Nr. 62 - Soziale Welt
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Japan- Straßenzeitung<br />
unterstützt obdachlose<br />
Verkäufer<br />
Seite 2<br />
Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>62</strong> Euro 1,80<br />
M i t g l i e d i m “ I n t e r n a t i o n a l Ne t w o r k o f S t r e e t Pa p e r s”<br />
Von der Leyen´s Kindereien<br />
Augenzeugenberichte<br />
aus Fukushima<br />
Seite 4<br />
Der Lisbeth-Treff<br />
im Frankfurter Gallus<br />
Seite 8<br />
Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes<br />
war ganz klar: ALG II, vulgo Hartz IV, Regelsätze<br />
an den tatsächlichen Bedarf anpassen und<br />
endlich eine nachvollziehbare Regelung für<br />
die Kinder in ALG II Haushalten festzulegen.<br />
Das ist nicht geschehen, der nächste Gang zum<br />
obersten Gericht steht bevor.<br />
Statt dessen wurde im zuständigen Bundesministerium<br />
unter der Leitung von Frau von der Leyen<br />
solange hin- und hergerechnet, bis die vorab<br />
beschlossene „Erhöhung“ von 5 € herausgekommen<br />
ist. Statt klarer Regelungen für die Kinder<br />
reitet Frau von der Leyen ihr Steckenpferd in<br />
Form des „Bildungspakets“ – Leistungen für<br />
Schulmaterial, Schulessen, Sport- Kultur- und<br />
Musikangeboten am Nachmittag, die in nicht<br />
nachvollziehbarer Weise übernommen werden<br />
sollen. In Höhe von 10 € pro Monat.<br />
Löblich, nicht ausreichend, nicht zielführend<br />
und vor allen Dingen nicht zu vermitteln. In<br />
Berlin z.B. haben erst 3 von 100 Berechtigten<br />
die Formulare für die Geltendmachung ihres<br />
Anspruches eingereicht. Bundesweit sind es weniger<br />
als 10%. CDU-Rambo Frank Steffel aus<br />
Berlin tönt: „Gutscheine lassen sich eben nicht<br />
verrauchen und versaufen.“ Frau von der Leyen<br />
will nun eine Werbeoffensive nachschieben,<br />
denn es geht um 2,5 Mio. betroffene Kinder.<br />
Aber am prinzipiell verfehlten Verfahren soll<br />
nichts geändert werden. Dafür wurde sogar ein<br />
runder Tisch nach Berlin einberufen. Einige<br />
Teilnehmer fühlen sich getäuscht: Es ging gar<br />
nicht um Hartz IV, sondern ausschließlich um<br />
eine Fristverlängerung bis zum 30.06, um einigermaßen<br />
anständige Zahlen für ein vom Grunde<br />
auf verfehltes Paket durchzubringen.<br />
Man muss schon weitab von Praxis und Bildung<br />
sein wie die zuständige Ministerin, um<br />
Musikunterricht oder Mitgliedschaft in einem<br />
Sportverein mit dem heute notwendigen Bildungsbedarf<br />
der Kinder zu verwechseln. Sogar<br />
Bayerns Sozialministerin Haderthauer (CSU)<br />
rügt: „Das Paket hat klare Defizite“. Sie meint:<br />
„Teilhabe ist doch mehr als ein Vereinsbeitrag“.<br />
Die bayerische Sozialministerin meint, man<br />
solle Geld auszahlen und überprüfen lassen, ob<br />
die 10 € pro Monat oder im Gesamten für die<br />
kulturellen Interessen der Kinder ausgegeben<br />
worden sind. Richtig, Frau Halerthauer: Kinder<br />
kaufen sich lieber ein Musikinstrument, Farben<br />
zum Malen, Ausrüstungen für eine nicht organisierte<br />
Sportart oder – Gott helfe Frau von der<br />
Leyen – gar Bücher, aus denen man zumindest<br />
lernen kann, wie man weiter recherchiert und<br />
andere Meinungen finden lernt. Das vorliegende<br />
Modell ist schlicht und einfach wegen mangelnder<br />
Praktikabilität nicht attraktiv und wird<br />
deshalb nicht angenommen. Der Präsident des<br />
Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, forderte<br />
eine deutliche Vereinfachung der Hilfen –<br />
sprich der Beantragungsformulare. So wird das<br />
nichts, weder zu Ostern noch zum 30.06.<br />
Wie oft muss einer Bundesministerin vom<br />
Bundesverfassungsgericht fachliche Inkompetenz<br />
bescheinigt werden, bis sie zurücktritt?<br />
Wir werden es erleben.<br />
RS<br />
(Fotos: Badische Zeitung)<br />
CD des Monats<br />
Serum 114<br />
Frankfurter Punk-Rock<br />
Seite 9<br />
Künstler des Monats<br />
Man Ray<br />
Seite 14<br />
Studie in Doppelzüngigkeit<br />
Ai Weiwei, weltweit bekannter chinesischer<br />
Künstler mit besonderen Beziehungen zu<br />
Deutschland, ist am 3 April verhaftet und verschleppt<br />
worden. Das ist nicht das erste Mal, das<br />
sich das chinesische Regime gegen ihn wendet,<br />
denn der Künstler ist, ebenso international wie<br />
auch im Lande selbst, als scharfer Regimekritiker<br />
bekannt. Ai, geboren 1957, ist der Sohn des<br />
Dichters Ai Quing (+1996), der während der<br />
Kulturrevolution verfolgt und mit einer 20-jährigen<br />
Verbannung in die Mandschurei und Xinjiang<br />
belegt wurde. Schon Ai Quing musste leiden<br />
unter einem Regime, das künstlerische Freiheit<br />
nicht akzeptiert und Kultur nur unter staatlicher<br />
Leitung duldet. Sein Sohn hatte ebenfalls<br />
zu leiden – Reiseverbote, Verhaftungen, seine<br />
Arbeitsstätten wurden mehrfach willkürlich abgerissen.<br />
Trotzdem machte er Kulturgeschichte:<br />
1979 gründete er mit anderen die Stars Group,<br />
die eine staatliche Leitlinie ablehnte, 1994 eine<br />
Galerie für experimentelle Kunst in Peking. International<br />
ist er 2007 durch eine Installation<br />
auf der documenta in Kassel und seiner Mitarbeit<br />
am Nationalstadion zur Olympiade in Peking<br />
bekannt geworden – dem Vogelnest. Seine<br />
Kritik an der Megalomanie der Olympiade ist<br />
Teil seiner politischen Haltung: „Die Regierung,<br />
das gesamte System(…) opfert Bildung, Umweltressourcen<br />
und die Interessen der meisten<br />
Menschen, nur damit einige wenige Menschen<br />
mit Verbindung zur Regierung extrem reich<br />
werden können.“ Er bezieht sich damit direkt<br />
auf die chinesische Geschichte, wie auch oft<br />
in seinen Werken Antiquitäten und Zitate der<br />
alten Kunst verwendet werden. Damit trifft er<br />
Ai Weiwei 2007 auf der documenta 12<br />
den Nerv der Machthaber: Demokratie gab es in<br />
China nie, aber jeder Umsturz wurde durch eine<br />
Bauernrevolte ausgelöst, wenn der Abstand vom<br />
Regime und den damit eng verbundenen Reichen<br />
zu den Bauern und Lohnarbeitern zu groß<br />
geworden war. Für die nächsten drei Jahre sollte<br />
er als Gastprofessor an der Universität der Künste<br />
in Berlin wirken – wenn er denn frei wäre.<br />
Deutschlands Politiker aller Couleurs schäumen,<br />
solange das weitab vom Schuss vor der<br />
deutschen Presse stattfinden kann. In China will<br />
man dagegen die Zusammenarbeit vertiefen und<br />
wirtschaftliche Chancen nutzen, was immer das<br />
Regime auch anstellen mag. Guido Westerwelle,<br />
der Außenminister, erklärt, dass er erwarte,<br />
dass Ai WeiWei umgehend freigelassen werde.<br />
Dabei hatte er noch kurz zuvor eine Ausstellung<br />
„Kunst der Aufklärung“ in Peking eröffnet<br />
– ausgerechnet am Platz des Himmlischen<br />
Friedens, wo 1989 die Protestbewegung mit<br />
Panzern niedergewalzt wurde.<br />
CDU-Fraktionschef Kauder will sich in Peking<br />
für Ai WeiWei ausgesprochen haben – bislang<br />
erfolgs- und wirkungslos. Worauf es ihm<br />
wirklich ankommt, hat er auch gesagt: „(Wir)<br />
konnten uns davon überzeugen, dass sich die<br />
Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern<br />
weiter rasant entwickeln.“ Die deutsche<br />
Automobilwirtschaft präsentiert sich pompös<br />
auf der Automobilausstellung in Shanghai –<br />
Profit statt Protest.<br />
Dagegen kann man was tun. Nicht wirkungslos<br />
mit Schweige- und Sitzdemonstrationen,<br />
sondern direkt bei den Maulhelden<br />
der deutschen Politik. Schreibt die Abgeordneten<br />
und Spitzenpolitiker an, überflutet ihre<br />
E-Mail-Adressen, blockiert ihre Twitter mit<br />
Protesten! Befreit Ai WeiWei mit den Mitteln<br />
der Informationsgesellschaft und der „elektronischen<br />
Kriegsführung“!<br />
RS<br />
(Foto: wikipedia)<br />
Seite 4 - Augenzeugen berichten aus Fukushima!
2<br />
P O L I T I K<br />
Nichts wird mehr so sein wie es war<br />
Nach dem Erdbeben der Stärke 9 in Japan<br />
und den massiven Zerstörungen sind die<br />
Armen und Obdachlosen seit Mitte März<br />
zurück auf Tokios Straßen und verkaufen<br />
„The Big Issue Japan“<br />
Gleichzeitig kämpfen im Norden des Landes<br />
Tausende ums Überleben. „Big Issue“-<br />
Geschäftsführerin Miku Sano berichtet über<br />
THE BIG ISSUE JAPAN 29.03.2011<br />
Sendais, sah ich viele Menschen die anstanden,<br />
um ein paar halb verfaulte Orangen und<br />
eine Banane zu bekommen. An die Tausend<br />
Leichen liegen unbeaufsichtigt in einer Schule,<br />
und es gibt keine Informationen über die<br />
vielen ungezählten Toten. Wir werden ab 11<br />
Uhr allen Menschen ohne Obdach Curryreis<br />
anbieten. Die Zahl der Todesopfer.<br />
verseucht werden. Tausende Menschen schlafen<br />
in Grundschulen, Rathäusern und öffentlichen<br />
Einrichtungen. Ich werde mein Bestes<br />
geben, um auch morgen wieder Essen anbieten<br />
zu können. Obwohl ich fürchte, dass wir<br />
dann nichts mehr haben werden.<br />
Pyrrhussieg<br />
In SPD-Kreisen wird gejubelt. Zwei Landtagswahlen<br />
scheinen zu zeigen, dass Rot/<br />
Grün als politische Alternative wieder möglich<br />
ist. Nach Hamburg feiert man den dritten<br />
Sieg.<br />
„Noch so ein Sieg und wir sind verloren“.<br />
Diese Äußerung schreibt man den antiken<br />
König Pyrrhus zu, dessen Siege gegen die<br />
Römer so verlustreich waren, dass er es damit<br />
in die Geschichte geschafft hat. Und<br />
genau so täuschend sind die Wahlerfolge in<br />
Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg.<br />
Der Weg führt statt zu Rot/Grün zu<br />
Grün/Rot. In Baden-Württemberg wird das<br />
Fakt, Kurt Beck in Rheinland-Pfalz hat als<br />
Partei heftig verloren und ist mehr denn je<br />
auf grüne Schützenhilfe angewiesen. Auch<br />
unter Gabriel ist die SPD weiter eine Partei<br />
mit Projekt 18 – von der Volkspartei zum<br />
Mehrheitsbeschaffer für Andere.<br />
Grün hat vom Atomunfall in Japan<br />
profitiert. Das ist verständlich, weil Grün<br />
in Sachen Atom als einzige Partei keinen<br />
Wackelkurs gefahren hat. Schwarz hat den<br />
so genannten Atomausstieg mitgestaltet.<br />
Rot ist nur zu gerne bereit, sich den Kurs<br />
in Restlaufzeiten gegen andere Zugeständnisse<br />
abhandeln zu lassen. Die FDP schlägt<br />
Kobolz zwischen der Technikförderung für<br />
neue Atomkraftwerke und beschleunigtem<br />
Abschalten, auch wenns teuer kommt. Nur<br />
Grün fährt einen klaren Kurs: Umweltzerstörung<br />
durch Windenergieanlagen als allein<br />
selig machende Lösung statt Energiemix<br />
aus alter und neuer, noch zu entwickelnder<br />
Technologie.<br />
die Situation in Sendai, Vertriebschef Aoki<br />
San gibt Einblick in sein „Tagebuch der<br />
Zerstörung“.<br />
In Sendai, der Hauptstadt von Miyagi,<br />
und der vom Erdbeben am schlimmsten<br />
betroffenen Region, sind alle Verkäufer am<br />
Leben. Die Zerstörung der Infrastruktur bedeutet<br />
allerdings, dass in den ganzen Norden<br />
keine Magazine geliefert werden konnten.<br />
Miku Sano, Geschäftsführerin des Big Issue-Büros<br />
Tokio, sagt: „In Sendai haben zwar<br />
alle Verkäufer überlebt, aber sie wissen nicht,<br />
wann sie wieder etwas verdienen können. Alle<br />
Menschen im Norden des Landes kämpfen<br />
ums Überleben und darum, jene zu finden,<br />
die sie lieben. Wir versuchen alles, um ihnen<br />
zu helfen. Nichts wird mehr so sein wie es war,<br />
aber wir sind nicht besiegt.“<br />
Auch das Fußballtraining und damit ein<br />
Stück Normalität soll rasch wieder beginnen.<br />
„Alle Spiele wurden abgesagt, aber unsere Verkäufer<br />
möchten wieder spielen, um sich besser<br />
zu fühlen.“<br />
Big Issue Japan arbeitet mit der „Sendai<br />
Nachtpatrouille“ zusammen, um den Obdachlosen<br />
zu helfen. Unsere Mitarbeiter haben seit<br />
dem 11. März unermüdlich kostenloses Essen<br />
an jeden gegeben, der im Freien übernachten<br />
muss. Auszüge aus dem „Tagebuch der Zerstörung“<br />
von Aoki San, Chef der Patrouille und<br />
des Big Issue-Vertriebs in Sendai:<br />
14. März<br />
Wasser und Elektrizität sind in einigen Gegenden<br />
wieder vorhanden. Aber es wird noch<br />
mindestens einen Monat dauern, bis die Gasleitungen<br />
wieder funktionieren. In Wakabayashi,<br />
dem am schlimmsten zerstörten Viertel<br />
Miku Sana mit einem Straßenverkäufer in strahlender Umgebung<br />
15. März<br />
Straßen, Flugzeuge und Züge dürfen nur<br />
von Rettungsdiensten benutzt werden, uns<br />
bleibt nur der düstere Ausblick auf wenig Essen.<br />
Mehr als 1000 Leute sind an einem Bus<br />
Schlange gestanden. Ich habe mich in eine<br />
Schlange vor dem Daiei Supermarkt gestellt,<br />
aber eine halbe Stunde nach der Öffnung<br />
sind die Grundnahrungsmittel alle ausverkauft.<br />
Gasflaschen, Nudeln, Dosen, Batterien,<br />
Reis - alles ist knapp.<br />
Die öffentliche Verwaltung ist komplett<br />
gelähmt. Das Rathaus hat heute einen Informationsschalter<br />
eröffnet. Vier Tage nach dem<br />
Erdbeben. Die Krankenhäuser können immer<br />
nur abhängig von der Stromversorgung<br />
Hilfe leisten. Ohne batteriebetriebenes Radio<br />
hat man keinerlei Informationen. Viele<br />
Bewohner wissen nichts über den Unfall im<br />
Atomkraftwerk Fukushima. Die Menschen<br />
sind „Informations-Flüchtlinge“. Lokale Radiosender<br />
helfen, vermisste Angehörige zu<br />
finden. Starke Nachbeben um 3 Uhr und 4<br />
Uhr morgens.<br />
16. März<br />
Der Tag hat mit Regen begonnen. Das Lokalradio<br />
hat über unser Essensangebot im Rathaus<br />
von Wakabayashi informiert, also haben<br />
wir an die 1000 Portionen vorbereitet. Mittags<br />
haben wir Curry, Misosuppe und Reis<br />
für über 800 Menschen ausgegeben, nach<br />
kürzester Zeit war alles weg. Einige Menschen<br />
hatten seit drei Tagen nichts gegessen<br />
und warteten im Regen auf eine Mahlzeit.<br />
Ich mache mir Sorgen, weil wir nichts<br />
darüber erfahren, was im Atomkraftwerk<br />
geschieht. Wir haben Nordwind, ich befürchte,<br />
die Kanto-Region könnte radioaktiv<br />
Nachtrag von Miku Sano am 21. März<br />
Wir haben dieses Wochenende ein Fußballtraining<br />
mit Verkäufern organisiert. Auch<br />
viele Freiwillige haben mitgemacht (Bilder<br />
dazu im Japan Blog von Big Issue: http://<br />
ameblo.jp/one-goal-one-step). Den meisten<br />
unserer Straßenverkäufer geht es ganz okay,<br />
aber diejenigen in den am meisten zerstörten<br />
Gebieten sehen sich gewaltigen Herausforderungen<br />
gegenüber.<br />
Zuerst waren viele von uns überrascht, wie<br />
stark und unberührt die meisten Verkäufer<br />
wirken. Aber wenn man bedenkt, dass viele<br />
unserer Verkäufer immer draußen schlafen,<br />
dann bedeutet das, dass diese Situation, die<br />
wir als Notstand und Katastrophe empfinden,<br />
für sie das tägliche Leben ist.<br />
Ich hoffe, dass uns diese Krise zusammenbringt<br />
und uns die Chance gibt, mehr an die<br />
Menschen zu denken, die unter solch harten<br />
Bedingungen leben müssen. Nicht nur nach<br />
einem Erdbeben, sondern jeden Tag.<br />
In der Zwischenzeit ist die letzte Ausgabe<br />
des Big Issue in Sapporo angekommen. Hokkaido<br />
hinkt fünf Tage hinter dem Plan her.<br />
Wir erleben weiterhin jeden Tag Erdbeben<br />
der Stärke 5 bis 6 in den Küstenregionen um<br />
Tokio und im Norden.<br />
Strom und Gas sind in Tokio und im Norden<br />
knapp. Die Menschen in Tokio haben<br />
Panikkäufe getätigt, aber das lässt so langsam<br />
nach. Die Dinge sind weiterhin sehr<br />
