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Nr. 56 - Soziale Welt

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Ausgabe: November 2009<br />

Seite<br />

4<br />

Politische Aktionen<br />

in harten Zeiten<br />

Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>56</strong> Euro 1,80<br />

Mitglied i im „International n t n a Network of Street Papers“ INSP<br />

Rohrkrepierer!<br />

Seite<br />

6<br />

Die Neujustierung<br />

des Politischen<br />

Seite<br />

10<br />

Werkstatt Frankfurt<br />

Seite<br />

12<br />

Die Wahre Geschichte<br />

Schinderhannes<br />

Das Osloer Nebelkomitee<br />

hat überraschend<br />

den US-Präsidenten<br />

Barack Obama<br />

zum Nobelpreisträger<br />

für 2009 erklärt und<br />

damit international<br />

Staunen und Befremden<br />

ausgelöst. Es wird<br />

mehr über die Motivation<br />

des Nobelpreiskomitees<br />

gestritten als<br />

über die Frage, ob denn<br />

beim amerikanischen<br />

Präsidenten überhaupt<br />

eine Friedenspolitik<br />

sichtbar sei.<br />

Eine kleine Umfrage<br />

unter <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong> Leser ergab ein Bild, das<br />

zwar nicht als repräsentativ gelten darf, aber<br />

die Stimmung zu dieser Entscheidung gut<br />

wiedergibt: Einmal ein erstauntes „Der hat<br />

doch noch gar keine Zeit gehabt, was zu leisten“,<br />

neunmal ein Klares „Wofür denn? Der<br />

hat noch nichts geleistet“, einmal „Der wird<br />

auch nichts leisten“ und einmal ein grobes<br />

„Wenn ein Amerikaner den Friedensnobelpreis<br />

bekommt, warum dann nicht auch<br />

Adolf Hitler?“<br />

Auf Vergabe und Annahme reagierte die<br />

Öffentlichkeit sehr zurückhaltend. Mehrere<br />

Friedensnobelpreisträger bezeichneten sie als<br />

verfrüht, so auch Lech Walesa. Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel gratulierte merkwürdig<br />

schmallippig: Obamas größter Verdienst sei<br />

es, ein etwas anderes Klima in die internationalen<br />

Verhandlungen gebracht zu haben.<br />

Das offizielle Organ des Vatikan, der Osservatore<br />

Romano, kritisierte die bislang von<br />

dem US-Präsidenten getroffenen Entscheidungen<br />

und befand es als schwierig, ihn als<br />

Pazifisten zu bezeichnen. Schwedens Dagens<br />

Nyheter befand, das Nobelkomitee haben<br />

Barack Obama einen Bärendienst erwiesen<br />

und würden die bereits jetzt unrealistischen<br />

Erwartungen an seine Person noch mehr<br />

zum Unerfüllbaren steigern. Eine Meinung,<br />

die ausgesprochenen, oder unausgesprochen<br />

weltweit geteilt wird. In Amerika wird je<br />

nach Parteizugehörigkeit gejubelt oder verdammt<br />

– das ist nichts Neues. Einhellig ist<br />

man der Meinung, dass das Nobelpreisko-<br />

mitee mit der Preisvergabe<br />

das Ziel verfolge,<br />

Barack Obama auf einen<br />

bestimmten Kurs<br />

festzulegen, was weder<br />

rechts noch links goutiert<br />

wird. Die Gräben<br />

sind für den US-Präsidenten<br />

noch tiefer geworden.<br />

Im Senat spitzt<br />

man die Bleistifte, um<br />

die nächsten Vorlagen<br />

des Präsidenten abzuschießen<br />

oder unmögliche<br />

Randbedingungen<br />

draufzusatteln. Und<br />

natürlich steht genau<br />

jetzt eine Entscheidung<br />

über mehr Soldaten für Afghanistan<br />

an. Aus der Sicht des US-Präsidenten<br />

notwendig für den eingeschlagenen Kurs<br />

zu Sieg und Rückzug – aus der Sicht eines<br />

Friedensnobelpreisträgers extrem bedenklich.<br />

Der US-Präsident hat einen schweren<br />

Stand und wird nunmehr im eigenen Land<br />

beargwöhnt. Unqualifiziertes Jubelgeschrei<br />

aus Europa erschwert die von ihm erwartete<br />

Politik. Für manche Menschen (und<br />

manche Preise) wäre es besser gewesen, die<br />

Auszeichnung abzulehnen.<br />

RS<br />

Bild: locatealawyer.com<br />

Deutsche Kinder ärmer als italienische und griechische Kinder!<br />

Seite<br />

14-15<br />

Anna Maria Sibylla<br />

Merian<br />

Seite<br />

16<br />

Ein Blick in die Natur<br />

Teil 3<br />

Die OECD<br />

hat eine Studie<br />

über die<br />

Lebensqualität<br />

von Kindern<br />

in den Wohlstandsländern<br />

der Erde vorgelegt.<br />

Peinlich<br />

für Deutschland:<br />

Im internationalen<br />

Vergleich ist<br />

hierzulande die Kinderarmut sehr hoch.<br />

Immerhin 16,3% aller Kinder leben in<br />

Deutschland in Familien mit relativ geringem<br />

Einkommen, ebenso viel wie in Irland.<br />

Nur Portugal, Spanien und Polen von den<br />

EU-Staaten haben noch höhere Prozentzahlen,<br />

alle anderen EU-Staaten liegen besser als<br />

Deutschland. Fast jedes sechste Kind lebt in<br />

Deutschland in Armut, im OECD-Durchschnitt<br />

nur jedes achte. Dabei gibt Deutschland<br />

je nach Altersgruppe 10-20% mehr<br />

Geld für Bildung, Dienstleistungen und direkte<br />

Finanztransfers für Kinder aus als der<br />

Durchschnitt der OECD-Staaten. Doch das<br />

Geld kommt einfach nicht bei den Kindern<br />

an.<br />

„Deutschland<br />

sollte seine<br />

Transfers<br />

stärker auf bedürftige<br />

Kinder<br />

konzentrieren“,<br />

meint<br />

Monika Queisser,<br />

Leiterin<br />

der Abteilung<br />

Sozialpolitik<br />

der OECD.<br />

Die Mittel für Kinder fließen in die allgemeine<br />

Finanzdisposition<br />

der Familien ein,<br />

für Bildung und Betreuung<br />

ist kein Geld<br />

da.Wie nicht anders<br />

zu erwarten, ist das<br />

Armutsrisiko besonders<br />

groß bei Alleinerziehenden.<br />

40%<br />

dieser Familien gelten<br />

als arm nach OECD-<br />

Definition.<br />

Zum Vergleich: Im<br />

Durchschnitt sind es<br />

nur 30%.<br />

Der Anteil der Kinder, die in Familien<br />

mit Alleinerziehenden aufwachsen, entspricht<br />

mit 18% dem üblichen Wert aller<br />

OECD-Länder. Im direkten Vergleich aller<br />

der 200 Seiten starken Studie bewerteten<br />

Kriterien kommt Deutschland nur im Gesundheitsbereich<br />

gut weg. Dagegen wird<br />

der schulische Bereich und insbesondere<br />

der Abstand zwischen guten und schlechten<br />

Schülern sehr stark bemängelt.<br />

RS<br />

Bilder: Bundestag.de


2<br />

P O L I T I K<br />

Wahl vorbei – Probleme bleiben<br />

Die Bundestagswahl hat ein eindeutiges Ergebnis gebracht: die viel beschworene Mehrheit links<br />

von der Mitte gibt es nicht. Dazu fehlen über eine Million Stimmen. Doch auch bei Schwarz/<br />

Gelb mag sich die richtige Jubelstimmung nicht einstellen: Zu klein sind die Handlungsspielräume,<br />

zu drängend die Probleme. Zu einer schnellen Regierungsbildung wird es reichen, zu Absichtserklärungen<br />

hinsichtlich der Überarbeitung der von Anfang an verfehlen Hartz IV-Regelung hat<br />

es schon gereicht. Doch beim Entwurf des Haushalts 2010 wird es zum Schwur kommen. Eine<br />

