Nr. 56 - Soziale Welt

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14 Noch bis in die Zeit vor 50 Jahren war es etwas eher Ungewöhnliches, dass eine Frau ohne „Herrenbegleitung“ sich auf eine Reise begab, womöglich ins Ausland oder gar auf einen anderen Kontinent. Im 19. Jahrhundert war es kaum denkbar. Genau das tat aber die Frankfurter Naturforscherin und Künstlerin Sibylla Merian schon im Jahre 1699 - und ausgerechnet in die unerforschten Urwälder Südamerikas! Für die damalige Barockzeit war das eine nie zuvor gehörte Unglaublichkeit. Warum tat die Frau so etwas? Nur um unbekannte Pflanzen und vor allem Insekten zu erforschen und darzustellen. Insekten interessierten im damaligen Europa so gut wie niemanden. Außer Schmetterlingen, Seidenraupen und Bienen galten fast alle als Schädlinge, die man am besten totschlug, wo man sie fand - Maikäfer, Schaben, Flöhe, Zecken und der ganze Kram. Frau Merian war einer der ersten Menschen, der sich seit Jahrhunderten wirklich dafür interessierte, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wurde, wie sich diese überall auf der Welt millionenfach vorhandenen Tiere fortpflanzten und für alles, was es sonst über sie zu wissen geben mochte. Tiere schienen aller Welt nur interessant, wenn man sie züchten, jagen (wofür nur der Adel zuständig war) und vor allem essen konnte. Insekten zählten in Europa Jahrhunderte lang nicht dazu, obwohl es in den Hungerjahren nach dem 2. Weltkrieg auch noch in Deutschland hier und dort gelegentlich Maikäfersuppe gegeben hat. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein waren Insekten aber einfach kein Thema. Frau Merian war darin die bedeutendste Vorläuferin Alexander von Humboldts - und die einzige Frau, die sich so früh auf diesem Gebiet einen Namen machte. Wer war diese Frau? Maria Sibylla (sie schreibt sich wirklich so ungewöhnlich) Merian wurde 1647 als Tochter des damals berühmtesten Kupferstechers Matthäus Merian in Frankfurt geboren. Der Vater stammte aus Basel und war damals schon über 50 Jahre alt und in zweiter Ehe mit einer Johanna Sibylla aus Runkel an der Lahn verheiratet. Nur drei Jahre später, nach einem bewegten Leben (Zürich, Straßburg, Nancy, Paris, wiederum Basel, Niederlande, Frankfurt am Main) stirbt er in Schwalbach. Die Tochter hat das Künstler des Monats Die höchst abenteuerliche Frankfurterin Anna Maria Sibylla Merian künstlerische Talent des Vaters offenbar geerbt. Sie übernimmt später zusammen mit dem gut 25 Jahre älteren Stiefbruder aus des Vaters erster Ehe den bedeutenden Verlag de Bry in Frankfurt, der auf Kupferstiche spezialisiert war. Das hochbegabte Kind Die Mutter des Mädchens heiratete nach dem Tod Matthäus Merians den Maler und Kunsthändler Jacob Marrel, der die Stieftochter künstlerisch förderte und ausbilden ließ, sodass sie schon im Alter von elf Jahren Kupferstiche verfertigen konnte. Schon als Kind begann Maria Sibylla Seidenraupen zu züchten, für Erwachsene damals in Europa nichts Ungewöhnliches mehr, um bei teuren Stoffen vom fernen China unabhängig zu sein. Aber das junge Mädchen begann sich auch für das Leben der Tiere zu interessieren und bald für das von anderen Raupen und zunehmend für Insekten überhaupt. Rückblickend schrieb sie: „Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung der Insekten beschäftigt. Zunächst begann ich mit Seidenraupen in meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupen viel schönere Tag- und Eulenfalter (so nannte man damals die Nachtfalter. d.A.) entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste mich, alle Raupen zu sammeln, die ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu beobachten. Ich entzog mich deshalb aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen.“ Das ist das, was man empirische Wissenschaft nennt, Beobachten und Beschreiben, und was im 17. Jahrhundert die Ausnahme war, als man sich meist noch damit begnügte, obskure Bemerkungen von Aristoteles unüberprüft abzuschreiben, weil diese „Alten“ seit fast 2000 Jahren berühmt waren und man ihnen blind auch den größten Unsinn glaubte. (Manche Behauptungen antiker Autoren hätte durch einfache Beobachtungen fast jeder Mensch einfach widerlegen können, aber es gehörte sich nicht, anerkannte Autoritäten wie Aristoteles anzuzweifeln. Und die allmächtige katholische Kirche hatte für exakte Wissenschaften noch nie vielübrig, bis es einfach nicht mehr anders ging.) Maniok, Jatropha-Edelfalter und Jacruarú-Echse Ein unruhiges Leben Der weitere Lebenslauf von Sibylla Merian entsprach nicht ganz dem damaligen ruhigen Bürgertum. Sie heiratete zwar, auch wieder einen Maler und Kupferstecher, Johann Andreas Graff. Der Mann war ihr aber in jeder Beziehung, vor allem künstlerisch weit unterlegen. 