ungewiss, aber jeder versucht den anderen zu<br />
helfen.<br />
www.streetnewsservice.org<br />
Hier wird Politik auf ein einziges Thema<br />
konzentriert. Das ist für eine einzige Wahl<br />
vielleicht zulässig, aber auch in diesem Zusammenhang<br />
nicht zielführend. Man kann<br />
die Politik eines der wichtigsten Industrieländer<br />
nicht auf den Atomausstieg alleine<br />
reduzieren. Denn wenn in anderen Staaten<br />
der <strong>Welt</strong> noch Energieerzeugung per<br />
Atomkraft betrieben wird, in Deutschland<br />
aber gar nicht mehr, werden wir auch im<br />
Störungsfall nicht mehr helfen können.<br />
Und uns möglicherweise sogar nicht einmal<br />
mehr, so hilflos alle Maßnahmen auch sein<br />
mögen, unsere eigene Bevölkerung schützen<br />
können. Japan mag weit weg sein, aber<br />
es gibt aktive und ähnlich veraltete Meiler<br />
in naher Distanz zur Grenze, in Frankreich.<br />
Deutschland liegt voll in der vorherrschenden<br />
Windrichtung. Logischerweise müssten<br />
wir die französischen Atomkraftwerke abschalten<br />
statt unsere. Das geht nicht.<br />
Es ist nichts Schlimmes daran, wenn<br />
eine Regierung in der Bundesrepublik die<br />
Mehrheit im Bundesrat verliert. Umso sorgfältiger<br />
muss Politik vorbereitet und konsequenter<br />
durchdacht werden. Es ist aber<br />
schlimm, wenn man über eine Katastrophe<br />
den Kopf verliert. Und vorschnell Entscheidungen<br />
trifft, die man später wieder korrigieren<br />
muss.<br />
Bis zur nächsten Bundestagswahl, die<br />
als einzige Wahl letztendlich über die politische<br />
Ausrichtung für zumindest eine<br />
Wahlperiode entscheidet, ist noch Zeit. Bis<br />
dahin wird noch Einiges passieren. Zumindest<br />
wird man die Rechnung präsentiert bekommen:<br />
höhere Strompreise, Bauprojekte<br />
für neue Anlagen, die garantiert auf lokale<br />
Proteste stoßen, die alle Zeitpläne über den<br />
Haufen werfen. Höhere Kosten für Öl und<br />
Erdgas, die die nun vorliegenden Kalkulationen<br />
ad absurdum führen werden. Und so<br />
weiter. Bleiben wir wachsam.<br />
RS
NACHRICHTEN 3<br />
Der Krieg, den der Westen nicht wollte<br />
Barack Obama wollte ihn nicht, David<br />
Cameron brauchte ihn nicht, Angela Merkel<br />
war ihm nicht gewachsen und Silvio Berlusconi<br />
fürchtete ihn. Lediglich Nicolas Sarkozy<br />
betrachtete den Volksaufstand, der in Libyen<br />
am 15. Februar begann, als eine Möglichkeit<br />
zur politischen und diplomatischen Erlösung.<br />
Ob aber die energische Leitung einer<br />
internationalen Koalition, die das libysche<br />
Volk vor Muammar Gaddafi beschützen<br />
soll, reichen wird, um die schwindende Unterstützung<br />
für den Präsidenten Frankreichs<br />
im eigenen Land rechtzeitig zu den Wahlen<br />
im nächsten Jahr wiederzubeleben, ist sehr<br />
unsicher. Durch die Forderung nach Militärschlägen<br />
hofft er, den Ruf Frankreichs<br />
in der arabischen <strong>Welt</strong> wiederherzustellen.<br />
Doch der Weg zur Militärintervention ist<br />
gepflastert mit gegenseitigem Misstrauen,<br />
die Furcht vor einem weiteren Endloseinsatz<br />
in einem muslimischen Land, Zweifel<br />
über die Stärke und Zusammensetzung der<br />
libyschen Opposition. Der Ausbruch demokratischer<br />
Aufstände hat Frankreich auf dem<br />
falschen Fuß erwischt. Die damalige Außenministerin<br />
Michele Alliot-Marie hatte einen<br />
Winterurlaub in Tunesien verbracht und gar<br />
französische Unterstützung bei der Kontrolle<br />
des Aufstands öffentlich angeboten, wenige<br />
Tage, bevor Präsident Ben Ali gestürzt wurde.<br />
Mehr noch: Premierminister Francois Fillon<br />
hatte als Gast von Ägyptens Präsident Hosni<br />
Mubarak den Weihnachtsurlaub auf dem Nil<br />
verbracht. Als Schadensminderung hat Sarkozy<br />
am 27 Februar die Außenministerin gefeuert<br />
und Alain Juppe berufen. Noch sind<br />
die Würfel in Libyen nicht gefallen, aber einige<br />
politische Verlierer sind schon sicher. Nur<br />
wenn die Kämpfe in einem Desaster enden,<br />
werden Deutschland, die Kanzlerin und insbesondere<br />
der Außenminister nicht als Verlierer<br />
dastehen. Der zweite Verlierer ist der<br />
Versuch der EU, eine gemeinsame Außenpolitik,<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
zu begründen. Verlierer ist hier insbesondere<br />
Kommissarin Catherine Ashton. Was Sarkozy<br />
angeht, wird sich noch herausstellen, ob<br />
er als Held oder rücksichtsloser Abenteuer als<br />
dem Libyenkonflikt hervorgeht. Justin Vaisse,<br />
ein Franzose, der am Brookings Institute<br />
in Washington das Zentrum für Studien<br />
der Vereinigten Staaten und Europas leitet,<br />
hat einen Unterton von „Frankophobie und<br />
Sarkozyphobie“ in den US-Eliten festgestellt.<br />
„Entweder der Krieg verläuft gut und er wird<br />
als weitsichtiger, entschiedener Staatsmann<br />
dastehen, oder der Krieg verläuft schlecht<br />
und das wird sein Image als großsprecherischer<br />
Cowboy verstärken, der die <strong>Welt</strong> in den<br />
Krieg treibt.“ Die Jury tagt noch.<br />
(Quelle: Paul Taylor, Reuters)<br />
Klimawandel betrifft vor allem Städte<br />
in den Entwicklungsländern<br />
Viele der am schnellsten wachsenden Städte<br />
leiden überproportional unter den Auswirkungen<br />
des Klimawandels, vor allem wenn<br />
sie in den Entwicklungsländern liegen, wie<br />
eine neue Studie zeigt. Laut der Studie, die<br />
im Journal „Current Opinion in Environmental<br />
Sustainability and European Planning<br />
Studies“ („Aktuelle Meinungen zu ökologischer<br />
Nachhaltigkeit und Europäischen Planungswissenschaften“)<br />
erscheinen wird, unternehmen<br />
nur wenige urbane Regionen die<br />
nötigen Schritte, um ihre Einwohner - immerhin<br />
Milliarden von Menschen auf der ganzen<br />
<strong>Welt</strong> - vor wahrscheinlichen Ereignissen wie<br />
Hitzewellen und dem steigenden Meeresspiegel<br />
zu schützen. Die Studie zeigt außerdem, dass sie<br />
es auch nicht schaffen, den Ausstoß der klimaschädlichen<br />
Treibhausgase zu verringern.<br />
Besonders in den Städten können lange<br />
Hitzeperioden die Luftverschmutzung<br />
verstärken und damit Gesundheitsprobleme<br />
hervorrufen. Ärmere Stadtviertel ohne<br />
verlässliche Entsorgung, Wasserversorgung<br />
oder Straßen sind besonders gefährdet, sagt<br />
Romero Lanko vom U.S. National Center<br />
for Atmosperic Research. Die Zahl der Stadtbewohner<br />
hat sich seit 1950 vervierfacht,<br />
und 2020 werden mehr als 500 Städte eine<br />
Million Bewohner oder mehr habe., sagt die<br />
Studie. Aber die Stadtväter sind meist nicht<br />
bereit, die Städte für künftige Naturereignisse<br />
vorzubereiten, insbesondere Massentransportsysteme,<br />
die den Treibhauseffekt<br />
vermindern. „Städte können enormen Einfluss<br />
auf die Emissionen haben, wenn sie<br />
sich auf Verkehrssystem und effiziente Energieübertragungssysteme<br />
konzentrieren, sagt<br />
Romero Lankao. „Aber die lokalen Führer<br />
stehen unter Druck, mehr Straßen zu bauen<br />
und Regelungen gegen Energieverbrauch zu<br />
erleichtern.“<br />
(Quelle: Laura McInnis, Reuters)<br />
Aufrufe im Radio verhindern<br />
Todesfälle durch Malaria<br />
Wer würde nicht gerne vor dem Schlafengehen<br />
die Stimme einer bekannten Persönlichkeit<br />
hören? Im Senegal kommen Eltern<br />
und Kinder jeden Abend in den Genuss einer<br />
30-sekündigen Radioansage: Diese informiert<br />
sie aber nicht über den neuesten<br />
Klatsch aus der <strong>Welt</strong> der Reichen und Schönen,<br />
sondern erinnert Familien daran, ihre<br />
Moskitonetze anzubringen, bevor sie zu Bett<br />
gehen. Jede Nacht, kurz vor dem Zubettgehen,<br />
tönt die Stimme von Senegals Superstar<br />
Youssou Ndour über die Radiostationen<br />
überall im Land. „Es ist neun Uhr“, singt er<br />
in seinem heimatlichen Wolof. „Bist du und<br />
deine Familie sicher unter dem Moskitonetz<br />
heute Nacht?“<br />
Die Night Watch Campign als erstes interaktives<br />
Medienprojekt wurde im letzten<br />
September von den Gruppen Malaria No<br />
More und Lalela Projekt ins Leben gerufen.<br />
Es knüpft an Vorläufer aus den USA an, wo<br />
Eltern über Radio aufgefordert wurden, in<br />
der Nacht auf ihre Kinder aufzupassen. Auch<br />
die lokale Telefongesellschaft TIGO hat sich<br />
der Kampagne angeschlossen und verschickt<br />
täglich 50.000 Textnachrichten an Menschen<br />
im Senegal mit der Erinnerung an die Moskitonetze.<br />
Denn Malaria bleibt Killer Nummer<br />
Eins für Kinder unter fünf Jahren in Afrika.<br />
Alle 45 Sekunden stirbt ein Kind an dieser<br />
vermeidbaren und behandelbaren Krankheit.<br />
Die Verminderung der Malariatoten um<br />
Smog im morgendlichen Mexico City<br />
zwei Drittel in dieser Altersklasse ist Teil der<br />
Millennium Development Ziels für 2015. Es<br />
muss noch viel Arbeit auf diesem Weg geleistet<br />
werden. Noch in diesem Jahr soll die<br />
Kampagne zusammen mit der Verteilung<br />
von 8,6 Mio. Moskitonetze auf Kamerun<br />
ausgeweitet werden.<br />
(Quelle: Amanda Fortier, Street News Service)<br />
Erste Generalstaatsanwältin im Amt<br />
Frauenmorde als Herausforderung<br />
In Mexiko steht erstmals eine Frau an der Spitze<br />
der Generalstaatsanwaltschaft. Doch die<br />
Freude der Frauenrechtsbewegung im Land<br />
ist angesichts der ausufernden Gewalt verhalten.<br />
Auch die Kaltblütigkeit, mit der Frauenaktivistinnen,<br />
Polizeichefinnen und Mitglieder<br />
ein und derselben Familie hingerichtet<br />
wurden, dämpft den Enthusiasmus. Am 7.<br />
April stimmte der mexikanische Senat der<br />
Ernennung der 41-jährigen Juristin Maricela<br />
Morales zur neuen Generalstaatsanwältin<br />
des lateinamerikanischen Landes zu. Sie bekleidet<br />
nun eines der wichtigsten Ämter der<br />
Regierung des konservativen Staatspräsidenten<br />
Felipe Calderón. Morales wird sich auch<br />
mit fünf Verbrechen auseinander setzen, die<br />
in den letzten vier Monaten selbst die gewaltgewohnte<br />
mexikanische Gesellschaft erschüttert<br />
hat: die Ermordung von zwei Frauenrechtlerinnen,<br />
zwei Polizeichefinnen und<br />
drei weiteren Mitgliedern der Familie der<br />
ebenfalls ermordeten Sozialaktivistin Josefina<br />
Reyes. „Wir Frauen sind keine Kriegsbeute.<br />
Schluss mit den Frauenmorden“, war am 6.<br />
April auf einem Transparent in Mexiko-Stadt<br />
zu lesen. In der mexikanischen Hauptstadt<br />
und zwei Dutzend weiteren Städten fanden<br />
an jenem Tag Demonstrationen gegen die<br />
Gewalt im Lande statt, die seit dem Amtsantritt<br />
von Calderón 2007 und seiner Militarisierung<br />
des Anti-Drogen-Kampfes 35.000<br />
Todesopfer gefordert hat. „Das Land durchlebt<br />
einen kritischen Augenblick, den schwierigsten<br />
seit mindestens 30 Jahren“, meint<br />
Emilienne de León, Leiterin der Frauenorganisation<br />
‚Instituto del Liderazgo Simone de<br />
Beauvoir‘. „Eine solche Situation lässt keinen<br />
Raum mehr für die Fortschritte an der Frauenfront<br />
und für andere wichtigen Themen,<br />
die Rückschläge hinnehmen mussten.“ Die<br />
Militarisierung des Anti-Drogenfeldzugs hat<br />
den Norden Mexikos quasi in ein Kriegsgebiet<br />
verwandelt. Vor allem der Bundesstaat<br />
Chihuahua ist betroffen. Dort liegt auch<br />
Ciudad Juárez, die weltweit verrufene ‚Stadt<br />
der Frauenmorde‘. Hatte das allgemeine<br />
Klima der Gewalt die geschlechtsspezifischen<br />
Übergriffe auf Frauen in dem Bundesstaat in<br />
Vergessenheit geraten lassen, treten sie nun<br />
aufgrund der Brutalität im Umgang mit den<br />
Opfern wieder in den Vordergrund. Ebenfalls<br />
im Oktober wurde die 20-jährige Polizeischülerin<br />
Marisol Valles zur Polizeichefin<br />
des Gemeindebezirks Praxedis im Juárez-Tal<br />
ernannt. Sie war die einzige Kandidatin für<br />
das Amt nach der Ermordung ihres Amtsvorgängers.<br />
Keine sechs Monate später flohen sie<br />
und ihre Familie ins US-amerikanische Exil.<br />
Ende März wurden die Polizeikommissarin<br />
des Bundesstaates Chihuahua, Brenda Carrillo,<br />
und ihre fünfjährige Tochter auf dem<br />
Weg zur Schule erschossen. Unterstützung<br />
bekommen Mexikos Frauen nun von der<br />
neuen Generalstaatsanwältin, die von der<br />
US-amerikanischen Außenministerin Hillary<br />
Clinton für ihre Arbeit als unerschrockene<br />
Ermittlerin gegen das organisierte Verbrechen<br />
den diesjährigen Internationalen Frauen-Tapferkeitspreis<br />
‚entgegengenommen hat.<br />
Für Mexikos Frauenorganisationen ist die<br />
Ernennung von Maricela Morales auch aus<br />
einem anderen Grund ein Schritt nach vorn.<br />
Morales ersetzt Arturo Chávez Chávez, der<br />
nach eineinhalb Jahren von seinem Posten<br />
Amt zurücktrat. Die Frauenbewegung wirft<br />
dem Ex-Generalstaatanwalt vor, die Aufklärung<br />
von Frauenmorden in Chihuahua halbherzig<br />
betrieben zu haben.<br />
(Quelle: Daniela Pastrana, IPS)<br />
Hochzeit auf der Gefängnisinsel<br />
Wenn Verliebte ihre Hochzeit planen, suchen<br />
sie normalerweise lange nach dem richtigen<br />
Ort für ihr Ja-Wort. Der geeignete Platz<br />
dafür soll wunderschön, romantisch und bedeutsam<br />
sein. Daher wird die Wahl von 18<br />
Paaren aus Südafrika einige überraschen: Sie<br />
haben sich als Ort für ihre Trauung Robben<br />
Island ausgesucht, das Gefängnis, in dem<br />
Nelson Mandela 27 Jahre lang gefangen gehalten<br />
wurde. Eines kann man dabei nicht<br />
abstreiten – bedeutsam ist der Ort auf jeden<br />
Fall.<br />
Margret Mgxashe, Regionalmanager von<br />
Home Affair Cape Town, hatte eine brillante<br />
Idee: auf Robben Island eine Massenhochzeit<br />
im chinesischen Stil abzuhalten. Das war<br />
vor 12 Jahren und seit dieser Zeit kommen<br />
Hochzeitspaare nach Robben Island, um<br />
sich dort das Jawort zu geben. „ich dachte,<br />
dass eine Veränderung des Images nötig war,<br />
um das neue Jahrtausend zu feiern“, erklärt<br />
Mgxashe. „Robben Island, früher die Behausung<br />
für inhaftierte politische Gefangene,<br />
unser leidenschaftlichen Anführer, war dafür<br />
Ideal. Warum diesen Platz nicht nutzen, um<br />
die Liebe zu feiern?“<br />
Und es ist nicht einmal teuer. Die Hochzeit,<br />
ein Mittagessen, eine Inseltour und die<br />
Fähre kostet nur 300 Rand, etwa 27 Euro.<br />
Qm Valentinstag dieses Jahres warteten 18<br />
Bräute auf ihre Hochzeit gewartet. „Es handelt<br />
sich um eine Ziviltrauung, somit sind alle<br />
Glaubensbekenntnisse willkommen, auch<br />
homosexuelle Paare. Das Essen ist halaal, falls<br />
nicht besondere diätetische Wünsche vorliegen.<br />
Saskia Schmidt, 28, aus Deutschland<br />
ist eine der glücklichen Bräute von Robben<br />
Island. „All die afrikanischen Gesänge, das<br />
Klatschen, die Liebe, das war perfekt. Es war,<br />
so viel mehr als ich erwartet hatte.“<br />
(Quelle: Lizar van Reenen, Big Issue South Africa)
4<br />
UMWELT<br />
Augenzeugenberichte aus Fukushima<br />
Von Suvendrini Kakuchi<br />
Das Atomunglück in Fukushima hat großes<br />
Echo in Deutschland erzeugt. Presse, Funk<br />
und Fernsehen sind voll von selbst ernannten<br />
Experten und kenntnislosen Politikern,<br />
die ihr eigenes Süppchen an diesem Feuer<br />
kochen wollen. Das ist nicht unsere Aufgabe.<br />
Aber dank des weltweiten Netzes der Straßenzeitungen<br />
können wir unseren Lesern etwas<br />
bieten, was in der hiesigen Berichterstattung<br />
deutlich zu kurz kommt: Augenzeugenberichte<br />