Wahl beseitigt vielleicht die Schuldigen, aber nicht das Problem.<br />

Warnschüsse vor den Bug gab es schon:<br />

Die Wirtschaftsweisen haben gegrollt und<br />

verlauten lassen, dass es gegenwärtig keinen<br />

Spielraum für eine Steuersenkung gäbe. Aus<br />

Brüssel kam der deutliche Hinweis, dass eine<br />

Staatsverschuldung über die Euro-Vereinbarung<br />

gegebenenfalls mit Strafe belegt würde.<br />

Das allerdings betrifft andere Staaten der EU<br />

genauso. Brüssel wird in Laufe des Jahres<br />

sehr fantasievolle Haushaltsentwürfe vorgelegt<br />

bekommen, nicht nur aus Portugal und<br />

Griechenland, sondern vor allen Dingen<br />

aus Frankreich und eben auch Deutschland.<br />

Hierzulande hat man die Haushaltsrisiken in<br />

einen Sonderhaushalt abgedrängt, was auf<br />

die Dauer nicht statthaft sein wird. Aus diesem<br />

Sonderhaushalt werden sich Garantieerklärungen<br />

des Staates in Zahlungsverpflichtungen<br />

verwandeln,<br />

die unter Heulen<br />

und Zähneklappern<br />

in echtem Geld<br />

ausgezahlt werden<br />

müssen.<br />

Schwarz / Gelb<br />

hat eine Reihe von<br />

Problemen, die mit<br />

schönen Worten<br />

nicht gelöst werden<br />

können: die Folgen<br />

der Bankenkrise<br />

müssen bewältigt,<br />

die Konjunktur angekurbelt,<br />

Beschäftigung<br />

gesteigert,<br />

Steuerverschwendung<br />

gestrichen<br />

und schließlich das<br />

Gesundheitssystem<br />

total renoviert werden.<br />

Und auch bei<br />

der Außenpolitik<br />

ist man keineswegs<br />

so einig wie nach<br />

Außen postuliert: Guido Westerwelle übt auf<br />

Staatsmann, die Kanzlerin möchte Außenpolitik<br />

lieber alleine betreiben – Steinmeier<br />

weiß ein Trauerliedchen davon zu singen.<br />

Nur ein paar Hinweise: Die Ankündigungen<br />

in Sachen Hartz IV sind löblich, aber<br />

was macht der arme Mensch, den die Jobagentur<br />

schon dazu gezwungen hat, seine Altersvorsorge<br />

aufzulösen oder sein Häuschen<br />

zu verkaufen? Bleibt es beim „Pech gehabt“<br />

oder wird die Nachbesserung schon wieder<br />

nachgebessert, bevor sie noch in Kraft getreten<br />

ist?<br />

Die Möglichkeit, neben Hartz IV künftig<br />

Nebeneinkünfte zu erwirtschaften, kippt<br />

vollständig die bisherige Arbeitsmarktpolitik<br />

der Un<strong>Soziale</strong>n Partei Deutschlands. Minijobs<br />

und Lohnausgleich über Wohngeld,<br />

Münteferings Hinterlassenschaft als Arbeitsminister,<br />

werden künftig von der arbeitenden<br />

Bevölkerung hohnlachend zurückgewiesen<br />

werden. Ganz klar macht die künftige Regelung<br />

eine Steuerreform unabdingbar, damit<br />

sich Leistung auch wirklich lohnt.<br />

Und wo, bitteschön, ist der strafbedrohte<br />

Unterschied zwischen dem Verbot sittenwidriger<br />

Niedriglöhne und einem vorgeschriebenen<br />

Mindestlohn? Wer legt denn fest, was ein<br />

sittenwidriger Lohn ist? Tarifverträge, die Jobagentur<br />

oder irgendein Richter nach Tageslaune?<br />

Auf die Antwort darf man gespannt<br />

sein.<br />

Weiter: Die FDP ist der Meinung, dass<br />

der Gesundheitsfonds gescheitert und darüber<br />

hinaus pleite ist. Wahrscheinlich hat sie<br />

damit recht. Die CDU, an der Schaffung dieses<br />

Monstrums beteiligt, mag nichts zugeben<br />

und steckt den Kopf in den Sand.<br />

Und noch ein Anekdötchen: Sehr viele<br />

sind schon sehr gespannt darauf, ob und<br />

wie ein Außenminister Guido Westerwelle<br />

der chinesischen Regierung erklären wird,<br />

dass er selber als FDP-Vorsitzender jede Entwicklungshilfe<br />

für die fernöstlichen Exportweltmeister<br />

gestrichen hat. Zumindest hatte<br />

er das seit Jahren und insbesondere auch<br />

im Wahlkampf immer wieder als Beleg für<br />

Haushaltssparmöglichkeiten angeführt.<br />

Amtliches Endergebnis für die Bundestagswahl 2009<br />

Ob Schwarz / Gelb erfolgreich sein wird,<br />

das wird sich zeigen. Langweilig wird es jedenfalls<br />

nicht werden.<br />

Die größte Partei<br />

waren die 18 Millionen Nichtwähler. Die<br />

Wahlbeteiligung ist erneut um 6,8 % auf<br />

hauchdünn über 70% abgesunken. Vor allem<br />

SPD- Wähler sind zu Hause geblieben. Der<br />

Ruf der Politiker ist noch schlechter als der<br />

von Gebrauchtwagenhändlern. Hier kommt<br />

eine Aufgabe auf alle demokratischen Parteien<br />

zu, um die Bürger wieder politisch zu<br />

interessieren. Hinweise, dass die Wahlbeteiligung<br />

in anderen Staaten, insbesondere den<br />

USA, noch weit unter dem deutschen Ergebnis<br />

liege, gelten nicht. Es kann nicht angehen,<br />

dass Wahlverweigerung zur Norm wird<br />

und die Nichtwähler mehr Stimmen haben<br />

als die Regierungsmehrheit!<br />

Prognosen und Spekulationen<br />

Was ist schneller als Raumschiff Enterprise<br />

bei Maximum Warp? Antwort: die SPD bei<br />

Personalentscheidungen nach einer verlorenen<br />

Wahl!<br />

Eilends hat man eine neue Parteispitze<br />

etabliert. Eine neue Verlierermannschaft<br />

setzt das SPD-Projekt 18 fort. Statt Analyse<br />

und Entscheidungen nur neue Gesichter,<br />

die obendrein noch vorbelastet sind – das<br />

ist einfach zu wenig. Wenn man sich schon<br />

als sozialdemokratische Partei wieder neu<br />

definieren will, geht das einfach nicht ohne<br />

harte Entscheidungen. Man kann keinem<br />

Bundesbürger gegenüber Hartz IV als soziale<br />

Großtat der SPD propagieren und soziale<br />

Gerechtigkeit fordern. Das ist einfach nicht<br />

glaubhaft, wie die Wahlergebnisse deutlich<br />

zeigen. Und auch in der Haltung gegenüber<br />

der Linken muss Farbe bekannt werden:<br />

entweder Kampf bis aufs Messer durch eine<br />

tatsächlich wieder sozial ausgerichteten SPD<br />

oder windelweiche Koalitionen mit Altkommunisten<br />

und Tagträumern.<br />

Die Linke lebt genüsslich von der Krise<br />

der SPD. Das<br />

aber ist auf Dauer<br />

einfach zu wenig.<br />

Und Oskar hat mal<br />

wieder die Flatter<br />

gemacht, wie schon<br />

öfter, wenn tatsächlich<br />

Verantwortung<br />

droht. Wahrscheinlich<br />

sitzt er in Saarbrücken<br />

und bastelt<br />

an der nächsten<br />

Partei.<br />

Grün konnte<br />

zwar nicht Schwarz<br />

/ Gelb verhindern,<br />

wohl aber Oskar<br />

als saarländischen<br />

Ministerpräsidenten.<br />

Dies sehr zum<br />

Ärger von Künast<br />

und Trittin, den<br />

Mühlsteinen um<br />

den Hals dieser Partei.<br />

Jetzt will man<br />

einen Neuanfang<br />

durch eine linkere Ausrichtung suchen. Das<br />

kann nicht gut gehen. Binsenweisheit: Wenn<br />

sich drei Streithähne um Pfennige streiten,<br />

geht ein Anderer lachend mit der Mark weg.<br />

Noch dazu scheint man bei den Grünen<br />

nicht zu begreifen, dass sich ihre Art der ökologischen<br />

Ausrichtung schlicht und einfach<br />

erledigt hat. Jede andere Partei ist mittlerweile<br />

genauso ökologisch wie der Grünen. International<br />

sind die heiligen Kühe der Grünen<br />

überhaupt kein Thema mehr. Wenn die Erde<br />

eine Zukunft haben soll, dann wird sie ökologisch<br />

sein, aber nicht grün. Die <strong>Welt</strong> der<br />

Zukunft ist blau. Greenpeace weiß es schon,<br />

Trittin wird es nie lernen.<br />

RS<br />

Klares Votum,<br />

unklare Botschaften<br />

Mit dem Sieg von Schwarz-Gelb endete<br />

einer der uninspierertesten Wahlkämpfe, die<br />

die Bundesrepublik in sechzig Jahren gesehen<br />

hat. Wahlplakate, zum Verwechseln ähnlich;<br />

fast wortgleiche Botschaften; viele Köpfe,<br />

davon sehr viele völlig unbekannt und die<br />

meisten Anderen dem politischen Gegner<br />

herzlich zuwider<br />

Gekrönt wurde der „Wahlkrampf“ durch<br />

eine Fernsehdiskussion zwischen Merkel und<br />

Steinmeier, die die volle Qualität eines Gütetermins<br />

beim ländlichen Scheidungsrichter<br />

hatte. CDU und CSU gaben Lippenbekenntnisse<br />

zu einer neuen Konstellation ab, wären<br />

aber nach dem Eindruck, der vermittelt wurde,<br />

auch durchaus mit einer Fortsetzung der<br />

großen Koalition einverstanden gewesen.<br />

Die linke Seite der Politik war sich nur in<br />

einem einig: Schwarz-Gelb muss verhindert<br />

werden. Und sonst in nichts, nicht einmal in<br />

der Koalitionsfähigkeit miteinander. Aber wie<br />

das in der Strategie nun mal bekannterweise<br />

immer ist, sind Negativziele viel schwerer zu<br />

erreichen als Positivziele. Rot-Röter-Grün<br />

wurde nicht nur von der SPD abgelehnt,<br />

auch die Bevölkerung empfand dies als keine<br />

Wende, sondern als weitere Fortsetzung<br />

einer verfehlten Politik. Schwarz-Gelb hatte<br />

wenigsten einer Prediger für einen Neuanfang,<br />

wenn auch Westerwelle sich mehr als<br />

Rufer in der Wüste gefühlt haben muss; die<br />

Kanzlerin und insbesondere der bayerische<br />

Ministerpräsident waren nicht gerade hilfreich<br />

und mussten einen leichter Dämpfer<br />

hinnehmen<br />

.<br />

Ganz schlimm waren die Wahlslogans.<br />

Die CDU faselte von Kraft, die Deutschland<br />

fehle – der deutschen Politik fehlt es aber an<br />

Hirn. Steinmeier plakatierte, dass Deutschland<br />

mehr könne – fragt sich nur, warum er<br />

es in vier Jahren Regierungsbeteiligung nicht<br />

verwirklichen konnte. Die FDP, fast peinlich<br />

wortgleich, plakatierte Deutschland kanns<br />

besser. Das werden sie jetzt zeigen müssen.<br />

Grün war ohne Ideen, die Linke hängte<br />

Slogans von unerreichter Länge auf. So anziehend<br />

und so wortreich wie das Motto zu<br />

einem Parteikongress der SED – und genauso<br />

glaubhaft<br />

Während der ganzen langweiligen Veranstaltung<br />

musste ich an zwei Figuren aus der<br />

Augsburger Puppenkiste denken. Querro<br />

und Quarro sind zwei üble Erdmännchen<br />

in Kleiner König Kalle Wirsch. Sie zeichnen<br />

sich dadurch aus, dass sie ständig Klimmzüge<br />

machen und gegenseitig im Streit sind, wer<br />

denn die meiste „Kwaft“ habe. Natürlich<br />

geht das schief – sie enden besiegt.<br />

Denn „Kwaft“ ist uninteressant.<br />

Neue Ideen braucht das Land.<br />

Nun macht mal schön, in Abwandlung<br />

von einem berühmten Ausspruch von<br />

Theodor Heuss.<br />

RS


NACHRICHTEN 3<br />

Straßenzeitungen – eine publizistische Revolution weltweit<br />

Glasgow, The Big Issue Scotland<br />

- 1991 kam in London die erste Ausgabe<br />

der Big Issue auf die Straßen. Nicht das erste<br />

Objekt einer sozialen Einrichtung oder einer<br />

Obdachlosenzeitschrift, aber Ausgangspunkt<br />

einer Bewegung, die heute über 100 Publikationen<br />

in 37 Ländern auf fünf Kontinenten<br />

umfasst. „Big-Issue“ Pionier John Bird hatte<br />

diesen Erfolg<br />

nicht vorausgesehen.<br />

Aber gleich<br />

beim Start 1991<br />

kam Besuch aus<br />

Europa und Nordamerika.<br />

Auch<br />

dort war Obdachlosigkeit<br />

ein<br />

Problem, und<br />

auch dort sollte<br />

die Formel für<br />

eine Zeitung,<br />

die von Obdachlosen auf der Straße verkauft<br />

wird, umgesetzt werden. Diese Formel gilt<br />

sowohl für die Vertriebsweise als auch für die<br />

Inhalte: Vertrieb als Lebens- und Existenzhilfe<br />

für Obdachlose, Redaktion als Stimme für<br />

die Schwachen und Marginalisierten.<br />

Seit 1994 hat Big Issue eine internationale<br />

Abteilung und war an der Gründung von<br />

INSP, dem International Network of Street<br />

Papers, maßgeblich beteiligt. Schon sehr früh<br />

hat man festgestellt, dass eine Straßenzeitung<br />

die sozialen Belange lokal adressieren muss.<br />

Folglich entstanden Big Issue Ausgaben in<br />

Schottland, Wales und Nordengland. Auch<br />

in Belgien und Frankreich kamen schon<br />

1993 Straßenzeitungen nach diesem Modell<br />

als INSP-Mitglieder auf den Markt. Der<br />

Name The Big Issue wird sehr oft in Ländern<br />

eingesetzt, die englischsprachige Traditionen<br />

haben, wie Südafrika, Australien, Sambia,<br />

und Malawi. Aber es gibt auch eine Big Issue<br />

Japan. In vielen Sprachen lässt sich der<br />

Begriff Big Issue nicht gut übersetzen, und<br />

viele Zeitungen haben eigene Namen gefunden,<br />

wie die SOZIALE WELT in Frankfurt.<br />

Der derzeitige Chairman von INSP, Serge<br />

Lareault, gehört zu der Zeitung L´Itineraire<br />

aus Montreal. Er sagt: „Das Grundmodel von<br />

The Big Issue war großartig, aber es musste<br />

auf viele unterschiedliche Arten umgesetzt<br />

werden. In Nordamerika beispielsweise werden<br />

viele Zeitschriften von wohltätigen Organisationen<br />

betrieben, und die Verkäufer<br />

schreiben viele Beiträge. Aber der wesentliche<br />

Einfluss auf uns alle ist die Ausrichtung auf<br />

professionelles Verhalten in allen Belangen<br />

einer Zeitung.“<br />

Fußball gegen Hoffnungslosigkeit<br />

Lusaka, Sambia, IPS - Chibolya ist eine<br />

verwahrloste Wohngegend in der sambischen<br />

Hauptstadt Lusaka, in die sich selbst hartgesottene<br />

Polizisten kaum hinentrauen. Doch<br />

genau hier hat Patrick Lubinda die Fußballmannschaft<br />

Chibolya Queens gegründet, um<br />

speziell den Mädchen im Viertel eine Perspektive<br />

zu geben. Es fehlt an allem, selbst<br />

an Trikots und Fußbällen. „Nur die wenigsten<br />

Teams besitzen Fußbälle. So müssen die<br />

Mädchen oft kilometerweise laufen, um sich<br />

Bälle auszuleihen.“ In Sambia gibt es mehr als<br />

zwei Millionen Aidswaisen, von denen nach<br />

offiziellen Angaben 750.000 auf der Straße<br />

leben. Nur für 135.000 von ihnen gibt es<br />

staatlich finanzierte Jugendförderprogramme<br />

mit Ausbildung und sozialer Betreuung. Der<br />

Rest ist auf Eigeninitiative und private Hilfe<br />

wie zum Beispiel durch die Fußballmannschaft<br />

angewiesen, um eine wenn auch kleine<br />

Perspektive zu haben.<br />

Nach 90 Jahren wieder Zeltlager?<br />

Sacramento, CA – während die Rockband<br />

Papa Roach ihre neue Platte aufnahm, hat<br />

der Bürgermeister der kalifornischen Hauptstadt<br />

die Obdachlosen aus ihren Unterkünften<br />

vertreiben. Die Unterkünfte wurden<br />

geschlossen, eine große Zahl obdachloser<br />

Bürger stand auf der Straße. Der Bürgermeister,<br />

folgend dem Druck der Medien, öffnete<br />

ein altes Veranstaltungsgelände und ließ die<br />

Obdachlosen dort kampieren – solange die<br />

Presse da war. Danach wurde dieses zeitweilige<br />

Refugium wieder geschlossen. Die<br />

Organisation „Loaves and Fishes“, zu denen<br />

auch Papa Roach Lead Man Jacoby Shaddix<br />

gehört, fand ein Gesetzesloch. Ein viel beachteter<br />

Marsch, ähnlich den Hungermärschen<br />

der großen Depression in 1929, zum neuen<br />

Gelände fand statt. Auf dem neuen Gelände<br />

kann ein hoffentlich permanentes Lager aufgeschlagen<br />

werden. Wenigstens gibt es reines<br />

Trinkwasser und sanitäre Möglichkeiten. Jacoby<br />

Shaddix von Papa Roach, eine Metal<br />

Band mit mittlerweile sechs erfolgreichen<br />

Platten, stammt selbst aus einer Familie, die<br />

Obdachlosigkeit erfahren hat. Sein Vater sei<br />

durch Vietnam zerstört worden „Es klingt<br />

lächerlich, aber zuweilen haben wir sogar in<br />

einem Tipi gelebt“. Nicht nur Junkies, Geisteskranke<br />

und Verwahrloste verlieren ihre<br />

Wohnung, meint Shaddix: „Das sind ganz<br />

normale Amerikaner der Arbeiterklasse. Viele<br />

davon sind Vietnamveteranen, und zu diesen<br />

fühle ich eine große persönliche Verbundenheit.“<br />

Im Geist von 76<br />

Kapstadt, Südafrika / Big Issue South Africa<br />

- im Aufstand gegen Apartheid und rassische<br />

Unterdrückung haben die Schulkinder<br />

seinerzeit eine große Rolle gespielt. Doch die<br />

Benachteiligung der Kinder aus den Townships<br />

hat sich in 14 Jahren nicht wesentlich<br />

gebessert. Im Township Khayelitsha, so die<br />

Organisation Equal Education, haben lediglich<br />

3 von 53 Grundschulen so etwas wie<br />

eine funktionierende Bibliothek. Das dürfte<br />

kein Einzelfall sein. „Wir beziehen uns auf<br />

die Verfassung“, so Josliwa Dwayne, einer der<br />

Gründer. „Recht auf Gleichheit, Menschenwürde<br />

und Ausbildung für alle. Wir wollen<br />

keine Gutachten abliefern, sondern eine Basis<br />

für Aktion aufbauen.“ Alle normalen Proteste<br />

bei der Schulverwaltung und der Regierung<br />

sind bis jetzt fruchtlos verlaufen. In vielen<br />

Schulen gibt es zwar inzwischen Räume,<br />

insbesondere in den Neubauten. Doch diese<br />

sind leer – es gibt keine Bücher, keine Fotokopierer,<br />

keine Computer und insbesondere<br />

keine Mittel. Um diesem Mangel abzuhelfen,<br />

fanden am 22. September, dem Jahrestag einer<br />

ähnlichen Demonstration im Jahr 1976,<br />

ein Marsch der Schulkinder zum südafrikanischen<br />

Parlament statt. Bekannte Autoren<br />

haben an diesem Marsch teilgenommen mit<br />

dem Verlesen von Teilen ihrer Werke.<br />

Katastrophe nach der Katastrophe<br />

New Orleans / Making Change – nach<br />

dem Orkan Katrina sind Fehler in der Notfallorganisation<br />

offenbar geworden, die infolge<br />

staatlicher Inaktivität wohl auch an<br />

anderen Orten bei den unvermeidlichen<br />

Wetterkatastrophen wieder auftreten werden.<br />

Klimaforscher rechnen mit immer stärkeren<br />

und von allen Dingen häufigeren Ereignissen<br />

wie dieser Sturm, entlang der amerikanischen<br />

Küste, aber auch an anderen Orten.<br />

Folgende Defizite sind durch Katrina schlagend<br />

offensichtlich geworden:<br />

Fehlen von Notfallausweisen<br />

Auch für die Nutzung der Hilfseinrichtungen<br />

wurde in irgendeiner Form eine<br />

Identifikation verlangt.<br />

Nicht einfach<br />

für Amerikaner, wo<br />

es so etwas wie einen<br />

Personalausweis<br />

oder eine Ausweispflicht<br />

gar nicht<br />

gibt. Um wieder zu<br />

einem gültigen Ausweis<br />

zu kommen,<br />

war der Besuch von<br />

mehreren Behörden<br />

notwendig – aber an<br />

die nicht mehr existierende Adresse konnte<br />

natürlich nicht geschickt werden. Und auch<br />

viele der Behörden, z.B. lokale Einrichtungen<br />

für Geburtsurkunden, hatten die Wasser<br />

schlicht und einfach verschlungen.<br />

Schlechte Notunterkünfte<br />

Die Notfallunterkünfte gelten als formaldehydverseucht<br />

und demzufolge für einen<br />

permanenten Aufenthalt unbrauchbar. Die<br />

Administration Bush hat nichts getan – vor<br />

allem ältere und behinderte Personen finden<br />

keinen neuen Aufenthaltsort. Die Regierung<br />

Obama hat die Aufenthaltsfrist um zwei Monate<br />

verlängert und verkündet, dass es keine<br />

Zwangsräumungen geben werde, aber nicht<br />

unternommen, für die Betroffenen neuen<br />

Wohnraum zu schaffen. Und entgegen der<br />

Zusage sind sehr wohl Räumungsbescheide<br />

ergangen.<br />

Dank des Vaterlandes<br />

Über die Be(Miß)handlung von Veteranen<br />

aus Vietnam und dem Irak haben wir<br />

schon oft berichtet. Auch England, so The<br />

Big Issue in Scotland, ist leider nicht besser.<br />

Es gibt Veteranen der Auseinandersetzungen<br />

in Nordirland, dem Falklandkrieg, den<br />

Einsätzen im Irak und Afghanistan. In Edinburgh<br />

ist auf private Initiative eine Versorgungsstäte<br />

für Veteranen entstanden. Dort<br />

gibt es ein Kaffee, Sportmöglichkeiten und<br />

vor allem ein Büro, das sich bemüht, Unterbringung<br />

und medizinische Pflege zu organisieren.<br />

Sehr viele, wenn nicht alle der Klienten,<br />

leiden unter PTSD –Post-Traumatic<br />

Stress Disorder, medizinischer Fachausdruck<br />

für eine Vielzahl von schlecht diagnostizieren<br />

und noch schwieriger zu behandelten Störungen<br />

bis hin zum Nervenzusammenbruch<br />

und Selbstmord. 25% der 20.000 Soldaten,<br />

die die britische Armee jährlich verlassen,<br />

werden irgendwann einmal im Leben Obdachlosigkeit<br />

erfahren. Für kurz Dienende<br />

(bis 4 Jahre) ist die Unterstützung bei der<br />

Entlassung nur ein kurzes Gespräch ohne<br />

jede weitere Hilfe. Mittlerweile, so mutmaßt<br />

Stephen Robertson von der Vereinigung der<br />

regionalen Big Issue Ausgaben im UK, sind<br />

es über 300 Verkäufer, die Zeit in der Armee<br />

zugebracht haben oder Veteranen der kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen sind. Das<br />

britische Verteidigungsministerium streitet<br />

Probleme vehement ab. Ein Veteran: „Die<br />

nehmen sich mehrere Monate, um uns zu<br />

Soldaten zu machen. Für den Weg zurück ins<br />

Zivilleben sollte genauso viel bezahlte Zeit da<br />

sein.“<br />

Auch Deutschland hat inzwischen seine<br />

Veteranen aus Afghanistan. Über deren Behandlung<br />

werden wir berichten. Traditionell<br />

ist der Dank des Vaterlandes bei uns ein<br />

Stück wertloses Blech und ein fester Arschtritt.<br />

RS<br />

Bild: INSP<br />

Hans-Peter Janzen †<br />

Am Ende hat sein Herz versagt. Hans-Peter<br />

Janzen, zuletzt stellvertretender Chefredakteur<br />

dieser Zeitschrift und seit langem für<br />

die Gestaltung zuständig, ist plötzlich und<br />

unerwartet verstorben. Er kam aus Flensburg,<br />

geboren im Jahr 1948, auf unerfindlichen<br />

Wegen nach Frankfurt. Er sprach nie<br />

darüber, auch über seine Familie nicht. Wir<br />

wissen, dass er in der Erwachsenenbildung<br />

gearbeitet und Computerunterricht gegeben<br />

hat. Computer und Musik waren die<br />

beiden großen Interessen und die Grundlage<br />

für seinen Freundeskreis in Frankfurt.<br />

Er hat mit Begeisterung getrommelt und<br />

Bassgitarre gespielt. In Frankreich kannte<br />

er sich einigermaßen aus und nahm an den<br />

Frankreichfahrten mit Begeisterung teil.<br />

Soweit das, was wir über ihn wissen oder<br />

besser nicht wissen.<br />

Wir von der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> kannten ihn als<br />

unseren Grafiker, Hersteller, Layouter und<br />

generell den Computer-Guru der Zeitung.<br />

Ein Job, den er mit großem Vergnügen und<br />

sichtbar sehr guten Ergebnissen durchgeführt<br />

hat.<br />

Er war auch (das ist falsch: eigentlich im<br />

ersten Sinne) Redakteur für sozialpolitische<br />

Angelegenheiten. Als solcher war er die linke<br />

Stimme in der Redaktion, die Stimme<br />

für soziale Verpflichtung und Antiglobalisierung.<br />

Ich darf das sagen, weil ich diese<br />

Stimme als Chefredakteur schätzte und ihr<br />

Raum in der Zeitung gab, sehr gerne sogar.<br />

Er hat versucht, in unserer Zeitung die<br />

Anliegen der Armen, Unterprivilegierten,<br />

Obdachlosen, derjenigen, die wie er selbst<br />

durch widrige Umstände aus der Wirtschaftswunderwelt<br />

ausgespuckt wurden, zu<br />

Tragen zu bringen. Das ist ihm gelungen. Er<br />

hatte noch viele Pläne für dringend notwendige<br />

Artikel, aber keiner davon kann jetzt<br />

mehr ausgeführt werden. Wir sind eben<br />

nicht Hans-Peter Janzen. Das ist mal so. Er<br />

ist nicht vergessen, und wir versprechen, seine<br />

Themen auch nicht.<br />

Er wird uns fehlen.<br />

Nachruf<br />

Er fehlt mir. Sehr sogar.<br />

Rüdiger Stubenrecht<br />

Unser Vorstand<br />

Unsere Redaktion<br />

Unsere Vereinsmitglieder


4 P O L I T I K<br />

Politische Aktionen in harten Zeiten<br />

Deutschland ist beunruhigt. Nichts scheint mehr zu funktionieren: Auch eine Wahl mit Regierungswechsel bringt wenig oder keine<br />

Änderungen an der sozialen Situation. Schon früher hatte man die Erfahrung machen müssen, dass Wahlversprechungen der Parteien<br />

nichts wert sind bei der Regierungsbildung. Gewerkschaften können demonstrieren ohne Ende, es bleibt ohne Erfolg, trotz Geldgeschenken<br />

und trotz Versprechungen geht der Jobabbau unverdrossen weiter. Was funktioniert denn eigentlich noch?<br />