1670 zog sie mit ihm und der ersten Tochter nach Nürnberg und bestritt den Lebensunterhalt der Familie zeitweise fast allein durch Farbenhandel und Gelegenheitsarbeiten. (In Nürnberg gab es damals noch alte Gewerbeordnungen, die Frauen von den meisten künstlerischen Tätigkeiten ausschlossen. So wie für Frauen überhaupt Jahrhunderte lang vernünftige Beschäftigungen geradezu verboten waren, außer einen Haushalt zu führen oder vielleicht ins Kloster zu gehen. Aber Kunst oder gar Wissenschaft - das war völlig verpönt! Europa unterschied sich darin noch bis vor gut 100 Jahren kaum von streng islamischen Ländern.) Sibylla Merian begann sogar, Bücher zu veröffentlichen, zunächst über die Darstellungen von Blumen, teils für Schülerinnen, denen sie Privatunterricht gab. Später, ab 1679 veröffentlichte sie ein eigenes Buch über Raupen: „Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung“ - für die damalige schwülstige Zeit mit ihren oft endlosen Buchtiteln, die manchmal kaum auf eine Seite passten, ein präziser und knapper Titel. Ihre Ehe war nicht glücklich. Der Mann trank und betrog sie, und nach der Geburt einer zweiten Tochter verließ sie ihn - auch das etwas Unerhörtes, aber sie konnte sich von ihrer Arbeit selbst ernähren - und zog nach 11 Jahren ohne ihren Mann wieder nach Frankfurt am Main. Vier Jahre später zog sie schon wieder um: mit Mutter und Töchtern in die Niederlande zu Verwandten - all dies für die damaligen Zeiten und für eine Frau schon recht abenteuerlich. Aber es sollte noch toller kommen. In Holland geriet sie vorübergehend in die Umgebung einer pietistisch-christlichen Sekte- so darf man die überstrengen, heute Korallenbaum und Augenspinner vergessenen „Labadisten“ wohl nennen - machte sich damit aber nicht gemein, sondern kümmerte sich vor allem um die künstlerische, malerische Ausbildung ihrer Töchter. Dann entdeckte sie eine Schmetterlingssammlung aus der holländischen Kolonie Surinam, manchmal Holländisch-Guyana genannt, ein Gebiet nördlich von Brasilien. In Amsterdam schätzte man sie als Blumenmalerin und Kupferstecherin und Spezialistin vielleicht noch mehr als in Deutschland. Die Niederlande waren zu dieser Zeit ein liberales und weltoffenes Paradies für Künstler, Wissenschaftler und Philosophen. Eine gebildete und hochbegabte Frau wie Sibylla Merian konnte hier in sonst überall Männern vorbehaltenen Domänen und Zirkeln gleich berechtigt auftreten. Sie lernte bedeutende Persönlichkeiten kennen, so den Leiter des botanischen Gartens. Und sie fasste den Plan, eine Reise nach Südamerika zu unternehmen! Sie verkaufte viele Stücke aus ihren Sammlungen, um das bezahlen zu können. Eine Reise über den Ozean war damals ein so teures Unternehmen, dass man es nur einmal machte - und normalerweise natürlich überhaupt nicht, schon gar nicht als allein stehende Frau. Eine Reise nach Südamerika hieß, auf einem kaum 30 Meter langen Holzschiff sich für Wochen dem unbekannten Meer auszusetzen, umgeben von bärtigen, halbwilden Matrosen, bei Stockfisch und Rum. (Die Matrosen der alten Zeit, als es noch Holzschiffe, Karavellen und dergleichen gab, haben ja nicht immer Rum oder Gin getrunken, weil sie alle hemmungslose Saufbrüder waren, das vielleicht auch, aber der Hauptgrund war natürlich, dass sich Süßwasser nicht wochenlang frisch halten ließ, Rum aber schon.) Nun aber damals, im Februar 1699, als Piraten eine solche Selbstverständlichkeit waren wie heute wieder vor Malaysia und Somalia, und wo genau wie heute große Summen Lösegeld für große Schiffe und ihre Fracht gezahlt wurden, machte sich eine Frankfurterin auf, nach Amerika zu fahren, um Insekten zu beobachten, Schmetterlinge, Raupen. Man mag den Kopf schütteln darüber, und viele
Künstler des Monats / Familienseite 15 haben das damals vermutlich getan. Aber die wenigen kompetenten Naturforscher der damaligen Zeit bewunderten diese Frau. Frauen allein im Urwald Surinam liegt zwischen Guyana und Französisch-Guyana, was noch heute eine Kolonie Frankreichs ist. (Von hier werden die Ariane-Weltraumraketen abgeschossen.) Auf der Landkarte wirkt es klein, ist aber viermal so groß wie die Schweiz und bestand 200 Jahre nach Kolumbus fast ausschliesslich aus undurchdringlichen Urwäldern. So gut wie nichts davon war damals wissenschaftlich erkundet. Die Tier- und Pflanzenwelt bestand weitgehend aus in Europa völlig unbekannten Arten. Das war schließlich auch 200 Jahre später noch in ganz Amerika so, als Alexander von Humboldt die nach amerikanischen Verhältnissen in der Nähe liegenden Flüsse Orinoko und Amazonas erkundete. Aber er war ein Mann mit weitreichenden, geradezu diplomatischen Beziehungen, mit Empfehlungsschreiben an spanische Gouverneure, Bürgermeister, Vizekönige. Sibylla Merian reiste nicht in Begleitung eines bekannten Mannes, sondern in Begleitung ihrer jüngeren Tochter Dorothea Maria in den Kontinent des Machismo. An Mut fehlte es ihr nicht! Die Vorstellung, dass eine bürgerliche Frankfurterin mit über 50 Jahren sich in ein völlig unerforschtes und abgelegenes Tropengebiet begibt, um dort vor allem Insekten zu erforschen, hat schon etwas Ungewöhnliches. Sie selbst schrieb dazu im Vorwort ihres Buches >Metamorphosis insectorum Surinamensum
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