorgen<br />
und Ängste in<br />
einem Gespräch<br />
loswerden können,<br />
ist für viele<br />
Menschen schon<br />
eine große Erleichterung.<br />
Gemeinsam<br />
mit den<br />
Ratsuchenden<br />
versuchen die Beraterinnen<br />
und<br />
Berater eine Klärung<br />
der Situation<br />
und geben<br />
erste Orientierung.<br />
Leitgedanke<br />
des Angebots<br />
ist die „Hilfe zur<br />
Quelle:<br />
Wikipedia Selbsthilfe“. Bei<br />
speziellen Fragestellungen<br />
und<br />
schwerwiegenden Problemen können die Ehrenamtlichen<br />
an geeignete Fachstellen weitervermitteln.<br />
Für die fachliche Begleitung und die Qualifizierung<br />
der ehrenamtlichen Beraterinnen<br />
und Berater sorgt Sigrid Bender, Sozialarbeiterin<br />
beim Caritasverband Frankfurt. Sie hat<br />
das Projekt von Anfang an begleitet, Schulungen<br />
für das Mitarbeiter-Team organisiert<br />
und ist Ansprechpartnerin bei allen Fragen<br />
und Konflikten im Team.<br />
Das neue Beratungsangebot ist ein lokales<br />
Modellprojekt: In der „Allgemeinen Sozialberatung<br />
St. Josef Bornheim“ engagieren sich<br />
die Pfarrgemeinde und der Caritasverband<br />
Frankfurt gemeinsam im Sinne ihres diakonischen<br />
Auftrags für sozial benachteiligte<br />
Menschen. Es ist ein beispielhaftes Angebot,<br />
durch das weitere Pfarrgemeinden in Frankfurt<br />
zu sozialem Engagement motiviert werden<br />
sollen. Das Projekt ist ein Mosaikstein<br />
im neuen Pastoralkonzept der Frankfurter<br />
Stadtkirche für eine solidarische Stadtgesellschaft.<br />
Frankfurt-Bornheim,<br />
Gemeindehaus der<br />
katholischen Pfarrei St. Josef<br />
Bergerstraße 135<br />
U-Bahnlinie: U4 / Höhenstrasse<br />
Veröffentlichung mit freundlicher<br />
Genehmigung der Pfarrei St. Josef
10 LOKALES<br />
Von Neufundland bis zum Affentor<br />
25 Jahre Werkstatt Frankfurt – Qualifizierung für Arbeitslose – Eigene Betriebe<br />
Die Werkstatt Frankfurt hat sich von einem kleinen städtischen Projekt zu einem sozialen Unternehmen mit 10 Betrieben<br />
entwickelt, in denen Arbeitslose beschäftigt und qualifiziert werden. Mit dem Programm “Frankfurter Weg zur Berufsausbildung“<br />
ist auch ein Berufsabschluss möglich. Das jüngste Projekt der Werkstatt ist ein „smart“-Lebensmittelmarkt.<br />
Im März 2009 wurde in Eckenheim der<br />
„smart“-Lebensmittelmarkt eröffnet.<br />
„Unser Markt in der Porthstraße 11 bietet<br />
endlich wieder ortsnah alles, was man zum<br />
Leben braucht. Wir sind stolz darauf, dass<br />
wir den Menschen in Eckenheim dieses Angebot<br />
machen können, und so die Nahversorgung<br />
verbessern helfen“, heißt es bei der<br />
Werkstatt Frankfurt. Sie betreibt den kleinen<br />
Supermarkt, dessen Größe von 445 qm für<br />
die großen Lebensmittel-Filialisten nicht<br />
mehr interessant ist. smart ist ein Vollsortimenter.<br />
Die Ware kommt unter anderem von<br />
Rewe und der Bio-Gärtnerei, die die Werkstatt<br />
in Oberrad betreibt. Auf Gewinne aus<br />
dem Projekt ist der gemeinnützige Verein<br />
nicht aus. Vielmehr geht es auch bei smart<br />
darum, arbeitslosen Menschen eine qualifizierende<br />
Beschäftigung zu bieten.<br />
Die Mitarbeiter des Marktes nehmen an<br />
einem Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm<br />
teil. Noch in diesem Jahr können<br />
sie über den so genannten „Frankfurter Weg<br />
zum Berufsabschluss“ eine Qualifikation zum<br />
Einzelhandelskaufmann/-kauffrau beginnen.<br />
Für den regulären Ausbildungsmarkt wären<br />
sie zu alt. Rund drei Viertel der Lohnkosten<br />
finanziert die Werkstatt Frankfurt mit Fördermitteln<br />
der Stadt und der Arbeitsagentur.<br />
„Die Werkstatt Frankfurt ist einer der<br />
ältesten und größten Organisationen in<br />
Deutschland, die sich mit der Integration,<br />
der Beschäftigung und Qualifizierung von<br />
Langzeitarbeitslosen befasst“, sagt Conrad<br />
Skerutsch, Geschäftsführer der Werkstatt,<br />
die vor kurzem 25-jähriges Jubiläum feierte.<br />
1984 hat die Stadt Frankfurt den Verein<br />
„Werkstatt Frankfurt e.V.“ gegründet mit<br />
dem Zweck, Arbeitsgelegenheiten für Arbeitslose<br />
zu schaffen und sie wieder in den<br />
Arbeitsmarkt zu integrieren. Seither hat<br />
sich die Werkstatt zu einem sozialen Unternehmen<br />
mit zehn Betrieben entwickelt, die<br />
zurzeit 1363 Menschen Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten<br />
bieten. 182 Stammmitarbeiter<br />
beschäftigt die Werkstatt. An der<br />
Spitze des Vereins steht laut Satzung der jeweilige<br />
Sozialdezernent der Stadt Frankfurt.<br />
„Die Werkstatt Frankfurt hat sich in den<br />
letzten Jahren fundamental gewandelt. Wir<br />
haben den Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />
entwickelt, eine eigene Modemarke<br />
kreiert, die für ihr Recycling einen Umweltpreis<br />
bekommen hat, haben uns in aktuelle<br />
arbeitsmarktpolitische Debatten eingebracht<br />
und viele kreative Ideen umgesetzt“, sagt<br />
Skerutsch. Kerngeschäft sei nach wie vor<br />
die Integration arbeitsloser Menschen in<br />
den Arbeitsmarkt. „Die praktische Tätigkeit<br />
unserer Betriebe ist stark auf Umweltschutz<br />
und Ressourcenschonung orientiert“, ergänzt<br />
Christian Jungk, Leiter Betriebe der Werkstatt<br />
Frankfurt.<br />
Neben dem Recyclingzentrum Frankfurt<br />
betreibt die Werkstatt das Second-Hand-<br />
Möbelkaufhaus Neufundland, die Bioland-<br />
Gärtnerei in Oberrad, den Stadtteilservice<br />
ffmtipptopp und die Affentor Manufaktur,<br />
in der ausgefallene<br />
Taschen aus Reststoffen<br />
genäht werden.<br />
Das Tower-Café<br />
bei Bonames und<br />
das Licht & Luftbad<br />
in Niederrad,<br />
beide ebenfalls von<br />
der Werkstatt und<br />
damit von Arbeitslosen<br />
betrieben, sind<br />
dazu gedacht, den Stadtmenschen Erholung<br />
in der Natur zu bieten.<br />
Zusammen mit dem Rhein-Main-Jobcenter<br />
und der Berta-Jourdan-Schule führt die<br />
Beschäftigungsgesellschaft darüber hinaus<br />
ein Bildungsprojekt für angehende Erzieherinnen<br />
durch. Arbeitslose Bezieher von ALG<br />
II können sich bei entsprechender Eignung<br />
zu Erzieherinnen bzw. Erziehern ausbilden<br />
lassen. Das Projekt ist Anfang dieses Jahres<br />
gestartet.<br />
Die Werkstatt Frankfurt hat sich in den<br />