In der Wirtschaft<br />

Was tun, wenn die Entlassung droht? Mit der<br />

Gewerkschaftsweste eine Mahnwache halten?<br />

Das hält das Begräbnis nicht auf. Für dieses<br />

Problem haben Arbeitnehmer in anderen<br />

Ländern weitaus radikalere Lösungen gefunden<br />

als hierorts jemals praktiziert. Einige<br />

Beispiele folgen:<br />

60 Beschäftigte des Transportunternehmens<br />

Serta stehen in La Vaupaliere im Norden<br />

Frankreichs neben 8000 Litern Gift. Sie<br />

drohen damit, sie in einen Seine-Zufluss zu<br />

kippen - Franzosen drohen mit Vergiftung<br />

der Seine - 23. August 2009 - Die <strong>Welt</strong> - Von<br />

Gesche Wüpper - Erst brennende Autoreifen,<br />

dann Geiselnahmen, dann Sprengdrohungen<br />

Der Protest in Frankreich eskaliert. Und es<br />

geht noch gefährlicher: Jetzt bedrohen Arbeiter<br />

einer insolventen Firma die Bevölkerung.<br />

Sie wollen Giftfässer in einen Seine-Zufluss<br />

kippen, wenn sie nicht je 15.000 Euro Abfindung<br />

bekommen - Ein sonniger Augustnachmittag<br />

in der Normandie. Die Männer sitzen<br />

an einem Klapptisch im Schatten unter<br />

dem Zeltdach und spielen Karten. Vom fast<br />

erloschenen Lagerfeuer zieht eine Rauchfahne<br />

herüber. „Noch etwas zu trinken?“, fragt<br />

Daniel und geht zu einem Kühlschrank in<br />

der ausgestatteten Kochecke. Eine Campingplatz-Idylle,<br />

könnte man meinen. Doch das<br />

Zelt befindet sich am Rand der Autobahn,<br />

mitten im Gewerbegebiet von La Vaupalière<br />

bei Rouen. Ein Ort, dessen Name bis vor<br />

kurzem selbst in Frankreich keiner kannte.<br />

Das hat sich gründlich geändert.<br />

Der Grund ist schon von der Autobahn<br />

aus zu sehen. „Serta en grève“ – „Serta im<br />

Streik“, verkündet das Plakat an der Brükke<br />

über der Ausfahrt. Danach folgen in Abständen<br />

von wenigen Metern die nächsten<br />

Botschaften. Mal sind sie mit weißer Farbe<br />

auf die Straße aufgesprüht, mal auf mit Totenköpfen<br />

verzierten Schildern, die das Eingangstor<br />

zum Transportunternehmen Serta<br />

zieren. Dahinter, auf dem von Lastwagen<br />

gesäumten Betriebsgelände: 24 mit toxischer<br />

Flüssigkeit gefüllte Fässer, fein säuberlich<br />

übereinandergestapelt, dazwischen Gasflaschen<br />

und blaue Kanister. „15.000 Euro,<br />

oder es fließt“, droht ein Schriftzug vor dem<br />

Gullydeckel, unter dem ein unterirdischer<br />

Zufluss der Seine strömt. Sollten sie keine<br />

Abfindungen bekommen, wollen die 52 Mitarbeiter<br />

des bankrotten Unternehmens den<br />

Fluss vergiften.<br />

Eine Drohung, die sich nun nicht mehr<br />

gegen den Arbeitgeber richtet, nicht einmal<br />

gegen den Staat – sondern gegen die Mitbürger.<br />

Der Arbeitskampf hat in Frankreich eine<br />

neue Dimension erreicht, die letzte Stufe einer<br />

explosiven Entwicklung. Seit Beginn des<br />

Jahres greifen wütende Arbeiter zu immer<br />

radikalen Mitteln, um ihren Forderungen<br />

Nachdruck zu verleihen – aus Angst, den Job<br />

zu verlieren, aus der Verzweiflung heraus, ohnehin<br />

nichts mehr zu verlieren zu haben. So<br />

nahmen Arbeitnehmer in mindestens zehn<br />

Unternehmen Manager stunden-, gar tagelang<br />

als Geiseln, um Abfindungen zu erpressen.<br />

Kidnapping hat in Frankreich Geschichte<br />

Bereits in den 70er-Jahren hielten Arbeiter<br />

ihre Chefs gefangen, um Forderungen<br />

durchzusetzen. Doch seit von der Entlassung<br />

bedrohte Mitarbeiter eines im Südwesten des<br />

Landes gelegenen Werks von Sony im März<br />

mit der Geiselnahme 45.000 Euro erpressten,<br />

ist die Methode fast üblich geworden.<br />

„Die Geiselnahmen sind ein zusätzliches<br />

Druckmittel, die allerletzte Waffe bei Verhandlungen“,<br />

erklärt Soziologe Guy Groux,<br />

der an der renommierten Politik-Hochschule<br />

Science Po Arbeiterproteste erforscht.<br />

Die allerletzte? Kaum. Im Juli drohten die<br />

Mitarbeiter des Autozulieferers New Fabris in<br />

Châtellerault, ihre Fabrik zu sprengen. Auch<br />

sie hatten Erfolg mit der Erpressung, ebenso<br />

wie die Nachahmer in anderen Firmen. Statt<br />

der Staatsanwaltschaft kamen regelmäßig<br />

Medien und Minister und machten zusätzlich<br />

Druck auf die Firmenleitungen, die sich<br />

so zu Zugeständnissen gezwungen sahen.<br />

Wut im Tonghua-Stahlwerk: Arbeiter des<br />

staatlichen Unternehmens in China haben<br />

einen Top-Manager erschlagen. Dessen Firma<br />

wollte Tonghua schlucken - und Tausende<br />

entlassen - Totgeschlagen - Nach Mord<br />

am Chef sagt Stahlfirma Fusion ab - 27. Juli<br />

2009 - welt.de - Aufgebrachte Stahlarbeiter<br />

haben in China den Geschäftsführer eines<br />

Unternehmens getötet. Deswegen scheitert<br />

nun eine geplante Fusion seiner Firma. Der<br />

Manager soll bei einer Übernahme mit der<br />

Entlassung von 30.000 Mitarbeitern gedroht<br />

haben. Chinesische Medien äußern<br />

Verständnis für die Arbeiter.<br />

Nachdem aufgebrachte Arbeiter den designierten<br />

Konzernchef zu Tode geprügelt haben,<br />

ist eine geplante Fusion von Stahlfirmen<br />

in China auf Eis gelegt worden. Die Übernahme<br />

der staatlichen Firma Tonghua durch<br />

den privaten Konzern Jianlong sei wegen der<br />

Proteste und der Tötung des Managers abgesagt<br />

worden, sagte ein Sprecher der Provinz<br />

Jilin im Nordosten von China.<br />

Jianlong-Chef Chen Guojun, der den fusionierte<br />

Stahlproduzenten hätte leiten sollen,<br />

war am 24. Juli von wütenden Arbeitern<br />

zu Tode geprügelt worden. Chen habe die<br />

Tonghua-Arbeiter „desillusioniert und provoziert“,<br />

als er mit der Entlassung von rund<br />

30.000 Mitarbeitern gedroht habe, berichtete<br />

die chinesische Staatspresse unter Berufung<br />

auf einen Polizeivertreter.<br />

Die Arbeiter schlugen den Manager demnach<br />

brutal zusammen, lieferten sich schwere<br />

Kämpfe mit der Polizei und hinderten Mediziner<br />

daran, den schwer verletzten Manager<br />

zu versorgen. Bei den Ausschreitungen wurden<br />

demnach rund 100 Menschen verletzt.<br />

Laut Informationszentrum für Menschenrechte<br />

und Demokratie warfen die Arbeiter<br />

dem Firmenchef auch Missmanagement<br />

vor. Zudem hätten sie dessen angebliches<br />

Monatseinkommen von umgerechnet rund<br />

300.000 Euro kritisiert. Frühere Stahlarbeiter<br />

in Tonghua erhalten demnach nur eine<br />

monatliche Rente von rund 20 Euro.<br />

Wut auf den Chef - Stahlarbeiter prügeln<br />

Geschäftsführer zu Tode<br />

Der Chef bekam umgerechnet 300.000<br />

Euro im Jahr – Ex-Mitarbeiter nur 20 Euro<br />

monatlich. Das brachte einer Menschenrechtsgruppe<br />

zufolge Arbeiter in China in<br />

Rage. Sie hätten den Geschäftsführer einer<br />

Stahlfirma totgeprügelt. Hunderte Arbeiter<br />

wurden bei Protesten gegen eine Firmenübernahme<br />

verletzt.Stahlarbeiter in China:<br />

Viele der Beschäftigten in der Branche arbeiten<br />

hart und für wenig Geld. Bei Protesten<br />

gegen eine geplante Firmenübernahme gerieten<br />

Mitarbeiter eines Unternehmens mit<br />

der Polizei aneinander; den Geschäftsführer<br />

prügelten sie laut einem Bericht zu Tode Aus<br />

Wut über die geplante Übernahme ihres Unternehmens<br />

haben Stahlarbeiter in China einem<br />

Bericht zufolge ihren Geschäftsführer zu<br />

Tode geprügelt. Mehrere Hundert Menschen<br />

wurden bei Zusammenstößen mit der Polizei<br />

während der Protestaktion von 30.000 Arbeitern<br />

in der Stadt Tonghua verletzt, wie das<br />

in Hongkong ansässige Information Center<br />

for Human Rights and Democracy mitteilte.<br />

Die Angestellten der Tonghua Iron and<br />

Steel Group machten das Konkurrenzunternehmen<br />

Jianlong demnach für finanzielle<br />

Probleme ihrer Firma im vergangenen Jahr<br />

verantwortlich. Dem Jianlong-Geschäftsführer<br />

Chen Guojun war demnach 2008 ein<br />

Gehalt von drei Millionen Yuan (300.000<br />

Euro) ausgezahlt worden, während ehemalige<br />

Mitarbeiter im Ruhestand monatlich nur<br />

200 Yuan (20 Euro) erhielten, wie die Menschenrechtsgruppe<br />

weiter mitteilte.<br />

Die Angestellten der Tonghua Iron and<br />

Steel Group machten das Konkurrenzunternehmen<br />

Jianlong demnach für finanzielle<br />

Probleme ihrer Firma im vergangenen Jahr<br />

verantwortlich. Dem Jianlong-Geschäftsführer<br />

Chen Guojun war demnach 2008 ein<br />

Gehalt von drei Millionen Yuan (300.000<br />

Euro) ausgezahlt worden, während ehemalige<br />

Mitarbeiter im Ruhestand monatlich nur<br />

200 Yuan (20 Euro) erhielten, wie die Menschenrechtsgruppe<br />

weiter mitteilte.<br />

Jianlong hatte im vergangenen Jahr vorübergehend<br />

die Kontrolle über die Tonghua<br />

Iron and Steel Group inne und hat seine<br />

Übernahmepläne in diesem Jahr erneuert.<br />

Die Nachrichtenagentur AP berichtete, dass<br />

offizielle Stellen zwar den Konflikt unter den<br />

Stahlarbeitern, aber weder Angaben zu Verletzten<br />

oder dem Todesfall bestätigten.<br />

Frankreich - Arbeiter erzwingen mit<br />

Sprengdrohung 30.000 Euro, 17. Juli 2009<br />

Mit der Drohung, Firmeneigentum in die<br />

Luft zu sprengen, haben Arbeiter eines französischen<br />

Hebebühnenherstellers höhere<br />

Entlassungsabfindungen durchgesetzt. Gefeuerte<br />

Beschäftigte des Unternehmens JLG<br />

im südwestfranzösischen Tonneins bekommen<br />

nun 30.000 Euro.<br />

Mit der Drohung, Produktionsgüter ihrer<br />

Firma in die Luft zu jagen, haben Arbeiter<br />

des Maschinenbauers JLG in Frankreich<br />

Entlassungsabfindungen durchgeboxt. In der<br />

Nacht zum Freitag einigten sich Arbeitnehmervertreter<br />

mit der Geschäftsführung auf<br />

außerordentliche Prämien von 30.000 Euro,<br />

wie der Betriebsrat verkündete.<br />

Ein Ergebnis, dass eine neue Etappe im<br />

eskalierenden Kampf französischer Arbeiter<br />

markiert. Im Frühjahr wurden zahlreiche<br />

Manager als Geiseln genommen, weil sie sich<br />

wegen der Wirtschaftskrise zu Werksschließungen<br />

gezwungen sahen. Seit (heutigem)<br />

Freitag müssen sich sieben Angestellte des<br />

deutschen Reifenherstellers Continental vor<br />

Gericht verantworten, weil sie aus Wut über<br />

das Aus ihres Standortes eine Behörde verwüsteten.In<br />

dieser Woche nun kam es zu einer<br />

Serie von Sprengdrohungen. Die Mitarbeiter<br />

von drei Firmen kündigten an, Gasflaschen<br />

in die Luft zu jagen, sollten sie nicht über die<br />

Sozialpläne hinaus Abfindungen erhalten.<br />

Die Angestellten des insolventen Autozulieferers<br />

New Fabris setzten am Sonntag ein<br />

Ultimatum bis Ende des Monats. Die Belegschaft<br />

des Technikunternehmens Nortel<br />

erzwang am Mittwoch neue Verhandlungen.<br />

Die JLG-Beschäftigten hatten am Donnerstag<br />

Gasflaschen und mit Brennstoff besprühte<br />

Paletten vor fünf Hebebühnen platziert.<br />

Erst nach Zusicherung neuer Gespräche<br />

wurde die Sprengdrohung zurückgenommen.<br />

„Wir haben uns durchgesetzt“, jubelte JLG-<br />

Betriebsratschef Christian Amadio. Für alle<br />

53 Mitarbeiter, die ihren Job verlieren, zahlt<br />

der Maschinenbauer aus dem südwestlichen<br />

Tonneins 30.000 Euro.Das sind zwar 20.000<br />

weniger, als ursprünglich verlangt, dennoch<br />

fürchtet die Regierung, das Vorgehen könne<br />

nun noch weiter Schule machen. Vor einer<br />

um sich greifenden „Erpressung mit der Gasflasche“<br />

warnte Arbeitsstaatssekretär Laurent<br />

Wauquiez. Dadurch würde kein Job gerettet<br />

und der soziale Dialog torpediert.<br />

Zum Glück nichts Ernsthaftes vorgefallen<br />

Betriebsratschef Amadio schiebt der Geschäftsführung<br />

den Schwarzen Peter zu:<br />

„Es ist bedauerlich, was man alles machen<br />

musste, um das Ergebnis zu erzielen“, sagte<br />

er. „Zum Glück ist nichts Ernstes vorgefallen.“<br />

Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat<br />

durch einen Zickzackkurs nicht viel dazu<br />

beigetragen, die Lage zu entspannen. Einerseits<br />

gibt er sich unbeugsam. „Was sind das<br />

für Geschichten, Menschen zu kidnappen“,<br />

sagte er im Frühjahr. Gesetzesbrüche werde<br />

er nicht dulden. Andererseits lässt er sich als<br />

Retter von Standorten wie dem von Caterpillar<br />

feiern, die nach massiven Protesten dank<br />

staatlicher Hilfe und Vermittlung am Leben<br />

erhalten werden. „Um sich Gehör zu verschaffen,<br />

müssen die Aktionen immer stärker<br />

werden“, konstatierte ein Gewerkschaftsführer<br />

von Force Ouvrière gegenüber der Zeitung<br />

„Libération“.<br />

Text: hjs<br />

Bildquelle: kpd-ml.net


SOZIALES<br />

5<br />

Ein kritischer Brief an den Rowohlt Verlag<br />

In den letzten Monaten kam eine so genannte Streitschrift des jetzt konservativen Journalist Jan Fleischhauerauf den Markt.<br />

Fleischhauer meint, dass in der BRD linke Aktivisten die Politik des Staates bestimmen-wenn es nur schon so wäre. Neben<br />

vielen Ungereimtheiten stört insbesondere seine Unbedarftheit in der Darstellung der sozialen Bereiche - wer gestaltet<br />

eigentlich die sozialen Bezüge: die Banken, die Politik oder die zahlreichen Selbsthilfegruppen oder Bürgerinitiativen?<br />

Aus diesem Grunde unser Leserbrief; ob es zu einer Diskussion mit dem rechten Herrn Fleischhauer kommt?<br />

Sehr geehrter Herr Fleischauer,<br />

mein Name ist Reinhold Urbas und ich bin Vorsitzender des Vereins<br />

Armutsaktie e.V. / <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>.<br />

Wir sind eine kleine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die in<br />

Frankfurt eine Straßenzeitung sowie Musikprojekte für Menschen realisieren,<br />

die nicht mit Reichtum gesegnet sind. Diese Initiative ist auch<br />

dadurch entstanden, dass in der Bundesrepublik vor Jahren linke Politik<br />

möglich war, die sich an Menschen wandte, deren Möglichkeiten in<br />

diesen Kulturbereichen zu agieren begrenzt ist. Sie haben in Ihrem Buch<br />

Unter Linken diese Entwicklung meines Erachtens nicht aufgezeichnet,<br />

dass über diese Initiativen einiges an sozialer Bewegung in Deutschland<br />

entstanden ist, deren Wert nicht abzuschätzen ist. Ich bin auch darüber<br />

entsetzt, wie Sie in einer Form linke politische Haltung definieren, es<br />

gibt in der Bundesrepublik genügende Aktivitäten dieser Couleur, die<br />

sich um Menschen kümmern, die sonst keiner mehr will.<br />

Sie sollten sich auch deren Verantwortung bewusst sein. Vielleicht<br />

schaffen Sie es auch einmal, sich in diese Gruppen hineinzuversetzen<br />

und deren Existenzkampf mitzuspüren. Seit mehreren Jahren ist aufgrund<br />

solcher Haltungen, wie Sie sie aufführen, leider die Entwicklung<br />

eingetreten, dass diese Kleininitiativen ausgetrocknet werden, weil sie<br />

angeblich keine Funktion mehr für die Gesellschaft und die Bevölkerung<br />

haben. Vielleicht können Sie ja mal ein Buch darüber schreiben, mit<br />

welchen Schwierigkeiten freie Initiativen und Bürgerinitiativen derzeit<br />

zu kämpfen haben. Wir sind gerne dazu bereit, Ihnen unsere Situation<br />

zu schildern. Zur weiteren Information haben wir Ihnen eine unserer<br />

letzten Ausgabe der Straßenzeitung beigefügt. Vielleicht wäre es auch<br />

möglich, dass wir über das Internet eine Diskusion führen, die wir dann<br />

in unserer Zeitung abdrucken können.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Reinhold Urbas<br />

(1. Vorsitzender der Frankfurter Armutsaktie)<br />

Die Wahlen sind vorbei und das Hartz IV-<br />

Dilemma wird wohl erst mal so weiter gehen<br />

wie bisher. Die Chancen auf sinnvolle Sozialreformen,<br />

sind wohl auch eher gesunken,<br />

als gestiegen.<br />

Dabei zeigen die Statistiken des größten,<br />

deutschen Sozialgerichts in Berlin, wie dringend<br />

diese benötigt werden. Seit Inkrafttreten<br />

der immer kränkelnden Reform Anfang<br />

2005, wurde im Juni 2009 der 70.000 Fall in<br />

Berlin verhandelt. Nach Aussage der Justizsenatorin<br />

Gisela von Aue, muss dabei eine durschnittliche<br />

Bearbeitungszeit von über einem<br />

Jahr pro Fall eingeräumt werden.<br />

64% der Verfahren betrafen die Sozialreform<br />

in 2008 insgesamt. Über 100 Richter,<br />

teils als Teilzeitbeschäftigte angestellt, versuchen<br />

der Masse von Fällen Herr zu werden.<br />

Zum Vergleich: Vor der Reform in 2004<br />

waren 59 Richter beschäftigt. Für 2010 /<br />

2011 wurden weitere Stellen beantragt.<br />

Man kann sich denken, welche enormen<br />

Kosten diese verschlingen werden!<br />

Und die Chancen für einen Erfolg stehen<br />

nicht schlecht, für das für den ALG II-Empfänger<br />

kostenfreie Verfahren, da die vielfachen<br />

Form- und Verfahrensfehler der zuständigen<br />

Behörden anscheinend nicht abgestellt<br />

werden können.<br />

Ein Hauptproblem liegt darin, dass die<br />

Nicht alles gefallen lassen …<br />

Keine schlechten Chancen für Hartz IV Empfänger vor dem Sozialgericht<br />

von den Jobcentern gern benutzten Begriffe<br />

wie, „erforderlich“ und „angemessen“ im<br />

Gesetz nach wie vor nicht näher konkretisiert<br />

sind, wodurch viele Einzelheiten umstritten<br />

bleiben.<br />

Im Vergleich zu den anderen Rechtsgebieten<br />

ergab sich eine überdurchschnittliche<br />

Erfolgs- oder Teilerfolgsquote von ca. 50%.<br />

Jeder zweite Fall also ein Armutszeugnis<br />

für die Hartz IV-Reform!<br />

Wenn man sich persönlich auch schon<br />

mal in diesem fragwürdigen System befunden<br />

hat, liegt die Vermutung nahe, dass viele<br />

potenzielle Fälle aber auch erst gar nicht vor<br />

Gericht kommen. Viele ALG II-Empfänger<br />

haben nicht den Mut oder die Nerven sich<br />

gerichtlich zu wehren, sei es aus Angst oder<br />

aus schlichter Unwissenheit, dass ein Verfahren<br />

vor dem Sozialgericht kostenfrei ist.<br />

Gleichzeitig muss vom Betroffenen erwartet<br />

werden, dass er die Fehler erkennt, die<br />

die eigentlichen Verantwortlichen in einem<br />

scheinbar undurchsichtigen, bürokratischen<br />

Irrgarten gemacht haben.<br />

Aber die Zahlen sprechen eine deutliche<br />

Sprache. Es gibt also Möglichkeiten gegen<br />

dieses Ohnmachtsgefühl bei vielen Entscheidungen<br />

der Behörden vorzugehen.<br />

Es wird aber auch gewarnt von Leuten wie<br />

dem Direktor der Diakonie Sachsen, Christian<br />

Schönfeld. Er sagt, dass die rechtlichen<br />

Möglichkeiten gegen die oftmals willkürlich<br />

getroffenen Sanktionen oder Entscheidungen<br />

immer mehr verbaut werden.<br />

Probleme drohen bald bei Beratung oder<br />

Prozesskostenhilfe.<br />

Ebenso kritisierte er die ausufernde Bürokratie<br />

bis zur Undurchschaubarkeit der Berechnungsverfahren<br />

durch Eingreifen über<br />

neue Verordnungen.<br />

Auch auf den Umgang mit den den Betroffenen<br />

nahm er Bezug. „Wir stellen immer<br />

wieder fest, dass die Betroffenen zunehmend<br />

wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden“,<br />

erklärte er im August in Dresden.<br />

Trotzdem sollte man sich nicht entmutigen<br />

lassen, und den Kopf in den Sand stekken.<br />

Auch wenn es schwierig ist, eine gute Beratungsstelle<br />

zu finden.<br />

Das Problem liegt oft darin, dass es viele<br />

Hilfsangebote für jedes einzelne Problem<br />

gibt, doch keiner koordiniert diese. Was aber<br />

der Fall sein müsste, weil oft multiple Probleme<br />

in einem Hartz IV-Haushalt existieren.<br />

Staatliche Organisationen sind darauf ausgelegt<br />

vorübergehende Probleme zu lösen und<br />

setzen eine fortlaufende und gute Informiertheit<br />

voraus, mit der man oft einfach überfordert<br />

ist.<br />

Man steht aber nicht alleine da, weil die<br />

Jobcenter und Behörden wohl auch nicht<br />

gewährleisten können, immer ausreichend<br />

informiert zu sein, um Anträge von denen<br />

teilweise die komplette Existenz eines Betroffenen<br />

abhängt, fair und fehlerlos zu bearbeiten.<br />

Wer kann also helfen? In Frankfurt gibt es<br />

die Möglichkeit sich rechtlich beraten zulassen<br />

beim Amtsgericht. Unter Vorlage des Bewilligungsbescheides<br />

kann man sich umsonst<br />

oder für 10 Euro beraten lassen. Eine weitere<br />

Möglichkeit der Hilfestellung bietet das<br />

Frankfurter-Arbeitslosen-Zentrum (FALZ),<br />

an der Friedberger Anlage 24.<br />

Als Fazit bleibt, in den Worten der „Red<br />

Hot Chili Peppers“:<br />

Fight Like A Brave, Don`t Be A Slave!<br />

... hier noch ein paar kleine Tipps von uns,<br />

wie sich so manche Problemme beim Amt<br />

vermeiden lassen!<br />

Oft enstehen Probleme durch leicht vermeidbare<br />

Fehler. Schlechte Vorbereitung,<br />

Unsicherheit und Nervosität sind oft Gründe,<br />

weshalb der Gang zum Amt, unbefriedigend<br />

verläuft.<br />

Dies lässt sich z.B. vermeiden, indem man<br />

sich vorbereitet.<br />

TIPP 1: Inhaltlich vorbereiten<br />

(was will ich, welche Rechte habe ich).<br />

TIPP 2: zeitlich vorbereiten<br />

(keine anderen kurz dahinter liegenden Termine).<br />

TIPP 3: Sachlich bleiben – trotz Gefühlswallungen<br />

(Entspannte Gestik entspannt das<br />

Gegenüber).<br />

TIPP 4: Beharrlich bleiben<br />

(Fragen klären, nicht abwimmeln lassen).<br />

TIPP 5: Unverständliches erklären lassen<br />

(Beharrlichkeit erspart oft Wege).<br />

TIPP 6: Nicht unter Zeitdruck setzen lassen<br />

(Beratungs- und Aufklärungspflicht des Amtes).<br />

TIPP 7: Keine Paradeuniform anziehen<br />

(Normale saubere Kleidung tut es auch).<br />

TIPP 8: Keine Originale aus der Hand geben<br />

(evt. Kopien vorbereiten oder verlangen).<br />

TIPP 9: Bestätigung, Quittierung des Besuches<br />

Steffen Heck<br />

Bild und Grafik: Sozialgericht Berlin


6 SOZIALES<br />

Als gesellschaftspolitische Teilpraxen ist der Zusammenhang zwischen den drei Politikfeldern evident: Gerade die allgegenwärtige Krise des globalen<br />

(kapitalistischen) Wirtschaftssystems zwingt zu Neujustierungen internationaler und nationaler Strategien zur Herstellung von Gerechtigkeit,<br />

Verantwortung und Sicherheit. Gerade hier zeigt sich aber auch die Anfälligkeit, je nach (wirtschaftlicher) großpolitischer Wetterlage<br />

die professions- und sozialpolitischen Grundlagen sozialer Arbeit den vermeintlich vorgängigen wirtschaftlichen Sachzwängen anzupassen.<br />