vom Ort des Geschehens.<br />
–Die Redaktion<br />
Meine Entscheidung, nach Fukushima zu<br />
fahren – dem Gebiet, das am schwersten<br />
von dem starken Erdbeben, dem Tsunami<br />
und der Nuklearkatastrophe betroffen ist<br />
– fiel an einem Nachmittag der letzten Woche<br />
nach einem langen Treffen mit Wissenschaftlern.<br />
(Geschrieben 11. April –d.R.)<br />
Die Einladung, Wissenschaftler bei einer<br />
privaten Faktenfindungsmission zu begleiten,<br />
war unwiderstehlich. Die Wissenschaftler<br />
und Ingenieure, die sich an diesem Tag<br />
versammelt haben, hatten für Jahrzehnte<br />
Bedenken hinsichtlich der Reaktorsicherheit<br />
und die Sicherheitsvorkehrungen. Sie sind<br />
aktiv in der Debatte über die Zukunft der<br />
Nuklearenergie in Japan.<br />
„Es besteht zwingender Bedarf für eine<br />
Echtzeitüberwachung der Strahlung in den<br />
Gebieten, die von dem beschädigten Fukushima<br />
Daiichi Atomrektoren betroffen sind“,<br />
sagt Atsuo Suzuki, Leiter der Forschungsgruppe<br />
für Hochenergiebescheunigung an<br />
der Universität Tsukuba. „Hier können wir<br />
unsere Expertisen einbringen.“<br />
Unsere Reise begann um 6 Uhr morgens,<br />
ausgerüstet mit Mineralwasserflaschen, Kleidung,<br />
die vor der Rückkehr nach Tokio vernichtet<br />
werden sollte, und Gesichtsmasken<br />
als Schutz vor Strahlung bei Annäherung an<br />
die 20-Meilen-Sicherheitszone um die beschädigten<br />
Reaktoren.<br />
Wir hatten uns Dosimeter umgehängt,<br />
die etwas wie große Thermometer aussehen.<br />
Diese Messgeräte zeigen in Mikrosieverts die<br />
Strahlenbelastung akkumuliert an. Wir erhielten<br />
Instruktionen, diese Messgeräte immer<br />
bei uns zu tragen und die Steigerung der<br />
Werte zusammen mit dem Ort der Ablesung<br />
aufzuzeichnen.<br />
„Unsere eigene Dokumentation des radioaktiven<br />
Materials ist der Schlüssel dafür, das<br />
Unglück in Fukushima zu verstehen“, erklärt<br />
Yoichi Tao, ein Physiker mit Spezialisierung<br />
in Risk Management im Ruhestand. Er ist<br />
Absolvent der Universität von Tokio. Aber<br />
Tao ist kein Mitglied der engen Gruppe von<br />
Experten, die die ambitionierten Pläne für<br />
die Nuklearindustrie in Japan geleitet haben.<br />
Tao selbst hat im Alter von sechs Jahren die<br />
Atombombe auf Hiroshima miterlebt. Er<br />
bestreitet die die These, dass Nuklearenergie<br />
absolut sicher zu erzeugen sei und bezeichnet<br />
dies als „Mythos“. Die bittere Wahrheit,<br />
dass dem nicht so ist, hat Japan bis heute beschlossen<br />
zu ignorieren.<br />
„Es ist an der Zeit, eine klarere Definition<br />
des komplexen Sicherheitskonzepts zu beginnen“,<br />
erklärt er. „Das bedeutet Forschungen<br />
aus unterschiedlichen Perspektiven, eingeschlossen<br />
der Ansichten der Bewohner, unabhängigen<br />
Ansichten und auch die Einbeziehung<br />
der Folgen eines Unglücks auf andere<br />
Länder.“<br />
Die Fahrt von drei Stunden nach Fukushima<br />
war belastend und bedeutend. Die Autobahnen<br />
sind wieder offen und man fährt<br />
an der grandiosen Szenerie vorbei, die Japans<br />
nördliche Region auszeichnet: Berge mit<br />
jungfräulichen Nadelwäldern auf der einen<br />
Seite und dem blauen Meer, nun ruhig, auf<br />
der anderen Seite. Scharfe Winde kamen uns<br />
auf einer fast leeren Straße entgegen, ein Zeichen<br />
des verlorenen Reizes von Fukushima.<br />
Bis zum Unglück was Fukushima ein Touristenziel<br />
mit therapeutischen Heißwasserquellen<br />
und fischen Fischen und Meeresfrüchten.<br />
Verwüstung<br />
Ein schrecklicher Anblick erwartete uns in Iwaki,<br />
unser Tor nach Fukushima. Iwaki, früher eine belebte<br />
Fischerstadt, hat die volle Wucht des Tsunami<br />
abbekommen mit Wellen von 14 m Höhe.<br />
Wir hielten in Dorf Yotsukura an. Die<br />
Halte der Bevölkerung hatten Opfer zu beklagen,<br />
ihre Häuser, Fischerboote und Autos<br />
verloren oder waren gar noch immer vermisst.<br />
Menschen mit Masken schiene noch wie<br />
betäubt, während sie die durchnässten Trümmer<br />
in hilflosen Versuchen eines Wiederaufbaus<br />
durchsuchten. „Die Gemeinschaft ist<br />
noch immer verstreut in Auffanglagern, denn<br />
es fehlt am Ort an Essen und Wasser und es<br />
gibt auch eine große Knappheit an Benzin“,<br />
erklärt Yuuji Kojima, am Ort für die Rettungsoperationen<br />
zuständig.<br />
Am Nachmittag wollten wir so dicht wie<br />
möglich zum Ort der Nuklearkatastrophe<br />
vordringen. Wir wählten die Route nicht am<br />
Meer endlang, sondern über Land. Bei der<br />
Annäherung an den Unfallort passierten wir<br />
auf Meilen verlassene Dörfer, wo Hunde und<br />
Kühe an zerstörten Häusern und Straßen<br />
vorbeigehen.<br />
Der Himmel war dunkel geworden, wir<br />
fürchteten Regen, der das Risiko einer Kontamination<br />
erhöhen würde. Wir zogen unsere<br />
Masken und eine weitere Schicht von<br />
Schutzkleidung an. Dann lasen wir unsere<br />
Messgeräte ab.<br />
Bei Überschreitung der 30-Kilometer-<br />
Zone, eine erst kürzlich von der Regierung<br />
angeordnete Erweiterung der Risikozone, erreichten<br />
wir Miyakoji-machi, früher ein üppiges<br />
Agrargebiet, nun eine Geisterstadt.<br />
Ein Polizeiwagen stand am Ortseingang<br />
und stoppte unseren Wagen. Die Beamten<br />
erklärten uns, höflich aber unerbittlich, dass<br />
nur Regierungsbeauftragte oder Beauftragte<br />
der Tokio Electric Power Company, dem<br />
Betreiber der Reaktoren in Fukushima, innerhalb<br />
der Risikozone geduldet sind. Wir<br />
stellten das Auto mit laufendem Motor am<br />
Straßenrand ab und suchen eine passende<br />
Stelle, wo die Wissenschaftler ihre Überwachungsinstrumente<br />
aufbauen konnten.<br />
Der Regen hatte sich in Schnee verwandelt.<br />
Innerhalb des dunklen Autos stiegen die<br />
Messwerte unserer Geräte an. Meines zeigte<br />
einen kumulierten Wert von 325 Mikrosieverts<br />
an, schon jetzt das Äquivalent eines<br />
Brust-Röngtenbildes.<br />
Drei zerstörte Gebäude- darunter, radioaktiv verseuchtes Kühlwasser<br />
Evakuierungszentren<br />
Die schlimmsten Erfahrungen machten wir<br />
in den zwei Evakuierungszentren, die wir besucht<br />
haben.<br />
Das Erste befand sich in Tamura und beherbergte<br />
800 Einwohner, die man in eine<br />
große Turnhalle gepfercht hatte. Ursache war<br />
nicht der Tsunami, sondern das Reaktorunglück.<br />
In den letzen 40 Jahren hatten sie diese<br />
Einrichtung toleriert, die nun ihr Leben zerstört<br />
hatte.<br />
Kartonbegrenzungen zeugten den zugebilligten<br />
Platz für Familien. Auf einer Seite<br />
lagen alte Leute unter Decken.<br />
Ich wollte die Bedingungen selbst erfahren.<br />
Am Eingang muss man seine Schuhe<br />
Evakuierung eines Verletzten<br />
abgeben, die Besucher erhalten Slipper. Ich<br />
habe sie nicht angezogen, mit Absicht. Fast<br />
sofort waren meine Füße gefroren, ein Anzeichen<br />
der schlimmen Lage der Flüchtlinge,<br />
die auf diesem kalten und feuchten Boden<br />
seit Wochen leben müssen.<br />
Im anderen Evakuierungszentrum gab es<br />
nur tragbare Toilettenhäuschen außerhalb<br />
des Gebäudes, ein Albraum für alte Leute<br />
in den froststarrenden Nächten. Eine einzige<br />
Ärztin versuchte, Ströme von Patienten<br />
medizinisch zu versorgen. „Die Autoritäten<br />
haben uns jahrelang versprochen, dass alles<br />
sicher wäre. Wir glauben ihnen nichts mehr“,<br />
sagte sie. Fotografieren oder Identifizieren<br />
lehnte sie ab. Sie zögerte damit, die Situation<br />
offen zu kommentieren. Statt dessen konzentrierte<br />
sie sich auf die Pflege der Kranken.<br />
Bittere Lektionen<br />
Während Japan darum kämpft, das vermutlich<br />
zweitschlimmste Nuklearunglück<br />
weltweit einzudämmen, ruft die Bevölkerung<br />
nach einem Alternativmodell für die<br />
Energieversorgung.<br />
Dies bezeichnet den Anfang einer nie da<br />
gewesenen Bemühung eines sich schnell erweiternden<br />
Netzwerks von Wissenschaftlern<br />
und Experten in Japan – unterstützt durch<br />
ihre Kollegen in den USA und Europa – um<br />
die unfassendste Sicherheitsstudie der <strong>Welt</strong>,<br />
wie sie von einigen schon benannt wird.<br />
Aber bis jetzt konzentrieren sich Tao und<br />
seine Kollegen darauf, sich den Weg in das<br />
streng kontrollierte bürokratische System zu<br />
bahnen, das sich lange gegen Intervention<br />
von Außen gewehrt hat. Dies ist einer der<br />
bedenklichsten Aspekte der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung, jetzt offen gelegt durch das<br />
Nukleardesaster.<br />
Spät in der Nacht auf dem Rückweg nach<br />
Tokio, fragten wir uns offen nach den Lektionen,<br />
die Japan lernen muss. Wir fragten<br />
Tao nach den nächsten Schritten. „Die Antworten<br />
brauchen Zeit“, sagte er. „Es ist jetzt<br />
wichtiger, eine kollektive Anstrengung aufrechtzuerhalten,<br />
um der Katastrophe einzudämmen.<br />
Daran müssen sowohl Befürworter<br />
wie auch Gegner der Nuklearenergie einbezogen<br />
sein.“<br />
Nach mehr als 20 Jahren in Japan weiß<br />
ich, dass Tao und seine Gruppe besorgter<br />
Wissenschaftler recht hat. In Zeiten der Tragödie<br />
wendet man sich an japanische Weisheit.<br />
Das Wichtige zuerst, dann die richtige<br />
Plattform aufbauen, um die großen Herausforderungen<br />
zu diskutieren.<br />
Zuerst veröffentlicht durch:<br />
IPS©www.streetnewsservice.org<br />
(Fotos: physikblog.eu, REUTERS)
SOZIALES<br />
Gefühlte vs. reale Kriminalität<br />
5<br />
Hauptstadt der Kriminalität in Deutschland,<br />
hinter jeder Ecke lauert ein Gewalttäter, hinter<br />
jedem Busch ein Kinderschänder und an<br />
jedem Bildschirm ein Betrüger. Es würde<br />
immer schlimmer und jeder wäre demnächst<br />
Opfer, meint man. Nicht könnte ferner von<br />
der Realität sein.<br />
22 von 25 mal auf Platz 1 in der Polizeilichen<br />
Kriminalstatistik – das muss doch die gefährlichste<br />
Stadt in Deutschland sein? Die Stadt<br />
heißt Frankfurt, und die Statistik stimmt<br />
nicht. Sie hat zwei grobe Fehler: Die Zahl der<br />
Ein-und Auspendler ist nicht berücksichtigt.<br />
Frankfurt als räumlich kleinste Großstadt in<br />
Deutschland hat im Vergleich zur Zahl der in<br />
Frankfurt Arbeitenden eine geringe Wohnbevölkerung.<br />
Doch auch Pendler, Fluggäste,<br />
Messebesucher begehen Straftaten – z.B.<br />
Schwarzfahren, Verstöße gegen Einreisebestimmungen,<br />
gegen das Waffenrecht infolge<br />
illegal mitgeführter Souvenirs wie Messer<br />
und Dolche, Plagiate und Zollvergehen.<br />
Vieles davon sind Delikte, die nicht sicherheitsrelevant<br />
sind oder keine personifizierbaren<br />
Opfer haben, wie z.B. Schwarzfahren<br />
und Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz.<br />
Nimmt man diese „Straftaten“ aus der Gesamtzahl<br />
heraus, rutscht Frankfurt gleich von<br />
Platz 1 auf Platz 8 der Statistik: nach Bremen,<br />
Köln, Lübeck, Kiel, Magdeburg und<br />
Hamburg. Berücksichtigt man auch noch<br />
die Pendler und Besucher und legt die Zahl<br />
der Menschen dem statistischen Vergleich<br />
zugrunde, rutscht Frankfurt auf Platz 21<br />
der 38 deutschen Städte mit über 200.000<br />
Einwohnern.<br />
Je weniger je besser<br />
Jedes Jahr im Frühjahr legt das Polizeipräsidium<br />
Frankfurt die Statistik für das abgelaufene<br />
Vorjahr vor. Dabei gilt: je weniger<br />
je sicherer – außer bei Aufklärungsquote<br />
und der Anzahl der festgenommenen Tatverdächtigen.<br />
Unter diesen Gesichtspunkten<br />
kann sich das Ergebnis 2010 gut sehen lassen,<br />
denn Frankfurt ist nicht unsicherer geworden,<br />
sondern das Gegenteil ist der Fall.<br />
Die Gesamtstraftaten sind zurückgegangen<br />
(um 1,6%), der Anteil der Gewalttaten an<br />
der Gesamtkriminalität ist gleich geblieben,<br />
Straßenraub wurde nochmals um 4,8% reduziert,<br />
auch die Zahl der Betrugsdelikte<br />
sank (um 1.100 Fälle). Die Aufklärungsquote<br />
hat mit 60,0% den zweithöchsten Stand<br />
seit 1970 erreicht, über 1.500 Tatverdächtige<br />
mehr wurden ermittelt bzw. festgenommen.<br />
Wermutstropfen: auch wenn der Frankfurter<br />
auf den Straßen sicherer lebt als im Vorjahr,<br />
in seinem Heim sieht es anders aus, denn es<br />
gibt eine deutliche Zunahme bei Wohnungseinbrüchen.<br />
Dagegen allerdings könnte man<br />
sich absichern.<br />
Über den Aufbau einer Statistik kann man<br />
sich stundenlang streiten. Wichtig ist nur,<br />
dass eine Vergleichbarkeit mit den Vorjahren<br />
leicht ersichtlich ist und einen Vergleich<br />
nicht nur mit den Vorjahren, sondern auch<br />
mit anderen Städten erlaubt. Das ist der Fall,<br />
die Reihenfolge der Darstellung muss demzufolge<br />
zurücktreten. Deshalb ist die Unterscheidung<br />
in Straftaten mit und ohne personifizierbare<br />
Opfer aus der offiziellen Statistik<br />
nicht unmittelbar sichtbar, man muss eben<br />
zu Ende lesen.<br />
Das Gesamtbild<br />
107.356 Fälle sind eine ganze Menge. Aber es<br />
sind auch 1.744 gleich 1,6% weniger als im<br />
Vorjahr. Die Aufklärungsquote konnte bei<br />
60% gehalten werden, im Vorjahr waren es<br />
0,5% mehr. Nun ist eigentlich Aufgabe einer<br />
Sicherheitsbehörde, Straftaten zu verhindern.<br />
Somit sollten auch diejenigen Straftaten mitberücksichtigt<br />
werden, die verhindert werden<br />
konnten: 2010 konnten 8.240 Fälle in Ansatz<br />
vereitelt werden gleich 7,7%. Im Vorjahr<br />
waren es 7.100 Fälle gleich 6,5% der Straftaten.<br />
Nach Zahlen sind die Hauptdeliktgruppen<br />
weiterhin die Bereiche Diebstahl,<br />
Betrug, Verstöße gegen Asyl- und Aufenthaltsrecht<br />
sowie Sachbeschädigungen. Gewaltkriminalität<br />
rangiert erst an siebter Stelle<br />
mit jahrelang gleich bleibendem 3% Anteil.<br />
Schwerpunkt Diebstahl<br />
35,5% der erfassten Gesamtkriminalität<br />
entfallen auf diesen vielfältigen Bereich kriminellen<br />
Aktivitäten, vom Ladendiebstahl<br />
bis zum Fahrradklau und Entwendung von<br />
Gegenständen nach Einbruch in abgestellte<br />
Pkws. Diese Kriminalitätsgruppe ist um 411<br />
Fälle auf nunmehr 38.144 Straftaten angestiegen<br />
in 2010, gleich 0,9% und ist damit<br />
Schwerpunkt der kriminellen Aktivitäten.<br />
Die Aufgliederung folgt dem Strafrecht und<br />
ist deshalb für den hoffentlich nicht betroffenen<br />
Bürger nicht einfach nachzuvollziehen.<br />
In Einzelnen: Ladendiebstahl rückläufig auf<br />
6.353 Fälle (- 0,4%), einfacher Diebstahl<br />
und 0,53% auf 21.553 Fälle. Ebenfalls gesunken<br />
der schwere Fahrzeugdiebstahl um<br />
69 Fälle gleich 1,9%.<br />
Dagegen zunehmend der schwere Diebstahl<br />
auf 16,591 Fälle, 3,3% mehr als im<br />
Vorjahr.<br />
Rückläufig ist auch die Zahl des schweren<br />
KFZ-Diebstahls um 25,5% auf 227 Straftaten<br />
und die Zahl der schweren Diebstähle<br />
in und aus KFZs – 414 Delikte gleich 9,3%<br />
weniger auf 4.016 Fälle. Hier kommt im<br />
Berichtsjahr eine 14 köpfige Bande ermittelt<br />
werden, gegen sieben Mitglieder erging<br />
Haftbefehl.<br />
Unerfreulich ist dagegen der Entwicklung<br />
bei den Wohnungseinbrüchen: Trotz<br />
Einrichtung einer speziellen Arbeitsgruppe<br />
steigt die Zahl der Wohnungseinbrüche seit<br />
2008 ständig an. Im Berichtszeitraum waren<br />
es 8,6% mehr gleich 2.105 Straftaten. Die<br />
Polizei: „Ursache für das erhöhte Fallaufkommen<br />
sind im Jahre 2010 nicht wie in der<br />
Vergangenheit schwerpunktmäßig die Täter<br />
aus Südamerika (Chile und Kolumbien und<br />
mobile Kinderbanden aus dem Bereich Straßburg<br />