letzten Jahren mit vielfältigen und innovativen<br />
Aktivitäten als Beschäftigungsgesellschaft<br />
etabliert. Menschen in den arbeitsmarktpolitisch<br />
umstrittenen 1,50 Euro-Jobs zu beschäftigen,<br />
gehört auch dazu, ist aber längst nicht<br />
alles. „Die Werkstatt Frankfurt wird häufig<br />
als ein Akteur angesehen, der nur so genannte<br />
Ein-Euro-Jobs organisiert“, sagt Skerutsch.<br />
„Das tut sie auch, aber für Menschen, die ein<br />
solches Training brauchen und wollen, um<br />
sich wieder in die Arbeitswelt einzufinden.“<br />
Er ist jedenfalls überzeugt davon, dass mit<br />
dem Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />
ein Programm zur Verfügung steht, das für<br />
einen Großteil der Langzeitarbeitslosen eine<br />
echte und nachhaltige Ausstiegsperspektive<br />
aus Hartz IV bedeutet.<br />
liz<br />
Die Betriebe der Werkstatt Frankfurt<br />
Angebunden an die Nidda und eingebunden<br />
in das Naturschutzgebiet des Frankfurter<br />
Grüngürtels ist der ehemalige Hubschrauberlandeplatz<br />
besonders an den Wochenenden<br />
ein beliebtes Ausflugsziel für Radfahrer,<br />
Wanderer und Naturbegeisterte. Der ehemalige<br />
Tower des Hubschrauberlandeplatzes<br />
wurde zum Tower-Café (1995 eröffnet) umgebaut.<br />
So wie im Schmankerl & Co, einem<br />
Café im Bürgerhaus<br />
Griesheim, werden<br />
im Tower-Café erwerbslose<br />
Menschen<br />
zu Köchen und Restaurantfachkräften<br />
weitergebildet.<br />
In der Affentor-<br />
Manufaktur arbeiten<br />
25 Nähhelferinnen<br />
unter der<br />
Anleitung von zwei Schneider-Meisterinnen.<br />
Sie erlernen den Umgang mit unterschiedlichen<br />
Stoffen und Materialien und nähen<br />
Einkaufstaschen, kleine Beutel und Laptop-<br />
Taschen. Verkauft werden die Produkte in<br />
einem Laden in der Frankfurter Innenstadt<br />
(Fahrgasse 23), in der Nähe des Museums für<br />
Moderne Kunst.<br />
Hoher Anteil an Ungelernten in Frankfurt<br />
Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />
Der Frankfurter Weg ist eine Gemeinschaftsinitiative<br />
der Industrie- und Handelskammer<br />
Frankfurt, der Handwerkskammer<br />
und der Werkstatt Frankfurt, um Arbeitslosen<br />
(25 bis 45 Jahre) zu einem qualifizierten<br />
Berufsabschluss zu verhelfen. In den Betrieben<br />
der Werkstatt Frankfurt, in Praktika<br />
und in Lerngruppen werden die Teilnehmer<br />
in drei Stufen und über insgesamt drei Jahre<br />
auf den Berufsabschluss vorbereitet.<br />
Der Frankfurter Weg wird vom Rhein-<br />
Main-Jobcenter finanziell unterstützt.<br />
„Menschen bis zu einem Alter von 45 Jahren<br />
erhalten ihre zweite Chance“, sagt Werkstatt-<br />
Leiter Skerutsch zu der Gemeinschaftsinitiative,<br />
die im Jahre 2006 gestartet wurde. Im<br />
Jahr 2008 bestanden die ersten 7 Teilnehmer<br />
am Frankfurter Weg die Kammerprüfungen.<br />
2009 haben 50 Menschen erfolgreich den<br />
Frankfurter Weg absolviert.<br />
Der Betrieb Bauwerk bietet eine ganze Palette<br />
an Dienstleistungen rund um die Sanierung<br />
und Modernisierung von Häusern und<br />
Wohnungen.<br />
ffmtipptopp ist ein Stadtteilservice mit<br />
Ortsdiener. Unter Leitung der Werkstatt<br />
Frankfurt und in enger Kooperation mit der<br />
Stadt Frankfurt, Stabsstelle Sauberes Frankfurt,<br />
sind zurzeit rund 75 Langzeitarbeitslose<br />
(Hartz IV-Empfänger) als Ortsdiener in den<br />
Stadtteilen eingesetzt. Sie kümmern sich als<br />
„Hausmeister des Stadtteils“ um das Erscheinungsbild<br />
der Stadt. Sie melden wilde Abfallablagerungen<br />
und Graffiti und entfernen Abfallkleinmengen<br />
aus dem öffentlichen Raum.<br />
Sie melden Defekte an öffentlichen Verkehrsund<br />
Beleuchtungseinrichtungen den entsprechenden<br />
Ämtern. Sie sind Ansprechpartner<br />
für die Bürger und Geschäftsleute der Stadtteile,<br />
in denen sie eingesetzt sind.<br />
Das Second-Hand-Warenhaus Neufundland<br />
bietet auf 600 qm Fläche ein breites<br />
Angebot an Möbeln und Wohn-Accessoires.<br />
Hier werden den Mitarbeitern die Möglichkeit<br />
zur Qualifizierung zum Fachlagerist/in,<br />
Fachkraft für Lagerlogistik, Verkäufer/-in;<br />
Einzelhandelskauffrau/mann geboten.<br />
Das Recyclingzentrum (Frankfurt Griesheim)<br />
sammelt gebrauchte Elektrogeräte,<br />
setzt sie wieder instand oder gewinnt daraus<br />
wertvolle Rohstoffe. Qualifizierungsberufe:<br />
Elektroniker/in Energie- und Gebäudetechnik,<br />
Informationselektroniker/-in,<br />
Berufskraftfahrer/-in<br />
Die Bioland-Gärtnerei (Gärtnersiedlung<br />
Frankfurt Oberrad) baut Gemüse nach biologischen<br />
Gesichtspunkten an und verkauft<br />
im eigenen Laden und auf dem Markt in Offenbach.<br />
Hier wird die Qualifizierung zum/<br />
zur Gärtner/in im Gemüsebau angeboten.<br />
Bider und Text: Werkstatt Frankfurt e.V.<br />
Wir haben uns vom Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur der Goethe-Universität Frankfurt<br />
am Main – kurz IWAK - einmal die genauen Zahlen heraussuchen lassen. Bundesweit sind 6,7<br />
Millionen Erwerbstätige im Status der An- und Ungelernten. Hinzurechnen muss man noch<br />
einmal fast 1,4 Millionen An- und Ungelernte, die arbeitslos sind. Zusammen sind es also über 8<br />
Millionen betroffene Menschen. Fast die Hälfte dieser 8 Millionen Menschen sind im Alter von 25<br />
bis 50 Jahre – und kommt einerseits nicht für eine Erstausbildung, aber sehr wohl dem Grunde<br />
nach für eine Nachqualifizierung, in Betracht.<br />
In Frankfurt sind es 91.000 An- und Ungelernte (hiervon 74.000 erwerbstätig). Frankfurt<br />
liegt mit 22 % Anteil an allen Erwerbstätigen spürbar höher als der Bundesdurchschnitt mit 18<br />
%. Dies liegt ganz offenkundig an dem hohen Anteil von Migranten an den Frankfurter Erwerbstätigen.<br />
Migranten haben einen deutlich überproportionalen Anteil an der Gruppe der An- und<br />
Ungelernten. Er beträgt bundesweit 20 % und in Frankfurt liegt der Anteil der Migranten an der<br />
Gruppe der An- und Ungelernten bei 44 %. Der Grund hierfür ist die fehlende Anerkennung im<br />
Ausland erworbener Ausbildungen.“<br />
Conrad Skerutsch, Leiter der Werkstatt Frankfurt, bei der Fachtagung „Da geht noch viel! Wie<br />
aus An- und Ungelernten dringend benötigte Fachkräfte werden können“, am 02.09.2009 in<br />
Frankfurt.
