Nr. 56 - Soziale Welt
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Noch bis in die Zeit vor 50 Jahren war es<br />
etwas eher Ungewöhnliches, dass eine Frau<br />
ohne „Herrenbegleitung“ sich auf eine Reise<br />
begab, womöglich ins Ausland oder gar auf<br />
einen anderen Kontinent. Im 19. Jahrhundert<br />
war es kaum denkbar. Genau das tat<br />
aber die Frankfurter Naturforscherin und<br />
Künstlerin Sibylla Merian schon im Jahre<br />
1699 - und ausgerechnet in die unerforschten<br />
Urwälder Südamerikas! Für die damalige<br />
Barockzeit war das eine nie zuvor gehörte<br />
Unglaublichkeit.<br />
Warum tat die Frau so etwas? Nur um unbekannte<br />
Pflanzen und vor allem Insekten zu<br />
erforschen und darzustellen. Insekten interessierten<br />
im damaligen Europa so gut wie<br />
niemanden. Außer Schmetterlingen, Seidenraupen<br />
und Bienen galten fast alle als Schädlinge,<br />
die man am besten totschlug, wo man<br />
sie fand - Maikäfer, Schaben, Flöhe, Zecken<br />
und der ganze Kram.<br />
Frau Merian war einer der ersten Menschen,<br />
der sich seit Jahrhunderten wirklich<br />
dafür interessierte, wie aus einer Raupe ein<br />
Schmetterling wurde, wie sich diese überall<br />
auf der <strong>Welt</strong> millionenfach vorhandenen<br />
Tiere fortpflanzten und für alles, was es sonst<br />
über sie zu wissen geben mochte. Tiere schienen<br />
aller <strong>Welt</strong> nur interessant, wenn man sie<br />
züchten, jagen (wofür nur der Adel zuständig<br />
war) und vor allem essen konnte. Insekten<br />
zählten in Europa Jahrhunderte lang nicht<br />
dazu, obwohl es in den Hungerjahren nach<br />
dem 2. <strong>Welt</strong>krieg auch noch in Deutschland<br />
hier und dort gelegentlich Maikäfersuppe gegeben<br />
hat. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert<br />
hinein waren Insekten aber einfach<br />
kein Thema. Frau Merian war darin die bedeutendste<br />
Vorläuferin Alexander von Humboldts<br />
- und die einzige Frau, die sich so früh<br />
auf diesem Gebiet einen Namen machte.<br />
Wer war diese Frau? Maria Sibylla (sie<br />
schreibt sich wirklich so ungewöhnlich) Merian<br />
wurde 1647 als Tochter des damals berühmtesten<br />
Kupferstechers Matthäus Merian<br />
in Frankfurt geboren. Der Vater stammte aus<br />
Basel und war damals schon über 50 Jahre alt<br />
und in zweiter Ehe mit einer Johanna Sibylla<br />
aus Runkel an der Lahn verheiratet. Nur<br />
drei Jahre später, nach einem bewegten Leben<br />
(Zürich, Straßburg, Nancy, Paris, wiederum<br />
Basel, Niederlande, Frankfurt am Main)<br />
stirbt er in Schwalbach. Die Tochter hat das<br />
Künstler des Monats<br />
Die höchst abenteuerliche Frankfurterin Anna Maria Sibylla Merian<br />
künstlerische Talent des Vaters offenbar geerbt.<br />
Sie übernimmt später zusammen mit<br />
dem gut 25 Jahre älteren Stiefbruder aus des<br />
Vaters erster Ehe den bedeutenden Verlag de<br />
Bry in Frankfurt, der auf Kupferstiche spezialisiert<br />
war.<br />
Das hochbegabte Kind<br />
Die Mutter des Mädchens heiratete nach<br />
dem Tod Matthäus Merians den Maler und<br />
Kunsthändler Jacob Marrel, der die Stieftochter<br />
künstlerisch förderte und ausbilden<br />
ließ, sodass sie schon im Alter von elf Jahren<br />