Unabsehbar sind die zu projektierenden<br />

Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise,<br />

hartnäckig geschwiegen wird deshalb über<br />

die Folgen für die öffentlichen Haushalte.<br />

„Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen<br />

Haushalte in Deutschland ist in den ersten<br />

Monaten des Jahres drastisch gestiegen. Das<br />

Statistische Bundesamt bezifferte den Fehlbetrag<br />

in den Kassen von Bund, Ländern und<br />

Gemeinden am Dienstag fürs erste Quartal<br />

auf insgesamt 37,8 Milliarden Euro. Gegenüber<br />

dem Defizit von 22 Milliarden im entsprechenden<br />

Vorjahreszeitraum bedeutet dies<br />

einen Anstieg um 15,8 Milliarden Euro oder<br />

gut 70 Prozent. (...) Am stärksten stieg nach<br />

ihren Angaben das Finanzierungsdefizit der<br />

Länder, und zwar allein um 10,6 Milliarden<br />

Euro auf 13,3 Milliarden Euro. Insgesamt erhöhten<br />

sich die Einnahmen der öffentlichen<br />

Haushalte in den ersten drei Monaten 2009<br />

um 0,2 Prozent auf 245,5 Milliarden Euro.<br />

Gleichzeitig stiegen die öffentlichen Ausgaben<br />

jedoch um 5,8 Prozent auf 283,3 Milliarden“<br />

(Associated Press vom 30.06.2009).<br />

Neujustierung<br />

Die Neujustierung des Politischen<br />

Professionspolitik, Wirtschaft und Sozialpolitik<br />

Von Prof. Dr. Gaby Flösser, TU Dortmund,<br />

Lehrstuhl Handlungsfelder und Institutionen<br />

Insofern die soziale Arbeit im Wesentlichen<br />

aber von diesen öffentlichen Haushalten abhängig<br />

ist, sollte sie deren Entwicklung interessieren.<br />

Einschätzungen über die Folgen der<br />

Krise für die soziale Arbeit allerdings gibt es<br />

kaum. Stattdessen beherrschen die Bewegungen<br />

auf den nationalen Arbeitsmärkten die<br />

Debatten, die seit mindestens 25 Jahren währende<br />

Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft<br />

hat nun ihre empirische Basis gefunden. Die<br />

weit reichenden Konsequenzen für die nie<br />

Inkludierten oder dauerhaft Exkludierten<br />

bleiben jedoch außen vor. Sicher ist nur, dass<br />

reformiert werden muss, Legitimation durch<br />

Aktionismus erzielt werden soll. Geopfert<br />

werden dem bloßen Reformdruck dann die<br />

Erkenntnisse eines komplexeren Zusammenhangs<br />

zwischen sozialer Arbeit, Wirtschaftsund<br />

Sozialpolitik: Nicht länger ist das eine<br />

System der Produzent gesellschaftlichen<br />

Reichtums, das andere ein subventionierter<br />

Teilbereich und das dritte der Verwalter des<br />

Armenhauses, heute besteht mehrheitlich Einigkeit<br />

über die Sinnhaftigkeit sozialer Investitionen<br />

und das Wirtschaftssystem selbst ist<br />

zum größten Subventionsempfänger geworden.<br />

Diese Verschiebungen und Veränderungen<br />

der definitorischen Lufthoheit über die<br />

Notwendigkeiten und Bedingungen sozialer<br />

Arbeit erzwingen eine Neujustierung des Politischen<br />

und verweisen im gleichen Atemzug<br />

auf die politische Fundierung sozialer Arbeit.<br />

Die soziale Arbeit als „policy based profession“<br />

(POPPLE/LEIGHNINGER 2007)<br />

nicht nur in ihren Abhängigkeiten, sondern<br />

auch in ihrem gestaltenden Einfluss auf die<br />

Gesellschaftspolitik zu thematisieren und zu<br />

hinterfragen, ist Absicht dieser Veranstaltungen.<br />

Das Thema „Politik der Profession als<br />

Stärkung des <strong>Soziale</strong>n — Herausforderung<br />

und Verantwortung der sozialen Arbeit als<br />

gesellschaftliche Aufgabe“ weist darauf hin,<br />

dass es für die Profession dringend ist, sich in<br />

der Auseinandersetzung mit den führenden<br />

Berufsverbänden über die sich immer wieder<br />

neu stellenden gesellschaftlichen Aufgaben<br />

zu verständigen und darüber zu diskutieren,<br />

in welcher weise Professionspolitik als Gesellschaftspolitik<br />

betrieben werden kann und<br />

muss. Der gegenwärtige Zustand, dass Arbeitgeber<br />

(Wohlfahrtsverbände, Kommunen<br />

etc.) sich anmaßen, gleichzeitig als Verwalter<br />

der Professionen gewissermaßen in Erscheinung<br />

zu treten, ist nicht hinnehmbar, da in<br />

deren Perspektive auch immer eigene Interessen<br />

deutlich werden. Offen stehende Probleme<br />

in dieser Hinsicht sind die Besoldung, die<br />

Ausstattung der Praxis mit professionellen<br />

Fachkräften, die zunehmende Differenzierung<br />

der Arbeitsfelder und dadurch auch intendierte<br />

Öffnungen für andere Disziplinen<br />

etc. Darüber hinaus geht es aber prinzipiell<br />

um die gegenwärtig hochaktuelle Grundfrage<br />

nach der gesellschaftlichen Definition des<br />

<strong>Soziale</strong>n. Wenn wir davon ausgehen, dass die<br />

Armuts- und Prekariatspopulation zunehmen<br />

wird und die existenzielle Sicherung<br />

einer großen Anzahl von Betroffenen immer<br />

am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze<br />

liegen mit gravierenden Folgen für die Kinder<br />

und Jugendlichen, so ist es höchste Zeit, dass<br />

sich die soziale Arbeit, falls sie dazu in der<br />

Lage ist, aus professionspolitischen Gründen<br />

sich in diese Debatte einmischt oder sogar<br />

die Führungsrolle übernimmt. Dieses in aller<br />

Offenheit zu diskutieren mit den Berufsverbänden<br />

und Gewerkschaften ist eine wichtige<br />

Etappe in der Realisierung eines derartigen<br />

Anliegens.<br />

Gemeinsame Projekte<br />

<strong>Soziale</strong> Arbeit und Wirtschaft meint die<br />

vorsichtige Annäherung zweier gesellschaftlicher<br />

Teilsysteme, die erst mühsam begreifen,<br />

dass über die Kompensation strukturfunktionaler<br />

Defizite des Wirtschaftssystems<br />

hinaus der sozialen Arbeit eine produktive<br />

Rolle in der Gestaltung der modernen Gesellschaften<br />

zukommt. Zwar sind die Erträge<br />

sozial staatlicher Sicherung für die Wirtschaft<br />

schon lange benannt und die Opportunitätskosten<br />

für den Fall des Sozialstaatsabbaus<br />

berechnet, weder in der Theorie noch in der<br />

Praxis gelingen jedoch herrschaftsfreie oder<br />

auch nur vorurteilsfreie Diskurse. Unterhalb<br />

dieser Debatten haben allerdings schon vielfältige<br />

Auslotungen und gemeinsame Projekte<br />

Realisierungschancen für sich entdeckt. So<br />

ist die soziale Arbeit heute wieder ein fester<br />

Bestandteil von Unternehmen geworden,<br />

die Organisation sozialer Dienstleistungen<br />

in privat gewerblicher Trägerschaft, die Wiedereinführung<br />

der Betriebssozialarbeit oder<br />

die Schaffung neuer Unternehmensbereiche,<br />

z.B. dem des Diversity Managements, hat innerhalb<br />

der mikroökonomischen Gestaltung<br />

ihren festen Platz und auch in der sozialen<br />

Arbeit sind prinzipielle Einwendungen gegenüber<br />

betriebswirtschaftlichen Strategien<br />

in der alltäglichen Praxis eher die Ausnahme,<br />

der Kategorienstreit wird - wenn überhaupt<br />

- dann auf der disziplinären Ebene geführt.<br />

Unter der Hand verändern sich aber Handlungslogiken,<br />

die Mutation des Sozialpädagogen<br />

zum Case Manager hat ihren Preis,<br />

auch wenn die sich nicht in berufs- und<br />

gleichstellungspolitischen Forderungen umsetzen<br />

lässt. Die Ökonomisierung der sozialen<br />

Arbeit hat darüber hinaus ein Pendant<br />

in der Pädagogisierung der Betriebswirtschaft<br />

gefunden, Sozialkompetenz und soft skills,<br />

Teamfähigkeit und Lösungsorientierung<br />

sind auch hier nicht mehr wegzudenken.<br />

Der sozialen Arbeit ist mithin ihr streitbares<br />

Gegenüber abhanden gekommen. Den<br />

pragmatischen Projekten droht allerdings<br />

bei allzu kleinräumiger Sicht das Politische<br />

abhanden zu kommen, der Zeitgeist siegt<br />

und keiner hat ihn produziert. Auch die Sozialpolitik<br />

selbst kämpft in mehreren Arenen<br />

gleichermaßen. Dabei verschwimmen vor allem<br />

die klassischen Frontstellungen zwischen<br />

Arbeit und Kapital inklusive ihrer Akteure.<br />

Initiativen, aktionsorientierte Gruppierungen,<br />

konkrete Anliegen und direkte Mandate<br />

fordern Visionäre und Utopisten heraus und<br />

verlangen nach sichtbaren und nachhaltigen<br />

Bearbeitungsformen sozialer Probleme. Sozialstaatliche<br />

Agenturen wie die private Fürsorge,<br />

insbesondere aber auch die intermediären<br />

Instanzen in der Produktion von Wohlfahrt<br />

geraten angesichts der revitalisierten Szenerie<br />

von streitbaren Befürwortern und Gegnern<br />

einer hoheitlich verordneten Daseinsvorsorge<br />

in Bedrängnis. Individuelle Freiheit wird<br />

gegen individuelle Sicherheit ausgespielt,<br />

Standortpolitik konkurriert mit der subjektorientierten<br />

Idee des „guten Lebens“ oder<br />

auch nur des „gelingenderen Alltags“.<br />

Sozialpolitische Konzepte des Forderns<br />

und Förderns und die dahinter liegenden<br />

Ideen des aktivierenden oder investierenden<br />

Staates offenbaren Möglichkeiten eines<br />

neuen „contract social“, eines Gesellschaftsvertrags,<br />

der nicht nur die erforderlichen<br />

Leistungen des Staates limitiert (z.B. im Sinne<br />

des Liberalismus), sondern der zugleich<br />

auch die geforderten (Eigen-) Leistungen<br />

der Bürgerinnen und Bürger reguliert. Dies<br />

allerdings funktioniert nicht ohne zu benamende<br />

Protagonisten, gesellschaftliche Institutionen,<br />

die dem politischen Willen Ausdruck<br />

verleihen.<br />

Die soziale Arbeit spielt dabei eine<br />

uneindeutige Rolle, indem sie weder<br />

Ross noch Reiter, vor allem aber ihren<br />

Eigenanteil an der Abarbeitung<br />

der vermeintlich zwanghaften Imperative<br />

sozialpolitischer Programmatiken<br />

verschweigt, um frühzeitig Einfluss<br />

nehmen zu können.<br />

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung<br />

der Autorin und des Veranstalters dem Band<br />

„Sozial Extra 7/8 09 zum 7. Bundeskongress<br />

entnommen.<br />

Quelle: www.sozialextra.de<br />

Seit mehr als fünf Jahren<br />

ist das Café Pflasterstrand<br />

an der Weseler Werft ein<br />

beliebtes Ziel für ein kunterbuntes<br />

Publikum: In den<br />

warmen Monaten treffen<br />

sich hier Studenten, Bänker,<br />

und Fahrradausflügler,<br />

Frankfurter und Touristen.<br />

Kein Wunder, hat der unter<br />

einem riesigen, aufwändig<br />

sanierten Lastkran gelegene<br />

Frankfurter raus, Yuppies rein - Aus für das Café Pflasterstrand<br />

Biergarten seinen ganz eigenen<br />

urbanen Charme. Gern<br />

macht man es sich hier auf<br />

einem der ausrangierten<br />

Gemüsekarren bequem, die<br />

einstmals der im Jahr 2004<br />

zerstörten Importhalle als<br />

Fuhrwerk dienten.<br />

Bald aber ist Schluss. Der<br />

Pachtvertrag der Betreiber<br />

Martin Wüstinger und Udo<br />

Flick<br />

läuft Ende des Jahres<br />

aus und wird nicht<br />

verlängert.<br />

ratmeter Terrasse und<br />

Aussichtsplattform<br />

versehenes „Gastronomieprojekt“<br />

hochziehen.<br />

Zwar hatten auch sie<br />

sich für eine bundesweite<br />

Ausschreibung<br />

beworben, die ein<br />

Auswahlgremium aus<br />

Stadt, Europäischer<br />

Zentralbank und<br />

Ortsbeirat veröffentlicht<br />

hat. Den<br />

Zuschlag jedoch<br />

bekam Thomas<br />

Klüber, Inhaber der<br />

Szene-Bar Walden<br />

in der Innenstadt.<br />

Dieser lässt in Kürze<br />

sein mit 200 Quad-<br />

Aus Sicht des Rathauses<br />

ist es offenbar vonnöten,<br />

dem demnächst<br />

anreisenden, kaufkräftigen<br />

Klientel der neuen EZB eine angemessene<br />

Lokalität zu bieten.<br />

So heißt es denn künftig an der Weseler<br />

Werft Style statt gepflegter Müßiggang. Wüstinger<br />

und Flick sind zwar enttäuscht über<br />

den erzwungenen Ausstieg, haben aber bereits<br />

neue Pläne. Die Gastronomen beziehen<br />

im Herbst die Räume der ehemaligen Nordbar<br />

im Bunker in der Glauburgstraße. Vorher<br />

lassen sie es aber<br />

am Mainufer noch<br />

einmal krachen: Am<br />

31. Oktober steigt die<br />

große Pflasterstrand-<br />

Abschiedsparty.<br />

Text und Bilder:<br />

Marc-Alexander<br />

Reinbold


SOZIALES, MULTI-KULTI<br />

Ukraine: spontane persönliche Eindrücke von der<br />

Politik und sozialem Leben<br />

7<br />

Anfang September 2009 bin ich wieder in die Ukraine, nach Uschhorod gekommen. Dass ich in Deutschland wohne, erlaubt mir, von der Ukraine<br />

immer wieder einen neuen Eindruck zu bekommen, wenn ich meine Eltern besuche. Diesmal hat mich am meisten die Situation im politischen und<br />

sozialen Leben des Landes beeindruckt.<br />

Ich bin in der Zeit der Vorbereitungen zu<br />

den Parlamentswahlen 2009 gekommen. Es<br />

fanden Konzerte statt, die vom „Blok Juliji<br />

Tymoschenko“ (Partei von Julia Timoschenko)<br />

organisiert wurden. Ich habe bemerkt,<br />

dass sogar unter politisch aktiven Bürgern<br />

zurzeit eine politische Desorientierung<br />

herrscht. Weil die Menschen mit der wirtschaftlichen<br />

Situation im Lande unzufrieden<br />

sind, meinen sie, dass die Regierung sich an<br />

ihre Versprechungen, die während der letzten<br />

Wahlen gegeben wurden, nicht gehalten hat.<br />

Viele Menschen sind deswegen enttäuscht<br />

und sind bereit, praktisch jeden zu wählen,<br />

der noch nicht in der Regierung war.<br />

Die unstabile politische Situation verursacht<br />

eine Instabilität in der Gesetzgebung. Die<br />

Vertreter der funktionierenden Institutionen<br />

Die Ukrainer lernen es die Zeit zu rechnen<br />

Mein persönliches Verständnis von Integration<br />

ist: es soll und muss in Frankfurt /<br />

Deutschland einen offenen Raum für Migranten<br />

geben, in dem sie ihre Lebensperspektiven<br />

entwickeln können. Integration<br />

muss nicht eine Einbahnstraße sein, sondern<br />

sollte für die Deutschen und Migranten einen<br />

Nutzen haben. Jeder und jede sollte die<br />

Vorteile von Deutschland sehen und von der<br />

Freiheit in diesem demokratischen Land profitieren<br />

können. Manchmal wird Integration<br />

missverstanden oder falsch aufgefasst. Ich<br />

habe mich sehr gefreut, dass die Bundeskanzlerin<br />

Integration weiter thematisiert hat.<br />

Es gibt nämlich heute viele Migranten in<br />

Deutschland, und sie sind jetzt ein Teil von<br />

dieser Gesellschaft geworden. Auch wenn sie<br />

Möglichkeiten für neue Innovationen und<br />

Ideen haben, haben sie bislang wenig Einfluss<br />

auf die Entwicklungen in diesem Land.<br />

Woran das liegt, das weiß ich nicht. Vielleicht<br />

Neue Familie (im Vordegrund), im Hintergrund steigen die<br />

Mitfahrer in den Bus ein<br />

mehr an<br />

den politischen<br />

Druck des Staates<br />

gewohnt ist und frei über<br />

das eigene Schicksal entscheiden<br />

will. Es sind verschiedene<br />

Meinungen im<br />

Funk über die herrschenden<br />

Parteien zu hören,<br />

und es ist kaum vorstellbar,<br />

dass diese Vielfalt der<br />

Meinungen durch eine<br />

Partei beendet werden<br />

könnte.<br />

Es ist eine Tendenz zu<br />

bemerken, nach europäischem<br />

Standard leben zu<br />

finden“ zu tun. Dadurch<br />

unterscheiden sich die<br />

Bürger von Transkarpathien,<br />

wo sich Uschhorod<br />

befindet, immer wieder<br />

vom Rest der Ukraine. Sie<br />

wohnen in einem Teil der<br />

Ukraine, der vom anderen<br />

Land durch die Berge<br />

getrennt ist. Deswegen<br />

versteht sich der andere<br />

Teil der Ukraine beinahe<br />

als anderes Volk. Man soll<br />

aber eindeutig über eine<br />

neue Generation sprechen,<br />

eine neue Jugend, die nicht<br />

Beobachtungen zur Integration<br />

liegt es an der Sprache oder an der Kommunikation<br />

zwischen Migranten und Deutschen,<br />

denn sie sind ja von unterschiedlichen<br />

Kulturen geprägt. Obwohl Integration nicht<br />

neu ist, glaube ich, dass viele noch nicht verstanden<br />

haben, dass es Integration schon seit<br />

Jahrzehnten gibt. Ich glaube, die Deutschen<br />

können von den Migranten lernen. Dafür<br />

müssen sie aber offen für die Kreativität sein,<br />

mit der die Migranten in dieser Gesellschaft<br />

beitragen. Im Gegensatz müssen Migranten<br />

aber auch die eigenen Chancen für sich sehen<br />

und dafür bereit sein, vor allem die deutsche<br />

Sprache und die Kultur zu erlernen und<br />

zu verstehen; obwohl es nicht immer einfach<br />

ist, muss dies der erste Schritt sein.<br />

Zum einen glaube ich, dass Offenheit, Toleranz<br />

und Akzeptanz für Menschen in dieser<br />

Gesellschaft sichtbarer sein müssen. Zum<br />

anderen aber müssen wir der Kreativität und<br />

den Innovationen von Migranten - und natürlich<br />

auch Deutschen - Raum geben und<br />

sie damit einladen, sich für die Gesellschaft<br />

zu engagieren.<br />

Bei Integration geht es nicht nur darum,<br />

die Sprache oder die Kultur zu lernen oder<br />

zu verstehen, sondern auch darum, dass sich<br />

eine Mentalität entwickelt, wo sowohl Deutsche<br />

als auch Migranten sich gern und aktiv<br />

füreinander und die gemeinsame Gesellschaft<br />

einsetzen.. Wir müssen dieses Potenzial als<br />

einen Vorteil in Deutschland sehen, denn<br />

schließch können die unterschiedlichen Kulturen<br />

und Menschen dieses Land bereichern.<br />

Heute sprechen wir über Integration. In<br />

der Zukunft werden wir über eine international<br />

geprägte Gesellschaft in Deutschland<br />

reden, in der die Menschen die richtige Mentalität<br />

für ein offenes und produktives Zusammenleben<br />

haben müssen.<br />

Wenn ich das mit meinen Erfahrungen<br />

in England vergleiche, dann glaube ich, dass<br />

„Looking For Eric“<br />

vermeiden es, Verantwortung zu übernehmen.<br />

Das gilt auch in Bezug auf das Ausstellen<br />

der Bescheinigungen<br />

und Bestätigungen. Die<br />

Gesetze treten in Kraft<br />

und außer Kraft. Ständig<br />

werden andere Dokumente<br />

verlangt.<br />

Es ist eine apolitische<br />

Einstellung der 14-19-jährigen<br />

Jugendlichen festzustellen.<br />

Sie kennen weder<br />

Parteien noch ihre Programme.<br />

Es zeigt sich eine<br />

Tendenz, alles „nur für das<br />

eigene persönliche Wohlbewollen<br />

und sich auch so zu benehmen. Immer<br />

mehr Jugendliche wollen einen guten<br />

Arbeitsplatz finden, oder ein zweites Studium<br />

machen, um ein Diplom zu erwerben,<br />

das für die Arbeitssuche verwendbar ist.<br />

Dadurch wurde bei mir ein Eindruck erweckt,<br />

dass in der Ukraine neue Weichen<br />

geschaffen werden. Noch stehen sie, bald<br />

aber werden sie in Bewegung gebracht. Dann<br />

werden die verrosteten Mechanismen des<br />

unabhängigen Landes in Gang gesetzt und<br />

wir werden feststellen, wie fest sie sind.<br />

Yevheniya Genova<br />

Die Ukrainer mögen es. miteinander zu kommunizieren<br />

Deutschland etwas lernen kann. So ist in<br />

England dass Zusammenleben von verschiedenen<br />

Kulturen und Menschen mehr Normalität<br />

als bei uns in Deutschland. Dafür<br />

ist dort, auch von der Regierung, schon früh<br />

mehr getan worden als bei uns. Einwanderung<br />

wurde dort schon früh als Realität akzeptiert.<br />

England zeigt aber auch, dass das<br />

Zusammenleben oft auch schwierig ist. Dafür<br />

gibt es gute Gründe, denn auch in England<br />

gibt es keine gleichen Bildungschancen,<br />

um nur ein Beispiel zu nennen.<br />

Entscheidend für mich ist aber, dass in<br />

England das Zusammenarbeiten von Engländern<br />

und Migranten für gemeinsame Innovationen<br />

und Kreativität besser funktioniert.<br />

Denn der Umgang von Engländern und Migranten<br />

ist von gegenseitiger Akzeptanz und<br />

viel Pragmatismus gekennzeichnet.<br />

Lynda Hamelburg<br />

Regisseur Ken Loach hat den ehemaligen Fußballstar Eric Cantona als kernigen Lebenscoach in Szene gesetzt<br />

Der britische Regisseur Ken Loach zählt<br />

zu den Altmeistern des sozialrealistischen<br />

Kinos. Als er für das IRA-Drama „The<br />

Wind That Shakes The Barley“ 2006 mit der<br />

Goldenen Palme von Cannes geehrt wurde,<br />

reagierte die internationale Presse jedoch<br />

nicht durchweg mit Beifall. Ein Umstand,<br />

der kein Problem für den bekennenden<br />

Trotzkisten dargestellt haben dürfte.<br />

Loachs linkes Kino gibt von jeher Anlass<br />

zu kleinen als auch größeren Kontroversen.<br />

Die oft sozialistisch angehauchten Werke<br />

des engagierten Filmemachers beschäftigen<br />

sich zumeist in kritischer Weise mit den<br />

sozialen Themen unserer <strong>Welt</strong>, insbesondere<br />

aber mit brisanten sozialen Situationen in<br />

seinem Heimatland Großbritannien. Aktuell<br />

meldet sich der mittlerweile 72-jährige<br />

Autorenfilmer mit einem tragikomischen<br />

Alltagsmärchen zurück. „Looking For<br />

Eric“ spielt in einem präzise gezeichneten<br />

Arbeitermilieu. Geschildert wird die<br />

urkomische Geschichte eines lebensmüden<br />

Briefträgers, der von seinem großen Idol,<br />

dem ehemaligen Fußballspieler Eric<br />

Cantona (spielt sich selbst) wachgerüttelt<br />

wird. „Looking For Eric“ erzählt von der<br />

stürmischen Leidenschaft für Fußball, von<br />

Freundschaft, Liebe und von Hoffnung.<br />

Die warmherzige Mischung aus Spaß und<br />

naturalistischem Drama gewann dieses Jahr<br />

in Cannes den Hauptpreis der ökumenischen<br />

Jury. In den Frankfurter Kinos ist der Film ab<br />

dem 5. November 2009 zu sehen.<br />

Text: Artur<br />

Bild : bakiniz.com


8<br />

FRAUENTHEMEN - SOZIALE ORGANISATION<br />

Geben Sie Gewerbefreiheit, Frau Kanzlerin!<br />

Das älteste Gewerbe der <strong>Welt</strong> ist gar keines.<br />

Zumindest in den Augen der deutschen<br />

Steuerbehörden. Zwar kassiert der Staat Steuern<br />

ein. Doch viel zu viele Probleme werden<br />

unter den Tisch gekehrt. Einkünfte aus sexuellen<br />

Dienstleistungen sind keine Gewerbeeinnahmen,<br />

sondern „sonstige“ Einkünfte.<br />

Es gibt noch immer restriktive Regelungen<br />

im Ordnungsrecht, deren Begründung<br />

klingt wie aus dem tiefsten wilhelminischen<br />

Zeitalter. Ganz und gar nicht geklärt sind die<br />

Belange, die sich aus der Tatsache ableiten,<br />

dass viele Sexarbeiterinnen dem Geld nach<br />

Deutschland gefolgt sind und nicht über legalen<br />

Aufenthalt verfügen.<br />

Seit 1998 kämpft Doña Carmen in der<br />

Elbestraße im Rotlichtviertel Frankfurts für<br />

Rechte und bessere Lebensbedingungen für<br />

die Sexarbeiterinnen in Frankfurt. Der gemeinnützige<br />

Verein versteht sich als Prostituiertenselbsthilfeorganisation,<br />

insbesondere<br />

für Prostitutionsmigrantinnen und deren<br />

Kinder. Der Name erklärt sich aus den Umständen<br />

der Prostitution in Frankfurt: Zum<br />

Zeitpunkt der Gründung waren viele der<br />

Sexarbeiterinnen aus Kolumbien und den<br />

Philippinen rekrutiert, sehr oft nicht gerade<br />

freiwillig, und konnten sich nur im Spanischen<br />

artikulieren. Welcher Deutsche kann<br />

schon Quetschua oder Tagalog? Das hat sich<br />

gewandelt, heute kommt der „Nachschub“<br />

vorwiegend aus Osteuropa. Und dem Menschenhandel<br />

wird schärfer nachgegangen<br />

als vielleicht früher. Zwar konnte man mit<br />

vielen der örtlichen Bordellbetreibern Qualitätsstandards<br />

aushandeln, aber vertraglich<br />

geregelte Beschäftigungsverhältnisse sind<br />

noch immer schlecht möglich – die Parteien<br />

bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone,<br />

denn einen anerkannten Beruf als Prostituierte<br />

gibt es nicht. Insbesondere gibt es<br />

keine „Green Card“- ähnliche Regelungen,<br />

die Prostitutionsmigrantinnen legale Tätigkeit<br />

und legalen Aufenthalt erlauben würde.<br />

Dafür streitet der Verein. Allen voran Juanita<br />

Rosinna Henning, seit 1991 Sozialarbeiterin<br />

unter den Prostituierten in Frankfurt und<br />

Mitbegründerin von Doña Carmen. Der<br />

Verein betreibt eine Beratungsstelle, organisiert<br />

Gesprächskreise, Bordellführungen,<br />

und gibt die Zeitung La Muchacha heraus.<br />

Scharfzüngig und hartnäckig kämpft Juanita<br />

Henning wie die Zeitung des Vereins für<br />

Rechte und gegen Razzien mit mehr oder<br />

weniger Erfolg. Wir haben verschiedentlich<br />

darüber berichtet. Es wurde Zeit, sich über<br />

den derzeit erreichten Stand zu unterhalten.<br />

Was tut D.C. (Doña Carmen)?<br />

Wir vertreten die sozialen und politischen<br />

Rechte von Prostituierten.<br />

Wir leisten Sozialarbeit, sind Streetworker,<br />

informieren in Schulen, Universitäten<br />

und auch im Konfirmandenunterricht über<br />

Prostitution. Wir leisten politische Bildungsarbeit.<br />

Der Verein unterstützt die Menschen, die<br />

sich mit der Thematik Prostitution auseinander<br />

setzen wollen. Dazu zählen Ärzte, Professoren<br />

von Universitäten, Sozialarbeiter und<br />

andere.<br />

Wer unterstützt D.C.?<br />

Alle, die unsere<br />

politischen Ziele<br />

unterstützen, private<br />

Leute, Prostituierte,<br />

die Förderungsmitglieder<br />

werden wollen.<br />

Auch die Justiz<br />

indirekt, indem<br />

wir Strafgelder erhalten,<br />

da wir ein<br />

gemeinnütziger<br />

Verein sind.<br />

Wir erhalten keine staatliche Unterstützung,<br />

da wir in keinen Kooperationsvertrag<br />

mit der Polizei oder der Staatsanwalt gehen.<br />

Es findet kein Informationsaustausch statt.<br />

für Frauen und Männer.<br />

Es geht auch darum, ein erweitertes Bewusstsein<br />

dahingehend zu schaffen, das sexuelle<br />

Lustbefriedigung auch gelebt werden<br />

kann, ohne dass Liebe oder eine soziale Bindung<br />

vorhanden sein müssen.<br />

Was haben sie erreicht?<br />

Wir sind noch nicht am Ende unserer Legalisierungsarbeit<br />

für das älteste Gewerbe der<br />

<strong>Welt</strong>. Ein zweiter Anlauf ist nötig, um die<br />

vollständige Legalisierung zu erreichen. Konkret<br />

heißt das, dass die Sittenwidrigkeit der<br />

Prostitution abgeschafft wird.<br />

Was ist das derzeitige Ziel des Vereins?<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer<br />

jüngsten Entscheidung die Wohnungsprostitution<br />

in reinen Wohnungsgebieten verboten.<br />

Begründung: Jugend und Anstand ist vor<br />

Prostitution zu<br />

schützen, die das<br />

Anstandsgefühl<br />

aller billig und gerecht<br />

Denkender<br />

überschreitet.<br />

Für uns klingt<br />

das wie aus wilhelminischen<br />

Zeiten<br />

und heutzutage<br />

unverständlich.<br />

Doña Carmen Logo<br />

Haben Sie die Legalisierung<br />

von<br />

Prostituierten erreicht? Was ist noch zu tun?<br />

Nein! Im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch)<br />

ist klar und deutlich erwähnt worden, dass<br />

Prostitution nicht mehr sittenwidrig ist. Die<br />

Sonderparagrafen im Straf- und Ordnungsrecht<br />

müssen abgeschafft werden. Das Ziel<br />

Was sind die Interessen und Anliegen von D.C.? ist, das Politikerinnen diese Gesetze abschaffen.<br />