KULTUR<br />
11<br />
Unsere CD-Empfehlung des Monats<br />
Fabrizio de André In-Direzione Ostinata E Contraia Rekordi/Soni 82876752322 (3)<br />
3 CD`s, 54 Tracks 222:02, mit italienischen Texten und Infos<br />
Vor zehn Jahren starb im Januar 1999 an Lungenkrebs der Liedermacher und Cantautor<br />
Fabrizio de André. Fabrizio galt als einer der besten italienischen Komponisten und Sänger,<br />
er stammte aus Genua. Die Hauptthemen seiner Lieder waren die Menschen, die auf der<br />
Schattenseite des Lebens standen und stehen. Er konnte sich insbesondere mit seiner Musik<br />
über diesen Kulturbereich äußern. In der vorliegenden Zusammenstellung, die in Italien<br />
bereits 2005 erschien und dort auf Platz 1 der Albumcharts landete, sind Lieder von André<br />
aus den Jahren 1967 -1996 entnommen. Weitere Titel, die auf den sonstigen CDs nicht<br />
veröffentlicht wurden, sind auf diesen Kassetten auch enthalten. Es handelt sich um die Titel<br />
Cose Cae Dimentco sowie das Lied Georde.<br />
Faba, so nannten ihn seine Freunde, hatte frühe Kontakte zur Musik. Einer seiner Kollegen,<br />
ein Herr Tengo, weckte seine Leidenschaft. Zunächst widmete er sich den französischen<br />
Chansonniers wie George Brasant. Seine ersten Lieder die er auf der Gitarre begleitete waren<br />
jedoch sehr stark von Bob Dylan und Leonhard Cohen geprägt. Die Thematik befasste<br />
sich mit christlichen Fragen sowie Themen zum Krieg und zu der 68er Bewegung bis zum<br />
Terrorismus. Es ist eigentlich unverständlich, dass ein solch großer Künstler nicht in anderen<br />
Teilen Europas bekannt wurde. Es gibt leider keine deutsch- oder englischsprachige Literatur<br />
über den Barden. Einige seiner Songs wurden durch mich und Herbert Killian in deutsche<br />
Sprache übersetzt. Eines dieser Lieder haben wir in deutscher Übersetzung hier aufgeführt.<br />
Wir empfehlen den Kauf dieser 3 CDs.<br />
Reinhold Urbas<br />
Bild: amazon.de<br />
Canzone Del Maggio<br />
Anche se il nostro maggio<br />
ha fatto a meno del vostro coraggio<br />
se la paura di guardare<br />
vi ha fatto chinare il mento<br />
se il fuoco ha risparmiato<br />
le vostre Millecento<br />
anche se voi vi credete assolti<br />
siete lo stesso coinvolti.<br />
E se vi siete detti<br />
non sta succedendo niente,<br />
le fabbriche riapriranno,<br />
arresteranno qualche studente<br />
convinti che fosse un gioco<br />
a cui avremmo giocato poco<br />
provate pure a credevi assolti<br />
siete lo stesso coinvolti.<br />
Anche se avete chiuso<br />
le vostre porte sul nostro muso<br />
la notte che le pantere<br />
ci mordevano il sedere<br />
lasciamoci in buonafede<br />
massacrare sui marciapiedi<br />
anche se ora ve ne fregate,<br />
voi quella notte voi c‘eravate.<br />
E se nei vostri quartieri<br />
tutto è rimasto come ieri,<br />
senza le barricate<br />
senza feriti, senza granate,<br />
se avete preso per buone<br />
le „verità“ della televisione<br />
anche se allora vi siete assolti<br />
siete lo stesso coinvolti.<br />
E se credente ora<br />
che tutto sia come prima<br />
perché avete votato ancora<br />
la sicurezza, la disciplina,<br />
convinti di allontanare<br />
la paura di cambiare<br />
verremo ancora alle vostre porte<br />
e grideremo ancora più forte<br />
per quanto voi vi crediate assolti<br />
siete per sempre coinvolti,<br />
per quanto voi vi crediate assolti<br />
siete per sempre coinvolti.<br />
Das Lied vom Mai<br />
Auch wenn unser Mai<br />
Ohne euren Mut auskommen musste<br />
Wenn die Angst hinzuschauen<br />
Euch das Kinn senken liess<br />
Auch wenn das Feuer eure Elfhunderter verschont<br />
hat<br />
Auch wenn ihr euch freigesprochen glaubt<br />
Seid ihr trotz allem mitbeteiligt.<br />
Und wenn ihr euch eingeredet habt,<br />
Dass nichts geschieht,<br />
Die Fabriken werden wieder öffnen,<br />
Sie werden ein paar Studenten einsperren,<br />
überzeugt es wäre ein Spiel<br />
Das wir nur kurz gespielt hätten<br />
Versucht ruhig euch freigesprochen zu fühlen<br />
Ihr seid trotz allem beteiligt.<br />
Auch wenn ihr verschlossen habt<br />
Eure Türen vor unserer Schnauze<br />
In der Nacht als die Panther<br />
Uns in den Hintern gebissen haben<br />
Und ihr uns gutgläubig<br />
Auf dem Bürgersteig massakrieren liesset<br />
Auch wenn es euch jetzt scheissegal ist<br />
Ihr wart in dieser Nacht dabei.<br />
Und wenn in euren Vierteln<br />
Alles so geblieben ist wie gestern,<br />
Ohne Barrikaden<br />
Ohne Verletzte, ohne Granaten,<br />
Wenn ihr für gut befunden habt<br />
Die ‚Wahrheit‘ des Fernsehens<br />
Auch wenn ihr euch damals freigesprochen<br />
habt<br />
Seid ihr trotz allem beteiligt.<br />
Und wenn ihr nun glaubt<br />
Alles sei so wie früher<br />
Weil ihr erneut gewählt habt<br />
Die Sicherheit, die Disziplin,<br />
Überzeugt damit<br />
Die Angst vor Veränderung zu beseitigen<br />
Wir werden wieder vor eure Türen kommen<br />
Und wir werden noch lauter schreien<br />
Dafür: wie sehr ihr euch auch freigesprochen<br />
fühlt<br />
Seid ihr doch für immer beteiligt.<br />
Seid ihr doch für immer beteiligt.<br />
AKTIVE SAMBAGRUPPE<br />
Wir suchen Mittrommler – Frauen und Männer –<br />
Info bei:<br />
Herr R.Urbas<br />
Tel.: 06109 22 527<br />
E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />
spielt mit !!!<br />
wir treffen uns wieder am:<br />
24.11.09, 01. und 15.12.09<br />
immer Dienstags ab 17.00 Uhr<br />
im Bunker Bornheim, Petterweilstr. 48<br />
Bänkerlied<br />
Ich brauche viele Millionen,<br />
für mich ist ein Pfennig kein Glück<br />
denn nur das Klingeln von Kohlen<br />
das ist Musik-Musik-Musik!<br />
Ich hab ein Schloß um zu wohnen<br />
Mein Benz ist funkelnd und schick<br />
Doch nur das Kingeln der Kasse<br />
Das ist Musik-Musik-Musik!<br />
Nur eine ganze Kleinigkeit<br />
Die brauch ich noch dazu<br />
Und diese ganze Kleinigkeit<br />
Mein Staat, bist Du – Du –Nur Du!<br />
Wenns mal nicht klappt mit den Zinsen<br />
Zahlst Du die Rechning für mich<br />
Und geht der Fond in die Binsen<br />
Hält sich jeder an Dich!<br />
Und wenn ich betrüge und lüge<br />
Die Rechnung, mein Staat, zahlst Du<br />
Und noch Prämie zu Genüge<br />
Zahlst Du an mich – Blöde Kuh!<br />
Ich habe viele Millionen<br />
Zahl keine Steuern zum Glück<br />
Rauscht das Geld stapelweise<br />
Das ist Musik.Musik-Musik!