(F), sondern sehr mobile „Südosteuropäer.<br />
Dazu gehören Kinderbanden (überwiegend<br />
Mädchen) für Mehrfamilienobjekte<br />
und Erwachsene, hauptsächlich Männer, für<br />
höherwertige Einfamilienhäuser.“ 76,4% der<br />
Delikte betrafen Mehrfamilien – und Hochhäuser,<br />
23,6% Einfamilien- und Reihenhäuser<br />
und weniger als 0,4% Villen – das dürfte<br />
dem Grand der Absicherung dieser Objekte<br />
in etwa entsprechen. Auch hier gilt weiterhin<br />
die Aufforderung an die Bürger, durch eigenes<br />
Verhalten und Sicherheitsvorkehrungen<br />
den Schaden für die eigene Person zu verhindern.<br />
Polizeipräsident Dr. Thiel. „Bei 809<br />
(Vorjahr: 657) Objekten, bei denen die Täter<br />
nicht bzw. nicht schnell genug an ihr Ziel gelangen<br />
konnten, sahen sie von einer weiteren<br />
Tatausführung ab.“<br />
Schwerpunkt Betrug<br />
Zahlenmäßig zweiter Schwerpunkt in der<br />
Statistik sind die 22.954 Betrugsdelikte,<br />
21,4% der Gesamtkriminalität. Das ist ein<br />
Rückgang von 4,6% gegenüber dem Vorjahr.<br />
Dazu gehören allerdings auch 12.207 Fälle<br />
von „Leistungserschleichung“, vulgo beim<br />
Schwarzfahren erwischt. Da kaum anzunehmen<br />
ist, dass Frankfurter mehr zum Schwarzfahren<br />
neigen als z.B. die Kölner, hat die Zahl<br />
wohl mehr mit dem Kontrollverhalten von<br />
VGF und RMV zu tun als mit der tatsächlichen<br />
Kriminalität. Die Zahl der Schwarzfahrer<br />
ist bei ca. 170 Mio. Fahrgästen im Jahr<br />
wohl kaum aussagekräftig zu ermitteln.<br />
Verbesserte Kaufkraft könnte die Ursache<br />
für den Rückgang um 251 Delikte bei Waren-<br />
und Warenkreditbetrug sein (-9,8%).<br />
Davon könnten 63,6 % aufgeklärt werden.<br />
Bei Leistungsbetrug, insbesondere Gewinnspielverfahren<br />
und Abofallen im Internet,<br />
gab es eine deutliche Steigerung von 248 auf<br />
1.165 Fälle, davon konnten 85,8% aufgeklärt<br />
werden. Nebenbemerkung: Könnte es<br />
sein, dass insbesondere die Kriminalität Modeerscheinungen<br />
zeigt?<br />
Speziell gegen alte Mitbürger richten sich<br />
die „Enkeltrickbetrügereien“ mit 231 Fällen<br />
und allerdings nur 26 vollendeten Delikten<br />
Sieben Täter konnten auf frischer Tat festgenommen<br />
werden.<br />
Scheckbetrügereien und Kreditkartenbetrug,<br />
sind rückläufig, dagegen steigt die<br />
Computerkriminalität. Hier waren 2010<br />
994 Ereignisse registriert, 15,4% mehr als im<br />
Vorjahr. Die Aufklärungsquote konnten auf<br />
47,0% gesteigert werden. In allen Fällen, bei<br />
denen Banken beteiligt sind, z.B. beim Skimming<br />
am Geldautomaten und dem betrügerischen<br />
Einsatz von Debitkarten mit und<br />
ohne Pin, kritisieren die Kriminalisten das<br />
Verhalten der Banken: „Die Kriminalisten<br />
betonen, dass die Eröffnung eines Kontos für<br />
potenzielle Täter noch immer zu einfach ist.<br />
Diese Erkenntnisse haben sich 2010 erneut<br />
in zwei größeren, noch nicht abgeschlossenen<br />
Ermittlungskomplexen gegen Rumänen<br />
und Bulgaren gezeigt…. Gelegentlich gab es<br />
sogar noch für „Neukunden“ 50 € Prämie<br />
aufs eröffnete leere Konto.“<br />
Die Internetkriminalität entzieht sich in<br />
mehr als einer Richtung den Fähigkeiten einer<br />
lokalen Polizeibehörde. In Frankfurt gab<br />
es 198 Fälle, die angezeigt wurden, aber von<br />
51 Tatverdächtigen waren 24 Nichtdeutsche,<br />
die teilweise aus dem Ausland agierten. Hier<br />
ist internationale Zusammenarbeit und eine<br />
Anpassung der Gesetzes- und Speicherungsbestimmungen<br />
gefragt. Dr. Thiel: “Geschädigte<br />
bleiben auf ihren Schäden sitzen und<br />
erfahren immer weniger Gerechtigkeit, da<br />
ein wesentlicher Nachforschungsansatz, die<br />
ehemalige vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung,<br />
weggefallen ist .... Hier wird nach<br />
meiner Meinung mehr Täter- als Opferschutz<br />
betrieben.“<br />
Effekt Internationalität<br />
10,1 % der Frankfurter Gesamtkriminalität<br />
entfallen auf Aufenthalts- und Asylverfahrensdelikte.<br />
Dabei ist das Märchen vom<br />
Schwarzen, der seinen Pass wegwirft, einfach<br />
nur ein Märchen. Die Aufklärungsquote<br />
liegt bei 98,3%. Und: Von den festgestellten<br />
10.883 Fällen wurden 6,837 gleich 58,8%<br />
am Flughafen von der Bundespolizei festgestellt<br />
worden und werden der Frankfurter<br />
Statistik zugerechnet. Diesen Effekt haben<br />
andere Städte ohne internationalen Flughafen<br />
nicht.<br />
Sachbeschädigungen rückläufig<br />
Ist das wieder eine Modeerscheinung? 1.035<br />
Fälle weniger in 2010 bei den Sachbeschädigungen.<br />
Es gab „nur“ 7.857 Fälle gleich<br />
7,3% vom Gesamtaufkommen. Allerdings<br />
konnten auch nur 20,3% entsprechend<br />
1,592 Fälle aufgeklärt werden.<br />
Ähnliches ist von den Graffiti-Delikten<br />
zu vermelden: Rückgang auf 2. 0<strong>62</strong> Delikte,<br />
weniger 23,5%. Allerdings sind die Erfassungskriterien<br />
geändert wurden, sodass die<br />
Zahlen mit denen der Vorjahre nur bedingt<br />
vergleichbar sind.<br />
Drogendelikte<br />
Auf Frankfurts Straßen sind Drogendelikte besonders<br />
auffällig und auch besonders störend.<br />
Über 40% der Klientel kommen nicht aus<br />
Frankfurt, sondern reisen aus dem Umland und<br />
aus anderen Städten ein. Eine Bekämpfung ist<br />
nur langfristig Erfolg versprechend. Deshalb<br />
wurde bereits 2004 ein Konzept OSSIP = Offensive<br />
Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention<br />
und Prävention beschlossen. Die statistischen<br />
Zahlen zeigen nicht unbedingt mehr Kriminalität,<br />
sondern vor allen Dingen die intensiven<br />
Bemühungen um die Aufklärung eines<br />
„Dunkelfeldes“, die Straftaten innerhalb einer<br />
ziemlich unübersichtlichen und geschlossenen<br />
Szene. 2010 wurden 7.639 Delikte registriert,<br />
177 Fälle weniger als im Vorjahr. Die Aufklärungsquote<br />
lag bei 91,8%. Wie im Vorjahr, gab<br />
es auch 2010 wieder 35 Drogentote. >Seite 6<br />
Interessant ist die Differenzierung nach<br />
Drogenarten. In der Reihenfolge: 2.631 im<br />
Zusammenhang mit Cannabis, 1.875 mit
6<br />
SOZIALES<br />
Gefühlte vs. reale Kriminalität (Fortsetzung von Seite 5)<br />
Heroin, 1.756 mit Kokain und Crack, 372<br />
mit Amphetaminen. Bei den sichergestellten<br />
Drogenmengen schlagen mehrere Hasch-<br />
Plantagen zu Buche, die 2010 ausgehoben<br />
wurden. – 431,95 kg gegenüber 158,4 kg im<br />
Vorjahr. Veränderte Razzien- und Durchsuchungsmaßnahmen<br />
sind die Ursache im Bereich<br />
Khat, 415,99 kg nach 134,15 kg.<br />
Die Polizei: „Zu den Dealern ist bekannt,<br />
dass überwiegend mazedonische bzw. bulgarische<br />
Staatsangehörige den Heroinmarkt<br />
beherrschen, Kokain wird mehrheitlich<br />
durch Türken und Marokkaner vertrieben<br />
und Cannabisprodukte hauptsächlich durch<br />
Nordafrikaner (u.a. auch Marokkaner).<br />
Gewalt gegen Menschen<br />
Der unerfreulichste Bereich der Kriminalität<br />
ist der, in der sich Gewalt gegen Menschen<br />
richten. In Frankfurt ist der Anteil an der Gesamtkriminalität<br />
gering, aber auch eine einzige<br />
Straftat ist zu viel. Doch sind hier auch die<br />
polizeilichen Präventivmöglichkeiten sehr<br />
eng begrenzt.<br />
Körperverletzungen haben einen Anteil<br />
von 5,3%. Insgesamt 5,685 Straftaten, von<br />
denen 85 % aufgeklärt werden konnten.<br />
Meist kennen sich Täter und Opfer. Im Bereich<br />
der Häuslichen Gewalt ist die Dunkelziffer<br />
wohl deutlich gefallen, man ist einfach<br />
immer mehr dazu bereit, solche Taten anzuzeigen<br />
und die Täter zur Rechenschaft zu<br />
ziehen. Es gab 1.313 Fälle, 86,9 % der Täter<br />
waren Männer, meist lagen Körperverletzungen<br />
vor. Auffällig: 49,8% der Tatverdächtigen<br />
waren Ausländer. Meist liegen hier sogar<br />
Mehrfachtaten vor: Die Täter sind bekannt,<br />
die Aufklärungsquote ist mit 99,8% extrem<br />
hoch. In diesem Straftatenkomplex sind auch<br />
48 Fälle von Verstößen gegen familiengerichtliche<br />
Auflagen enthalten.<br />
Der Tatbestand „Stalking“, die Nachstellung<br />
gemäß § 238 STGB, kann erstmals statistisch<br />
verglichen werden. 2010 gab es 219<br />
Vorfälle, 87% gleich 192 Delikte konnten<br />
aufgeklärt werden.<br />
Die schwersten Fälle, die eigentliche Gewaltkriminalität,<br />
liegt seit Jahren kontinuierlich<br />
bei drei Prozent der Gesamtkriminalität<br />
mit nur geringsten Schwankungsraten.<br />
Hier die „Fleischerrechnung“ – man verzeihe<br />
den Militärausdruck – für 2010:<br />
Mord: 14 Fälle erfasst, zwei im Anfang<br />
verhindert, alle aufgeklärt.<br />
Totschlag: 29 Fälle, drei verhindert, 86,2%<br />
aufgeklärt<br />
Raub: 976 Fälle, 83 weniger, 49,4%<br />
aufgeklärt<br />
Vergewaltigung: 88 Ereignisse, 61,4%<br />
aufgeklärt<br />
Gefährliche Körperverletzung: 2.081 Fälle,<br />
davon 79,3% geklärt.<br />
Körperverletzung mit Todesfolge: 1,<br />
geklärt<br />
Erpresserischer Menschenraub: 2 Fälle,<br />
beide geklärt.<br />
Und das auch noch<br />
Urkundenfälschungen: 1.676 Delikte, 9,8%<br />
mehr, aufgeklärt zu 91,5%.<br />
Missbrauch von Ausweispapieren: 163<br />
Fälle, zu 94,5% geklärt.<br />
Waffendelikte:954, davon 90,5 % geklärt,<br />
meist Kontrolldelikte.<br />
Politisch motivierte Straftaten: 105 von<br />
rechts, davon 6 Gewaltdelikte, zu 42,3% aufgeklärt.<br />
123 von links, davon 30 Gewaltdelikte,<br />
zu 40,7% geklärt. Insgesamt sind die<br />
Fallzahlen der politisch motivierten Straftaten<br />
seit Jahren rückläufig. Es gibt keine Anhaltspunkte<br />
für die Bildung entsprechender<br />
Szenen mit Gewaltbereitschaft in Frankfurt.<br />
Aufgliederung der Tatverdächtigen<br />
2010 wurden insgesamt 41.328 Tatverdächtige<br />
entweder bei der Tat ergriffen oder später<br />
ermittelt. Das sind 1.554 mehr als im<br />
Vorjahr. Davon waren 30.155 gleich 73%<br />
männlich, 11.173 Personen gleich 27% Prozent<br />
weiblich. Unter den Tätern waren die<br />
Erwachsenen mit 33,768 Fällen in der Mehrheit<br />
(81,7%). Heranwachsende – laut Statistik<br />
18-21 – waren an 3.758 = 9,1%, Jugendliche<br />
mit 2.980 Delikten = 7,2% und Kinder<br />
(unter 14) mit 822 = 2,0% beteiligt.<br />
Die Anzahl nichtdeutscher Tatverdächtiger<br />
stieg auf 22.567%. Rechnet man aber<br />
ihren Anteil an der Gesamtzahl der ermittelten<br />
Tatverdächtigen, sank ihr Anteil um 05%<br />
auf jetzt 54,6%. Darin sind 10.883 Fälle von<br />
Delikten aus dem Bereich „Aufenthalts- und<br />
Asylverfahrensgesetz“. Die ausländerrechtlichen<br />
Delikte können Deutsche gar nicht,<br />
EU-Bürger teilweise auch nicht begehen.<br />
Wenn man diese Straftaten ausklammert, reduziert<br />
sich die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen<br />
auf 12.989, ein Rückgang um<br />
7,3% auf jetzt 31,4%.<br />
Sehr frankfurtspezifisch ist das Bild bei der<br />
Tatort-Wohnort-Beziehung: 44,3% gleich<br />
18.290 Tatverdächtige kamen direkt aus<br />
Frankfurt, 18,1 gleich 7.471 Tatverdächtige<br />
aus Hessen, 8,2% gleich 3.374 aus dem übrigen<br />
Bundesgebiet. 15,2 gleich 6,281 Tatverdächtige<br />
hatten keinen festen Wohnsitz,<br />
19,8% gleich 8.184 Tatverdächtige kamen<br />
nicht aus Deutschland.<br />
Bei Tatverdächtigen mit fremdländischer<br />
Nationalität kamen 54,3 % aus Frankfurt,<br />
22,3% aus Hessen, 9,5% aus dem übrigen<br />
Bundesgebiet. 14,6% hatten keinen festen<br />
Wohnsitz, 5,8% kamen von außerhalb<br />
Deutschlands.<br />
Fazit<br />
Frankfurt ist ein Magnet für Menschen als<br />
Wohnort und Arbeitsplatz. Mittlerweile leben<br />
688.492 Mitbürger in den viel zu klein<br />
gezogenen Stadtgrenzen. Nach den Worten<br />
des Polizeipräsidenten Dr. Achim Thiel „aus<br />
polizeilicher Sicht eine der sichersten Städte<br />
Deutschlands. … Jedoch dort wo Menschen<br />
leben, wird es auch immer Kriminalität in<br />
den unterschiedlichsten Erscheinungsformen<br />
geben… (Die) Polizei bietet rund um die<br />
Uhr Sicherheit und ist auch Ansprechpartner<br />
für alle Lebenssituationen. Diese gesellschaftliche<br />
Aufgabe ist... nur mit Hilfe verantwortungsbewusster<br />
und couragierter Bürger (zu<br />
leisten), die uns täglich durch Zeugenhinweise<br />
und in anderer Form vielfältig unterstützen….Andere<br />
möchte ich anspornen,<br />
diesem Verhalten nachzueifern. Courage<br />
zeigen bedeutet nicht, sich mutig dem Täter<br />
entgegenzuwerfen. Dafür sind wir Profis<br />
da! Zur rechten Zeit zu telefonieren und die<br />
momentane Beobachtung direkt mitzuteilen<br />
bedeutet, dem Opfer oder dem Geschädigten<br />
gegenüber Verantwortung zu zeigen.“<br />
Dem ist nichts hinzuzufügen.<br />
RS<br />
(Grafiken: AWO, duckmania.de)
INTEGRATION / REZEPT 7<br />
‚Afrika trifft Deutschland‘<br />
Ein engagierter Film von Migranten über ihr Leben in Frankfurt<br />
‚Hier waren Menschen am Werk, die sich<br />
auskennen – mit Filmen, aber auch mit der<br />
Situation vieler Afrikaner in Deutschland‘,<br />
so die Frankfurter Stadträtin für Integration,<br />
Dr. Eskandari-Grünberg, in ihrem Grußwort<br />
zur Premiere des Films ‚Afrika trifft<br />
Deutschland‘, die im Januar 2011 im Filmforum<br />
Frankfurt-Höchst stattfand. Frau Dr.<br />
Eskandari-Grünburg weiter: ‚Nicht ohne<br />
Grund halten wir in unserem neuen Integrationskonzept<br />
als ein Ziel eigens fest: Die<br />
Stadt Frankfurt wird im Umgang mit ihren<br />
Bürgerinnen und Bürgern nicht ‚kulturalisieren‘;<br />
denn wir sollen und wollen einander<br />
in erster Linie als handelnde und verantwortliche<br />
Individuen erkennen. Eben diese<br />
Frage stellt sich in diesem Kurzfilm auch<br />
der Hauptdarsteller selbst. Er hinterfragt<br />
seine Erfahrungen, seine eigene Situation<br />
und auch sein Lebensziel: „Was definiert<br />
mich als Mensch...?“ Es ist die Sensibilität<br />
im Umgang mit den allzu oft nur als kurze<br />
Schlagworte gebrauchten Themen ‚Migration‘<br />
und ‚Integration‘, mit verbreiteten Klischees,<br />
die dieses Projekt auszeichnet‘.<br />
Produziert wurde der Film 2010, und zwar<br />
gemeinsam von der aus Sierra Leone stammenden<br />
Drehbuchautorin L.Hamelburg,<br />
dem aus Chile stammenden Regisseur<br />
M.Morales und Laienschauspielern aus afrikanischen<br />
Ländern, den USA und Deutschland.<br />
Was sie eint, ist, dass sie alle im Raum<br />
Frankfurt leben. Nach seiner erfolgreichen<br />
Drei Freunde unterwegs<br />
Premiere im Filmforum Höchst wollten sich<br />
die Darsteller einer Diskussion mit einem<br />
breiten Publikum stellen. Dazu luden im Februar<br />
der ‚Club Voltaire‘ und das ‚Forum für<br />
mehr Integration‘ ein.<br />
Nun aber zum Film selbst: Im Mittelpunkt<br />
steht Brian Otanga, ein junger afrikanischer<br />
Mann, der von seiner Familie nach Deutschland<br />
geschickt wurde, um zu studieren und<br />
sich damit für sein Leben eine vernünftige<br />
Basis zu erarbeiten. Aber seine Familie verbindet<br />
damit, dass er etwas aus seinem Leben<br />
macht, auch Erwartungen. Sein Erfolg<br />
soll auch dazu dienen, dass er Geld verdient,<br />
um seine Familie in seiner afrikanischen<br />
Heimat zu unterstützen.<br />
Dies macht der Film<br />
recht deutlich. Brian Otanga<br />
ist Hin- und Hergerissen<br />
zwischen dem Pflichtgefühl<br />
seiner Familie gegenüber und<br />
der Notwendigkeit, seinen<br />
eigenen Lebensunterhalt hier<br />
in Deutschland zu bestreiten.<br />
Seine Freunde, mit denen er<br />
in einer WG lebt, versuchen<br />
zwar auch immer wieder,<br />
ihn aufzurichten, aber Brian<br />