Es geht um die Anerkennung von Prostitution<br />

als Beruf und um Entkriminalisierung derungen übernommen, dass man die Son-<br />

Besonders SPD-Frauen haben unsere For-<br />

des gesamten Wirtschaftszweiges- und zwar derbesteuerung nach dem Düsseldorfer Verfahren<br />

einstellt. Es ist das Verfahren, das gegen<br />

Grundgesetz und Abgaben-Verordnung<br />

verstößt.<br />

Was wurde aus dem Protest gegen die Prostitutionsgegner<br />

im Europäischen Parlament?<br />

Der Bericht der Prostitutionsgegner wurde<br />

zurückgezogen.<br />

Kriminalisierung von Frauen?<br />

Es gibt solche und solche Kunden. Wir<br />

sind gegen Kriminalisierung von Freiern.<br />

Letztendlich geht es um die Unterdrückung,<br />

die die Frauen seit Jahrhunderten schmerzhaft<br />

eingeprügelt bekamen und zwar mithilfe<br />

der christlichen Kirchen. Dies wurde auch<br />

auf die Männer übertragen.<br />

„Initiativkreis Prostitution“: Wer trifft sich<br />

in dieser Runde, trifft er sich noch immer?<br />

Alle Leute, die sich in irgendeiner Weise<br />

für das Thema interessieren. Dazu zählen<br />

u.a.:<br />

Frauen, Freier, Professoren, Wohnungs-<br />

Prostitutions-Besitzer/innen, Frauenrechtler/<br />

innen und Politiker/innen.<br />

Was hat die Prostitution mit den „staatenlosen<br />

Kindern“ zu tun?<br />

Da wo Frauen sind, sind auch Kinder. Mit<br />

der Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“<br />

haben wir erreicht, dass Kinder, die<br />

keinen Aufenthaltsstatus haben, in die Schule<br />

gehen können.<br />

Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin<br />

viel Erfolg für Ihre so wichtige Arbeit!<br />

Das Interview mit Juanita Henning, Sprecherin<br />

„Doña Carmen“ führte Armgart Wisent,<br />

Redaktion „<strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>“.<br />

Nachdem die Bahnhofsmissionen in<br />

Deutschland im September 1939 verboten<br />

wurden, und in den Kriegsjahren kein kirchlicher<br />

Dienst am Bahnhof bestand, wurde<br />

die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung<br />

nach dem Ende des zweiten <strong>Welt</strong>krieges<br />

sehr schnell offenbar.<br />

Am Frankfurter Hauptbahnhof herrschte<br />

eine recht unüberschaubare Situation. Durch<br />

die Zerstörung der Städte und die Verschiebung<br />

von Grenzen hatten viele Menschen<br />

ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Die<br />

Hoffnung, in den westlichen Besatzungszonen<br />

bessere Chancen für ein weiteres Leben<br />

zu haben, brachte viele dazu, sich auf den<br />

Weg dorthin zu machen. Täglich kamen<br />

bis zu dreitausend Personen im Frankfurter<br />

Hauptbahnhof an: Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer,<br />

Vertriebene und andere Menschen,<br />

die durch den Krieg ihren Lebensmittelpunkt<br />

verloren hatten.<br />

In Frankfurt angekommen, fanden sie zunächst<br />

eine weitgehend zerstörte Stadt vor, in<br />

der es ohnehin schwer war, zu überleben. Zunächst<br />

wurde der 1941 gebaute Süd-Bunker<br />

des Hauptbahnhofes als Notunterkunft genutzt.<br />

Unter schweren organisatorischen und<br />

hygienischen Bedingungen war dieser Bunker<br />

für viele Menschen ein erster Ruhepunkt<br />

auf dem Weg in ein neues Leben. Im Laufe<br />

der Monate kamen immer mehr Menschen,<br />

die in dem Bunker erste Zuflucht suchten,<br />

Die Bahnhofsmission<br />

Schauplatz des Lebens und der Geschichte am Bahnhof<br />

darunter vermehrt Frauen und Kinder. Angesichts<br />

der immer schwieriger werdenden<br />

Situation meldete das Fürsorgeamt die dringende<br />

Notwendigkeit der Neugründung einer<br />

Bahnhofsmission an. Der Caritasverband<br />

und die Evangelische Innere Mission, die<br />

ohnehin bereits die Fürsorgearbeit am Bahnhof<br />

für sich beansprucht hatten, reagierten<br />

schnell. Der Süd-Bunker wurde erster Sitz<br />

der neu gegründeten Bahnhofsmission, die<br />

zusammen mit dem Roten Kreuz die Leitung<br />

der Unterkunft übernahm.<br />

Während darin etwa 1200 Personen sitzenden<br />

Aufenthalt finden konnten, suchten<br />

dort tatsächlich täglich bis zu 2500 Personen<br />

pro Nacht Zuflucht. So herrschte ständige<br />

Überbelegung. Ein Teil des Bunkers wurde<br />

in dieser Zeit für Frauen und Kinder reserviert,<br />

in einem anderen wurden Amputierte,<br />

Kriegsversehrte und männliche Jugendliche<br />

untergebracht. Bis Oktober 1945 stieg<br />

die Zahl der täglichen Belegungen auf etwa<br />

4500 an, was die ohnehin schwierigen hygienischen<br />

Bedingungen noch steigerte. Die<br />

wenigen Toiletten und Waschstellen waren<br />

ständig verstopft und liefen über, die Reinigung<br />

des gesamten Bunkers bereitete immer<br />

wieder Schwierigkeiten. Hinzu kam, dass<br />

der Eingang zur Abteilung A offenbar vom<br />

Einsturz bedroht war und eine Sanierung<br />

aufgrund von Materialmangel nicht möglich<br />

war.<br />

1947 wurde eine Baracke auf dem Bahnhofsvorplatz<br />

speziell für durchreisende Jugendliche<br />

sowie die örtliche obdachlose Jugend<br />

gebaut. In der Baracke gab es zwanzig<br />

Betten. Bereits Ende Mai wurden in der<br />

Baracke dreißig bis vierzig Übernachtungen<br />

täglich gezählt. Sie blieb bis Oktober 1950<br />

in Betrieb.<br />

Die neu gegründete Bahnhofsmission erhielt<br />

Räume im Bahnhofsgebäude, die sich<br />

am Südausgang befanden und konnte so die<br />

Arbeit der Vorkriegsjahre wiederaufnehmen.<br />

Die ursprünglich auf den Schutz reisender<br />

Mädchen und junger Frauen konzentrierte<br />

Arbeit der Bahnhofsmission in Frankfurt<br />

hatte sich seit ihrer Gründung im Jahre 1897<br />

bereits immer wieder gewandelt. Neben dem<br />

Hauptziel des Mädchenschutzes orientierte<br />

sich die ökumenisch arbeitende Einrichtung<br />

stets an den Erfordernissen der jeweiligen<br />

Zeit und der gesellschaftlichen Situation. In<br />

den Jahren nach dem Kriege etablierte sich<br />

die Bahnhofsmission erneut als Anlaufstelle<br />

für alle Menschen, die am Bahnhof Hilfe<br />

bedurften. Reisende mit Behinderungen,<br />

alleinreisende Kinder, Menschen mit psychischen<br />

Schwierigkeiten und Obdachlose<br />

gehörten bald zu den Gästen. An der damaligen<br />

Dienstkleidung, dem blauen „Schwesternkleid<br />

Eva“ und der Armbinde mit dem<br />

Emblem der Bahnhofsmission konnte man<br />

die Mitarbeiterinnen auf dem Bahnsteig erkennen.<br />

Mit der Zeit, als der Zugverkehr sich<br />

allmählich wieder normalisierte, gehörten<br />

vermehrt auch Umsteigehilfen für Reisende<br />

zu ihren Aufgaben.<br />

Noch bis weit in die fünfziger Jahre gab<br />

es viel Arbeit mit Flüchtlingen, Kriegsheimkehrern,<br />

und Entlassenen aus der Kriegsgefangenschaft.<br />

Bis Januar 1951 war der Süd-<br />

Bunker als Notunterkunft in Betrieb, danach<br />

wurden andere Unterkünfte durch die Bahnhofsmission<br />

betrieben. 1949 wurde auf dem<br />

ehemaligen Häuser- und Vorgartengelände<br />

des im Kriege zerstörten Platzes der Republik<br />

ein eigenes Wohnheim der evangelischen<br />

Bahnhofsmission aus Baracken errichtet.<br />

Täglich waren sieben Sammeltransporte mit<br />

je bis zu 280 Ostflüchtlingen zu betreuen.<br />

Die Betreuung, Verpflegung und Unterbringung<br />

des Flüchtlingsstroms stellte in dieser<br />

Zeit eine der Hauptaufgaben der Bahnhofsmission<br />

dar. Ab 1952 kam ein Zustrom von<br />

Berliner Flüchtlingen hinzu. Die westlichen<br />

Besatzungsmächte hatten Flüge für Ausreisewillige<br />

organisiert, die täglich Flüchtlinge in<br />

verschiedene westliche Städte, darunter auch<br />

Frankfurt, brachten. Die Bahnhofsmission<br />

war eine wichtige Stelle in der Betreuung<br />

der Flüchtlinge und ihrer Weiterleitung und<br />

Unterbringung in verschiedene Auffanglager.<br />

Seit dem Februar 1953 wurde ein ständiger<br />

Dienst der Bahnhofsmission am Frankfurter<br />

Flughafen eingerichtet. Mit einem Bus


SOZIALE ORGANISATION IN FRANKFURT<br />

9<br />

wurden die Flüchtlinge zur Bahnhofsmission<br />

gebracht, wo man sich erst einmal um<br />

Verpflegung und Versorgung mit benötigter<br />

Kleidung kümmerte. Alleine im Zeitraum<br />

zwischen dem Februar und Mai 1953 brachten<br />

693 Flugzeuge 30.989 Flüchtlinge nach<br />

Frankfurt, die von der Bahnhofsmission betreut<br />

wurden.<br />

Ende 1954 bezog die Bahnhofsmission<br />

neue Räume, ebenfalls am Südausgang gelegen,<br />

wo sie nun im Kellergeschoss auch einen<br />

Schlafraum für weibliche Reisende besaß. An<br />

die Stelle der Arbeit mit Flüchtlingen trat mit<br />

den Jahren des Wirtschaftswunders und der<br />

Konsolidierung einer neuen <strong>Welt</strong>ordnung<br />

vermehrt der Dienst an Reisenden und Menschen,<br />

die bei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Neuordnung der westdeutschen<br />

Gesellschaft keinen Platz für sich gefunden<br />

hatten. In der Nachfolge der „Wandererfürsorge“<br />

der Jahre zwischen den <strong>Welt</strong>kriegen<br />

wurde für Obdachlose und Arme Getränke,<br />

Aufenthalt und Gespräch angeboten. Erst in<br />

derr sechziger Jahren wurde das Angebot auf<br />

eine bescheidene Essensausgabe erweitert.<br />

Neben den alltäglichen Arbeiten begaben<br />

sich in der Bahnhofsmission immer wieder<br />

auch kuriose Geschichten, besonders dann,<br />

wenn Reisende aus fernen Ländern zu betreuen<br />

waren. Einmal kam ein Reisender<br />

aus Afrika mit einem großen Koffer in die<br />

Bahnhofsmission, der wissen wollte, wo eine<br />

Bank sei. Der Koffer war schwer angefüllt<br />

mit Münzgeld. Mit Bedauern mussten die<br />

Helferinnen ihm erklären, dass Hartgeld in<br />

Banken nicht eingetauscht wird. Schließlich<br />

konnte Kontakt zu einem Verwandten von<br />

ihm hergestellt werden, der dem Unglücklichen<br />

weiterhalf.<br />

In den sechziger Jahren kam es, bedingt<br />

durch das so genannte Wirtschaftswunder,<br />

zu massenhaften Anwerbungen von Gastarbeitern.<br />

Ausländische Reisende, die nach<br />

Deutschland zogen, um hier zu arbeiten, kamen<br />

in großer Zahl mit dem Zug an, und<br />

der Frankfurter Hauptbahnhof war für viele<br />

von ihnen der Ort, an dem sie erste Eindrücke<br />

von ihrer neuen Heimat sammeln konnten.<br />

Auch viele von ihnen gehörten zu den<br />

Gästen der Bahnhofsmission.<br />

Angesichts der in den achtziger Jahren immer<br />

höheren Besucherzahlen bei nun regelmäßig<br />

drei täglichen Essensausgaben gab es<br />

bald nur wenig Gelegenheit zum Gespräch<br />

mit den Besuchern, wenn es sich nicht gerade<br />

um Stammgäste handelte. Viele Menschen<br />

fanden in der Bahnhofsmission so<br />

über viele Jahre eine Anlaufstelle und vielleicht<br />

ein wenig Beheimatung, darunter viele<br />

liebenswerte Sonderlinge und Frankfurter<br />

Originale wie das „Herbertchen“, das den<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einmal<br />

einen Gartenzwerg mitbrachte, den er aus<br />

einem Frankfurter Garten geklaut hatte. Mit<br />

der Zeit kamen verstärkt Drogenabhängige<br />

und psychisch Kranke hinzu, die in der<br />

Bahnhofsmission ein offenes Ohr und Vermittlungsangebote<br />

zu spezialisierten Stellen<br />

finden.<br />

mit den Jahren des Wirtschaftswunders<br />

und der Konsolidierung einer neuen <strong>Welt</strong>ordnung<br />

vermehrt der Dienst an Reisenden<br />

und Menschen, die bei der gesellschaftlichen<br />

und wirtschaftlichen Neuordnung der<br />

westdeutschen Gesellschaft keinen Platz für<br />

sich gefunden hatten. In der Nachfolge der<br />

„Wandererfürsorge“ der Jahre zwischen den<br />

<strong>Welt</strong>kriegen wurde für Obdachlose und<br />

Arme Getränke, Aufenthalt und Gespräch<br />

angeboten. Erst in derr sechziger Jahren wurde<br />

das Angebot<br />

auf eine<br />

bescheidene<br />

Essensausgabe<br />

erweitert.<br />

Neben den<br />

alltäglichen<br />

Arbeiten begaben<br />

sich<br />

in der Bahnhofsmission<br />

immer wieder auch kuriose<br />

Geschichten, besonders dann, wenn Reisende<br />

aus fernen Ländern zu betreuen waren.<br />

Einmal kam ein Reisender aus Afrika mit<br />

einem großen Koffer in die Bahnhofsmission,<br />

der wissen wollte, wo eine Bank sei. Der<br />

Koffer war schwer angefüllt mit Münzgeld.<br />

Mit Bedauern mussten die Helferinnen ihm<br />

erklären, dass Hartgeld in Banken nicht eingetauscht<br />

wird. Schließlich konnte Kontakt<br />

zu einem Verwandten von ihm hergestellt<br />

werden, der dem Unglücklichen weiterhalf.<br />

In den sechziger Jahren kam es, bedingt<br />

durch das so genannte Wirtschaftswunder,<br />

zu massenhaften Anwerbungen von Gastarbeitern.<br />

Ausländische Reisende, die nach<br />

Deutschland zogen, um hier zu arbeiten, kamen<br />

in großer Zahl mit dem Zug an, und<br />

der Frankfurter Hauptbahnhof war für viele<br />

von ihnen der Ort, an dem sie erste Eindrücke<br />

von ihrer neuen Heimat sammeln konnten.<br />

Auch viele von ihnen gehörten zu den<br />

Gästen der Bahnhofsmission.<br />

Angesichts der in den achtziger Jahren immer<br />

höheren Besucherzahlen bei nun regelmäßig<br />

drei täglichen Essensausgaben gab es<br />

bald nur wenig Gelegenheit zum Gespräch<br />

mit den Besuchern, wenn es sich nicht gerade<br />

um Stammgäste handelte. Viele Menschen<br />

fanden in der Bahnhofsmission so über<br />

viele Jahre eine Anlaufstelle und vielleicht ein<br />

wenig Beheimatung, darunter viele liebenswerte<br />

Sonderlinge und Frankfurter Originale<br />

wie das „Herbertchen“, das den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern einmal einen<br />

Gartenzwerg<br />

mitbrachte,<br />

den er aus<br />

einem Frankfurter<br />

Garten<br />

geklaut hatte.<br />

Mit der Zeit<br />

kamen verstärkt<br />

Drogenabhängi-<br />

ge und psychisch Kranke hinzu, die in der<br />

Bahnhofsmission ein offenes Ohr und Vermittlungsangebote<br />

zu spezialisierten Stellen<br />

finden.<br />

Behinderte, Kranke und alleinreisende<br />

Kinder werden bis heute betreut. Bestohlene<br />

Reisende und solche ohne Geld bekommen<br />

erfahrene Hilfestellung dabei angeboten, eine<br />

Fahrkarte zu organisieren. Seit 2004 ist die<br />

regelmäßige Essensausgabe der Bahnhofsmission<br />

abgeschafft, da es inzwischen viele<br />

Stellen in Frankfurt gibt, die frisch zubereitetes<br />

Essen anbieten und die notdürftige Vergabe<br />

von Margarinebroten und gespendeten<br />

Lebensmitteln, Andachtsraum vor allem aus<br />

den Läden im Bahnhof, nicht mehr sinnvoll<br />

erschien.<br />

Mit dem Umzug in wiederum neue Räume<br />

an Gleis 1 im Sommer 2005 gingen auch<br />

verschiedene Veränderungen im Hilfsangebot<br />

der Bahnhofmission einher. Nun tragen<br />

die Helferinnen und Helfer leuchtend blaue<br />

Westen. Der Schwerpunkt der Arbeit mit<br />

Obdachlosen, Drogenabhängigen, psychisch<br />

Kranken und Armen hat sich stärker in Richtung<br />

Beratung entwickelt. Für alleinreisende<br />

Kinder gibt es seit 2004 den Betreuungsservice<br />

„Kids on Tour“ in Kooperation mit der<br />

Deutschen Bahn. Für Menschen, die in der<br />

Hektik des Bahnhofs etwas Ruhe suchen und<br />

sich besinnen möchten, bietet die Bahnhofsmission<br />

nun einen Raum der Stille an.<br />

Nach wie vor ist die Bahnhofsmission eine<br />

wichtige Anlaufstelle im Hauptbahnhof für<br />

alle Menschen, die ein Problem oder eine<br />

Sorge haben, sie ist Schauplatz von Schicksalen<br />

und menschlichen Begegnungen am<br />

Rande der Betriebsamkeit. Hier ist etwas von<br />

der Seele des Frankfurter Hauptbahnhofs<br />

spürbar, der stets die unterschiedlichsten<br />

Menschen anzieht.<br />

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung<br />

von Autor und Verlag<br />

Allgemeine Sozialberatung in Bornheim<br />

Neue Anlaufstelle für Menschen in Not ab Oktober in Kooperation von Pfarrgemeinde und Caritas - St. Josef<br />

Informationen, Rat und Hilfe bei allen Fragen und Problemen des Alltags können sich Bornheimer Bürgerinnen und Bürger ab<br />

Oktober 2009 bei der „Allgemeinen Sozialberatung“ (ASB) der katholischen Pfarrgemeinde St. Josef Bornheim holen. Regelmäßig<br />

montags von 16:00 Uhr bis 18:00 Uhr finden sie im Gemeindehaus in der Berger Straße 135 im Cäciliensaal Ansprechpartner,<br />

die ein offenes Ohr für sie haben. Ein Team von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Pfarrei<br />

engagiert sich für Menschen in Not. Die Beratung ist kostenlos und vertraulich. Alle sind willkommen, die Hilfe brauchen.<br />