12 KULTUR<br />
Mit Schindern verbindet man heutzutage brüllende Drillsergeants bei irgendeiner Armee.<br />
Zurzeit vom Schinderhannes, geboren irgendwann im Herbst 1779 entweder in Miehlen<br />
oder in Waschenbach im Taunus, war das noch ganz anders. Die eiserne Gewerbeordnung<br />
ließ ihm bei der Berufswahl keine Wahl: wie der Vater, so der Sohn. Sein Vater war Wasenmeister.<br />
Das kennt man heute nicht mehr. Der Wasenmeister und seine Gehilfen übten eine<br />
damals nötige, aber nicht unbedingt angesehene Kunst aus: Sie zogen den Tieren das Fell ab<br />
und gerbten es roh, zur Weiterbearbeitung beim Lederer.<br />
Nichts für zarte Seelen oder Nasen, denn der Gestank der Wasen, der Gruben, in denen<br />
die Häute gegerbt wurden, muss grauslich gewesen sein. Rinde gehörte dazu, aber auch<br />
Urin, Mineralien und vieles andere, was stinkt. Die Gerber waren schon des Geruches halber<br />
selbst in den schmutzigen und anrüchigen Dorfkneipen und bei den Dorffesten nicht gerne<br />
gesehen. Noch dazu übten einige – so auch der Vater von Johannes Bückler – noch dazu das<br />
Amt eines Scharfrichters aus. Und für die gab es einen festen Platz im Dorfkrug mit einem<br />
an die Kette gelegten Krug, damit ihn ja keiner aus Versehen mitnehmen könnte.<br />
Johann Bückler hatte das Pech, in eine historisch interessante Zeit geboren zu werden.<br />
Es war mal wieder Krieg, und mal wieder griffen die Franzosen nach dem Rhein. Zuerst im<br />
pfälzischen Erbfolgekrieg, dann als Folge der Hinrichtung des französischen Königspaares<br />
und der darauf folgenden Intervention vieler Staaten als „Befreiungskrieg“. Köln und Mainz<br />
wurden besetzt, es gab plötzlich das Haus 4711 in Köln, die Währung waren Louis´d Or<br />
(später Papiergeld), ganz neu Nachnamen mit Registrierpflicht und es gab eine merkwürdige<br />
Justiz, die nach französischen Gesetzen stattfand, aber in zwei Sprachen zelebriert werden<br />
musste. Davon hat er vermutlich wenig mitbekommen und gar nichts verstanden.<br />
Kriminelle Karriere<br />
Lumpenhund und Galgenstrick<br />
So Carl Zuckmayer über den Schinderhannes in seinem missglückten Versuch, einen hessischen<br />
Robin Hood zu konstruieren. Es gab auch einen Film, in dem Curd Jürgens und<br />
Maria Schell das filmisch abgaben, was sie zu der Zeit am besten konnten: Männliche<br />
Miene markieren und hemmungslos heulen.<br />
Im wahren Leben hieß er Johannes Bückler und es gab ihn wirklich. Aber im Gegensatz<br />
zur Sage war sein Leben schmutzig, schäbig, blutig und kurz.<br />
Mit 15 Jahren soll er schon einen Louis d´Or unterschlagen haben, mit dem er Brandwein<br />
kaufen sollte. Er ging in die Lehre bei einem Wasenmeister Nagel in Bärenbach. Die<br />
Lehre endet mit öffentlichen Prügeln, weil er sechs Kalbfelle und eine Kuhhaut gestohlen<br />
haben sollte. Er sah das allerdings etwas anders, und in Anbetracht der Verhaltensweise der<br />
Lehrherren gegenüber ihren Lehrjungen mag das sogar berechtigt gewesen sein. Trotzdem<br />
war ihm jetzt jeder ehrliche Lebensweg versperrt. Er schloss sich einer Bande an, die Viehdiebstähle<br />
beging und versuchte, die geklauten Tiere an korrupte Wasenmeister weiter zu<br />
verkaufen. Fama will, dass er Räuberhauptmann und mehrfacher Mörder gewesen sei, aber<br />
das lässt sich nicht beweisen. 1799 wurde er in Simmern festgenommen und angeklagt<br />
wegen Viehdiebstahl und zwei Tötungsdelikten, die nicht aufgeklärt werden konnten. Denn<br />
der Schinderhannes machte den schnellen Abgang aus dem Turm zu Simmern und suchte<br />
die Wälder auf. Und jetzt tritt er eine echt kriminelle Karriere an: räuberische Erpressungen<br />
und Raubüberfälle, mit wechselnden Komplizen, an wechselnden Orten. Sehr oft<br />
richten sich diese Gewalttaten gegen Juden, denn der Schinderhannes war noch gewohnt,<br />
dass Juden schutzlos waren ohne Landesherr. Pech gehabt – mittlerweile beherrschten die<br />
Franzosen das Land. Und für die war es erheblich wichtiger, dass da irgendjemand etwas<br />
Es war einmal ein sehr ungezogenes kleines Mädchen, das<br />
Goldlöckchen hieß. Eines Tages rief die Mutter nach Goldlöckchen,<br />
weil sie wollte, dass das Kind ihr in der Küche helfen sollte.<br />
Goldlöckchen aber tat so, als hörte sie nichts und ging heimlich<br />
in den Wald, um einen Spaziergang zu machen. Das tat sie öfter,<br />
wenn sie nicht gehorchen wollte.<br />
An diesem Tag nahm sie einen neuen Weg, und bald schon kam<br />
sie zu einer gemütlichen kleinen Hütte. Die Tür stand einen Spalt<br />
offen, und weil sie neugierig war, trat sie einfach ein.<br />
Innen war die Hütte nett und einladend, wie außen. Goldlöckchen<br />
ging in die Küche und freute sich. Denn da standen drei<br />
Schüsselchen mit Brei. Und sie war sehr hungrig nach dem Spaziergang.<br />
Zuerst kostete sie aus der größten Schüssel. „Uh, das ist viel zu<br />
heiß!“ sagte sie und spuckte den Brei einfach aus. Dann versuchte<br />
sie es mit der mittleren Schüssel, aber der Brei war ihr zu kalt,<br />
und sie spuckte ihn ungezogen wieder aus.<br />
Schließlich kostete Goldlöckchen aus der kleinsten Schüssel.<br />
Da war der Brei genau richtig, und sie sagte nichts mehr, weil sie<br />
damit beschäftigt war, alles aufzuessen.<br />
Als sie fertig war, wollte sie sich ein bisschen hinsetzen. Im<br />
Wohnzimmer waren drei Stühle. Zuerst setzte sie sich auf den<br />
größten, stand aber gleich wieder auf. „Der Stuhl ist viel zu<br />
hart!“, meckerte sie laut. Dann setzte sie sich auf den mittleren<br />
Die Wahre Geschichte: Schinderhannes<br />
Unerlaubtes getan hatte als gegen wen.<br />
Widerstand war sowieso und insbesondere,<br />
wenn es sich um einen strafbedrohten<br />
Kriminalsachverhalt handelte,<br />
sofort strengstens zu ahnden. Das neue<br />
Straf- und Polizeiregime linksrheinisch<br />
begann sein Netz immer enger zu<br />
ziehen.<br />
Er wich ins Rechtsrheinische aus<br />
und nannte sich nun Jakob Ofenloch.<br />
Er versuchte sich als fahrender Krämer,<br />
aber er konnte nicht genug Geld<br />
erwirtschaften für sich und seine kleine<br />
Familie: Seit Ostern 1800 begleitete<br />
ihm seine Geliebte Juliane Blasius, mit<br />
der er ein Kind gezeugt hatte. Er war<br />
zwar finanziell nicht erfolgreich, aber<br />
großmäulig – die Schergen kamen<br />
näher. Er versuchte, sich der Strafverfolgung<br />
zu entziehen, indem er sich in<br />
die Reichsarmee als Jakob Schweikhard<br />
einschrieb. Aber einer seiner ehemaligen<br />
Komplizen hängte ihn hin, er wurde den französischen Behörden übergeben und mit<br />
Julchen am 16. Juni 1602 nach Mainz gebracht.<br />
Unrühmliches Ende<br />
Dien Anklageschrift umfasste 72 Seiten. In einer sechzehnmonatigen Voruntersuchung<br />
waren ihm <strong>56</strong>5 Fragen in mehreren Dutzend Einzelverhören gestellt worden. In diesen<br />
Verhören verpfiff er weit über 100 Personen -19 davon sollten ihm auf das Schafott folgen.<br />
Keiner, nicht ein Zeuge trat auf, dass ihm der Schinderhannes auch nur ein Geldstück<br />
gegeben hätte. Der Zeugen, die beschworen konnten, dass er sie trotz bitterster Armut noch<br />
beraubt hatte, waren dagegen viele.<br />
Das Urteil stand schon fest, bevor es in der Hauptverhandlung verkündet wurde, denn<br />
es gab schon Einladungen zur Hinrichtung am 21. November 1803. Sein Vater wurde mit<br />
verknackt, starb aber schon am 28. Dezember. Julchen fing sich zwei Jahre Zuchthaus ein<br />
und gebar des Schinderhannes Sohn, Franz Wilhelm, am 1. Oktober. Noch heute leben<br />
Nachkommen in Taunus.<br />
Schinderhannes Kopf fiel – Frankreich war da sehr modern – zusammen mit seinen 19<br />
Spießgesellen unter dem Fallbeil. Seines Leichnams bemächtigen sich die Professoren der<br />
Ecole Superieure in Mainz, die Gebeine gingen verloren. Ein Skelett in der Universität Heidelberg<br />
ist zwar mit Schinderhannes bezeichnet, aber es hat die falsche Größe, einen anderen<br />
Schädel und ihm fehlen bekannte Bruchstellen, die sich Johannes Bückler im Laufe seines<br />
Lebens zugezogen hatte.<br />
Oh, noch was: Es findet sich in den biologischen Sammlungen der Schinderhannes bartelsi.<br />
Das ist eine Tierart, die im Hunsrückschiefer gefunden wurde – ein Anomalocarid. Das<br />