Otanga kann nicht aus sich<br />
herausgehen. Denn für ihn<br />
ist alles nicht gerade einfach.<br />
Dazu kommt, dass er auch mit<br />
den deutschen Eigenheiten<br />
Der Hauptdarsteller: er denkt nach<br />
und Regeln umgehen muss. So schafft er es<br />
zwar, eines Tages zu einem Bewerbungsgespräch<br />
für eine Festeinstellung eingeladen zu<br />
werden. Jedoch kommt er zu spät zu diesem<br />
Termin…und erlebt so in diesem Gespräch<br />
eine weitere Frustration in seinem neuen Leben.<br />
Dennoch glaubt er an eine positive Zukunft,<br />
denn ‚morgen<br />
ist ein anderer<br />
Tag ...‘.<br />
hier der Film?‘, so ein Zuschauer: ‚Jeder Einzelne<br />
hat sein Schicksal in der Hand. Jeder<br />
muss sich entscheiden, was er will und wie er<br />
seine Ziele erreichen kann. Das macht auch<br />
ihr jungen Laienschauspieler. Herzlichen<br />
Glückwunsch dazu!‘.<br />
Kritsch angemerkt wurde, dass der Film<br />
existierende Vorurteile von ‚Deutschen‘ (als<br />
streng und ernst) und ‚Afrikanern‘ (als lebenslustig<br />
und nicht so diszipliniert) nicht<br />
genug reflektiere. Auch sollten doch Frauen<br />
eine größere Rolle haben. Die Darsteller<br />
zeigten sich offen für diese Anregungen und<br />
versprachen, diese für den zweiten Film aufzunehmen.<br />
Bei diesem Film zum Leben von<br />
Rentnern in Frankfurt, an dem sie mit Regisseur<br />
Morales und Drehbuchautorin Hamelburg<br />
schon arbeiten, soll das Thema Integration<br />
wieder im Zentrum stehen – mit lustigen,<br />
aber auch tragischen Elementen. Denn:<br />
‚Wir alle sind Deutschland, und das wollen<br />
wir auch mit unserem zweiten Film zeigen!‘,<br />
wie sie betonten. Man darf auf diesen Film<br />
gespannt sein.<br />
Das zahlreiche<br />
Publikum bei<br />
der Premiere und<br />
im Club Voltaire<br />
war insgesamt angetan<br />
von dem<br />
Film. Denn der<br />
Film spiegelt, so<br />
die Zuschauer, das<br />
reale Leben von<br />
jungen Menschen<br />
Hürden bei der Jobsuche<br />
mit afrikanischem<br />
Migrationshintergrund wider: die Hoffnungen,<br />
Sorgen und die Last der Verantwortung<br />
gegenüber den Angehörigen in Afrika: ‚Das<br />
ist mein Leben, was hier im Film beschrieben<br />
wird‘ so ein kamerunischer Student. Auch<br />
zeige er deutlich, dass die Jugend die Zukunft<br />
Deutschlands sei – und nur wenn mehr zu<br />
Bildung und Ausbildung geschehe, hätten<br />
junge Menschen eine Chance: ‚Lernen, Lernen,<br />
Lernen‘, wie ein aus Nigeria stammender<br />
Arzt betonte. ‚Welche Lösung zeigt uns<br />
Der ‚Club Voltaire‘ und das ‚Forum für<br />
mehr Integration‘ werden 2011 noch weitere<br />
gemeinsame Veranstaltungen durchführen.<br />
Mehr Informationen dazu finden sich<br />
unter www.opendiscussionforum.com und<br />
www.club-voltaire.de.<br />
Text und Fotos: Peter Speier für das<br />
‚Forum für mehr Integration‘<br />
Unsere Chefköche empfehlen<br />
Nudel-Bohnen-Suppe<br />
Wir sind mal wieder in Italien bei einem<br />
klassischen Gericht, was im Sommer sogar<br />
oft kalt gegessen wird. Es ist täuschend<br />
simpel mit nur wenigen Zutaten und<br />
muss gerade deshalb sehr sorgfältig<br />
zubereitet werden. Man braucht: 300 gr.<br />
frische oder 200 gr. getrocknete Bohnen<br />
(Borlotti oder weiße Bohnen), Olivenöl<br />
(6 El.), eine fein gehackte Zwiebel,<br />
1 lt. Hühner- oder Gemüsebrühe, 2<br />
Basilikumblätter, 1 Zweig Rosmarin,<br />
1 frischen roten Peperoncino, so man<br />
hat, 1 El. Tomatenmark, 150 gr. kleine<br />
Röhrchennudeln (Tubetti) und nochmals<br />
sehr gutes Olivenöl zum Verfeinern beim<br />
Servieren. Bei frischen Bohnen kann<br />
man sofort loslegen, getrocknete müssen<br />
über Nacht im kalten Wasser eingeweicht<br />
und abgetropft werden. Und so geht’s:<br />
Die Bohnen in einem großen Topf mit<br />
Wasser bedecken. In Italien nimmt man<br />
gerne einen Tontopf, aber den hat man<br />
meistens nicht in unseren Küchen. Zum<br />
Kochen bringen und anschließend köcheln<br />
lassen – 1 Stunde bei frischen, 1 ½ - 2<br />
Stunden bei getrockneten Bohnen. Bitte<br />
ohne Salz, sonst werden sie hart und das<br />
Gericht ist verdorben. Abseihen und die<br />
Hälfte aufheben. Die andere Hälfte wird<br />
erst einmal püriert (mit dem Stab oder<br />
im Mixer), dann kommt alles wieder<br />
zusammen.<br />
Dann gibt man 6 El. Olivenöl in den Topf<br />
und schwitzt die fein gehackte Zwiebel<br />
weich. Die Brühe wird abgeschmeckt mit<br />
Basilikum, Rosmarin und Tomatenmark.<br />
So man will und hat, hackt man den<br />
frischen Peperoncino fein und fügt ihn<br />
gleichfalls zu. Dann wird die Pasta<br />
beigegeben und al dente gekocht, etwa<br />
7-8 Minuten. Dann die Suppe ca. 30<br />
min. ruhen lassen, damit die Aromen<br />
verschmelzen. Vor dem Servieren auf<br />
Esstemperatur aufwärmen – oder vielleicht<br />
sogar kalt servieren. Und, da wir schon in<br />
Italien sind: vor dem Auftragen noch ein<br />
paar Tropfen Olivenöl auf jeden Teller als<br />
besonderer Pfiff. Guten Appetit!<br />
RS<br />
(Foto:: altfg.com)
8<br />
LOKALES<br />
Die Frauen vom Lisbeth-Treff<br />
Seit 1997 eine Anlaufstelle für wohnungslose und bedürftige Frauen<br />
Es ist Dienstag. Vor dem Haus der Frauenberatung<br />
am Affentorplatz 1 stehen schon<br />
einige Frauen und warten geduldig, dass<br />
die Tür des Lisbeth-Treffs aufgeschlossen<br />
wird. Viele haben einen Einkaufswagen dabei,<br />
manche einen Rollator, andere sind mit<br />
Plastiktüten bepackt, und eine Frau hat ihre<br />
Habseligkeiten in einen ausgedienten Kinderwagen<br />
geladen.<br />
Drinnen sind wir ehrenamtlichen Helferinnen<br />
eifrig dabei, alles für die Frauen vorzubereiten.<br />
Die Tische sind schon gedeckt<br />
mit Deckchen, Tassen und Blumenschmuck.<br />
Die Spenden, wie Brötchen, süße Stückchen<br />
und Obst, müssen aufbereitet werden. Wir<br />
streichen zusätzlich Brote und zaubern appetitliche<br />
Schnittchen. Heute haben wir mit<br />
der Obstlieferung besonders viele Erdbeeren<br />
bekommen, können aber diesmal keinen<br />
Obstsalat machen, weil wir sehr knapp besetzt<br />
sind. Wir entscheiden uns, das Obst zu<br />
waschen und auf Tellern zu verteilen. Die<br />
Zeit drängt, es stehen nun schon viele Frauen<br />
vor der Tür und werden unruhig.<br />
Um 13 Uhr 30 wird der Lisbeth-Treff<br />
geöffnet. Die Frauen stürmen herein, jede<br />
möchte die Erste sein, die an der Theke steht<br />
oder ihre Wäsche in die Waschmaschine stecken<br />
kann. Oft frage ich mich, was sie so zur<br />
Eile treibt. Die Angst zu spät zu kommen?<br />
Hunger? Oder ist es die Erfahrung, im Leben<br />
zu kurz gekommen zu sein? Wahrscheinlich<br />
werde ich das nie erfahren.<br />
Für die Kleiderkammer werden Nummern<br />
ausgegeben, die Namen werden notiert, und<br />
wer dienstags keine Nummer bekommt, erhält<br />
sie donnerstags. Die meisten Frauen<br />
begrüßen uns freundlich. Johanna will uns<br />
immer mit einer Umarmung und feuchtem<br />
Küsschen begrüßen. Andere stehen schweigend<br />
vor der Theke, nehmen sich einen Teller<br />
und schauen sich das Essensangebot an. Wir<br />
möchten gerne allen gerecht werden, was<br />
nicht immer sehr einfach ist.<br />
Manche Frauen stecken sich Brötchen<br />
oder Stückchen verstohlen in ihre Tasche<br />
oder Plastiktüte und stellen sich erneut in<br />
die Reihe. Wenn möglich, übersehen wir das.<br />
Manchmal macht mich das sehr traurig und<br />
häufig habe ich die Frauen vor Augen, wenn<br />
ich mir in der Kleinmarkthalle meinen Lieblingsschinken<br />
hole.<br />
Alle Frauen sind in irgendeiner Weise verarmt,<br />
sei es an materiellen Dingen oder auch<br />
an menschlicher Zuwendung und vor allem<br />
an Wertschätzung. Es kommt mir oft vor, als<br />
hätten sie unsichtbare Rucksäcke auf dem<br />
Rücken, vollgestopft mit Sorgen, schrecklichen<br />
Erinnerungen und Angst. Die meisten<br />
haben hart gearbeitet und Kinder groß gezogen<br />
und sind trotzdem arm und einsam. Viele<br />
sind sehr krank, körperlich und psychisch.<br />
Manche haben einmal sehr gute Zeiten erlebt<br />
und bekommen glänzende Augen, wenn sie<br />
davon erzählen.<br />
Heute kommt Lina mit einer Torte. Sie<br />
schluchzt, stellt eine Kerze auf und ein Foto<br />
davor. Ihre 20-jährige Enkelin ist an Krebs<br />
gestorben, deshalb bringt sie die Torte mit.<br />
Sie setzt sich an ihren Stammplatz und ist<br />
schnell umringt von Frauen, die sie trösten.<br />
Es tut gut zu sehen, wenn die Frauen miteinander<br />
kommunizieren, was nicht immer der<br />
Fall ist.<br />
Es ist Ruhe eingekehrt, alle Frauen sind<br />
versorgt mit Essen und Trinken. Sie warten<br />
Zusammen ist man weniger allein -<br />
das gilt auch für die Frauen, die den Lisbeth-Treff in Sachsenhausen besuchen.<br />
nun, bis die Kleiderkammer öffnet. Die ist<br />
unten im Keller und es ist für manche gehbehinderte<br />
Frauen schwer, die Treppe zu bewältigen.<br />
Die ehrenamtlichen Kolleginnen<br />
von der Kleiderkammer arbeiten sich wöchentlich<br />
durch Berge von gespendeter Bekleidung,<br />
sortieren Unbrauchbares aus und<br />
ordnen die schönen Sachen liebevoll in die<br />
Regale und hängen sie auf Kleiderständer.<br />
Ich bewundere sie, denn manchmal sind die<br />
Sachen, die sie aus den Plastiksäcken holen,<br />
schmutzig und muffeln vor sich hin. In der<br />
Kleiderkammer kann es jetzt losgehen, die<br />
Frau mit der Nummer 1 macht sich auf den<br />
Weg.<br />
Die älteste Mitarbeiterin in unserem Team<br />
arbeitet schon über ein Jahrzehnt im Lisbeth-<br />
Treff. Sie hat ihn mit aufgebaut und im Laufe<br />
der Jahre unendlich viel Kraft, Herzblut<br />
und Energie investiert. Sie ist unser Vorbild,<br />
wir bewundern sie. Es wäre schön, wenn sie<br />
mehr Zeit hätte, sich den einzelnen Frauen<br />
zu widmen, aber auch sie ist hauptsächlich<br />
mit den Arbeiten in der Küche und an der<br />
Theke beschäftigt.<br />
Zwei Frauen möchten Stoff-Taschen bedrucken,<br />
wir müssen warten, bis sich einige<br />
Gäste verabschieden, damit wir einen Tisch<br />
frei haben. Wilhelmina winkt mir zu, sie<br />
war drei Wochen krank und möchte mir etwas<br />
Wichtiges erzählen. Ich vertröste sie auf<br />
später. Sie ist dieses Jahr 80 geworden. Sieben<br />
Kinder hat sie geboren, von denen eins<br />
gestorben ist. Sie hat die Kleinen mehr oder<br />
weniger alleine großgezogen. Jetzt lebt sie mit<br />
ihrem behinderten Sohn zusammen, der ihr<br />
immer wieder Sorgen bereitet. Jeden Dienstag<br />
kommt sie mit ihrem Rollator aus dem<br />
Norden der Stadt. Sie ist immer freundlich<br />
und dankbar für alles.<br />
Klara schickt mir fragende Blicke, wir hatten<br />
uns zum Singen verabredet. Sie ist eine<br />
zierliche 86-jährige Frau mit rot gefärbten<br />
Haaren und kommt aus dem Sudetenland.<br />
Das Leben hat ihren Rücken gebeugt, aber<br />
sie hat fast immer ein Lachen in ihren Augen.<br />
Vor ein paar Wochen haben wir festgestellt,<br />
dass wir beide alte Schlager lieben, und nun<br />
wollten wir jeden Dienstag einen zusammen<br />
singen, zumal sie alle Texte auswendig kann.<br />
Ich nicke ihr zu, schaue rüber zu der traurigen<br />
Lina und schüttle den Kopf. Heute nicht,<br />
nächstes Mal singen wir. Sie nickt mir zu.<br />
Katharina kommt vom Duschen und sieht<br />
richtig gepflegt aus. Trotz vieler Anstrengungen<br />
der Sozialarbeiterinnen lebt sie wieder<br />
auf der Straße. Eigentlich ist sie eine hübsche<br />
Frau im mittleren Alter. Sie scheint psychisch<br />
krank zu sein. Neulich hatte sie eine kranke<br />
Taube in der Tasche. Sorgt da eine arme Kreatur<br />
für eine noch ärmere? Wenn Katharina<br />
oder andere Frauen mit besonderen Problemen<br />
längere Zeit nicht zum Treff kommen,<br />
forscht die Sozialarbeiterin über ihren Verbleib<br />
nach.<br />
Ich gehe zu den Rauchern vor das Haus.<br />
Der Platz auf der Bank ist bei den Frauen<br />
sehr beliebt. Sie rauchen, schwatzen, streiten,<br />
trinken Kaffee und beobachten die Gäste<br />
der umliegenden Apfelweinkneipen. Heute<br />
war der Stammplatz von Maria anfangs belegt.<br />
Wie ich sehe, hat sie ihn sich wieder erkämpft.<br />
Die Lieblingslektüre der Frauen sind<br />
die Reklameblätter der Supermärkte. Es gibt<br />
angeregte Diskussionen, wo was am billigsten<br />
ist. Auch Zeitschriften von der Apotheke<br />
sind beliebt.<br />
Drinnen leert sich so langsam der Raum.<br />
Manche Frauen sind mit ihren Kleidertüten<br />
abgezogen, die Frauen, die am Basteln interessiert<br />
sind, haben einen leeren Tisch ergattert,<br />
und ich zeige ihnen wie das geht mit<br />
dem Drucken.<br />
Corinna ist angekommen, und alle halten<br />
die Luft an und erwarten das übliche Theater,<br />
das sie uns immer bietet. Sie rennt durch den<br />
Raum und überprüft, was die Frauen vielleicht<br />
noch auf den Tellern haben, um dies<br />
oder jenes lautstark für sich einzufordern.<br />
Sie will Kaffee, Wasser, Milch, Tee und eine<br />
Untertasse und versucht, alle Mitarbeiter zu<br />
beschäftigen. Bekommt sie nicht, was sie fordert,<br />
hört sie nicht auf zu schimpfen und zu<br />
schreien. Wir haben alle schon versucht, sie<br />
zu beruhigen, aber es gab nie einen Erfolg.<br />
Obwohl sie schon Tüten mit Lebensmittel<br />
mit sich mitschleppt, fordert sie von uns alles<br />
Übriggebliebene. Das geht schon Jahre<br />
so. Woher kommt diese Gier? Sie ist sicher<br />
irgendwo begründet, aber auch das wird<br />
wohl im Dunkel bleiben. Die Taschen sind<br />
nun fertig bedruckt, wir beginnen mit dem<br />
Aufräumen. Corinna schaut auf die Uhr und<br />
stellt für sich fest, dass sie noch 15 Minuten<br />
fordern kann.<br />
Die Frauen verabschieden sich, viele bedanken<br />
sich auch. Da gehen sie mit ihren<br />
unsichtbaren Rucksäcken voller Sorgen.<br />
Vielleicht konnten sie heute einige dalassen<br />
und sich etwas erholen und entspannen. Zumindest<br />
sind sie satt. Ich will auf dem Heimweg<br />
noch nach Ursula schauen, sie war heute<br />
nicht da, obwohl sie letzte Woche Geburtstag<br />
hatte. Sie sitzt in der Regel auf der Zeil vor<br />
einem Kaufhaus auf einem dort ausgestellten<br />
Gartenstuhl und schimpft vor sich hin, wenn<br />
Frauen mit kurzen Röcken vorbeikommen.<br />
Vielleicht kann ich noch gratulieren, ihre vier<br />
Kinder melden sich nicht mehr bei ihr.<br />
Inzwischen ist das Geschirr abgetragen,<br />
die Spülmaschine beladen, die Tische sind<br />
gewischt und alles sieht ordentlich aus. Corinna<br />
möchte aber nicht gehen und fordert<br />
noch dies und das. Laut schimpfend verlässt<br />
sie den Treff.<br />
Auch wir Ehrenamtliche treten jetzt mehr<br />
oder weniger erschöpft unsere Heimwege an.<br />
Wenn mir eine Fee begegnen würde und ich<br />
drei Wünsche frei hätte, würde ich mir folgendes<br />
wünschen: Mehr Zeit für Gespräche<br />
mit den Frauen und mehr Raum, auch zum<br />
Spielen und Basteln. Aber Feen gibt es leider<br />
nur in Märchen. Wir leben hier und jetzt.<br />
Der nächste Dienstag kommt bestimmt, und<br />
die Frauen werden wieder geduldig vor dem<br />
Lisbeth-Treff warten.<br />
Die Autorin des Artikels ist eine ehrenamtlich<br />
engagierte Frau aus dem Team<br />
des Lisbeth-Treffs. Sie beschreibt ihre Arbeit.<br />
Die Namen in dem Beitrag sind alle<br />
geändert.<br />
Fotos: Caritas<br />
Siehe auch Kasten Seite 9<br />
Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen halten den Treff am Laufen<br />
und sorgen manchmal auch für neue Kleidung.