„Als christliche Pfarrgemeinde entspricht<br />

es unserem Selbstverständnis und unserem<br />

Auftrag, dass wir da sind, für Menschen in<br />

Not“, erklärt Martin Dorda, Pastoralreferent<br />

der Pfarrgemeinde, der neben sechs freiwillig<br />

Engagierten zum Beratungsteam gehört. Von<br />

dieser christlichen Grundeinstellung getragen,<br />

hat die Gemeinde die Idee zum Projekt<br />

„ASB“ entwickelt und zusammen mit dem<br />

Caritasverband Frankfurt e. V. dieses soziale<br />

Beratungsangebot aufgebaut.<br />

Um sich auf ihren ehrenamtlichen Dienst<br />

vorzubereiten, haben sich die Ehrenamtlichen<br />

über das Frankfurter Hilfenetz informiert,<br />

verschiedene soziale Einrichtungen<br />

besichtigt und grundlegende Fähigkeiten erworben<br />

wie zum Beispiele Gesprächstraining.<br />

Am 28. September startet die „Allgemeinen<br />

Sozialberatung St. Josef Bornheim“ mit der<br />

offiziellen Eröffnung und Vorstellung.<br />

Die ASB ist eine Erstkontaktstelle, wo<br />

Menschen in Notlagen und Konfliktsituationen,<br />

die Gesprächsbedarf haben, direkt in<br />

ihrem Stadtteil Ansprechpartner finden. Hier<br />

bekommen sie problemlos erste Informationen,<br />

Rat und Hilfe. Eine Anmeldung für<br />

diese offene Sprechstunde ist nicht nötig.<br />

Gute Erfahrungen mit anderen ehrenamtlich<br />

organisierten Beratungsstellen in katholischen<br />

Pfarreien, die ebenfalls in Kooperation<br />

mit dem Caritasverband Frankfurt entstanden<br />

sind, zeigen,<br />

wie wirkungsvoll<br />

ein solches Angebot<br />

ist. Die ehrenamtlich<br />

tätigen<br />

Gemeindemitglieder<br />

kennen alle<br />

Ressourcen im<br />

Stadtteil und die<br />

örtlichen Gegebenheiten.<br />

Sie haben<br />

den Überblick<br />

über das ganze<br />

Spektrum an<br />

Unterstützungsmöglichkeiten<br />

und können oft<br />

sehr schnell ganz<br />

konkrete Nachbarschaftshilfe<br />

organisieren. Die<br />

vertraute Umgebung<br />

und die Solidarität<br />

unter den<br />

Stadtteilbewoh-<br />

St.-Josephskirche<br />

Frankfurt am Main-Bornheim<br />

nern erleichtern<br />

die Beratungsgespräche.<br />

In der neuen Beratungsstelle sind<br />

alle Menschen willkommen, unabhängig von<br />

ihrer religiösen, kulturellen oder nationalen<br />

Zugehörigkeit.<br />

Aufgabe der<br />

ehrenamtlich Engagierten<br />

ist es,<br />

zunächst einmal<br />

zuzuhören. Dass<br />

sie ihre Sorgen<br />

und Ängste in<br />

einem Gespräch<br />

loswerden können,<br />

ist für viele<br />

Menschen schon<br />

eine große Erleichterung.<br />

Gemeinsam<br />

mit den<br />

Ratsuchenden<br />

versuchen die Beraterinnen<br />

und<br />

Berater eine Klärung<br />

der Situation<br />

und geben<br />

erste Orientierung.<br />

Leitgedanke<br />

des Angebots<br />

ist die „Hilfe zur<br />

Quelle:<br />

Wikipedia Selbsthilfe“. Bei<br />

speziellen Fragestellungen<br />

und<br />

schwerwiegenden Problemen können die Ehrenamtlichen<br />

an geeignete Fachstellen weitervermitteln.<br />

Für die fachliche Begleitung und die Qualifizierung<br />

der ehrenamtlichen Beraterinnen<br />

und Berater sorgt Sigrid Bender, Sozialarbeiterin<br />

beim Caritasverband Frankfurt. Sie hat<br />

das Projekt von Anfang an begleitet, Schulungen<br />

für das Mitarbeiter-Team organisiert<br />

und ist Ansprechpartnerin bei allen Fragen<br />

und Konflikten im Team.<br />

Das neue Beratungsangebot ist ein lokales<br />

Modellprojekt: In der „Allgemeinen Sozialberatung<br />

St. Josef Bornheim“ engagieren sich<br />

die Pfarrgemeinde und der Caritasverband<br />

Frankfurt gemeinsam im Sinne ihres diakonischen<br />

Auftrags für sozial benachteiligte<br />

Menschen. Es ist ein beispielhaftes Angebot,<br />

durch das weitere Pfarrgemeinden in Frankfurt<br />

zu sozialem Engagement motiviert werden<br />

sollen. Das Projekt ist ein Mosaikstein<br />

im neuen Pastoralkonzept der Frankfurter<br />

Stadtkirche für eine solidarische Stadtgesellschaft.<br />

Frankfurt-Bornheim,<br />

Gemeindehaus der<br />

katholischen Pfarrei St. Josef<br />

Bergerstraße 135<br />

U-Bahnlinie: U4 / Höhenstrasse<br />

Veröffentlichung mit freundlicher<br />

Genehmigung der Pfarrei St. Josef


10 LOKALES<br />

Von Neufundland bis zum Affentor<br />

25 Jahre Werkstatt Frankfurt – Qualifizierung für Arbeitslose – Eigene Betriebe<br />

Die Werkstatt Frankfurt hat sich von einem kleinen städtischen Projekt zu einem sozialen Unternehmen mit 10 Betrieben<br />

entwickelt, in denen Arbeitslose beschäftigt und qualifiziert werden. Mit dem Programm “Frankfurter Weg zur Berufsausbildung“<br />

ist auch ein Berufsabschluss möglich. Das jüngste Projekt der Werkstatt ist ein „smart“-Lebensmittelmarkt.<br />

Im März 2009 wurde in Eckenheim der<br />

„smart“-Lebensmittelmarkt eröffnet.<br />

„Unser Markt in der Porthstraße 11 bietet<br />

endlich wieder ortsnah alles, was man zum<br />

Leben braucht. Wir sind stolz darauf, dass<br />

wir den Menschen in Eckenheim dieses Angebot<br />

machen können, und so die Nahversorgung<br />

verbessern helfen“, heißt es bei der<br />

Werkstatt Frankfurt. Sie betreibt den kleinen<br />

Supermarkt, dessen Größe von 445 qm für<br />

die großen Lebensmittel-Filialisten nicht<br />

mehr interessant ist. smart ist ein Vollsortimenter.<br />

Die Ware kommt unter anderem von<br />

Rewe und der Bio-Gärtnerei, die die Werkstatt<br />

in Oberrad betreibt. Auf Gewinne aus<br />

dem Projekt ist der gemeinnützige Verein<br />

nicht aus. Vielmehr geht es auch bei smart<br />

darum, arbeitslosen Menschen eine qualifizierende<br />

Beschäftigung zu bieten.<br />

Die Mitarbeiter des Marktes nehmen an<br />

einem Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm<br />

teil. Noch in diesem Jahr können<br />

sie über den so genannten „Frankfurter Weg<br />

zum Berufsabschluss“ eine Qualifikation zum<br />

Einzelhandelskaufmann/-kauffrau beginnen.<br />

Für den regulären Ausbildungsmarkt wären<br />

sie zu alt. Rund drei Viertel der Lohnkosten<br />

finanziert die Werkstatt Frankfurt mit Fördermitteln<br />

der Stadt und der Arbeitsagentur.<br />

„Die Werkstatt Frankfurt ist einer der<br />

ältesten und größten Organisationen in<br />

Deutschland, die sich mit der Integration,<br />

der Beschäftigung und Qualifizierung von<br />

Langzeitarbeitslosen befasst“, sagt Conrad<br />

Skerutsch, Geschäftsführer der Werkstatt,<br />

die vor kurzem 25-jähriges Jubiläum feierte.<br />

1984 hat die Stadt Frankfurt den Verein<br />

„Werkstatt Frankfurt e.V.“ gegründet mit<br />

dem Zweck, Arbeitsgelegenheiten für Arbeitslose<br />

zu schaffen und sie wieder in den<br />

Arbeitsmarkt zu integrieren. Seither hat<br />

sich die Werkstatt zu einem sozialen Unternehmen<br />

mit zehn Betrieben entwickelt, die<br />

zurzeit 1363 Menschen Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten<br />

bieten. 182 Stammmitarbeiter<br />

beschäftigt die Werkstatt. An der<br />

Spitze des Vereins steht laut Satzung der jeweilige<br />

Sozialdezernent der Stadt Frankfurt.<br />

„Die Werkstatt Frankfurt hat sich in den<br />

letzten Jahren fundamental gewandelt. Wir<br />

haben den Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />

entwickelt, eine eigene Modemarke<br />

kreiert, die für ihr Recycling einen Umweltpreis<br />

bekommen hat, haben uns in aktuelle<br />

arbeitsmarktpolitische Debatten eingebracht<br />

und viele kreative Ideen umgesetzt“, sagt<br />

Skerutsch. Kerngeschäft sei nach wie vor<br />

die Integration arbeitsloser Menschen in<br />

den Arbeitsmarkt. „Die praktische Tätigkeit<br />

unserer Betriebe ist stark auf Umweltschutz<br />

und Ressourcenschonung orientiert“, ergänzt<br />

Christian Jungk, Leiter Betriebe der Werkstatt<br />

Frankfurt.<br />

Neben dem Recyclingzentrum Frankfurt<br />

betreibt die Werkstatt das Second-Hand-<br />

Möbelkaufhaus Neufundland, die Bioland-<br />

Gärtnerei in Oberrad, den Stadtteilservice<br />

ffmtipptopp und die Affentor Manufaktur,<br />

in der ausgefallene<br />

Taschen aus Reststoffen<br />

genäht werden.<br />

Das Tower-Café<br />

bei Bonames und<br />

das Licht & Luftbad<br />

in Niederrad,<br />

beide ebenfalls von<br />

der Werkstatt und<br />

damit von Arbeitslosen<br />

betrieben, sind<br />

dazu gedacht, den Stadtmenschen Erholung<br />

in der Natur zu bieten.<br />

Zusammen mit dem Rhein-Main-Jobcenter<br />

und der Berta-Jourdan-Schule führt die<br />

Beschäftigungsgesellschaft darüber hinaus<br />

ein Bildungsprojekt für angehende Erzieherinnen<br />

durch. Arbeitslose Bezieher von ALG<br />

II können sich bei entsprechender Eignung<br />

zu Erzieherinnen bzw. Erziehern ausbilden<br />

lassen. Das Projekt ist Anfang dieses Jahres<br />

gestartet.<br />

Die Werkstatt Frankfurt hat sich in den<br />

letzten Jahren mit vielfältigen und innovativen<br />

Aktivitäten als Beschäftigungsgesellschaft<br />

etabliert. Menschen in den arbeitsmarktpolitisch<br />

umstrittenen 1,50 Euro-Jobs zu beschäftigen,<br />

gehört auch dazu, ist aber längst nicht<br />

alles. „Die Werkstatt Frankfurt wird häufig<br />

als ein Akteur angesehen, der nur so genannte<br />

Ein-Euro-Jobs organisiert“, sagt Skerutsch.<br />

„Das tut sie auch, aber für Menschen, die ein<br />

solches Training brauchen und wollen, um<br />

sich wieder in die Arbeitswelt einzufinden.“<br />

Er ist jedenfalls überzeugt davon, dass mit<br />

dem Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />

ein Programm zur Verfügung steht, das für<br />

einen Großteil der Langzeitarbeitslosen eine<br />

echte und nachhaltige Ausstiegsperspektive<br />

aus Hartz IV bedeutet.<br />

liz<br />

Die Betriebe der Werkstatt Frankfurt<br />

Angebunden an die Nidda und eingebunden<br />

in das Naturschutzgebiet des Frankfurter<br />

Grüngürtels ist der ehemalige Hubschrauberlandeplatz<br />

besonders an den Wochenenden<br />

ein beliebtes Ausflugsziel für Radfahrer,<br />

Wanderer und Naturbegeisterte. Der ehemalige<br />

Tower des Hubschrauberlandeplatzes<br />

wurde zum Tower-Café (1995 eröffnet) umgebaut.<br />

So wie im Schmankerl & Co, einem<br />

Café im Bürgerhaus<br />

Griesheim, werden<br />

im Tower-Café erwerbslose<br />

Menschen<br />

zu Köchen und Restaurantfachkräften<br />

weitergebildet.<br />

In der Affentor-<br />

Manufaktur arbeiten<br />

25 Nähhelferinnen<br />

unter der<br />

Anleitung von zwei Schneider-Meisterinnen.<br />

Sie erlernen den Umgang mit unterschiedlichen<br />

Stoffen und Materialien und nähen<br />

Einkaufstaschen, kleine Beutel und Laptop-<br />

Taschen. Verkauft werden die Produkte in<br />

einem Laden in der Frankfurter Innenstadt<br />

(Fahrgasse 23), in der Nähe des Museums für<br />

Moderne Kunst.<br />

Hoher Anteil an Ungelernten in Frankfurt<br />

Frankfurter Weg zum Berufsabschluss<br />

Der Frankfurter Weg ist eine Gemeinschaftsinitiative<br />

der Industrie- und Handelskammer<br />

Frankfurt, der Handwerkskammer<br />

und der Werkstatt Frankfurt, um Arbeitslosen<br />

(25 bis 45 Jahre) zu einem qualifizierten<br />

Berufsabschluss zu verhelfen. In den Betrieben<br />

der Werkstatt Frankfurt, in Praktika<br />

und in Lerngruppen werden die Teilnehmer<br />

in drei Stufen und über insgesamt drei Jahre<br />

auf den Berufsabschluss vorbereitet.<br />

Der Frankfurter Weg wird vom Rhein-<br />

Main-Jobcenter finanziell unterstützt.<br />

„Menschen bis zu einem Alter von 45 Jahren<br />

erhalten ihre zweite Chance“, sagt Werkstatt-<br />

Leiter Skerutsch zu der Gemeinschaftsinitiative,<br />

die im Jahre 2006 gestartet wurde. Im<br />

Jahr 2008 bestanden die ersten 7 Teilnehmer<br />

am Frankfurter Weg die Kammerprüfungen.<br />

2009 haben 50 Menschen erfolgreich den<br />

Frankfurter Weg absolviert.<br />

Der Betrieb Bauwerk bietet eine ganze Palette<br />

an Dienstleistungen rund um die Sanierung<br />

und Modernisierung von Häusern und<br />

Wohnungen.<br />

ffmtipptopp ist ein Stadtteilservice mit<br />

Ortsdiener. Unter Leitung der Werkstatt<br />

Frankfurt und in enger Kooperation mit der<br />

Stadt Frankfurt, Stabsstelle Sauberes Frankfurt,<br />

sind zurzeit rund 75 Langzeitarbeitslose<br />

(Hartz IV-Empfänger) als Ortsdiener in den<br />

Stadtteilen eingesetzt. Sie kümmern sich als<br />

„Hausmeister des Stadtteils“ um das Erscheinungsbild<br />

der Stadt. Sie melden wilde Abfallablagerungen<br />

und Graffiti und entfernen Abfallkleinmengen<br />

aus dem öffentlichen Raum.<br />

Sie melden Defekte an öffentlichen Verkehrsund<br />

Beleuchtungseinrichtungen den entsprechenden<br />

Ämtern. Sie sind Ansprechpartner<br />

für die Bürger und Geschäftsleute der Stadtteile,<br />

in denen sie eingesetzt sind.<br />

Das Second-Hand-Warenhaus Neufundland<br />

bietet auf 600 qm Fläche ein breites<br />

Angebot an Möbeln und Wohn-Accessoires.<br />

Hier werden den Mitarbeitern die Möglichkeit<br />

zur Qualifizierung zum Fachlagerist/in,<br />

Fachkraft für Lagerlogistik, Verkäufer/-in;<br />

Einzelhandelskauffrau/mann geboten.<br />

Das Recyclingzentrum (Frankfurt Griesheim)<br />

sammelt gebrauchte Elektrogeräte,<br />

setzt sie wieder instand oder gewinnt daraus<br />

wertvolle Rohstoffe. Qualifizierungsberufe:<br />

Elektroniker/in Energie- und Gebäudetechnik,<br />

Informationselektroniker/-in,<br />

Berufskraftfahrer/-in<br />

Die Bioland-Gärtnerei (Gärtnersiedlung<br />

Frankfurt Oberrad) baut Gemüse nach biologischen<br />

Gesichtspunkten an und verkauft<br />

im eigenen Laden und auf dem Markt in Offenbach.<br />

Hier wird die Qualifizierung zum/<br />

zur Gärtner/in im Gemüsebau angeboten.<br />

Bider und Text: Werkstatt Frankfurt e.V.<br />

Wir haben uns vom Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur der Goethe-Universität Frankfurt<br />

am Main – kurz IWAK - einmal die genauen Zahlen heraussuchen lassen. Bundesweit sind 6,7<br />

Millionen Erwerbstätige im Status der An- und Ungelernten. Hinzurechnen muss man noch<br />

einmal fast 1,4 Millionen An- und Ungelernte, die arbeitslos sind. Zusammen sind es also über 8<br />

Millionen betroffene Menschen. Fast die Hälfte dieser 8 Millionen Menschen sind im Alter von 25<br />

bis 50 Jahre – und kommt einerseits nicht für eine Erstausbildung, aber sehr wohl dem Grunde<br />

nach für eine Nachqualifizierung, in Betracht.<br />

In Frankfurt sind es 91.000 An- und Ungelernte (hiervon 74.000 erwerbstätig). Frankfurt<br />

liegt mit 22 % Anteil an allen Erwerbstätigen spürbar höher als der Bundesdurchschnitt mit 18<br />

%. Dies liegt ganz offenkundig an dem hohen Anteil von Migranten an den Frankfurter Erwerbstätigen.<br />

Migranten haben einen deutlich überproportionalen Anteil an der Gruppe der An- und<br />

Ungelernten. Er beträgt bundesweit 20 % und in Frankfurt liegt der Anteil der Migranten an der<br />

Gruppe der An- und Ungelernten bei 44 %. Der Grund hierfür ist die fehlende Anerkennung im<br />

Ausland erworbener Ausbildungen.“<br />

Conrad Skerutsch, Leiter der Werkstatt Frankfurt, bei der Fachtagung „Da geht noch viel! Wie<br />

aus An- und Ungelernten dringend benötigte Fachkräfte werden können“, am 02.09.2009 in<br />

Frankfurt.


KULTUR<br />

11<br />

Unsere CD-Empfehlung des Monats<br />

Fabrizio de André In-Direzione Ostinata E Contraia Rekordi/Soni 82876752322 (3)<br />

3 CD`s, 54 Tracks 222:02, mit italienischen Texten und Infos<br />

Vor zehn Jahren starb im Januar 1999 an Lungenkrebs der Liedermacher und Cantautor<br />

Fabrizio de André. Fabrizio galt als einer der besten italienischen Komponisten und Sänger,<br />

er stammte aus Genua. Die Hauptthemen seiner Lieder waren die Menschen, die auf der<br />

Schattenseite des Lebens standen und stehen. Er konnte sich insbesondere mit seiner Musik<br />

über diesen Kulturbereich äußern. In der vorliegenden Zusammenstellung, die in Italien<br />

bereits 2005 erschien und dort auf Platz 1 der Albumcharts landete, sind Lieder von André<br />

aus den Jahren 1967 -1996 entnommen. Weitere Titel, die auf den sonstigen CDs nicht<br />

veröffentlicht wurden, sind auf diesen Kassetten auch enthalten. Es handelt sich um die Titel<br />

Cose Cae Dimentco sowie das Lied Georde.<br />

Faba, so nannten ihn seine Freunde, hatte frühe Kontakte zur Musik. Einer seiner Kollegen,<br />

ein Herr Tengo, weckte seine Leidenschaft. Zunächst widmete er sich den französischen<br />

Chansonniers wie George Brasant. Seine ersten Lieder die er auf der Gitarre begleitete waren<br />

jedoch sehr stark von Bob Dylan und Leonhard Cohen geprägt. Die Thematik befasste<br />

sich mit christlichen Fragen sowie Themen zum Krieg und zu der 68er Bewegung bis zum<br />

Terrorismus. Es ist eigentlich unverständlich, dass ein solch großer Künstler nicht in anderen<br />

Teilen Europas bekannt wurde. Es gibt leider keine deutsch- oder englischsprachige Literatur<br />

über den Barden. Einige seiner Songs wurden durch mich und Herbert Killian in deutsche<br />

Sprache übersetzt. Eines dieser Lieder haben wir in deutscher Übersetzung hier aufgeführt.<br />

Wir empfehlen den Kauf dieser 3 CDs.<br />

Reinhold Urbas<br />

Bild: amazon.de<br />

Canzone Del Maggio<br />

Anche se il nostro maggio<br />

ha fatto a meno del vostro coraggio<br />

se la paura di guardare<br />

vi ha fatto chinare il mento<br />

se il fuoco ha risparmiato<br />

le vostre Millecento<br />

anche se voi vi credete assolti<br />

siete lo stesso coinvolti.<br />

E se vi siete detti<br />

non sta succedendo niente,<br />

le fabbriche riapriranno,<br />

arresteranno qualche studente<br />

convinti che fosse un gioco<br />

a cui avremmo giocato poco<br />

provate pure a credevi assolti<br />

siete lo stesso coinvolti.<br />

Anche se avete chiuso<br />

le vostre porte sul nostro muso<br />

la notte che le pantere<br />

ci mordevano il sedere<br />

lasciamoci in buonafede<br />

massacrare sui marciapiedi<br />

anche se ora ve ne fregate,<br />

voi quella notte voi c‘eravate.<br />

E se nei vostri quartieri<br />

tutto è rimasto come ieri,<br />

senza le barricate<br />

senza feriti, senza granate,<br />

se avete preso per buone<br />

le „verità“ della televisione<br />

anche se allora vi siete assolti<br />

siete lo stesso coinvolti.<br />

E se credente ora<br />

che tutto sia come prima<br />

perché avete votato ancora<br />

la sicurezza, la disciplina,<br />

convinti di allontanare<br />

la paura di cambiare<br />

verremo ancora alle vostre porte<br />

e grideremo ancora più forte<br />

per quanto voi vi crediate assolti<br />

siete per sempre coinvolti,<br />

per quanto voi vi crediate assolti<br />

siete per sempre coinvolti.<br />

Das Lied vom Mai<br />

Auch wenn unser Mai<br />

Ohne euren Mut auskommen musste<br />

Wenn die Angst hinzuschauen<br />

Euch das Kinn senken liess<br />

Auch wenn das Feuer eure Elfhunderter verschont<br />

hat<br />

Auch wenn ihr euch freigesprochen glaubt<br />

Seid ihr trotz allem mitbeteiligt.<br />

Und wenn ihr euch eingeredet habt,<br />

Dass nichts geschieht,<br />

Die Fabriken werden wieder öffnen,<br />

Sie werden ein paar Studenten einsperren,<br />

überzeugt es wäre ein Spiel<br />

Das wir nur kurz gespielt hätten<br />

Versucht ruhig euch freigesprochen zu fühlen<br />

Ihr seid trotz allem beteiligt.<br />

Auch wenn ihr verschlossen habt<br />

Eure Türen vor unserer Schnauze<br />

In der Nacht als die Panther<br />

Uns in den Hintern gebissen haben<br />

Und ihr uns gutgläubig<br />

Auf dem Bürgersteig massakrieren liesset<br />

Auch wenn es euch jetzt scheissegal ist<br />

Ihr wart in dieser Nacht dabei.<br />

Und wenn in euren Vierteln<br />

Alles so geblieben ist wie gestern,<br />

Ohne Barrikaden<br />

Ohne Verletzte, ohne Granaten,<br />

Wenn ihr für gut befunden habt<br />

Die ‚Wahrheit‘ des Fernsehens<br />

Auch wenn ihr euch damals freigesprochen<br />

habt<br />

Seid ihr trotz allem beteiligt.<br />

Und wenn ihr nun glaubt<br />

Alles sei so wie früher<br />

Weil ihr erneut gewählt habt<br />

Die Sicherheit, die Disziplin,<br />

Überzeugt damit<br />

Die Angst vor Veränderung zu beseitigen<br />

Wir werden wieder vor eure Türen kommen<br />

Und wir werden noch lauter schreien<br />

Dafür: wie sehr ihr euch auch freigesprochen<br />

fühlt<br />

Seid ihr doch für immer beteiligt.<br />

Seid ihr doch für immer beteiligt.<br />

AKTIVE SAMBAGRUPPE<br />

Wir suchen Mittrommler – Frauen und Männer –<br />

Info bei:<br />

Herr R.Urbas<br />

Tel.: 06109 22 527<br />

E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />

spielt mit !!!<br />

wir treffen uns wieder am:<br />

24.11.09, 01. und 15.12.09<br />

immer Dienstags ab 17.00 Uhr<br />

im Bunker Bornheim, Petterweilstr. 48<br />

Bänkerlied<br />

Ich brauche viele Millionen,<br />

für mich ist ein Pfennig kein Glück<br />

denn nur das Klingeln von Kohlen<br />

das ist Musik-Musik-Musik!<br />

Ich hab ein Schloß um zu wohnen<br />

Mein Benz ist funkelnd und schick<br />

Doch nur das Kingeln der Kasse<br />

Das ist Musik-Musik-Musik!<br />

Nur eine ganze Kleinigkeit<br />

Die brauch ich noch dazu<br />

Und diese ganze Kleinigkeit<br />

Mein Staat, bist Du – Du –Nur Du!<br />

Wenns mal nicht klappt mit den Zinsen<br />

Zahlst Du die Rechning für mich<br />

Und geht der Fond in die Binsen<br />

Hält sich jeder an Dich!<br />

Und wenn ich betrüge und lüge<br />

Die Rechnung, mein Staat, zahlst Du<br />

Und noch Prämie zu Genüge<br />

Zahlst Du an mich – Blöde Kuh!<br />

Ich habe viele Millionen<br />

Zahl keine Steuern zum Glück<br />

Rauscht das Geld stapelweise<br />

Das ist Musik.Musik-Musik!