waren marine Lebewesen aus dem Cambrium, schon mit Augen und Kiefern, vermutlich<br />
Fleischfresser und zu dieser Zeit wohl die größten Lebewesen im Meer. Ausgestorben sind<br />
sie seit Millionen von Jahren.<br />
Und nun kennen sie die wahre Geschichte.<br />
Goldlöckchen und die drei Bären<br />
Ein Märchen aus England<br />
Der Schinderhannes<br />
Johannes Bückler<br />
Quelle:<br />
Preussischer<br />
Staatsbesitz<br />
Stuhl und beschwerte sich wieder – der war ihr zu weich. Dann<br />
setzte sie sich auf dem kleinsten Stuhl und fühlte sich rundum<br />
wohl. Doch dann knackste es und mit einem kräftigen Plumps<br />
landete Goldlöckchen unsanft auf dem Boden. Sie war nämlich<br />
viel zu schwer für den kleinen Stuhl. Deshalb war er einfach zusammengebrochen.<br />
„Jetzt muss ich mich aber ausruhen“ meinte Goldlöckchen und<br />
steig die Treppe hoch<br />
ins Schlafzimmer. Dort<br />
standen drei Betten.<br />
Zuerst versuchte sie<br />
das größte Bett. „Das<br />
Bett taugt nichts“,<br />
meckerte sie. „es ist<br />
zu hart zum Springen<br />
und zum Schlafen!“.<br />
Auch das mittlere Bett<br />
gefiel nicht, denn es<br />
war zu weich. Schließlich<br />
versuchte sie das<br />
kleinste Bett und fand<br />
es perfekt und war<br />
auch gleich tief eingeschlafen.<br />
RS
KULTUR<br />
13<br />
Goldlöckchen und die drei Bären<br />
Die gemütliche Hütte aber gehörte drei Bären, die vor dem<br />
Frühstück einen kleinen Spaziergang gemacht hatten. Als sie<br />
nach Hause zurückkehrten, merkten sie, dass da was nicht<br />
stimmte. „Wer hat von meinem Brei gegessen?“ brummte Papa<br />
Bär mit tiefer Stimme. „Und vom meinem?“ wollte Mutter Bär<br />
wissen. „Und wer hat meinen Brei ganz aufgegessen?“ fragte<br />
Baby Bär mit seinem kleinen Stimmchen und war sehr traurig,<br />
weil er ja nichts mehr zu essen hatte.<br />
Verärgert gingen die drei Bären ins Wohnzimmer. „Jemand<br />
hat auf meinem Stuhl gesessen!“ brummte Vater Bär und wurde<br />
ärgerlich. „Auch auf meinem!“, sagte Mutter Bär. „Und meinen<br />
Stuhl hat jemand ganz kaputt gemacht!“, sagte Baby Bär und<br />
fing an zu weinen.<br />
„Kommt mit“, sagte Vater Bär und man schlich die Treppe zum<br />
Schlafzimmer hinauf. „Jemand ist auf meinem Bett herumgesprungen!“<br />
sagte Vater Bär und war jetzt sehr ärgerlich. „Auch<br />
auf meinem Bett!“ sagte Mutter Bär. „In meinem Bett hat jemand<br />
geschlafen – du schaut mal, er ist noch drin!“ rief Baby Bär und<br />
zeigte mit der Pfote. Die Bären brummten bedrohlich.<br />
Da wachte Goldlöckchen auf. Sie sah die sehr böse blickenden<br />
Bären und sprang aus dem Bett und die Treppe hinunter. Dabei<br />
ging – knacks – das kleine Bettchen auch noch kaputt. Schwuppdiwupp<br />
war sie aus der Hütte in den Wald gerannt, nach bevor<br />
jemand „Wer ist denn das?“ sagen konnte.<br />
Mama Bär machte einen neuen Brei für Baby Bär und inzwischen<br />
zimmerte Vater Bär ein neues Stühlchen und ein neues<br />
Bett, ein bisschen größer als die alten Sachen, für Baby Bär. Baby<br />
Bär war nun satt und wieder fröhlich.<br />
Goldlöckchen wagte sich nie wieder in die Nähe der Bärenhütte.<br />
Aber ob sie danach brav und folgsam geworden ist oder weiter<br />
lieber spazieren ging, statt ihrer Mutter zu helfen, weiß man<br />
nicht. Den drei Bären war das jedenfalls egal.<br />
Von Robert Southey<br />
Gesetzmäßigkeit oder Schicksalsironie: ein Straßenmusiker in Frankfurt<br />
Ich habe ihn in einer Unterführung kennen<br />
gelernt. Er spielte Geige mit einem Musikrekorder.<br />
Er hat mich geboten, um seine<br />
Sachen aufzupassen, solange er im REWE<br />
sich einen Eistee holt. Danach habe ich ihn<br />
über Lieblingsorte der Musiker in Frankfurt<br />
gefragt. Es hat sich dabei herausgestellt, dass<br />
er aus der Ukraine kommt. Das Gespräch<br />
ging weiter, über die positiven und negativen<br />
Seiten des Lebens eines Straßenmusikers.<br />
Stellen Sie sich bitte vor. Woher kommen Sie,<br />
wo wohnen Sie?<br />
Ich heiße Igor. Ich komme aus der Ukraine<br />
und bin ukrainischer Bürger. Ich habe<br />
dort Berufsschule für Musik und Universität<br />
für die Kultur in Kiew absolviert. Ich habe<br />
noch nicht angefangen zu arbeiten. So muss<br />
ich jetzt auf der Straße arbeiten und davon<br />
leben.<br />
Wie alt sind Sie?<br />
Ich bin 39.<br />
Wo wohnen Sie?<br />
In Italien.<br />
Haben Sie eine Familie?<br />
Nein, ich bin allein.<br />
Wie sind sie nach Frankfurt gekommen?<br />
Als ich noch Student war, war es viel leichter<br />
mit Visen. Wir sind mit den Freunden<br />
einmal nach Frankfurt gekommen und seitdem<br />
ist das schon mittlerweile ein Brauch<br />
geworden. Einige von ihnen sind hier zum<br />
Arbeiten geblieben. Wir treffen uns manchmal<br />
hier..<br />
Warum haben Sie sich entschlossen, auf der<br />
Straße zu spielen? Wie war Ihr erster Auftritt?<br />
Als ich Student war, fiel es mir leichter,<br />
sich auf die Straße zu stellen. Jetzt habe ich<br />
manchmal Schwierigkeiten damit. Ich musste<br />
damals meine Fahrkarten und Visen abarbeiten,<br />
mit denen ich hierher gekommen<br />
bin.<br />
Also hatten Sie materielle und nicht geistige<br />
Gründe, um auf die Straße zu gehen?<br />
Um auf die Straße zu gehen, motiviert<br />
nicht das Geistige, sondern das Materielle.<br />
Erst später lernt man das Materielle mit dem<br />
Geistigen zu vereinbaren. Das ist notwendig,<br />
wenn man weder sich noch die anderen verstören<br />
will.<br />
Welche Ortsteile von Frankfurt sind für die<br />
Straßenmusiker am interessantesten?<br />
Beliebt sind die Orte, wo die Menschen<br />
langsam laufen. Sie können die Musiker gut<br />
hören und die Musik kann ihre Herzen erreichen.<br />
Die akustischen Musikinstrumente,<br />
wie z.B. Geige und Violine, lassen sich z.B.<br />
neben dem Buchgeschäft auf dem Römer gut<br />
hören.<br />
Sie wollen wahrscheinlich ihre Geheimnisse<br />
nicht ausplaudern, weil dann jemand anderer<br />
ihren Platz besetzen kann.<br />
Die Regeln der Stadt Frankfurt besagen, es<br />
sei nur erlaubt, für je eine Stunde Musik zu<br />
spielen. Deswegen kann jeder dran kommen.<br />
Das ist mit der Rücksicht auf die Ruhe der<br />
Einwohner festgelegt. Es wurden früher viersprachige<br />
Büchlein an die Straßenmusiker<br />
verteilt. In den Unterführungen ist übrigens<br />
die Zeit nicht limitiert.<br />
Woher kommen am Häufigsten die Leute<br />
nach Frankfurt, um zu spielen?<br />
Aus ganzer <strong>Welt</strong>, auch Amerikaner, Spanier.<br />
Sie sprechen kaum Deutsch, haben Sie aber<br />
Italienisch gelernt?<br />
Auch nicht.<br />
Fällt es einem Musiker schwerer, eine<br />
fremde Sprache zu lernen?<br />
Das hängt von der Gabe ab. Ich habe einfach<br />
kein Talent dafür. Einige von den Musikern,<br />
die mit mir gekommen sind, haben die<br />
Sprache gelernt und haben nach dem Konservatorium<br />
andere Berufe realisiert.<br />
Sie wollen sich aber nicht umqualifizieren?<br />
Es ist einfach schon zu spät für mich.<br />
Vielleicht hält Sie etwas Innerliches davon<br />
zurück? Meinen Sie vielleicht, dass die Kunst<br />
eine höhere Mission hat?<br />
Man gewöhnt sich einfach an das Leben.<br />
Daran, dass über einem keiner steht und man<br />
versucht, jegliche Hierarchie zu vermeiden.<br />
Bis zu welchem Alter kann man ein solches<br />
Leben führen?<br />
Ich kenne einen Gitarristen aus Lettland.<br />
Er sagt: Er habe es kaum abwarten können,<br />
bis meine Kinder groß geworden sind. Jetzt<br />
kann er auf die Straße gehen und spielen. Er<br />
ist über 60. Er wohnt im Süden von Italien.<br />
Wie gefällt Ihnen das Publikum in Frankfurt?<br />
Frankfurt ist eine gute Stadt. Die Einwohner<br />
sind musikalisch erzogen und lieben Musik.<br />
Bilder und Interviewe<br />
Yevheniya Genova<br />
Musik wird störend oft empfunden...<br />
dieweil sie mit Menschen verbunden<br />
sind, die oft genug am Rande<br />
der Gesellschaft und darüber hinaus<br />
leben (müssen). Man könnte<br />
mal aus dem Ausland lernen: In<br />
der Pariser Metro sind Straßenmusiker<br />
erlaubt – wenn sie ein<br />
Casting bestehen und der Bettelei<br />
abschwören. So werden die Hörmuscheln<br />
nicht über anstrengt<br />
und die Benutzer der Metro nicht<br />
belästigt. RMF, wäre das nicht mal<br />
eine Idee für euch?