LOKALES / CD DES MONATS 9<br />
Jeden Dienstag und Donnerstag<br />
- mehr als nur ein Treffpunkt<br />
Der Lisbeth-Treff in Frankfurt-Sachsenhausen besteht seit November 1997. Gegründet<br />
hat ihn die Deutschordensschwester Hemma mit ehrenamtlich engagierten Frauen als einen<br />
Begegnungsort für benachteiligte und wohnungslose Frauen. Ziel der Arbeit ist es,<br />
diesen Frauen in Frankfurt einen Raum zu geben, wo sie angenommen sind. Hier können<br />
sie sich begegnen und mit lebenswichtigen Dingen versorgen. Zum Angebot gehören eine<br />
Duschmöglichkeit, eine Kleiderkammer und die Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Daneben<br />
gibt es auch Freizeitaktivitäten.<br />
Seit Januar 2003 ist der Lisbeth-Treff eine Einrichtung des Caritasverbands Frankfurt und<br />
ein Kooperationsprojekt von Wohnungslosenhilfe und Frauenberatung. Er befindet sich im<br />
Haus der Frauenberatung am Affentorplatz 1 in Frankfurt-Sachsenhausen und ist ganzjährig<br />
dienstags und donnerstags von 13:30 bis 16:30 Uhr geöffnet. Bis zu 40 Frauen kommen,<br />
Tendenz leicht steigend. Das ehrenamtliche Team besteht aus 15 Frauen, zwei aus dem<br />
Gründungsteam sind bis heute mit dabei.<br />
Zum Lisbeth-Treff kommen Frauen, die wohnungslos sind, die mal hier mal dort eine<br />
Unterkunft haben oder auf der Straße leben. Viele haben Gewalterfahrungen gemacht, ein<br />
großer Teil sind Migrantinnen. Alle leben in Armut und sind isoliert, viele sind psychisch<br />
krank und immer in der Gefahr, ihre noch vorhandene Wohnung zu verlieren. Der Lisbeth-<br />
Treff gibt ihnen Halt und ist oft die einzige Gemeinschaft, die sie erleben.<br />
Jeden Dienstag und Donnerstag kommen Frauen aus ganz Frankfurt zum Lisbeth-Treff.<br />
2010 waren es durchschnittlich 30 an jedem Nachmittag. Sie machen es sich bei Kaffee, Tee,<br />
Kuchen und Brötchen gemütlich. Sie können duschen gehen und sich in der Kleiderausgabe<br />
mit frischer Wäsche versorgen oder ihre verschmutzte Kleidung waschen. Zusätzlich gibt<br />
es ein breites Angebot an Freizeitaktivitäten.<br />
Manche spielen gern Gesellschaftsspiele, andere basteln gern. Das Basteln aktiviert die<br />
Frauen, von denen viele gute handwerkliche Fähigkeiten haben. Stolz nehmen sie ihre kleinen<br />
Kunstwerke mit nach Hause.<br />
Besondere Höhepunkte im Jahreslauf sind kleine Ausflüge in und um Frankfurt herum,<br />
die vom ehrenamtlichen Team organisiert werden. So gab es zum Beispiel eine Führung<br />
durch das Schloss Freudenberg bei Wiesbaden, einen Ausstellungsbesuch im Palmengarten,<br />
einen Ausflug ins Stadtwaldhaus und zu einer Krippenausstellung in Frankfurt Rödelheim.<br />
Seit einem Jahr bietet der Lisbeth-Treff auch ein Gesundheitsangebot für die Frauen an.<br />
Frei nach dem Motto: „Gesund und munter in 2011 – wir lassen uns nicht unterkriegen!“<br />
sorgen Bewegungs-, Entspannungs- und Atemübungen für ein besseres körperliches Wohlbefinden<br />
der Besucherinnen.<br />
Der Lisbeth-Treff ist auch in den Stadtteil integriert: Viele Läden in der Umgebung stiften<br />
Essen und Kleidung für die Frauen. Einmal im Jahr beteiligt sich der Lisbeth-Treff am<br />
Frankfurter Stadtteilsonntag und stellt seine Arbeit vor. Neue ehrenamtliche Mitarbeiter/-<br />
innen sind willkommen.<br />
In diesem Jahr wurde der Lisbeth-Treff mit dem Senfkormpreis der Caritas<br />
ausgezeichnet.<br />
Das „Senfkorn“ wird seit 1987 von der Arbeitsgemeinschaft Caritas der Gemeinde<br />
verliehen.<br />
Als Zusammenschluss ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht es der<br />
ArGe nicht nur um die Würdigung des Ehrenamtes, sondern auch um Förderung und Qualifizierung<br />
für Engagierte.<br />
UND ES HAT ZOOM GEMACHT...<br />
SERUM 114 „ANTIHELD“<br />
Sie beschreiben sich selbst als „stolzer, sturer<br />
und ehrlicher Haufen“ und haben sich<br />
nach jenem unheilbringenden Mittel benannt,<br />
das in Stanley Kubricks Filmklassiker<br />
„Clockwork Orange“ Berühmtheit erlangte:<br />
SERUM 114.<br />
In der Tat sind die Frankfurter Punkrocker<br />
von SERUM 114 unbequemer und dabei<br />
auch zäher als die meisten anderen jungen<br />
Bands. Und hätte man den Hessen diese<br />
Eigenschaften nicht injiziert - sie wären<br />
längst an ihrem Schicksal vergiftet. SERUM<br />
114 haben wie kaum andere junge deutsche<br />
Künstler die drastischen Nebenwirkungen<br />
vom Traum des Musikmachens erfahren. Von<br />
Anfang an mussten sie für ihren Traum hart<br />
arbeiten. Als dann Mitte 2000 ein dicker<br />
Plattenvertrag winkt, glauben sich SERUM<br />
114 ihrem Ziel einen großen Schritt näher.<br />
Ein Videodreh steht ins Haus, ein Marketingplan<br />
mit riesigem Werbebudget wird<br />
aufgesetzt und die Zeit scheint für SERUM<br />
114 gekommen, um ihre Wirkung richtig entfalten<br />
zu können. Doch dann zerbricht das<br />
Reagenzglas über Nacht: ihre Plattenfirma<br />
meldet Insolvenz an, kann noch ausstehende<br />
Budgets nicht mehr stemmen und die vier<br />
jungen Musiker stehen vor dem Nichts - und<br />
vor einem ganzen Berg Schulden, der auf ihr<br />
Konto gegossen wurde. Die Band ist mental<br />
und finanziell am Abgrund und kann sich<br />
nicht einmal mehr die Miete für ihre Wohnungen<br />
und den Proberaum leisten.<br />
Daraufhin spielten Serum 114 erst recht<br />
an jeder Steckdose der Republik, um sich<br />
auf knapp 200 Konzerten all den Frust und<br />
die Schulden der Insolvenz aus dem Leib zu<br />
spielen.<br />
Zwei Jahre lang verbringen SERUM 114,<br />
bis sich mit Rookies & Kings, dem Label der<br />
deutschen Erfolgsrocker von FREI.WILD<br />
(Platz 2 der deutschen Media Control Charts<br />
mit dem aktuellen Album „Gegengift“) ein<br />
neuer Firmenpartner findet. Zwei Jahre, in<br />
denen ein ganzes Labor voller neuer Songideen<br />
entsteht, die nun laut, unangepasst und<br />
gesellschaftskritisch ihrer Veröffentlichung<br />
entgegen brodeln.<br />
Komplett im „Alleingang“ führten Serum<br />
114 ihre zweite Albumproduktion durch und<br />
recordeten, mischten und produzierten das<br />
daraus entstandene Werk selbst. Lediglich<br />
ein Hosentaschenbudget war dafür nötig.<br />
„Antiheld“ heißt der bezeichnende Titel des<br />
neuen, am 28. April erscheinenden Albums.<br />
Er beschreibt die Musiker hinter SERUM<br />
114. „Ein Antiheld ist jemand, der seinen eigenen<br />
Weg geht, auch wenn dieser nicht an<br />
gesellschaftlichen Moralvorstellungen entlang<br />
führt“, erklärt Sänger Esche. „Wir sind<br />
stolz darauf, solche Antihelden zu sein und<br />
immer unseren Weg gegangen zu sein, auch<br />
wenn der noch so steinig und unpopulär war.<br />
Wir können ohne Reue auf alles zurückblicken<br />
und werden diesen Weg ganz sicher und<br />
unbeirrt so weitergehen.“<br />
SERUM 114 scheuen sich nicht davor,<br />
auch unbequeme Themen anzusprechen. In<br />
ihrem Song „Hängt Sie Höher“ kritisieren sie<br />
das zunehmende Gefälle zwischen arm und<br />
reich in unserer Gesellschaft, oder, um es<br />
mit den direkten Worten von Sänger Esche<br />
zu beschreiben, machen sie darin , eine klare<br />
Ansage an die ganzen Vorstandswichser und<br />
Manager, die unter anderem für die Scheiße<br />
verantwortlich sind, die auf sozialer Ebene<br />
gerade abgeht. „Dennoch möchte die Band<br />
nicht als „Dauerkritisierer“ gesehen werden,<br />
sondern als ganz normale Zeitgenossen, die<br />
auch ganz persönliche Themen wie Liebe und<br />
Verlassen werden beschäftigt. „Irgendwann<br />
hat man das Rummeckern auch satt“, so<br />
Esche. „Viel wichtiger ist es doch mittlerweile<br />
geworden, an Dinge zu appellieren, die in unserer<br />
Wohlstandsgesellschaft fast vollständig<br />
verloren gegangen sind, zum Beispiel Zusammenhalt<br />
oder Teilen. Auch wenn es grade<br />
nichts zu teilen gibt. In vielen Ländern sind<br />
diese Dinge noch eine Selbstverständlichkeit<br />
- bezeichnenderweise oft in Ländern, die<br />
über kein staatliches soziales Netz verfügen.“<br />
Sozialität kann man SERUM 114 wiederum<br />
nicht absprechen. Am 28. Januar ist als<br />
Vorgeschmack zum Album mit „Was Wir Machen“<br />
eine Single erscheinen, auf der die Band<br />
mit ihren Labelkollegen FREI.WILD zusammengearbeitet<br />
hat.<br />
Band:<br />
Esche (Vocals / Guitar), Markus (Bass), Nils<br />
(Drums) und Thorsten (Guitar) kennen sich<br />
seit über 10 Jahren und machten in diversen<br />
Bands zusammen die Hessische Region unsicher.<br />
Nach der Gründung der Band Serum<br />
114 war jedoch schnell klar, dass die Jungs<br />
nicht nur in Frankfurt ihre schweißtreibenden<br />
Rock‘n‘Roll Shows spielen wollen.<br />
Shows:<br />
Insgesamt spielte Serum 114 über 300<br />
Live Shows in Deutschland, Österreich,<br />
Schweiz, Belgien, Niederlande und Frankreich.<br />
Alleine im Jahr 2008 waren es über<br />
120 Konzerte.<br />
Text und Fotos Sandra Eichner<br />
Vertrieb: WWW.intergroove.de
10<br />
GESCHICHTE<br />
Der Wein und sein geschichtlicher Hintergrund (Teil 1)<br />
„Durst ist ein stärkerer Urtrieb als Hunger,<br />
weil der menschliche Organismus außerstande<br />
ist, längere Zeit ohne Flüssigkeitszufuhr<br />
auszuhalten, während er viele Wochen<br />
lang auf feste Nahrung verzichten kann.“<br />
Das Trinken von Wasser war jedoch in<br />
früherer Zeit mit Sicherheit problematisch,<br />
wenn nicht sogar gefährlich. Eine Definition<br />
von Trinkwasser lautet: „Das Wasser<br />
muss kühl, appetitlich, geruch- und farblos<br />
sein und von seiner Natur her zum Genuss<br />
anregen.“. Dies war häufig ganz und gar<br />
nicht der Fall. Oftmals war Wasser verunreinigt,<br />
was zum Ausbruch schwerwiegender<br />
Krankheiten und Seuchen führte. Erst ab<br />
dem 19. Jahrhundert existierte ein Abwasserentsorgungssystem,<br />
das die Verschmutzungen<br />
eindämmte und die Wasserqualität<br />
entscheidend erhöht hat. Die unzureichende<br />
Trinkwasserversorgung löste bis dato<br />
schwere Epidemien aus.<br />
Mangels Kenntnissen nahm man an, das<br />
die Cholera und andere Krankheiten wie die<br />
damals in Europa bereits ausgestorbene Pest<br />
sowie der Aussatz, gleichfalls nur noch eine<br />
Erinnerung aus dem Mittelalter, durch das<br />
Trinkwasser oder üble Gerüche übertragen<br />
werden. Dabei setzte man den Aussatz mit<br />
Lepra gleich, was vermutlich keine Basis in<br />
Faktischen hat.<br />
Über die Entdeckung des konservierenden<br />
Alkohols kann man in der „Kulturgeschichte<br />
des Essens und Trinkens“ folgende<br />
Informationen finden, auf die sich alle nachfolgenden<br />
Erkenntnisse stützen. Regenwasser<br />
war deutlich sauberer als das meiste<br />
Wasser in den Flüssen, Bächen, Teichen<br />
und Seen. Die Menschen lernten sehr früh,<br />
es aufzufangen. Zum Beispiel mit Hilfe von<br />
allen möglichen Gefäßen, Mulden und später<br />
auch Zisternen. Aber es blieb nicht lange<br />
frisch und trinkbar und in vielen Gegenden<br />
der <strong>Welt</strong> regnete es auch nicht genug.<br />
Besonders in den Gebieten, in denen sich viele<br />
Menschen versammelten, wie in den Städten,<br />
half der Alkohol, kein risikobehaftetes<br />
Wasser trinken zu müssen. Im Alten Ägypten<br />
(etwa 1800 v.Chr). war der Alkoholkonsum<br />
beispielsweise geringer als in Griechenland.<br />
Das Nilwasser war besser als das griechischer<br />
Flüsse.<br />
In der einen oder anderen Form haben ihn<br />
die Menschen so gut wie überall getrunken,<br />
sobald sie ihn entdeckt hatten, mit Ausnahmen<br />
einiger Völker im südlichen Pazifik und<br />
einiger in Amerika, natürlich bevor Kolumbus<br />
den Kontinent entdeckte.<br />
Ziemlich sicher ist Met, aus Honig mit<br />
Wasser, eines der ersten vergorenen Getränke<br />
der Menschheit gewesen.<br />
Der hohe Zuckergehalt des Honigs ermöglichte<br />
die spontane Gärung, sobald genügend<br />
Wasser zugesetzt wurde. Vielleicht<br />
war es nur Regenwasser. Und lange danach<br />
war Met wahrscheinlich eines der ersten<br />
Genuss von Met im Alten Ägypten<br />
Getränke, die dann zu Höherprozentigem<br />
destilliert wurden.<br />
Viele Völker der tropischen Länder mischten<br />
von jeher Honig wilder Bienen oder auch<br />
von Erdhummeln mit Wasser. Das verwendete<br />
Gefäß brauchte nur längere Zeit verschlossen<br />
in der Hitze stehen zu bleiben, dann<br />
lösten Wildhefen im Wasser die Gärung aus.<br />
Das Getränk wurde zu Met, ohne dass die<br />
Menschen großartig nachhelfen mussten.<br />
Met beglückte die Völker fast aller Kontinente,<br />
mit Ausnahme der Indianer Nordamerikas.<br />
Er wurde auch den Göttern als<br />
Opfergetränk dargebracht. Egal ob in Brasilien,<br />
in Afrika oder in England. Met liebten<br />
Griechen und Italiener, Kelten und Preußen<br />
gleichermaßen. Die Römer genossen sogar<br />
verschiedene Arten von Honiggetränken:<br />
Met, Honigwein (oenomeli) und Honigmost<br />
(mulsum). Neuvermählte tranken in ihrem<br />
ersten Monat miteinander Honigwasser.<br />
Noch immer stammt aus jener Zeit der Ausdruck:<br />
„Honey moon“. Met war somit lange<br />
von größter Bedeutung.<br />
Jedoch vollzog sich ca. 10.000 vor Chr.<br />
ein entscheidender Wandel, wie Historiker<br />
belegen. Der systematische Anbau von Pflanzen<br />
zu Ende der letzten Eiszeit begann. Die<br />
Menschen begannen in Amerika, China und<br />
dem nahen Osten, gleichermaßen begünstigt<br />
durch den Klimawandel, sesshaft zu werden<br />
und Ackerbau zu betreiben. Diese Epoche<br />
nennt sich die neolithische Revolution. Diese<br />
Entwicklung brachte dem Met langfristig<br />
vor mindestens 7500 Jahren eine gewaltige<br />
Konkurrenz: Das Bier und der Wein.<br />
Honiggetränke waren schließlich deswegen<br />
im Nachteil, weil Honig lange als wichtiger<br />
Süßstoff diente und äußerst kostbar war.<br />
So war es verschwenderisch, ihn zu einem<br />
Rauschgetränk zu machen, sobald es auch<br />
andere Möglichkeiten gab. Immerhin profitierten<br />
Bier und Wein ebenfalls vom Honig,<br />
der ihnen oft beigemischt wurde, bis sich die<br />