Kupferstiche verfertigen konnte.<br />
Schon als Kind begann Maria Sibylla Seidenraupen<br />
zu züchten, für Erwachsene damals<br />
in Europa nichts Ungewöhnliches mehr,<br />
um bei teuren Stoffen vom fernen China unabhängig<br />
zu sein. Aber das junge Mädchen<br />
begann sich auch für das Leben der Tiere zu<br />
interessieren und bald für das von anderen<br />
Raupen und zunehmend für Insekten überhaupt.<br />
Rückblickend schrieb sie:<br />
„Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung<br />
der Insekten beschäftigt. Zunächst<br />
begann ich mit Seidenraupen in meiner<br />
Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach<br />
stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupen<br />
viel schönere Tag- und Eulenfalter (so<br />
nannte man damals die Nachtfalter. d.A.)<br />
entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste<br />
mich, alle Raupen zu sammeln, die<br />
ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu<br />
beobachten. Ich entzog mich deshalb aller<br />
menschlichen Gesellschaft und beschäftigte<br />
mich mit diesen Untersuchungen.“<br />
Das ist das, was man empirische Wissenschaft<br />
nennt, Beobachten und Beschreiben,<br />
und was im 17. Jahrhundert die Ausnahme<br />
war, als man sich meist noch damit begnügte,<br />
obskure Bemerkungen von Aristoteles unüberprüft<br />
abzuschreiben, weil diese „Alten“<br />
seit fast 2000 Jahren berühmt waren und<br />
man ihnen blind auch den größten Unsinn<br />
glaubte. (Manche Behauptungen antiker Autoren<br />
hätte durch einfache Beobachtungen<br />
fast jeder Mensch einfach widerlegen können,<br />
aber es gehörte sich nicht, anerkannte<br />
Autoritäten wie Aristoteles anzuzweifeln.<br />
Und die allmächtige katholische Kirche hatte<br />
für exakte Wissenschaften noch nie vielübrig,<br />
bis es einfach nicht mehr anders ging.)<br />
Maniok, Jatropha-Edelfalter und Jacruarú-Echse<br />
Ein unruhiges Leben<br />
Der weitere Lebenslauf von Sibylla Merian<br />
entsprach nicht ganz dem damaligen ruhigen<br />
Bürgertum. Sie heiratete zwar, auch wieder<br />
einen Maler und Kupferstecher, Johann<br />
Andreas Graff. Der Mann war ihr aber in<br />
jeder Beziehung, vor allem künstlerisch weit<br />
unterlegen. 1670 zog sie mit ihm und der<br />
ersten Tochter nach Nürnberg und bestritt<br />
den Lebensunterhalt der Familie zeitweise<br />
fast allein durch Farbenhandel und Gelegenheitsarbeiten.<br />
(In Nürnberg gab es damals<br />
noch alte Gewerbeordnungen, die Frauen<br />
von den meisten künstlerischen Tätigkeiten<br />
ausschlossen. So wie für Frauen überhaupt<br />
Jahrhunderte lang vernünftige Beschäftigungen<br />
geradezu verboten waren, außer einen<br />
Haushalt zu führen oder vielleicht ins Kloster<br />
zu gehen. Aber Kunst oder gar Wissenschaft<br />
- das war völlig verpönt! Europa unterschied<br />
sich darin noch bis vor gut 100 Jahren kaum<br />
von streng islamischen Ländern.)<br />
Sibylla Merian begann sogar, Bücher zu<br />
veröffentlichen, zunächst über die Darstellungen<br />
von Blumen, teils für Schülerinnen,<br />
denen sie Privatunterricht gab. Später, ab<br />
1679 veröffentlichte sie ein eigenes Buch<br />
über Raupen: „Der Raupen wunderbare Verwandlung<br />