14<br />
Noch bis in die Zeit vor 50 Jahren war es<br />
etwas eher Ungewöhnliches, dass eine Frau<br />
ohne „Herrenbegleitung“ sich auf eine Reise<br />
begab, womöglich ins Ausland oder gar auf<br />
einen anderen Kontinent. Im 19. Jahrhundert<br />
war es kaum denkbar. Genau das tat<br />
aber die Frankfurter Naturforscherin und<br />
Künstlerin Sibylla Merian schon im Jahre<br />
1699 - und ausgerechnet in die unerforschten<br />
Urwälder Südamerikas! Für die damalige<br />
Barockzeit war das eine nie zuvor gehörte<br />
Unglaublichkeit.<br />
Warum tat die Frau so etwas? Nur um unbekannte<br />
Pflanzen und vor allem Insekten zu<br />
erforschen und darzustellen. Insekten interessierten<br />
im damaligen Europa so gut wie<br />
niemanden. Außer Schmetterlingen, Seidenraupen<br />
und Bienen galten fast alle als Schädlinge,<br />
die man am besten totschlug, wo man<br />
sie fand - Maikäfer, Schaben, Flöhe, Zecken<br />
und der ganze Kram.<br />
Frau Merian war einer der ersten Menschen,<br />
der sich seit Jahrhunderten wirklich<br />
dafür interessierte, wie aus einer Raupe ein<br />
Schmetterling wurde, wie sich diese überall<br />
auf der <strong>Welt</strong> millionenfach vorhandenen<br />
Tiere fortpflanzten und für alles, was es sonst<br />
über sie zu wissen geben mochte. Tiere schienen<br />
aller <strong>Welt</strong> nur interessant, wenn man sie<br />
züchten, jagen (wofür nur der Adel zuständig<br />
war) und vor allem essen konnte. Insekten<br />
zählten in Europa Jahrhunderte lang nicht<br />
dazu, obwohl es in den Hungerjahren nach<br />
dem 2. <strong>Welt</strong>krieg auch noch in Deutschland<br />
hier und dort gelegentlich Maikäfersuppe gegeben<br />
hat. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert<br />
hinein waren Insekten aber einfach<br />
kein Thema. Frau Merian war darin die bedeutendste<br />
Vorläuferin Alexander von Humboldts<br />
- und die einzige Frau, die sich so früh<br />
auf diesem Gebiet einen Namen machte.<br />
Wer war diese Frau? Maria Sibylla (sie<br />
schreibt sich wirklich so ungewöhnlich) Merian<br />
wurde 1647 als Tochter des damals berühmtesten<br />
Kupferstechers Matthäus Merian<br />
in Frankfurt geboren. Der Vater stammte aus<br />
Basel und war damals schon über 50 Jahre alt<br />
und in zweiter Ehe mit einer Johanna Sibylla<br />
aus Runkel an der Lahn verheiratet. Nur<br />
drei Jahre später, nach einem bewegten Leben<br />
(Zürich, Straßburg, Nancy, Paris, wiederum<br />
Basel, Niederlande, Frankfurt am Main)<br />
stirbt er in Schwalbach. Die Tochter hat das<br />
Künstler des Monats<br />
Die höchst abenteuerliche Frankfurterin Anna Maria Sibylla Merian<br />
künstlerische Talent des Vaters offenbar geerbt.<br />
Sie übernimmt später zusammen mit<br />
dem gut 25 Jahre älteren Stiefbruder aus des<br />
Vaters erster Ehe den bedeutenden Verlag de<br />
Bry in Frankfurt, der auf Kupferstiche spezialisiert<br />
war.<br />
Das hochbegabte Kind<br />
Die Mutter des Mädchens heiratete nach<br />
dem Tod Matthäus Merians den Maler und<br />
Kunsthändler Jacob Marrel, der die Stieftochter<br />
künstlerisch förderte und ausbilden<br />
ließ, sodass sie schon im Alter von elf Jahren<br />
Kupferstiche verfertigen konnte.<br />
Schon als Kind begann Maria Sibylla Seidenraupen<br />
zu züchten, für Erwachsene damals<br />
in Europa nichts Ungewöhnliches mehr,<br />
um bei teuren Stoffen vom fernen China unabhängig<br />
zu sein. Aber das junge Mädchen<br />
begann sich auch für das Leben der Tiere zu<br />
interessieren und bald für das von anderen<br />
Raupen und zunehmend für Insekten überhaupt.<br />
Rückblickend schrieb sie:<br />
„Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung<br />
der Insekten beschäftigt. Zunächst<br />
begann ich mit Seidenraupen in meiner<br />
Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach<br />
stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupen<br />
viel schönere Tag- und Eulenfalter (so<br />
nannte man damals die Nachtfalter. d.A.)<br />
entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste<br />
mich, alle Raupen zu sammeln, die<br />
ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu<br />
beobachten. Ich entzog mich deshalb aller<br />
menschlichen Gesellschaft und beschäftigte<br />
mich mit diesen Untersuchungen.“<br />
Das ist das, was man empirische Wissenschaft<br />
nennt, Beobachten und Beschreiben,<br />
und was im 17. Jahrhundert die Ausnahme<br />
war, als man sich meist noch damit begnügte,<br />
obskure Bemerkungen von Aristoteles unüberprüft<br />
abzuschreiben, weil diese „Alten“<br />
seit fast 2000 Jahren berühmt waren und<br />
man ihnen blind auch den größten Unsinn<br />
glaubte. (Manche Behauptungen antiker Autoren<br />
hätte durch einfache Beobachtungen<br />
fast jeder Mensch einfach widerlegen können,<br />
aber es gehörte sich nicht, anerkannte<br />
Autoritäten wie Aristoteles anzuzweifeln.<br />
Und die allmächtige katholische Kirche hatte<br />
für exakte Wissenschaften noch nie vielübrig,<br />
bis es einfach nicht mehr anders ging.)<br />
Maniok, Jatropha-Edelfalter und Jacruarú-Echse<br />
Ein unruhiges Leben<br />
Der weitere Lebenslauf von Sibylla Merian<br />
entsprach nicht ganz dem damaligen ruhigen<br />
Bürgertum. Sie heiratete zwar, auch wieder<br />
einen Maler und Kupferstecher, Johann<br />
Andreas Graff. Der Mann war ihr aber in<br />
jeder Beziehung, vor allem künstlerisch weit<br />
unterlegen. 1670 zog sie mit ihm und der<br />
ersten Tochter nach Nürnberg und bestritt<br />
den Lebensunterhalt der Familie zeitweise<br />
fast allein durch Farbenhandel und Gelegenheitsarbeiten.<br />
(In Nürnberg gab es damals<br />
noch alte Gewerbeordnungen, die Frauen<br />
von den meisten künstlerischen Tätigkeiten<br />
ausschlossen. So wie für Frauen überhaupt<br />
Jahrhunderte lang vernünftige Beschäftigungen<br />
geradezu verboten waren, außer einen<br />
Haushalt zu führen oder vielleicht ins Kloster<br />
zu gehen. Aber Kunst oder gar Wissenschaft<br />
- das war völlig verpönt! Europa unterschied<br />
sich darin noch bis vor gut 100 Jahren kaum<br />
von streng islamischen Ländern.)<br />
Sibylla Merian begann sogar, Bücher zu<br />
veröffentlichen, zunächst über die Darstellungen<br />
von Blumen, teils für Schülerinnen,<br />