Menschheit an weniger süße Rauschgetränke<br />
gewöhnte. Denn Rauschgetränke blieben<br />
sie, auch wenn schon vor Jahrtausenden begonnen<br />
wurde, Wein und Bier zum Essen zu<br />
trinken.<br />
Eine wilde Vorstufe der frühesten bekannten<br />
Weinpflanze ( Vitis Vinifera sativa ), die<br />
noch als Liane Laubbäume erklomm, hatte<br />
die Eiszeit in Tälern, im Windschatten eines<br />
Gebirges überlebt: An der Ostküste des<br />
schwarzen Meeres, am Kaukasus. In Georgien<br />
herrschte ein Klima, das ihre Verbreitung<br />
ermöglichte. Dort wurde wahrscheinlich<br />
auch der erste trinkbare Wein gekeltert. In<br />
der Gegend um Vorderasien verbreitete sich<br />
der Weinbau bis in den Orient und nach<br />
China. Es ist bekannt, dass in Vorderasien<br />
bereits im 6. Jahrtausend v. Chr. Weinbau<br />
betrieben wurde. Die ältesten Spuren sind<br />
ca. 7400 Jahre alt.<br />
Etwa gleich alt sind Keilschrifterzeugnisse<br />
der Sumerer, einer<br />
mesopotamischen<br />
Hochkultur, die<br />
dies belegen und<br />
nur 1000 Jahre<br />
jünger sind sumerische<br />
Rollsiegel<br />
mit Weinmotiven,<br />
die aus dem<br />
Irak stammen.<br />
Ähnliche Funde<br />
fanden sich auch<br />
im Iran und in<br />
Anatolien. Die<br />
Sumerer hatten<br />
bereits eine eigene<br />
Weingöttin, die<br />
sie verehrten.<br />
Im Alten Ägypten zur Zeit<br />
der Pharaonenherrschaft,<br />
die ca. 3000 vor Chr. begann,<br />
wurde bereits intensiv<br />
Wein angebaut. Die Ägypter<br />
erfanden sogar Haltevorrichtungen,<br />
damit Arbeiter,<br />
die die Weintrauben mit<br />
den Füßen stampften, nicht<br />
ausrutschten. Die Reste<br />
wurden nachträglich in Säcken<br />
ausgewrungen. Die<br />
Ägypter etikettierten bereits<br />
ihre Weine, indem sie in die<br />
Krüge geritzt genau Sorte,<br />
Jahr und Hersteller angaben.<br />
Auch eine Kunst des<br />
Rebschnitts wurde entwickelt,<br />
die noch Jahrhunderte<br />
später die antiken Griechen<br />
veranlasste, Ägypter<br />
ihre Weinberge pflegen zu<br />
lassen.<br />
Das Bier galt eher als Getränk der einfachen<br />
Bevölkerung, während der Wein gerne<br />
an Festen der Oberschicht getrunken wurde.<br />
Darüber hinaus spielte Wein eine wichtige<br />
Rolle bei religiösen Anlässen und Begräbnissen.<br />
Er wurde sogar als Grabbeigabe<br />
verwendet.<br />
Zu Griechenland sind folgende Informationen<br />
zu finden: In der griechischen Antike,<br />
ca. 800 - 146 v. Chr., unterschied man drei<br />
Sorten Wein: Den Weißen, Schwarzen und<br />
Bernsteinfarbenen. Die alten Griechen gelten<br />
als wichtige Vorläufer der europäischen<br />
Zivilisation und so wurde bereits damals<br />
zwischen trockenen (austeros), halbtrockenen<br />
(autokratos) oder süßen (glykazon) Weinen<br />
unterschieden. Ebenso wurde ein alter Wein<br />
gegenüber einem jungen als besser angesehen.<br />
Der Wein hatte einen relativ hohen Alkoholgehalt.<br />
Man geht von 15-16 % aus. Daher<br />
wurde er grundsätzlich verdünnt mit Wasser<br />
getrunken. Doch noch einen anderen Grund<br />
gab es für diesen Brauch: Der Genuss unverdünnten<br />
Weines galt als unmäßig und wurde<br />
den Barbaren angelastet. Nur bei dem häufig<br />
zelebrierten Trankopfer, das den Göttern<br />
dargebracht wurde, wurde zur Eröffnung<br />
eines gemeinsamen Trinkgelages (Symposions)<br />
unvermischter Wein verwendet. Üblicherweise<br />
wurden ansonsten zwei Teile Wein<br />
auf fünf Teile Wasser gemischt. Auch wurde<br />
manches Mal Schnee verwendet. Bereits eine<br />
Mischung aus zwei gleichen Teilen Wein<br />
und Wasser galt als „akratos“. Dies bedeutet<br />
unvermischt.<br />
Meistens stammte der Wein, der im antiken<br />
Griechenland getrunken wurde, aus<br />
dem lokalen Anbau. Seine genaue Herkunft<br />
konnte man an den Transportamphoren erkennen,<br />
die entweder eine charakteristische<br />
Form besaßen oder Abbildungen trugen. Zur<br />
Lagerung bewahrte man den Wein in versiegelten<br />
Tonkrügen oder Schläuchen aus Ziegenhaut<br />
auf.<br />
Gemischt wurde er dann in einem sogenannten<br />
„kratèr“ und letztendlich aus flachen<br />
Schalen mit hohem Fuß getrunken.<br />
Die Griechen verehrten den Gott Dionysos,<br />
der ursprünglich nur Gott der Pflanzenwelt<br />
und der Fruchtbarkeit war, dann aber<br />
zum Gott des Weines wurde. Bei den Römern<br />
wurde dieser als Bacchus bezeichnet und war<br />
dahingehend besonders erfolgreich, als dass<br />
sein Kult den Weinbau und die Weinpflege<br />
förderte.<br />
Die Verbreitung des Weines über andere<br />
Teile Europas wurde durch die Vergrößerung<br />
Klassische Darstellung des Dyonisos<br />
des Römischen Reiches angetrieben, das im<br />
6. Jahrhundert v.Chr. bis zum 6. Jahrhundert<br />
n. Chr. Existierte. Ursprünglich war der<br />
Weinbau in den Provinzen verboten, aber<br />
unter den Kaisern obsiegte der Weindurst<br />
über die Profitgier der italienischen Weinbauern.<br />
Die Kelten pflanzten Weinreben und<br />
waren mit dem Keltern vertraut. Die Römer<br />
bauten in ihren eroberten Provinzen die regionalen<br />
Künste weiter aus. Vom Rheintal über Gallien<br />
bis nach England instrumentalisierten sie die<br />
Einheimischen, um ihren Weinbedarf decken zu<br />
können. Auch im nördlichen Afrika war der Wein<br />
bis zur islamischen Eroberung weit verbreitet<br />
Caravaggios Selbstportrait<br />
als kranker Bacchus<br />
Ähnlich wie die Griechen tranken die Römer<br />
Wein oft mit Wasser vermischt. Er stellte zur<br />
damaligen Zeit auch nicht das Genussmittel<br />
von heute dar, sondern war ein Getränk,<br />
dem man stärkende und heilende Wirkung<br />
zusprach und auf das man bei den Eroberungen<br />
nicht verzichten wollte.<br />
Yulika Bunya<br />
(Bildquellen: kestan.com; rpmedia.ask.com,<br />
gym-griez-eyv.sch.gr.)<br />
Ende des 1. Teils
SOZIALES<br />
11<br />
Mit Geduld und Puste<br />
Über die Barrierefreiheit Frankfurter Verkehrsmittel<br />
Auch wenn die Stadt Frankfurt sich bemüht,<br />
die öffentlichen Verkehrsmittel barrierefreie<br />
zu gestalten, bleibt noch viel zu<br />
verbessern. Denn wessen Mobilität eingeschränkt<br />
ist und in der Rhein-Main-Region<br />
mit Bus und Bahn fährt, kommt oft nur<br />
über Umwege ans Ziel.<br />
Der Weg aus dem U-Bahn-Schacht ans Tageslicht<br />
bereitet dem jungen Mann sichtlich<br />
Mühe. Langsam setzt er einen Fuß vor den<br />
anderen, er macht Pausen, atmet tief durch.<br />
Lang ist der Anstieg, zu lang, sagt er. Aber<br />
die flach aufsteigende Treppe sei immer noch<br />
besser zu bewältigen als die andere, die mit<br />
den hohen Stufen auf der gegenüberliegenden<br />
Seite. Nahezu jeden Tag mache er diese<br />
Quälerei durch, sein linkes Bein ist seit einem<br />
Unfall teilweise gelähmt. Einen Fahrstuhl<br />
gibt es hier nicht, obwohl die Kreuzung<br />
Eschersheimer Straße/Miquelallee ein zentraler<br />
Punkt der Stadt ist. Auf der einen Seite<br />
steht das Polizeipräsidium, auf der anderen<br />
das Amt für Wohnungswesen. Zwei Gebäude,<br />
die täglich von Hunderten von Menschen<br />
aufgesucht werden. Darunter auch viele, die<br />
gehbehindert oder auf einen Rollstuhl angewiesen<br />
sind. An der Pforte des Präsidiums<br />
kennt man die Verhältnisse. „Wer ins Präsidium<br />
will und die Treppen nicht nutzen<br />
kann, muss leider an einer anderen Station<br />
aussteigen“, sagt ein Beamter. Die Haltestelle<br />
Dornbusch sei barriereifrei, weiß sein Kollege,<br />
da komme man auch mit einem Rollstuhl<br />
zurecht. Doch wie bewältigt man die Strecke<br />
von dort bis zum Präsidium, wenn man bewegungseingeschränkt<br />
ist? Der junge Mann<br />
hat mittlerweile den Gehsteig erreicht und<br />
wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Viele<br />
Eltern mit kleinen Kindern wohnen hier<br />
in der Gegend“, sagt er. „Die kommen mit<br />
ihren Kinderwagen auch nicht hier hoch.“<br />
Für sie und ihn stünde noch die Buslinie 32<br />
zur Verfügung – die hält zwar an der Straße,<br />
direkt vor dem Präsidium, als Alternative zur<br />
U-Bahn taugt sie aber wenig, denn sie ist eine<br />
Querverbindung zwischen Hauptbahnhof<br />
und Ostbahnhof.<br />
Teures Nachrüsten<br />
Seit dem Jahr 2002 hat die Frankfurter Polizei<br />
ihren Hauptsitz an der Eschersheimer<br />
Straße. „Bei der Planung wurde wieder mal<br />
nicht darauf geachtet, dass der Standort von<br />
allen Bürgerinnen und Bürgern gleich gut<br />
erreichbar ist“, sagt Andrea Rüb. Als ehrenamtliche<br />
Mitarbeiterin des Zentrums für<br />
selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen<br />
in Frankfurt hat sie solche Szenarien<br />
schon öfter er lebt. Besonders missglückt sei<br />
der Umzug der Volkshochschule (VHS) vom<br />
Eschenheimer Tor in die Sonnemannstraße<br />
im Frankfurter Ostend. War die VHS früher<br />
gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu<br />
erreichen, so gibt es nun keinen direkten U-<br />
Bahn-Anschluss mehr. Denn die nahegelegene<br />
Station Ostendstraße ist nicht ausreichend<br />
Haltestelle Musterschule: Barrierefrei sieht anders aus<br />
ausgestattet, sodass für Rollstuhlfahrer nur<br />
noch der Notnagel Behindertentaxi bleibt.<br />
16 kostenfreie Fahrten können sie monatlich<br />
in Anspruch nehmen. Doch in der VHS ist<br />
auch das Abendgymnasium untergebracht.<br />
Wer dort ein- oder zweimal in der Woche hinund<br />
wieder zurückfährt, hat sein Kontingent<br />
schnell aufgebraucht. Für weitere Taxifahrten,<br />
etwa zum Einkaufen, muss dann bezahlt werden.<br />
Natürlich gab es vorab viele Einwände ob<br />
der abgelegenen Lage – doch die öffentliche<br />
Hand zeigte sich unnachgiebig. Erst jetzt wird<br />
den Bauherren klar, dass nachgerüstet werden<br />
muss, auch mit Blick auf die Zukunft. „Wir<br />
leben in einer alternden Gesellschaft, immer<br />
weniger Menschen werden künftig uneingeschränkt<br />
mobil sein. Von daher besteht auf jeden<br />
Fall Handlungsbedarf“, sagt Andrea Rüb.<br />
Kurzum: Es muss verbessert werden, was vor<br />
einigen Jahren bereits beim Umzug hätte günstiger<br />
geleistet werden können. „Das ist nicht<br />
nur zeitaufwändiger, sondern verschwendet<br />
auch Steuergelder.“<br />
Langwierige Entscheidungsfindung<br />
Mühsam sei es, sagt Rüb, die Behörden für solche<br />
Dinge zu sensibilisieren. Das hat sie in all<br />
den Jahren erfahren müssen, in denen sie sich<br />
gegen Missstände eingesetzt hat. Als Beispiel<br />
nennt sie die U-Bahn-Haltestelle Musterschule.<br />
Die liegt zwar oberirdisch, doch sind die<br />
Bahnen mit Treppen ausgestattet, das Einsteigen<br />
mit Rollstuhl ist also nicht möglich. Seit<br />
den neunziger Jahren diskutiert man im Römer,<br />
wie man die Station behindertengerecht<br />
umwandeln kann. Erst vor zwei Jahren fiel<br />
eine Entscheidung, die Haltestelle wird nun<br />
als Hochbahnsteig angelegt. Bis die Umbauten<br />
fertig sind, kann es aber noch Jahre dauern –<br />
das weiß Rüb aus Erfahrung. Aber nicht nur<br />
die U-Bahn, auch Tramlinien sind problematisch.<br />
Viele neue Bahnmodelle haben zwar<br />
flache Einstiege, trotzdem gibt es an manchen<br />
Stationen große Höhenunterschiede zum<br />
Bordstein. Die ausklappbare Rollstuhlrampe<br />
steht dann steil, das kostet viel Kraft. „In<br />
Düsseldorf oder München ist die Situation<br />
für Rollifahrer deutlich besser“, sagt Andrea<br />
Rüb.<br />
Verbesserungswürdiger Kundendienst<br />
Die VGF bietet seit kurzer Zeit einen im<br />
Grunde lobenswerten Service an: Auf der<br />
Internetseite des Verkehrsverbundes findet<br />
man eine „Fahrplanauskunft für eine barrierefreie<br />
Reisekette“. Wie üblich gibt man<br />
den Abfahrts- und Ankunftsort an – neu<br />
ist, dass hier auch vorhandene Aufzüge<br />
oder Rampen an den Stationen angezeigt<br />
werden. Wer mobilitätseingeschränkt ist,<br />
weiß so vor der Reise mehr über die Situation<br />
vor Ort. Was nützt aber dieser Service,<br />
wenn etwa auf der Linie U3, die prinzipiell<br />
barrierefrei ist, alte Züge eingesetzt werden,<br />
die im Einstiegsbereich mit Trennstangen<br />
versehen sind? „Das kommt manchmal<br />
vor und in diesem Fall ist die Strecke für<br />
Rollifahrer nicht nutzbar.“ Da heißt es warten<br />
und hoffen, dass die nächste Bahn ein<br />
neueres Modell ist. Warten muss man auch,<br />
wenn ein Aufzug nicht funktioniert. Bis der<br />
Wartungsdienst, den man über eine kostenlose<br />
Telefonnummer erreichen kann, vor Ort<br />
ist, vergeht viel Zeit. Oft ist man schneller<br />
am Ziel, wenn man mit der Bahn zur nächsten<br />
Station fährt.<br />
Bevor der öffentliche Verkehr in Frankfurt<br />
komplett barriefrei ist, wird wohl noch viel<br />
Zeit vergehen. Bei Andrea Rüb schwindet<br />
allmählich die Energie, sich weiter für die<br />
Belange Betroffener einzusetzen. Grund sind<br />
die Behörden, die zu langsam oder ignorant<br />
handeln. Das Fass zum Überlaufen gebracht<br />
haben die Kommunale Baubehörde und die<br />
Deutsche Bahn, als sie im vergangenen Jahr<br />
die VIP-Lounge im Frankfurter Hauptbahnhofs<br />
erweitert und eine von zwei Behindertentoiletten<br />
wegsaniert haben. Das alleine ist<br />
schon unerhört und verstößt unter anderem<br />
gegen Paragraf 46 der Hessischen Bauordnung.<br />
„Die vorhandene Toilette ist zudem<br />
mangelhaft ausgestattet und nur sehr schwer<br />
eigenständig nutzbar“, sagt Rüb. Unter anderem<br />
ist der Sitz so hoch angebracht, dass man<br />
zum Umsetzen vom Rolli zum Toilettensitz<br />
Hilfe benötigt. Mit einem Schreiben wandte<br />
sie sich unter anderem an die Frankfurter<br />
Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU).<br />
In einem Antwortbrief teilte ihr die Stadt<br />
Frankfurt mit, dass diese Änderung „notwendig<br />
sei“ und dass man im Grunde nicht verstünde,<br />
welche Einwände sie gegen die übrig<br />
gebliebene Toilette hätte. Sie sei doch sauber<br />
und würde regelmäßig geputzt.<br />
Text und Fotos: Marc-Alexander Reinbold<br />