12 KULTUR<br />

Mit Schindern verbindet man heutzutage brüllende Drillsergeants bei irgendeiner Armee.<br />

Zurzeit vom Schinderhannes, geboren irgendwann im Herbst 1779 entweder in Miehlen<br />

oder in Waschenbach im Taunus, war das noch ganz anders. Die eiserne Gewerbeordnung<br />

ließ ihm bei der Berufswahl keine Wahl: wie der Vater, so der Sohn. Sein Vater war Wasenmeister.<br />

Das kennt man heute nicht mehr. Der Wasenmeister und seine Gehilfen übten eine<br />

damals nötige, aber nicht unbedingt angesehene Kunst aus: Sie zogen den Tieren das Fell ab<br />

und gerbten es roh, zur Weiterbearbeitung beim Lederer.<br />

Nichts für zarte Seelen oder Nasen, denn der Gestank der Wasen, der Gruben, in denen<br />

die Häute gegerbt wurden, muss grauslich gewesen sein. Rinde gehörte dazu, aber auch<br />

Urin, Mineralien und vieles andere, was stinkt. Die Gerber waren schon des Geruches halber<br />

selbst in den schmutzigen und anrüchigen Dorfkneipen und bei den Dorffesten nicht gerne<br />

gesehen. Noch dazu übten einige – so auch der Vater von Johannes Bückler – noch dazu das<br />

Amt eines Scharfrichters aus. Und für die gab es einen festen Platz im Dorfkrug mit einem<br />

an die Kette gelegten Krug, damit ihn ja keiner aus Versehen mitnehmen könnte.<br />

Johann Bückler hatte das Pech, in eine historisch interessante Zeit geboren zu werden.<br />

Es war mal wieder Krieg, und mal wieder griffen die Franzosen nach dem Rhein. Zuerst im<br />

pfälzischen Erbfolgekrieg, dann als Folge der Hinrichtung des französischen Königspaares<br />

und der darauf folgenden Intervention vieler Staaten als „Befreiungskrieg“. Köln und Mainz<br />

wurden besetzt, es gab plötzlich das Haus 4711 in Köln, die Währung waren Louis´d Or<br />

(später Papiergeld), ganz neu Nachnamen mit Registrierpflicht und es gab eine merkwürdige<br />

Justiz, die nach französischen Gesetzen stattfand, aber in zwei Sprachen zelebriert werden<br />

musste. Davon hat er vermutlich wenig mitbekommen und gar nichts verstanden.<br />

Kriminelle Karriere<br />

Lumpenhund und Galgenstrick<br />

So Carl Zuckmayer über den Schinderhannes in seinem missglückten Versuch, einen hessischen<br />

Robin Hood zu konstruieren. Es gab auch einen Film, in dem Curd Jürgens und<br />

Maria Schell das filmisch abgaben, was sie zu der Zeit am besten konnten: Männliche<br />

Miene markieren und hemmungslos heulen.<br />

Im wahren Leben hieß er Johannes Bückler und es gab ihn wirklich. Aber im Gegensatz<br />

zur Sage war sein Leben schmutzig, schäbig, blutig und kurz.<br />

Mit 15 Jahren soll er schon einen Louis d´Or unterschlagen haben, mit dem er Brandwein<br />

kaufen sollte. Er ging in die Lehre bei einem Wasenmeister Nagel in Bärenbach. Die<br />

Lehre endet mit öffentlichen Prügeln, weil er sechs Kalbfelle und eine Kuhhaut gestohlen<br />

haben sollte. Er sah das allerdings etwas anders, und in Anbetracht der Verhaltensweise der<br />

Lehrherren gegenüber ihren Lehrjungen mag das sogar berechtigt gewesen sein. Trotzdem<br />

war ihm jetzt jeder ehrliche Lebensweg versperrt. Er schloss sich einer Bande an, die Viehdiebstähle<br />

beging und versuchte, die geklauten Tiere an korrupte Wasenmeister weiter zu<br />

verkaufen. Fama will, dass er Räuberhauptmann und mehrfacher Mörder gewesen sei, aber<br />

das lässt sich nicht beweisen. 1799 wurde er in Simmern festgenommen und angeklagt<br />

wegen Viehdiebstahl und zwei Tötungsdelikten, die nicht aufgeklärt werden konnten. Denn<br />

der Schinderhannes machte den schnellen Abgang aus dem Turm zu Simmern und suchte<br />

die Wälder auf. Und jetzt tritt er eine echt kriminelle Karriere an: räuberische Erpressungen<br />

und Raubüberfälle, mit wechselnden Komplizen, an wechselnden Orten. Sehr oft<br />

richten sich diese Gewalttaten gegen Juden, denn der Schinderhannes war noch gewohnt,<br />

dass Juden schutzlos waren ohne Landesherr. Pech gehabt – mittlerweile beherrschten die<br />

Franzosen das Land. Und für die war es erheblich wichtiger, dass da irgendjemand etwas<br />

Es war einmal ein sehr ungezogenes kleines Mädchen, das<br />

Goldlöckchen hieß. Eines Tages rief die Mutter nach Goldlöckchen,<br />

weil sie wollte, dass das Kind ihr in der Küche helfen sollte.<br />

Goldlöckchen aber tat so, als hörte sie nichts und ging heimlich<br />

in den Wald, um einen Spaziergang zu machen. Das tat sie öfter,<br />

wenn sie nicht gehorchen wollte.<br />

An diesem Tag nahm sie einen neuen Weg, und bald schon kam<br />

sie zu einer gemütlichen kleinen Hütte. Die Tür stand einen Spalt<br />

offen, und weil sie neugierig war, trat sie einfach ein.<br />

Innen war die Hütte nett und einladend, wie außen. Goldlöckchen<br />

ging in die Küche und freute sich. Denn da standen drei<br />

Schüsselchen mit Brei. Und sie war sehr hungrig nach dem Spaziergang.<br />

Zuerst kostete sie aus der größten Schüssel. „Uh, das ist viel zu<br />

heiß!“ sagte sie und spuckte den Brei einfach aus. Dann versuchte<br />

sie es mit der mittleren Schüssel, aber der Brei war ihr zu kalt,<br />

und sie spuckte ihn ungezogen wieder aus.<br />

Schließlich kostete Goldlöckchen aus der kleinsten Schüssel.<br />

Da war der Brei genau richtig, und sie sagte nichts mehr, weil sie<br />

damit beschäftigt war, alles aufzuessen.<br />

Als sie fertig war, wollte sie sich ein bisschen hinsetzen. Im<br />

Wohnzimmer waren drei Stühle. Zuerst setzte sie sich auf den<br />

größten, stand aber gleich wieder auf. „Der Stuhl ist viel zu<br />

hart!“, meckerte sie laut. Dann setzte sie sich auf den mittleren<br />

Die Wahre Geschichte: Schinderhannes<br />

Unerlaubtes getan hatte als gegen wen.<br />

Widerstand war sowieso und insbesondere,<br />

wenn es sich um einen strafbedrohten<br />

Kriminalsachverhalt handelte,<br />

sofort strengstens zu ahnden. Das neue<br />

Straf- und Polizeiregime linksrheinisch<br />

begann sein Netz immer enger zu<br />

ziehen.<br />

Er wich ins Rechtsrheinische aus<br />

und nannte sich nun Jakob Ofenloch.<br />

Er versuchte sich als fahrender Krämer,<br />

aber er konnte nicht genug Geld<br />

erwirtschaften für sich und seine kleine<br />

Familie: Seit Ostern 1800 begleitete<br />

ihm seine Geliebte Juliane Blasius, mit<br />

der er ein Kind gezeugt hatte. Er war<br />

zwar finanziell nicht erfolgreich, aber<br />

großmäulig – die Schergen kamen<br />

näher. Er versuchte, sich der Strafverfolgung<br />

zu entziehen, indem er sich in<br />

die Reichsarmee als Jakob Schweikhard<br />

einschrieb. Aber einer seiner ehemaligen<br />

Komplizen hängte ihn hin, er wurde den französischen Behörden übergeben und mit<br />

Julchen am 16. Juni 1602 nach Mainz gebracht.<br />

Unrühmliches Ende<br />

Dien Anklageschrift umfasste 72 Seiten. In einer sechzehnmonatigen Voruntersuchung<br />

waren ihm <strong>56</strong>5 Fragen in mehreren Dutzend Einzelverhören gestellt worden. In diesen<br />

Verhören verpfiff er weit über 100 Personen -19 davon sollten ihm auf das Schafott folgen.<br />

Keiner, nicht ein Zeuge trat auf, dass ihm der Schinderhannes auch nur ein Geldstück<br />

gegeben hätte. Der Zeugen, die beschworen konnten, dass er sie trotz bitterster Armut noch<br />

beraubt hatte, waren dagegen viele.<br />

Das Urteil stand schon fest, bevor es in der Hauptverhandlung verkündet wurde, denn<br />

es gab schon Einladungen zur Hinrichtung am 21. November 1803. Sein Vater wurde mit<br />

verknackt, starb aber schon am 28. Dezember. Julchen fing sich zwei Jahre Zuchthaus ein<br />

und gebar des Schinderhannes Sohn, Franz Wilhelm, am 1. Oktober. Noch heute leben<br />

Nachkommen in Taunus.<br />

Schinderhannes Kopf fiel – Frankreich war da sehr modern – zusammen mit seinen 19<br />

Spießgesellen unter dem Fallbeil. Seines Leichnams bemächtigen sich die Professoren der<br />

Ecole Superieure in Mainz, die Gebeine gingen verloren. Ein Skelett in der Universität Heidelberg<br />

ist zwar mit Schinderhannes bezeichnet, aber es hat die falsche Größe, einen anderen<br />

Schädel und ihm fehlen bekannte Bruchstellen, die sich Johannes Bückler im Laufe seines<br />

Lebens zugezogen hatte.<br />

Oh, noch was: Es findet sich in den biologischen Sammlungen der Schinderhannes bartelsi.<br />

Das ist eine Tierart, die im Hunsrückschiefer gefunden wurde – ein Anomalocarid. Das<br />

waren marine Lebewesen aus dem Cambrium, schon mit Augen und Kiefern, vermutlich<br />

Fleischfresser und zu dieser Zeit wohl die größten Lebewesen im Meer. Ausgestorben sind<br />

sie seit Millionen von Jahren.<br />

Und nun kennen sie die wahre Geschichte.<br />

Goldlöckchen und die drei Bären<br />

Ein Märchen aus England<br />

Der Schinderhannes<br />

Johannes Bückler<br />

Quelle:<br />

Preussischer<br />

Staatsbesitz<br />

Stuhl und beschwerte sich wieder – der war ihr zu weich. Dann<br />

setzte sie sich auf dem kleinsten Stuhl und fühlte sich rundum<br />

wohl. Doch dann knackste es und mit einem kräftigen Plumps<br />

landete Goldlöckchen unsanft auf dem Boden. Sie war nämlich<br />

viel zu schwer für den kleinen Stuhl. Deshalb war er einfach zusammengebrochen.<br />

„Jetzt muss ich mich aber ausruhen“ meinte Goldlöckchen und<br />

steig die Treppe hoch<br />

ins Schlafzimmer. Dort<br />

standen drei Betten.<br />

Zuerst versuchte sie<br />

das größte Bett. „Das<br />

Bett taugt nichts“,<br />

meckerte sie. „es ist<br />

zu hart zum Springen<br />

und zum Schlafen!“.<br />

Auch das mittlere Bett<br />

gefiel nicht, denn es<br />

war zu weich. Schließlich<br />

versuchte sie das<br />

kleinste Bett und fand<br />

es perfekt und war<br />

auch gleich tief eingeschlafen.<br />

RS


KULTUR<br />

13<br />

Goldlöckchen und die drei Bären<br />

Die gemütliche Hütte aber gehörte drei Bären, die vor dem<br />

Frühstück einen kleinen Spaziergang gemacht hatten. Als sie<br />

nach Hause zurückkehrten, merkten sie, dass da was nicht<br />

stimmte. „Wer hat von meinem Brei gegessen?“ brummte Papa<br />

Bär mit tiefer Stimme. „Und vom meinem?“ wollte Mutter Bär<br />

wissen. „Und wer hat meinen Brei ganz aufgegessen?“ fragte<br />

Baby Bär mit seinem kleinen Stimmchen und war sehr traurig,<br />

weil er ja nichts mehr zu essen hatte.<br />

Verärgert gingen die drei Bären ins Wohnzimmer. „Jemand<br />

hat auf meinem Stuhl gesessen!“ brummte Vater Bär und wurde<br />

ärgerlich. „Auch auf meinem!“, sagte Mutter Bär. „Und meinen<br />

Stuhl hat jemand ganz kaputt gemacht!“, sagte Baby Bär und<br />

fing an zu weinen.<br />

„Kommt mit“, sagte Vater Bär und man schlich die Treppe zum<br />

Schlafzimmer hinauf. „Jemand ist auf meinem Bett herumgesprungen!“<br />

sagte Vater Bär und war jetzt sehr ärgerlich. „Auch<br />

auf meinem Bett!“ sagte Mutter Bär. „In meinem Bett hat jemand<br />

geschlafen – du schaut mal, er ist noch drin!“ rief Baby Bär und<br />

zeigte mit der Pfote. Die Bären brummten bedrohlich.<br />

Da wachte Goldlöckchen auf. Sie sah die sehr böse blickenden<br />

Bären und sprang aus dem Bett und die Treppe hinunter. Dabei<br />

ging – knacks – das kleine Bettchen auch noch kaputt. Schwuppdiwupp<br />

war sie aus der Hütte in den Wald gerannt, nach bevor<br />

jemand „Wer ist denn das?“ sagen konnte.<br />

Mama Bär machte einen neuen Brei für Baby Bär und inzwischen<br />

zimmerte Vater Bär ein neues Stühlchen und ein neues<br />

Bett, ein bisschen größer als die alten Sachen, für Baby Bär. Baby<br />

Bär war nun satt und wieder fröhlich.<br />

Goldlöckchen wagte sich nie wieder in die Nähe der Bärenhütte.<br />

Aber ob sie danach brav und folgsam geworden ist oder weiter<br />

lieber spazieren ging, statt ihrer Mutter zu helfen, weiß man<br />

nicht. Den drei Bären war das jedenfalls egal.<br />

Von Robert Southey<br />

Gesetzmäßigkeit oder Schicksalsironie: ein Straßenmusiker in Frankfurt<br />

Ich habe ihn in einer Unterführung kennen<br />

gelernt. Er spielte Geige mit einem Musikrekorder.<br />

Er hat mich geboten, um seine<br />

Sachen aufzupassen, solange er im REWE<br />

sich einen Eistee holt. Danach habe ich ihn<br />

über Lieblingsorte der Musiker in Frankfurt<br />

gefragt. Es hat sich dabei herausgestellt, dass<br />

er aus der Ukraine kommt. Das Gespräch<br />

ging weiter, über die positiven und negativen<br />

Seiten des Lebens eines Straßenmusikers.<br />

Stellen Sie sich bitte vor. Woher kommen Sie,<br />

wo wohnen Sie?<br />

Ich heiße Igor. Ich komme aus der Ukraine<br />

und bin ukrainischer Bürger. Ich habe<br />

dort Berufsschule für Musik und Universität<br />

für die Kultur in Kiew absolviert. Ich habe<br />

noch nicht angefangen zu arbeiten. So muss<br />

ich jetzt auf der Straße arbeiten und davon<br />

leben.<br />

Wie alt sind Sie?<br />

Ich bin 39.<br />

Wo wohnen Sie?<br />

In Italien.<br />

Haben Sie eine Familie?<br />

Nein, ich bin allein.<br />

Wie sind sie nach Frankfurt gekommen?<br />

Als ich noch Student war, war es viel leichter<br />

mit Visen. Wir sind mit den Freunden<br />

einmal nach Frankfurt gekommen und seitdem<br />

ist das schon mittlerweile ein Brauch<br />

geworden. Einige von ihnen sind hier zum<br />

Arbeiten geblieben. Wir treffen uns manchmal<br />

hier..<br />

Warum haben Sie sich entschlossen, auf der<br />

Straße zu spielen? Wie war Ihr erster Auftritt?<br />

Als ich Student war, fiel es mir leichter,<br />

sich auf die Straße zu stellen. Jetzt habe ich<br />

manchmal Schwierigkeiten damit. Ich musste<br />

damals meine Fahrkarten und Visen abarbeiten,<br />

mit denen ich hierher gekommen<br />

bin.<br />

Also hatten Sie materielle und nicht geistige<br />

Gründe, um auf die Straße zu gehen?<br />

Um auf die Straße zu gehen, motiviert<br />

nicht das Geistige, sondern das Materielle.<br />

Erst später lernt man das Materielle mit dem<br />

Geistigen zu vereinbaren. Das ist notwendig,<br />

wenn man weder sich noch die anderen verstören<br />

will.<br />

Welche Ortsteile von Frankfurt sind für die<br />

Straßenmusiker am interessantesten?<br />

Beliebt sind die Orte, wo die Menschen<br />

langsam laufen. Sie können die Musiker gut<br />

hören und die Musik kann ihre Herzen erreichen.<br />

Die akustischen Musikinstrumente,<br />

wie z.B. Geige und Violine, lassen sich z.B.<br />

neben dem Buchgeschäft auf dem Römer gut<br />

hören.<br />

Sie wollen wahrscheinlich ihre Geheimnisse<br />

nicht ausplaudern, weil dann jemand anderer<br />

ihren Platz besetzen kann.<br />

Die Regeln der Stadt Frankfurt besagen, es<br />

sei nur erlaubt, für je eine Stunde Musik zu<br />

spielen. Deswegen kann jeder dran kommen.<br />

Das ist mit der Rücksicht auf die Ruhe der<br />

Einwohner festgelegt. Es wurden früher viersprachige<br />

Büchlein an die Straßenmusiker<br />

verteilt. In den Unterführungen ist übrigens<br />

die Zeit nicht limitiert.<br />

Woher kommen am Häufigsten die Leute<br />

nach Frankfurt, um zu spielen?<br />

Aus ganzer <strong>Welt</strong>, auch Amerikaner, Spanier.<br />

Sie sprechen kaum Deutsch, haben Sie aber<br />

Italienisch gelernt?<br />

Auch nicht.<br />

Fällt es einem Musiker schwerer, eine<br />

fremde Sprache zu lernen?<br />

Das hängt von der Gabe ab. Ich habe einfach<br />

kein Talent dafür. Einige von den Musikern,<br />

die mit mir gekommen sind, haben die<br />

Sprache gelernt und haben nach dem Konservatorium<br />

andere Berufe realisiert.<br />

Sie wollen sich aber nicht umqualifizieren?<br />

Es ist einfach schon zu spät für mich.<br />

Vielleicht hält Sie etwas Innerliches davon<br />

zurück? Meinen Sie vielleicht, dass die Kunst<br />

eine höhere Mission hat?<br />

Man gewöhnt sich einfach an das Leben.<br />

Daran, dass über einem keiner steht und man<br />

versucht, jegliche Hierarchie zu vermeiden.<br />

Bis zu welchem Alter kann man ein solches<br />

Leben führen?<br />

Ich kenne einen Gitarristen aus Lettland.<br />

Er sagt: Er habe es kaum abwarten können,<br />

bis meine Kinder groß geworden sind. Jetzt<br />

kann er auf die Straße gehen und spielen. Er<br />

ist über 60. Er wohnt im Süden von Italien.<br />

Wie gefällt Ihnen das Publikum in Frankfurt?<br />

Frankfurt ist eine gute Stadt. Die Einwohner<br />

sind musikalisch erzogen und lieben Musik.<br />

Bilder und Interviewe<br />

Yevheniya Genova<br />

Musik wird störend oft empfunden...<br />

dieweil sie mit Menschen verbunden<br />

sind, die oft genug am Rande<br />

der Gesellschaft und darüber hinaus<br />

leben (müssen). Man könnte<br />

mal aus dem Ausland lernen: In<br />

der Pariser Metro sind Straßenmusiker<br />

erlaubt – wenn sie ein<br />

Casting bestehen und der Bettelei<br />

abschwören. So werden die Hörmuscheln<br />

nicht über anstrengt<br />

und die Benutzer der Metro nicht<br />

belästigt. RMF, wäre das nicht mal<br />

eine Idee für euch?