denen sie Privatunterricht gab. Später, ab<br />
1679 veröffentlichte sie ein eigenes Buch<br />
über Raupen: „Der Raupen wunderbare Verwandlung<br />
und sonderbare Blumennahrung“<br />
- für die damalige schwülstige Zeit mit ihren<br />
oft endlosen Buchtiteln, die manchmal kaum<br />
auf eine Seite passten, ein präziser und knapper<br />
Titel.<br />
Ihre Ehe war nicht glücklich. Der Mann<br />
trank und betrog sie, und nach der Geburt<br />
einer zweiten Tochter verließ sie ihn - auch<br />
das etwas Unerhörtes, aber sie konnte sich<br />
von ihrer Arbeit selbst ernähren - und zog<br />
nach 11 Jahren ohne ihren Mann wieder<br />
nach Frankfurt am Main. Vier Jahre später<br />
zog sie schon wieder um: mit Mutter und<br />
Töchtern in die Niederlande zu Verwandten<br />
- all dies für die damaligen Zeiten und für<br />
eine Frau schon recht abenteuerlich. Aber es<br />
sollte noch toller kommen.<br />
In Holland geriet sie vorübergehend in<br />
die Umgebung einer pietistisch-christlichen<br />
Sekte- so darf man die überstrengen, heute<br />
Korallenbaum und Augenspinner<br />
vergessenen „Labadisten“ wohl nennen -<br />
machte sich damit aber nicht gemein, sondern<br />
kümmerte sich vor allem um die künstlerische,<br />
malerische Ausbildung ihrer Töchter.<br />
Dann entdeckte sie eine Schmetterlingssammlung<br />
aus der holländischen Kolonie<br />
Surinam, manchmal Holländisch-Guyana<br />
genannt, ein Gebiet nördlich von Brasilien.<br />
In Amsterdam schätzte man sie als Blumenmalerin<br />
und Kupferstecherin und Spezialistin<br />
vielleicht noch mehr als in Deutschland.<br />
Die Niederlande waren zu dieser Zeit ein liberales<br />
und weltoffenes Paradies für Künstler,<br />
Wissenschaftler und Philosophen.<br />
Eine gebildete und hochbegabte Frau wie<br />
Sibylla Merian konnte hier in sonst überall<br />
Männern vorbehaltenen Domänen und Zirkeln<br />
gleich berechtigt auftreten. Sie lernte<br />
bedeutende Persönlichkeiten kennen, so den<br />
Leiter des botanischen Gartens. Und sie fasste<br />
den Plan, eine Reise nach Südamerika zu<br />
unternehmen! Sie verkaufte viele Stücke aus<br />
ihren Sammlungen, um das bezahlen zu können.<br />
Eine Reise über den Ozean war damals<br />
ein so teures Unternehmen, dass man es nur<br />
einmal machte - und normalerweise natürlich<br />
überhaupt nicht, schon gar nicht als allein<br />
stehende Frau.<br />
Eine Reise nach Südamerika hieß, auf einem<br />
kaum 30 Meter langen Holzschiff sich<br />
für Wochen dem unbekannten Meer auszusetzen,<br />
umgeben von bärtigen, halbwilden<br />
Matrosen, bei Stockfisch und Rum. (Die Matrosen<br />
der alten Zeit, als es noch Holzschiffe,<br />
Karavellen und dergleichen gab, haben ja<br />
nicht immer Rum oder Gin getrunken, weil<br />
sie alle hemmungslose Saufbrüder waren, das<br />
vielleicht auch, aber der Hauptgrund war<br />
natürlich, dass sich Süßwasser nicht wochenlang<br />
frisch halten ließ, Rum aber schon.)<br />
Nun aber damals, im Februar 1699, als Piraten<br />
eine solche Selbstverständlichkeit waren<br />
wie heute wieder vor Malaysia und Somalia,<br />
und wo genau wie heute große Summen Lösegeld<br />
für große Schiffe und ihre Fracht gezahlt<br />
wurden, machte sich eine Frankfurterin<br />
auf, nach Amerika zu fahren, um Insekten zu<br />
beobachten, Schmetterlinge, Raupen. Man<br />
mag den Kopf schütteln darüber, und viele
Künstler des Monats / Familienseite<br />
15<br />
haben das damals vermutlich getan. Aber die<br />
wenigen kompetenten Naturforscher der damaligen<br />
Zeit bewunderten diese Frau.<br />
Frauen allein im Urwald<br />
Surinam liegt zwischen Guyana und<br />
Französisch-Guyana, was noch heute eine<br />
Kolonie Frankreichs ist. (Von hier werden<br />
die Ariane-<strong>Welt</strong>raumraketen abgeschossen.)<br />
Auf der Landkarte wirkt es klein, ist aber<br />
viermal so groß wie die Schweiz und bestand<br />
200 Jahre nach Kolumbus fast ausschliesslich<br />
aus undurchdringlichen Urwäldern. So gut<br />
wie nichts davon war damals wissenschaftlich<br />
erkundet. Die Tier- und Pflanzenwelt<br />
bestand weitgehend aus in Europa völlig unbekannten<br />
Arten. Das war schließlich auch<br />
200 Jahre später noch in ganz Amerika so, als<br />
Alexander von Humboldt die nach amerikanischen<br />
Verhältnissen in der Nähe liegenden<br />
Flüsse Orinoko und Amazonas erkundete.<br />
Aber er war ein Mann mit weitreichenden,<br />
geradezu diplomatischen Beziehungen, mit<br />
Empfehlungsschreiben an spanische Gouverneure,<br />
Bürgermeister, Vizekönige. Sibylla<br />
Merian reiste nicht in Begleitung eines bekannten<br />
Mannes, sondern in Begleitung ihrer<br />
jüngeren Tochter Dorothea Maria in den<br />
Kontinent des Machismo.<br />
An Mut fehlte es ihr nicht! Die Vorstellung,<br />
dass eine bürgerliche Frankfurterin mit<br />
über 50 Jahren sich in ein völlig unerforschtes<br />
und abgelegenes Tropengebiet begibt,<br />
um dort vor allem Insekten zu erforschen,<br />
hat schon etwas Ungewöhnliches. Sie selbst<br />
schrieb dazu im Vorwort ihres Buches >Metamorphosis<br />
insectorum Surinamensum
16 Unser Ausflugstipp<br />
Ein Blick in die Natur - Teil 3<br />
Im dritten Teil meiner Geschichte, möchte ich über die Geschehnisse im Herbst berichten<br />
Ganz langsam, fast über Nacht, vollzieht sich der Wechsel- der erste Vorbote ist der Frühnebel, der sich über die Landschaft<br />
legt und sich nur gemächlich aufl öst. So nach und nach verfärben sich die Blätter an den Bäumen und Sträuchern.<br />
Überall sieht man Scharen von Zugvögeln auf ihrem Weg Richtung Süden.<br />
Herbst<br />
tIm fahlen Licht der ersten Morgensonne<br />
steigen Nebel in dichten Schwaden über dem<br />
See auf. Hinter den Teichbinsen zeichnen<br />
sich verschwommen die Umrisse der Bäume<br />
ab. Noch schlafen viele Tiere, und tiefe Ruhe<br />
umgibt den bleiernen See. Nur eine Kolbenente<br />
erscheint und gleitet gespenstisch<br />
vorüber. Geräuschlos zerteilt er die glatte,<br />
schimmernde Wasserfläche. Auch unter ihrer<br />
dampfenden Oberfläche wird es ruhiger. In<br />
der Kühle des Herbstes läuft das Leben langsamer<br />
ab. Aus dem Erlengestrüpp lässt ein<br />
Rotkehlchen seine melodische, schwermütige<br />
Weise erklingen.<br />
Besonders im Röhricht der angrenzenden<br />