und sonderbare Blumennahrung“<br />
- für die damalige schwülstige Zeit mit ihren<br />
oft endlosen Buchtiteln, die manchmal kaum<br />
auf eine Seite passten, ein präziser und knapper<br />
Titel.<br />
Ihre Ehe war nicht glücklich. Der Mann<br />
trank und betrog sie, und nach der Geburt<br />
einer zweiten Tochter verließ sie ihn - auch<br />
das etwas Unerhörtes, aber sie konnte sich<br />
von ihrer Arbeit selbst ernähren - und zog<br />
nach 11 Jahren ohne ihren Mann wieder<br />
nach Frankfurt am Main. Vier Jahre später<br />
zog sie schon wieder um: mit Mutter und<br />
Töchtern in die Niederlande zu Verwandten<br />
- all dies für die damaligen Zeiten und für<br />
eine Frau schon recht abenteuerlich. Aber es<br />
sollte noch toller kommen.<br />
In Holland geriet sie vorübergehend in<br />
die Umgebung einer pietistisch-christlichen<br />
Sekte- so darf man die überstrengen, heute<br />
Korallenbaum und Augenspinner<br />
vergessenen „Labadisten“ wohl nennen -<br />
machte sich damit aber nicht gemein, sondern<br />
kümmerte sich vor allem um die künstlerische,<br />
malerische Ausbildung ihrer Töchter.<br />
Dann entdeckte sie eine Schmetterlingssammlung<br />
aus der holländischen Kolonie<br />
Surinam, manchmal Holländisch-Guyana<br />
genannt, ein Gebiet nördlich von Brasilien.<br />
In Amsterdam schätzte man sie als Blumenmalerin<br />
und Kupferstecherin und Spezialistin<br />
vielleicht noch mehr als in Deutschland.<br />
Die Niederlande waren zu dieser Zeit ein liberales<br />
und weltoffenes Paradies für Künstler,<br />
Wissenschaftler und Philosophen.<br />
Eine gebildete und hochbegabte Frau wie<br />
Sibylla Merian konnte hier in sonst überall<br />
Männern vorbehaltenen Domänen und Zirkeln<br />
gleich berechtigt auftreten. Sie lernte<br />
bedeutende Persönlichkeiten kennen, so den<br />
Leiter des botanischen Gartens. Und sie fasste<br />
den Plan, eine Reise nach Südamerika zu<br />
unternehmen! Sie verkaufte viele Stücke aus<br />
ihren Sammlungen, um das bezahlen zu können.<br />
Eine Reise über den Ozean war damals<br />
ein so teures Unternehmen, dass man es nur<br />
einmal machte - und normalerweise natürlich<br />
überhaupt nicht, schon gar nicht als allein<br />
stehende Frau.<br />
Eine Reise nach Südamerika hieß, auf einem<br />
kaum 30 Meter langen Holzschiff sich<br />
für Wochen dem unbekannten Meer auszusetzen,<br />
umgeben von bärtigen, halbwilden<br />
Matrosen, bei Stockfisch und Rum. (Die Matrosen<br />
der alten Zeit, als es noch Holzschiffe,<br />
Karavellen und dergleichen gab, haben ja<br />
nicht immer Rum oder Gin getrunken, weil<br />
sie alle hemmungslose Saufbrüder waren, das<br />
vielleicht auch, aber der Hauptgrund war<br />
natürlich, dass sich Süßwasser nicht wochenlang<br />
frisch halten ließ, Rum aber schon.)<br />
Nun aber damals, im Februar 1699, als Piraten<br />
eine solche Selbstverständlichkeit waren<br />
wie heute wieder vor Malaysia und Somalia,<br />
und wo genau wie heute große Summen Lösegeld<br />
für große Schiffe und ihre Fracht gezahlt<br />
wurden, machte sich eine Frankfurterin<br />
auf, nach Amerika zu fahren, um Insekten zu<br />
beobachten, Schmetterlinge, Raupen. Man<br />
mag den Kopf schütteln darüber, und viele