14<br />

Noch bis in die Zeit vor 50 Jahren war es<br />

etwas eher Ungewöhnliches, dass eine Frau<br />

ohne „Herrenbegleitung“ sich auf eine Reise<br />

begab, womöglich ins Ausland oder gar auf<br />

einen anderen Kontinent. Im 19. Jahrhundert<br />

war es kaum denkbar. Genau das tat<br />

aber die Frankfurter Naturforscherin und<br />

Künstlerin Sibylla Merian schon im Jahre<br />

1699 - und ausgerechnet in die unerforschten<br />

Urwälder Südamerikas! Für die damalige<br />

Barockzeit war das eine nie zuvor gehörte<br />

Unglaublichkeit.<br />

Warum tat die Frau so etwas? Nur um unbekannte<br />

Pflanzen und vor allem Insekten zu<br />

erforschen und darzustellen. Insekten interessierten<br />

im damaligen Europa so gut wie<br />

niemanden. Außer Schmetterlingen, Seidenraupen<br />

und Bienen galten fast alle als Schädlinge,<br />

die man am besten totschlug, wo man<br />

sie fand - Maikäfer, Schaben, Flöhe, Zecken<br />

und der ganze Kram.<br />

Frau Merian war einer der ersten Menschen,<br />

der sich seit Jahrhunderten wirklich<br />

dafür interessierte, wie aus einer Raupe ein<br />

Schmetterling wurde, wie sich diese überall<br />

auf der <strong>Welt</strong> millionenfach vorhandenen<br />

Tiere fortpflanzten und für alles, was es sonst<br />

über sie zu wissen geben mochte. Tiere schienen<br />

aller <strong>Welt</strong> nur interessant, wenn man sie<br />

züchten, jagen (wofür nur der Adel zuständig<br />

war) und vor allem essen konnte. Insekten<br />

zählten in Europa Jahrhunderte lang nicht<br />

dazu, obwohl es in den Hungerjahren nach<br />

dem 2. <strong>Welt</strong>krieg auch noch in Deutschland<br />

hier und dort gelegentlich Maikäfersuppe gegeben<br />

hat. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert<br />

hinein waren Insekten aber einfach<br />

kein Thema. Frau Merian war darin die bedeutendste<br />

Vorläuferin Alexander von Humboldts<br />

- und die einzige Frau, die sich so früh<br />

auf diesem Gebiet einen Namen machte.<br />

Wer war diese Frau? Maria Sibylla (sie<br />

schreibt sich wirklich so ungewöhnlich) Merian<br />

wurde 1647 als Tochter des damals berühmtesten<br />

Kupferstechers Matthäus Merian<br />

in Frankfurt geboren. Der Vater stammte aus<br />

Basel und war damals schon über 50 Jahre alt<br />

und in zweiter Ehe mit einer Johanna Sibylla<br />

aus Runkel an der Lahn verheiratet. Nur<br />

drei Jahre später, nach einem bewegten Leben<br />

(Zürich, Straßburg, Nancy, Paris, wiederum<br />

Basel, Niederlande, Frankfurt am Main)<br />

stirbt er in Schwalbach. Die Tochter hat das<br />

Künstler des Monats<br />

Die höchst abenteuerliche Frankfurterin Anna Maria Sibylla Merian<br />

künstlerische Talent des Vaters offenbar geerbt.<br />

Sie übernimmt später zusammen mit<br />

dem gut 25 Jahre älteren Stiefbruder aus des<br />

Vaters erster Ehe den bedeutenden Verlag de<br />

Bry in Frankfurt, der auf Kupferstiche spezialisiert<br />

war.<br />

Das hochbegabte Kind<br />

Die Mutter des Mädchens heiratete nach<br />

dem Tod Matthäus Merians den Maler und<br />

Kunsthändler Jacob Marrel, der die Stieftochter<br />

künstlerisch förderte und ausbilden<br />

ließ, sodass sie schon im Alter von elf Jahren<br />

Kupferstiche verfertigen konnte.<br />

Schon als Kind begann Maria Sibylla Seidenraupen<br />

zu züchten, für Erwachsene damals<br />

in Europa nichts Ungewöhnliches mehr,<br />

um bei teuren Stoffen vom fernen China unabhängig<br />

zu sein. Aber das junge Mädchen<br />

begann sich auch für das Leben der Tiere zu<br />

interessieren und bald für das von anderen<br />

Raupen und zunehmend für Insekten überhaupt.<br />

Rückblickend schrieb sie:<br />

„Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung<br />

der Insekten beschäftigt. Zunächst<br />

begann ich mit Seidenraupen in meiner<br />

Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach<br />

stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupen<br />

viel schönere Tag- und Eulenfalter (so<br />

nannte man damals die Nachtfalter. d.A.)<br />

entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste<br />

mich, alle Raupen zu sammeln, die<br />

ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu<br />

beobachten. Ich entzog mich deshalb aller<br />

menschlichen Gesellschaft und beschäftigte<br />

mich mit diesen Untersuchungen.“<br />

Das ist das, was man empirische Wissenschaft<br />

nennt, Beobachten und Beschreiben,<br />

und was im 17. Jahrhundert die Ausnahme<br />

war, als man sich meist noch damit begnügte,<br />

obskure Bemerkungen von Aristoteles unüberprüft<br />

abzuschreiben, weil diese „Alten“<br />

seit fast 2000 Jahren berühmt waren und<br />

man ihnen blind auch den größten Unsinn<br />

glaubte. (Manche Behauptungen antiker Autoren<br />

hätte durch einfache Beobachtungen<br />

fast jeder Mensch einfach widerlegen können,<br />

aber es gehörte sich nicht, anerkannte<br />

Autoritäten wie Aristoteles anzuzweifeln.<br />

Und die allmächtige katholische Kirche hatte<br />

für exakte Wissenschaften noch nie vielübrig,<br />

bis es einfach nicht mehr anders ging.)<br />

Maniok, Jatropha-Edelfalter und Jacruarú-Echse<br />

Ein unruhiges Leben<br />

Der weitere Lebenslauf von Sibylla Merian<br />

entsprach nicht ganz dem damaligen ruhigen<br />

Bürgertum. Sie heiratete zwar, auch wieder<br />

einen Maler und Kupferstecher, Johann<br />

Andreas Graff. Der Mann war ihr aber in<br />

jeder Beziehung, vor allem künstlerisch weit<br />

unterlegen. 1670 zog sie mit ihm und der<br />

ersten Tochter nach Nürnberg und bestritt<br />

den Lebensunterhalt der Familie zeitweise<br />

fast allein durch Farbenhandel und Gelegenheitsarbeiten.<br />

(In Nürnberg gab es damals<br />

noch alte Gewerbeordnungen, die Frauen<br />

von den meisten künstlerischen Tätigkeiten<br />

ausschlossen. So wie für Frauen überhaupt<br />

Jahrhunderte lang vernünftige Beschäftigungen<br />

geradezu verboten waren, außer einen<br />

Haushalt zu führen oder vielleicht ins Kloster<br />

zu gehen. Aber Kunst oder gar Wissenschaft<br />

- das war völlig verpönt! Europa unterschied<br />

sich darin noch bis vor gut 100 Jahren kaum<br />

von streng islamischen Ländern.)<br />

Sibylla Merian begann sogar, Bücher zu<br />

veröffentlichen, zunächst über die Darstellungen<br />

von Blumen, teils für Schülerinnen,<br />

denen sie Privatunterricht gab. Später, ab<br />

1679 veröffentlichte sie ein eigenes Buch<br />

über Raupen: „Der Raupen wunderbare Verwandlung<br />

und sonderbare Blumennahrung“<br />

- für die damalige schwülstige Zeit mit ihren<br />

oft endlosen Buchtiteln, die manchmal kaum<br />

auf eine Seite passten, ein präziser und knapper<br />

Titel.<br />

Ihre Ehe war nicht glücklich. Der Mann<br />

trank und betrog sie, und nach der Geburt<br />

einer zweiten Tochter verließ sie ihn - auch<br />

das etwas Unerhörtes, aber sie konnte sich<br />

von ihrer Arbeit selbst ernähren - und zog<br />

nach 11 Jahren ohne ihren Mann wieder<br />

nach Frankfurt am Main. Vier Jahre später<br />

zog sie schon wieder um: mit Mutter und<br />

Töchtern in die Niederlande zu Verwandten<br />

- all dies für die damaligen Zeiten und für<br />

eine Frau schon recht abenteuerlich. Aber es<br />

sollte noch toller kommen.<br />

In Holland geriet sie vorübergehend in<br />

die Umgebung einer pietistisch-christlichen<br />

Sekte- so darf man die überstrengen, heute<br />

Korallenbaum und Augenspinner<br />

vergessenen „Labadisten“ wohl nennen -<br />

machte sich damit aber nicht gemein, sondern<br />

kümmerte sich vor allem um die künstlerische,<br />

malerische Ausbildung ihrer Töchter.<br />

Dann entdeckte sie eine Schmetterlingssammlung<br />

aus der holländischen Kolonie<br />

Surinam, manchmal Holländisch-Guyana<br />

genannt, ein Gebiet nördlich von Brasilien.<br />

In Amsterdam schätzte man sie als Blumenmalerin<br />

und Kupferstecherin und Spezialistin<br />

vielleicht noch mehr als in Deutschland.<br />

Die Niederlande waren zu dieser Zeit ein liberales<br />

und weltoffenes Paradies für Künstler,<br />

Wissenschaftler und Philosophen.<br />

Eine gebildete und hochbegabte Frau wie<br />

Sibylla Merian konnte hier in sonst überall<br />

Männern vorbehaltenen Domänen und Zirkeln<br />

gleich berechtigt auftreten. Sie lernte<br />

bedeutende Persönlichkeiten kennen, so den<br />

Leiter des botanischen Gartens. Und sie fasste<br />

den Plan, eine Reise nach Südamerika zu<br />

unternehmen! Sie verkaufte viele Stücke aus<br />

ihren Sammlungen, um das bezahlen zu können.<br />

Eine Reise über den Ozean war damals<br />

ein so teures Unternehmen, dass man es nur<br />

einmal machte - und normalerweise natürlich<br />

überhaupt nicht, schon gar nicht als allein<br />

stehende Frau.<br />

Eine Reise nach Südamerika hieß, auf einem<br />

kaum 30 Meter langen Holzschiff sich<br />

für Wochen dem unbekannten Meer auszusetzen,<br />

umgeben von bärtigen, halbwilden<br />

Matrosen, bei Stockfisch und Rum. (Die Matrosen<br />

der alten Zeit, als es noch Holzschiffe,<br />

Karavellen und dergleichen gab, haben ja<br />

nicht immer Rum oder Gin getrunken, weil<br />

sie alle hemmungslose Saufbrüder waren, das<br />

vielleicht auch, aber der Hauptgrund war<br />

natürlich, dass sich Süßwasser nicht wochenlang<br />

frisch halten ließ, Rum aber schon.)<br />

Nun aber damals, im Februar 1699, als Piraten<br />

eine solche Selbstverständlichkeit waren<br />

wie heute wieder vor Malaysia und Somalia,<br />

und wo genau wie heute große Summen Lösegeld<br />

für große Schiffe und ihre Fracht gezahlt<br />

wurden, machte sich eine Frankfurterin<br />

auf, nach Amerika zu fahren, um Insekten zu<br />

beobachten, Schmetterlinge, Raupen. Man<br />

mag den Kopf schütteln darüber, und viele


Künstler des Monats / Familienseite<br />

15<br />

haben das damals vermutlich getan. Aber die<br />

wenigen kompetenten Naturforscher der damaligen<br />

Zeit bewunderten diese Frau.<br />

Frauen allein im Urwald<br />

Surinam liegt zwischen Guyana und<br />

Französisch-Guyana, was noch heute eine<br />

Kolonie Frankreichs ist. (Von hier werden<br />

die Ariane-<strong>Welt</strong>raumraketen abgeschossen.)<br />

Auf der Landkarte wirkt es klein, ist aber<br />

viermal so groß wie die Schweiz und bestand<br />

200 Jahre nach Kolumbus fast ausschliesslich<br />

aus undurchdringlichen Urwäldern. So gut<br />

wie nichts davon war damals wissenschaftlich<br />

erkundet. Die Tier- und Pflanzenwelt<br />

bestand weitgehend aus in Europa völlig unbekannten<br />

Arten. Das war schließlich auch<br />

200 Jahre später noch in ganz Amerika so, als<br />

Alexander von Humboldt die nach amerikanischen<br />

Verhältnissen in der Nähe liegenden<br />

Flüsse Orinoko und Amazonas erkundete.<br />

Aber er war ein Mann mit weitreichenden,<br />

geradezu diplomatischen Beziehungen, mit<br />

Empfehlungsschreiben an spanische Gouverneure,<br />

Bürgermeister, Vizekönige. Sibylla<br />

Merian reiste nicht in Begleitung eines bekannten<br />

Mannes, sondern in Begleitung ihrer<br />

jüngeren Tochter Dorothea Maria in den<br />

Kontinent des Machismo.<br />

An Mut fehlte es ihr nicht! Die Vorstellung,<br />

dass eine bürgerliche Frankfurterin mit<br />

über 50 Jahren sich in ein völlig unerforschtes<br />

und abgelegenes Tropengebiet begibt,<br />

um dort vor allem Insekten zu erforschen,<br />

hat schon etwas Ungewöhnliches. Sie selbst<br />

schrieb dazu im Vorwort ihres Buches >Metamorphosis<br />

insectorum Surinamensum


16 Unser Ausflugstipp<br />

Ein Blick in die Natur - Teil 3<br />

Im dritten Teil meiner Geschichte, möchte ich über die Geschehnisse im Herbst berichten<br />

Ganz langsam, fast über Nacht, vollzieht sich der Wechsel- der erste Vorbote ist der Frühnebel, der sich über die Landschaft<br />

legt und sich nur gemächlich aufl öst. So nach und nach verfärben sich die Blätter an den Bäumen und Sträuchern.<br />

Überall sieht man Scharen von Zugvögeln auf ihrem Weg Richtung Süden.<br />

Herbst<br />

tIm fahlen Licht der ersten Morgensonne<br />

steigen Nebel in dichten Schwaden über dem<br />

See auf. Hinter den Teichbinsen zeichnen<br />

sich verschwommen die Umrisse der Bäume<br />

ab. Noch schlafen viele Tiere, und tiefe Ruhe<br />

umgibt den bleiernen See. Nur eine Kolbenente<br />

erscheint und gleitet gespenstisch<br />

vorüber. Geräuschlos zerteilt er die glatte,<br />

schimmernde Wasserfläche. Auch unter ihrer<br />

dampfenden Oberfläche wird es ruhiger. In<br />

der Kühle des Herbstes läuft das Leben langsamer<br />

ab. Aus dem Erlengestrüpp lässt ein<br />

Rotkehlchen seine melodische, schwermütige<br />

Weise erklingen.<br />

Besonders im Röhricht der angrenzenden<br />

Feuchtwiese hat sich reichlich Tau niedergeschlagen.<br />

Winzige Wasserperlen hängen in<br />

den Netzen der vielen Spinnen und machen<br />

sie weithin sichtbar. Bewegungsunfähig verharrt<br />

die Mosaikjungfer auf einem Schilfhalm.<br />

Steif vor Kälte ist sie nicht in der Lage,<br />

die glitzernden Tautropfen von ihrem Körper<br />

abzuschütteln. Auch die Stockente schläft<br />

noch im Röhricht. Der Erpel hat sein prächtiges<br />

Hochzeitsgefieder abgelegt und ähnelt<br />

nun dem braungescheckten Weibchen.<br />

Langsam steigen die Nebel<br />

höher, die ersten Sonnenstrahlen<br />

treffen auf den See und<br />

zerreißen die grauen Schleier.<br />

Golden-braun-rote Herbsttöne<br />

der Blätter von Bäumen<br />

und Sträuchern spiegeln sich<br />

in der glatten Oberfläche – eine<br />

Sinfonie gedämpfter Farben.<br />

Die ganze Pracht der Seerosenblätter<br />

ist verschwunden.<br />

Ihre ausgefransten Ränder,<br />

die Fraßspuren der Schnecken<br />

und das welkende Grün lassen<br />

ihre einstige Schönheit nicht<br />

mehr erahnen. Die Wasserlinsen<br />

sinken langsam hinab in<br />

tiefere Wasserschichten. Dort<br />

werden sie die kühle Jahreszeit<br />

verbringen. Die freien Wasserflächen<br />

werden allmählich<br />

größer, und Herbstwinde zerren<br />

an den Resten noch übrig<br />

gebliebener See- und Teichrosenblätter.Die<br />

Rohrkolben<br />

quellen über von Tausenden<br />

winziger Samen, die mit einem haarigen<br />

Flugorgan ausgestattet sind. Wie lockere<br />

Wattebäusche haften sie noch eine Weile am<br />

Kolben, bis sie in der kühlen Herbstluft oft<br />

über große Entfernungen verdriftet werden.<br />

Auch tanzen kleinere Wolken der Distelwolle<br />

durch die Lüfte oder treiben auf der Wasseroberfläche<br />

davon. Gen Süden ziehende Scharen<br />

von Stieglitzen fallen im Röhricht ein,<br />

angelockt vom reichen Angebot der Samen:<br />

leuchtend gelbe und rote Farbkleckse inmitten<br />

der trockenen, absterbenden Schilfhalme.<br />

Große Mosaikjungfern patrouillieren<br />

majestätisch am<br />

Ufer und bewachen<br />

ihr Revier.<br />

Bei Vorüberfliegen<br />

ist das Rascheln<br />

ihrer Flügel deutlich<br />

zu hören. Aus<br />

der Luft erbeuten<br />

sie Köcherfliegen,<br />

Schwebfliegen oder<br />

Schmetterlinge,<br />

deren Flügel jetzt<br />

schon stark abgewetzt<br />

sind. Beute<br />

gibt es immer noch<br />

im Überfluss.<br />

Schwalben<br />

schießen anmutig<br />

flach über die Wasseroberfläche, um nach<br />

frisch geschlüpften Stechmücken zu schnappen.<br />

Ihre Jungen haben schon die Flucht vor<br />

dem drohenden Winter die lange Reise nach<br />

Süden angetreten. Ihre Eltern verweilen noch<br />

eine Weile bei uns, bis die ersten eiskalten<br />

Nächte den Strom der nachrückenden Insekten<br />

abreißen lassen.<br />

Viele Insekten versuchen dem drohenden<br />

Tod zu entgehen. Bevor zahlreiche Wasserinsekten<br />

selbst sterben, sicherten sie das Weiterleben<br />

ihrer Art. Sie haben Eier oder Larven<br />

hervorgebracht, die, gut ausgerüstet, den<br />

Winter überstehen werden, um in den ersten<br />

warmen Frühlingstagen zu neuen Leben zu<br />

erwachen. Manche Wasserkäferlarven verlassen<br />

das Wasser sogar und graben sich in der<br />

schlammigen Uferböschung ein. Dort verpuppen<br />

sie sich, und bis zum Frühjahr verwandeln<br />

sie sich unmerklich in einen, neuen<br />

glänzenden Käfer.<br />

Noch ist das Leben nicht völlig verstummt.<br />

An warmen Tagen geben sich die<br />

Frösche und Kröten ein letztes Stelldichein.<br />

Von der schwächer werdenden Sonne lassen<br />

sie sich ein letztes Mal erwärmen – ständig<br />

auf der Lauer nach vorüberfliegenden Insekten.<br />

Wird es aber kälter, verlangsamen sich<br />

ihre Bewegungen, und sie werden dann eine<br />

leichte Beute für die Graureiher. Bald müssen<br />

sie geeignete Schlupfwinkel unter Steinen<br />

oder Laubhaufen aufsuchen, und sicher vor<br />

Feinden fallen sie in die Winterstarre.<br />

Gerade jetzt, in der kühlen, feuchten Witterung,<br />

entfalten viele Moose ihre stärkste<br />

Lebenskraft. Als samtweiche, grüne Polster<br />

überziehen sie ganze Uferböschungen.<br />

Sie treiben gestielte Kapseln aus, in denen<br />

Tausende winziger Sporen gebildet werden.<br />

Unsichtbar für uns, werden sie an der Spitze<br />

der Sporenkapsel ausgeschüttelt. Umherstreifende<br />

Buch- und Grünfinkenscharen lassen<br />

sich zu einem kleinen Bad in den Pfützen am<br />

Ufer nieder, bevor sie erneut nach Sämereien<br />

Ausschau halten.<br />

Mit Macht entlauben jetzt die Herbststürme<br />

die Kronen der Bäume. Deren Stämme<br />

ragen nun düster und kahl in den Himmel.<br />

Die letzten goldgelben Blätter tanzen noch<br />

im Wind, bevor sie langsam zu Boden schaukeln<br />

und sich im Windschatten alter Bäume<br />

ansammeln. Plötzlich taucht aus dem Nichts<br />

ein orangeroter Fliegenpilz zwischen den<br />

Moospflanzen auf – ein leuchtender Fleck<br />

inmitten absterbender Pflanzen. Wenn die<br />

Herbststürme die kalte Jahreszeit einleiten,<br />

treffen neue Gäste am See ein. Zahlreiche<br />

Vogelarten rasten hier für ein paar Stunden<br />

oder Tage, bis sie mit frischen Kräften weiter<br />

nach Süden in ihre Winterquartiere ziehen.<br />

Friert es, erlischt auch das letzte Leben in<br />

den Blättern und Stängeln der Uferpflanzen.<br />

Doch nur die oberirdischen Triebe sterben<br />

ab. Rechtzeitig haben die Pflanzen lebenswichtige<br />

Nährstoffe in Wurzel und Knollen<br />

eingelagert – ausreichend um im kommenden<br />

Frühling sofort wieder austreiben zu<br />

können. Trockene und brüchige Halme werden<br />

nun Opfer von Wind und Wellen.<br />

Aber auf düstere, stürmische Tage folgen<br />

wieder frische, sonnige Tage, in denen nochmals<br />

für Augenblicke die ganze Farbenpracht<br />

aufflackert. Rasch aufeinander folgende und<br />

ineinander übergehende Töne goldener,<br />

orange, brauner und grüner Farben durchfluten<br />

die Wasseroberfläche.<br />

Nur eine Phase der Ruhe und der Erneuerung<br />

ist eingekehrt in Erwartung und Hoffnung<br />

auf die Wiederkehr der wärmenden,<br />

Leben spendenden Frühlingssonne.<br />

Ich hoffe Sie auch wieder zum letzten<br />

Teil meiner Geschichte, dem Winter, begrüßen<br />

zu dürfen.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Aribert Kirschner

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