Feuchtwiese hat sich reichlich Tau niedergeschlagen.<br />
Winzige Wasserperlen hängen in<br />
den Netzen der vielen Spinnen und machen<br />
sie weithin sichtbar. Bewegungsunfähig verharrt<br />
die Mosaikjungfer auf einem Schilfhalm.<br />
Steif vor Kälte ist sie nicht in der Lage,<br />
die glitzernden Tautropfen von ihrem Körper<br />
abzuschütteln. Auch die Stockente schläft<br />
noch im Röhricht. Der Erpel hat sein prächtiges<br />
Hochzeitsgefieder abgelegt und ähnelt<br />
nun dem braungescheckten Weibchen.<br />
Langsam steigen die Nebel<br />
höher, die ersten Sonnenstrahlen<br />
treffen auf den See und<br />
zerreißen die grauen Schleier.<br />
Golden-braun-rote Herbsttöne<br />
der Blätter von Bäumen<br />
und Sträuchern spiegeln sich<br />
in der glatten Oberfläche – eine<br />
Sinfonie gedämpfter Farben.<br />
Die ganze Pracht der Seerosenblätter<br />
ist verschwunden.<br />
Ihre ausgefransten Ränder,<br />
die Fraßspuren der Schnecken<br />
und das welkende Grün lassen<br />
ihre einstige Schönheit nicht<br />
mehr erahnen. Die Wasserlinsen<br />
sinken langsam hinab in<br />
tiefere Wasserschichten. Dort<br />
werden sie die kühle Jahreszeit<br />
verbringen. Die freien Wasserflächen<br />
werden allmählich<br />
größer, und Herbstwinde zerren<br />
an den Resten noch übrig<br />
gebliebener See- und Teichrosenblätter.Die<br />
Rohrkolben<br />
quellen über von Tausenden<br />
winziger Samen, die mit einem haarigen<br />
Flugorgan ausgestattet sind. Wie lockere<br />
Wattebäusche haften sie noch eine Weile am<br />
Kolben, bis sie in der kühlen Herbstluft oft<br />
über große Entfernungen verdriftet werden.<br />
Auch tanzen kleinere Wolken der Distelwolle<br />
durch die Lüfte oder treiben auf der Wasseroberfläche<br />
davon. Gen Süden ziehende Scharen<br />
von Stieglitzen fallen im Röhricht ein,<br />
angelockt vom reichen Angebot der Samen:<br />
leuchtend gelbe und rote Farbkleckse inmitten<br />
der trockenen, absterbenden Schilfhalme.<br />
Große Mosaikjungfern patrouillieren<br />
majestätisch am<br />
Ufer und bewachen<br />
ihr Revier.<br />
Bei Vorüberfliegen<br />
ist das Rascheln<br />
ihrer Flügel deutlich<br />
zu hören. Aus<br />
der Luft erbeuten<br />
sie Köcherfliegen,<br />
Schwebfliegen oder<br />
Schmetterlinge,<br />
deren Flügel jetzt<br />
schon stark abgewetzt<br />
sind. Beute<br />
gibt es immer noch<br />
im Überfluss.<br />
Schwalben<br />
schießen anmutig<br />
flach über die Wasseroberfläche, um nach<br />
frisch geschlüpften Stechmücken zu schnappen.<br />
Ihre Jungen haben schon die Flucht vor<br />
dem drohenden Winter die lange Reise nach<br />
Süden angetreten. Ihre Eltern verweilen noch<br />
eine Weile bei uns, bis die ersten eiskalten<br />
Nächte den Strom der nachrückenden Insekten<br />
abreißen lassen.<br />
Viele Insekten versuchen dem drohenden<br />
Tod zu entgehen. Bevor zahlreiche Wasserinsekten<br />
selbst sterben, sicherten sie das Weiterleben<br />
ihrer Art. Sie haben Eier oder Larven<br />
hervorgebracht, die, gut ausgerüstet, den<br />
Winter überstehen werden, um in den ersten<br />
warmen Frühlingstagen zu neuen Leben zu<br />
erwachen. Manche Wasserkäferlarven verlassen<br />
das Wasser sogar und graben sich in der<br />
schlammigen Uferböschung ein. Dort verpuppen<br />
sie sich, und bis zum Frühjahr verwandeln<br />
sie sich unmerklich in einen, neuen<br />
glänzenden Käfer.<br />
Noch ist das Leben nicht völlig verstummt.<br />
An warmen Tagen geben sich die<br />
Frösche und Kröten ein letztes Stelldichein.<br />
Von der schwächer werdenden Sonne lassen<br />
sie sich ein letztes Mal erwärmen – ständig<br />
auf der Lauer nach vorüberfliegenden Insekten.<br />
Wird es aber kälter, verlangsamen sich<br />
ihre Bewegungen, und sie werden dann eine<br />
leichte Beute für die Graureiher. Bald müssen<br />
sie geeignete Schlupfwinkel unter Steinen<br />
oder Laubhaufen aufsuchen, und sicher vor<br />
Feinden fallen sie in die Winterstarre.<br />
Gerade jetzt, in der kühlen, feuchten Witterung,<br />
entfalten viele Moose ihre stärkste<br />
Lebenskraft. Als samtweiche, grüne Polster<br />
überziehen sie ganze Uferböschungen.<br />
Sie treiben gestielte Kapseln aus, in denen<br />
Tausende winziger Sporen gebildet werden.<br />
Unsichtbar für uns, werden sie an der Spitze<br />
der Sporenkapsel ausgeschüttelt. Umherstreifende<br />
Buch- und Grünfinkenscharen lassen<br />
sich zu einem kleinen Bad in den Pfützen am<br />
Ufer nieder, bevor sie erneut nach Sämereien<br />
Ausschau halten.<br />
Mit Macht entlauben jetzt die Herbststürme<br />
die Kronen der Bäume. Deren Stämme<br />
ragen nun düster und kahl in den Himmel.<br />
Die letzten goldgelben Blätter tanzen noch<br />
im Wind, bevor sie langsam zu Boden schaukeln<br />
und sich im Windschatten alter Bäume<br />
ansammeln. Plötzlich taucht aus dem Nichts<br />
ein orangeroter Fliegenpilz zwischen den<br />
Moospflanzen auf – ein leuchtender Fleck<br />
inmitten absterbender Pflanzen. Wenn die<br />
Herbststürme die kalte Jahreszeit einleiten,<br />
treffen neue Gäste am See ein. Zahlreiche<br />
Vogelarten rasten hier für ein paar Stunden<br />
oder Tage, bis sie mit frischen Kräften weiter<br />
nach Süden in ihre Winterquartiere ziehen.<br />
Friert es, erlischt auch das letzte Leben in<br />
den Blättern und Stängeln der Uferpflanzen.<br />
Doch nur die oberirdischen Triebe sterben<br />
ab. Rechtzeitig haben die Pflanzen lebenswichtige<br />
Nährstoffe in Wurzel und Knollen<br />
eingelagert – ausreichend um im kommenden<br />
Frühling sofort wieder austreiben zu<br />
können. Trockene und brüchige Halme werden<br />
nun Opfer von Wind und Wellen.<br />
Aber auf düstere, stürmische Tage folgen<br />
wieder frische, sonnige Tage, in denen nochmals<br />
für Augenblicke die ganze Farbenpracht<br />
aufflackert. Rasch aufeinander folgende und<br />
ineinander übergehende Töne goldener,<br />
orange, brauner und grüner Farben durchfluten<br />
die Wasseroberfläche.<br />
Nur eine Phase der Ruhe und der Erneuerung<br />
ist eingekehrt in Erwartung und Hoffnung<br />
auf die Wiederkehr der wärmenden,<br />
Leben spendenden Frühlingssonne.<br />
Ich hoffe Sie auch wieder zum letzten<br />
Teil meiner Geschichte, dem Winter, begrüßen<br />
zu dürfen.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Aribert Kirschner