Haltestelle Miquel-/Adickesallee, langgezogene Stufen<br />
machen den Aufstieg für Gehbehinderte beschwerlich<br />
Das kostenfreie Zeitungsarchiv auf:<br />
www.soziale-welt-ffm.de/archiv
12<br />
FAMILIE<br />
Der weiße Elefant<br />
Ein Märchen aus Indien<br />
Vor langer, langer Zeit lebten viele<br />
Zimmerleute an einem Flussufer in der<br />
Nähe eines großen Waldes. Jeden Tag<br />
mussten sie in den Wald gehen und<br />
Bäume fällen. Daraus machten sie dann<br />
am Flussufer Bretter und Bohlen für<br />
Dächer und Hauswände, was man eben<br />
braucht zum Bauen aus Holz und was<br />
man mit Axt, Beil und Handsäge so<br />
herstellen kann. Die Zimmerleute waren<br />
arm, aber ein anderes Leben kannten sie<br />
nicht. Sie schätzen den Wald, denn er<br />
bot ihnen nicht nur den Lebensunterhalt.<br />
Ihre Frauen und Kinder sammelten Obst<br />
und essbare Wurzeln am Rande des<br />
Waldes und die Heilkundigen blieben oft<br />
tageweise in der Tiefe des Waldes und<br />
kamen mit geheimnisvollen Wurzeln und<br />
Kräutern zurück, die man bei Krankheiten<br />
anwendete. Manchmal halfen sie,<br />
manchmal nicht.<br />
Die Zimmerleute waren nicht alleine im<br />
Wald, das wussten sie. Sie fürchteten<br />
den zuweilen übellaunigen Tiger und die<br />
immer bissigen Schlangen. Viele davon<br />
waren sogar giftig und man starb an ihrem<br />
Biss. Das gewaltigste Tier im Wald war<br />
der Elefant. Den hörte man manchmal,<br />
aber noch keiner hatte ihn zu Gesicht<br />
bekommen.<br />
Eines Tages, als sie wieder bei der Arbeit<br />
waren, kam einer der grauen Giganten<br />
auf sie zu. Er gab klagende Töne von<br />
sich und humpelte auf drei Beinen. Die<br />
Zimmerleute gingen furchtsam näher<br />
heran und sahen, dass sich der Elefant<br />
einen großen Splitter in den Fuß gerannt<br />
hatte. Der war nun dick und sah sehr<br />
krank aus. Einer der Zimmerleute stieg<br />
ins Boot und fuhr ins Dorf. Von dort<br />
brachte ein Messer und Zangen mit, die<br />
ihm der Schmied geliehen hatte, und einen<br />
Heilkundigen mit seinem Kräuterbeutel.<br />
Dann zogen sie mit vieler Mühe den<br />
Splitter aus der Wunde und säuberten<br />
sie, soweit sie konnten. Der Heilkundige<br />
kochte einen Kräutersud und verband<br />
die Wunde, so gut er konnte. Und dann<br />
brachten sie dem Elefanten Früchte und<br />
Äste mit Laub zum Essen und baten<br />
ihn, sich hinzulegen. Sie würden für ihn<br />
sorgen, solange er nicht laufen konnte,<br />
sagten sie. Und so geschah es.<br />
Als der Elefant wieder gesund war und auf<br />
eigenen Füßen stand, dachte er bei sich:<br />
„Die Zimmerleute haben mir geholfen.<br />
Also will ich ihnen auch helfen.“ Er<br />
drückte mit seiner breiten Stirn Bäume<br />
für sie um, damit sie nicht so lange<br />
sägen mussten. Er rollte Stämme in den<br />
Fluss. Und manchmal brachte er ihnen<br />
mit seinem geschickten Rüssel auch<br />
Werkzeuge, die sie in Wald vergessen<br />
hatten oder gerade dringend brauchten.<br />
Das Dorf war froh über seinen Elefanten.<br />
Die Zimmerleute sammelten die Äste der<br />
Bäume für ihn zum Essen, die Frauen<br />
gaben gerne von den gesammelten<br />
Früchten ab und die Kinder sangen<br />
ihm Lieder und schmückten ihn mit<br />
Blumenkränzen.<br />
Aber auch Elefanten werden alt und<br />
verlieren ihre Kraft. Doch der alte Elefant<br />
hatte einen Sohn, einen weißen Bullen<br />
von außerordentlicher Stärke. Als der<br />
alte Elefant fühlte, dass seine Tage bald<br />
zu Ende gehen würden, lehrte er seinen<br />
Sohn, wie man mit den Zimmerleuten<br />
zusammenarbeitet, und der weiße<br />
Elefant nahm seine Rolle ein. Er half den<br />
Zimmerleuten und das ganze Dorf sorgte<br />
für ihn, so gut sie es eben konnten.<br />
Eines Tages kam der König vorbei und<br />
sah den schönen und klugen weißen<br />
Elefanten. Der spielte im Fluss mit den<br />
Kindern. Mal spritzte er sie nass, dann<br />
setzte er sie mit seinem Rüssel auf Ästen<br />
oder ließ sie auf seinem Rücken reiten.<br />
Dafür rieben die Kinder ihn sorgfältig mit<br />
dem Flussschlamm ab und verjagten die<br />
Mücken, die auch für Elefanten eine Plage<br />
sind.<br />
Der König hatte noch nie einen Elefanten<br />
gesehen, der mit den Menschen<br />
zusammenlebte und arbeitete. Er wollte<br />
dieses gewaltige Tier mit sich nehmen<br />
und bat die Dorfbewohner, ihm gegen<br />
eine große Zahlung den weißen Elefanten<br />
zu überlassen. Die Dorfbewohner fragten<br />
den Elefanten, ob er mit dem König<br />
gehen wollte. Der weiße Elefant aber war<br />
neugierig und wollte etwas mehr von der<br />
<strong>Welt</strong> sehen als den Wald und das Dorf.<br />
So ging er mit dem König weit weg und<br />
sah andere Dörfer, große Ströme, endlose<br />
Felder ohne Wald und schließlich die<br />
große Stadt und den Palast des Königs. Er<br />
war es zufrieden und trug den König gerne<br />
in seinen Festzügen auf dem Rücken.<br />
Der König aber ließ einen großen Teich<br />
graben, im dem seine Kinder sich mit dem<br />
Elefanten vergnügen konnten. Er sorgte<br />
gut für ihn. Der Elefant dachte an seinen<br />
Vater, den alten Elefanten, und brachte<br />
anderen Elefanten bei, mit den Menschen<br />
zu arbeiten. Der König und sein ganzes<br />
Volk waren sehr stolz auf den Anführer<br />
der Grauen, den weißen Elefanten. Der<br />
König und seine Nachfolger sorgten<br />
gut für den weißen Elefanten, so lange<br />
er lebte, und später für die anderen<br />
Elefanten, die sich den Menschen<br />
angeschlossen hatten. Und das ist auch<br />
heute noch so.<br />
RS<br />
…wann de Berjer nach seiner Meinung<br />
gefracht werdd. In Frankfort alle finf<br />
Johr, bei de Kommunalwahl. Des find<br />
ich zwor reischlisch lang, awwer die<br />
Stadtabgeordnete brauche e Johr, bis se<br />
sisch dreimal umgedreht und des richtische<br />
Plätzje fer zum Schlofe gefunne habbe. En<br />
Hund is da viel schneller in seim Körbche.<br />
Nor – diesmal hawwe se misch werklich<br />
geärjert. Un zwor alle Parteie un des<br />
ganze System. De Ärjer begann mit dem<br />
Probe-Wahlzettel – so groß wie e Plakat<br />
unn unmöchlich widder zesamme ze falte.<br />
Des Wahlsystem mi dem Kumulieren un<br />
Panaschieren is zwor ebbes kompliziert,<br />
awwer des stört de Berjer wenischer – die<br />
maaste wähle sowieso nor die gleisch<br />
Partei wie vor finf Johr. Awwer des<br />
Rieseding in de Wahlkabin ausenanner<br />
ze falte unn vor alle Dinge widder in den<br />
vorgesehene Umschlag ze packe, des<br />
hält uff. Deshalb habb isch briefgewählt<br />
– do heert misch kanner, wann isch<br />
bei Zesammefalte fluch wie en Derk.<br />
Ärscherlisch is es nor, des es ka werksam<br />
Prozentbegrenzung gibt – elf Parteie im<br />
Römer sind aafach zu viel. Denn zwecks<br />
Profilierung muß jedder zu allem sein Senf<br />
gewwe. Zum Schluß heert kanner mehr zu<br />
unn die ganz Diskussion wor fer die Katz.<br />
Richtsch ärjerlisch worn die Wahlplakate.<br />
In dem Johr worn se außergewehnlisch<br />
dumm, bei rundweg alle Parteie. Dorsch<br />
Es is jo gor schee<br />
die Bank is dene Herr- und Frauenschafte<br />
nix eingefalle, außer em Juchendbildnis<br />
fun ner Frau odder em Mann, wo mer<br />
entweder nedd kennt oder nedd leide<br />
mach, odder Geschrei iwwer Theme, die<br />
im Römer gor nedd entschiede werrn<br />
kenne. Iwwer Atomenregie odder soziale<br />
Theme wird in Berlin, schlimmstefalls<br />
in Wiesbade entschiede, awwer nedd in<br />
Frankfort. Unn beim annern wichtische<br />
Thema, dem Wohnungsbau fer Wohnunge,<br />
die mer bezahle kann, da wisse mer doch<br />
alle, des jeddes Verspreche am Dach nach<br />
de Wahl widder vergesse is, rundwech<br />
dorch alle Parteie.<br />
Unn zu meim greeste Ärjer räumt kaaner<br />
den Scheiß weg. Des bleibt alles hänge<br />
bis des Wetter es auflöst. Des is frech un<br />
misst bestroft werdde. Beim Karneval<br />
unn Festzuch kimmt die Stadtreinigung<br />
und am annern Morje is nix mehr da.<br />
Bei de Wahl riehrt kanner die Plakate<br />
und die Aufsteller an. Insbesunnere nedd<br />
die Parteie, wo des Zeuch hiegestellt<br />
hawwe. Heer, da hädd isch en Vorschlag.<br />
Mer haase die FES, am Dach noch de<br />
Wahl alles weg zu reiße, egal wers<br />
uffgehängt hadd. Des wird uff die Parteie<br />
nooch Stimmezahl umgelescht unn die<br />
Abgeordnete derfe erst dann in de Römer,<br />
wann die Stadtreinigung bezahlt is. Wer<br />
nedd zahlt, bleibt drausse. Des Zeusch<br />
geht ins Blockheizkraftwerk von de<br />
Mainova. So kennt mer aus haase Luft<br />
wenigstens noch ebbes Strom mache. Un<br />
der is garantiert nedd fun Kernernergie.<br />
Maant grandisch<br />
Ihne Ihrn<br />
Riewwedippel
Historische Person<br />
Selim der Säufer<br />
Ein Trunkenbold auf dem Sultansthron<br />
13<br />
Es gab ihm wirklich: Selim II, Oberherrscher<br />
des osmanischen Reiches von 1566 bis<br />
1574. Islamistische Publizisten schreiben<br />
seiner Alkoholsucht, ob real existent oder<br />
üble Nachrede, den Verfall des osmanischen<br />
Reiches zu. Westliche Historiker folgen gar<br />
zu gerne. Aber es war alles ganz anders.<br />
Die rohen Daten: Geboren am 30. Mai<br />
1524, gestorben am 13. Dezember 1574.<br />
1566 bestieg er den Thron. Er starb als Folge<br />
eines wohl alkoholbedingten Unfalls – er<br />
hatte ein noch nicht fertig gestelltes Badehaus<br />
besucht, war ausgeglitten und hatte<br />
sich eine Lungenentzündung eingefangen.<br />
Historiker und Andere kreiden ihm die Niederlage<br />
der Türken in der Seeschlacht bei<br />
Lepanto an. Seine Erfolge werden größtenteils<br />
verschwiegen oder bagatellisiert.<br />
eine Thronübernahme gehabt hat, ob dies<br />
Pläne der Janitscharen waren oder alles nur<br />
eine im Serail ausgebrütete Lüge, das weiß<br />
man nicht. Selim profitierte und nahm 1545<br />
eine namentlich bekannte Frau: Nurbanu,<br />
eigentlich eine Venezianerin mit den Familiennamen<br />
Venier-Buffo. Aber sie war schon<br />
als Kind entführt und für den Harem aufgezogen<br />
worden. Sie soll als Valide Sutan die<br />
Zeit der so genannten Weiberherrschaft eingeführt<br />
haben – man gibt Selims Verhältnis<br />
zum Alkohol die Schuld.<br />
Drei große Schlachten<br />
Den Zenit und den schließlichen Verfall<br />
bringt man in der Literatur meist mit drei<br />
Schlachten zusammen: der gescheiterten Belagerung<br />
von Malta (1565 unter Suleiman),<br />
Nichts mehr dagegen hörte man von der<br />
Heiligen Liga: Papst Pius V starb, Genua<br />
ging wieder auf Venedig los, König Philip II<br />
hatte reichlich Probleme mit England und, ja<br />
eben, auch mit Selim. Innerhalb eines halben<br />
Jahres waren die osmanischen Schiffe wieder<br />
so zahlreich wie zuvor und die Liga zerfallen.<br />
Venedig musste Frieden machen und die<br />
Herrschaft der Osmanen im Ostteil des Mittelmeeres<br />
anerkenne. Der Westteil blieb umstritten<br />
zwischen Spanien, den italienischen<br />
Städten, den Malteserrittern und den Grimaldis<br />
(beide Letzteren kaum mehr als Piraten)<br />
und den unter osmanischer Flagge segelnden<br />
Korsaren aus Algier und Tunis. Das<br />
würde sich erst im 18. und 19. Jahrhundert<br />
ändern, als England auch im Mittelmeer die<br />
Seeherrschaft anstrebte und letztlich gewann.<br />
um die Nachfolge am schnellsten durchsetzen<br />
konnte. Rivalen wurden umgebracht.<br />
Mehrfach war die Blutlinie dadurch sehr<br />
gefährdet, die Herrschaft geriet in die Hände<br />
von unfähigen Thronfolgern, ehrgeizigen<br />
Sultansmüttern, Großwesiren mit kurzer<br />
Zeitperspektive und Generälen, die von der<br />
Abtrennung ihrer Provinzen träumten. Die<br />
Söhne des Sultans wurden in goldenen Käfigen<br />
gehalten und waren bei Thronbesteigung<br />
fern von jeder <strong>Welt</strong>kenntnis und Bildung,<br />
nicht regierungsfähig und kaum lebensfähig.<br />
Wer nicht auf den Throm kam, wurde<br />
umgebracht.<br />
Mit der Entdeckung Amerikas und des<br />
Seewegs nach Indien ging nicht nur der<br />
Handel durch das Osmanische Reich stark<br />
zurück. Schlimmer: Das Geld der Osmanen<br />
war Silber. Aber in der Folge der Eroberung<br />
Perus floss so viel Silber ins Mittelmeer, dass<br />
eine rapide Inflation unausweichlich war. Die<br />
Großwesire versuchten, mit dem alten Mittel<br />
der Münzverschlechterung dagegen zu<br />
halten. Das hatte schon im römischen Reich<br />
nicht funktioniert, führte auch im Osmanischen<br />
Reich zu Krisen, letztlich zum Bankrott,<br />
aber wird heute noch von französischen<br />
Staatspräsidenten als Allheilmittel angesehen.<br />
Nicht die Hoffnung, die Dummheit<br />
stirbt zuletzt.<br />
Ein unerwarteter Thronfolger<br />
Sein Vater gilt als die Krönung des osmanischen<br />
Regimes: Suleiman der Prächtige. Aber<br />
auch das stimmt nicht, denn noch weite 9<br />
Sultane setzen die Expansion des osmanischen<br />
Reiches erfolgreich fort. Seine Mutter<br />
war eine Sklavin aus dem fernen Russland namens<br />
Aleksandra Lisowska, in den türkischen<br />
Quellen Hürrem, bei den Europäerin Roxelane<br />
genannt. Diese Frau, die ihren Sultan<br />
so sehr bezirzte, dass er mit ihr faktisch eine<br />
Einehe einging, hat die Dichter im Westen<br />
fasziniert: von Voltaire über Diderot bis zu<br />
Daniel Defoe und zahllose andere Schreiber<br />
geringeren literarischen Wertes. Die Qualität<br />
der Werke über Roxelane reicht von hoher<br />
Literatur über harmlose historische Romane<br />
bis zur schlichten Pornographie. Die Darstellungen<br />
des Lebens am osmanischen Hof<br />
waren fast immer völlig frei erfunden.<br />
Selim war der dritte Sohn aus der Verbindung<br />
von Suleiman und Hürrem. Der erste<br />
starb in jugendlichem Alter, der Zweite hatte<br />
einen Buckel und kam deshalb als Regent<br />
nicht in Frage. Doch es gab noch einen Sohn<br />
aus einer anderen Verbindung des Sultans:<br />
Mustafa, Liebling der Janitscharen und als<br />
kühn und erfolgreich angesehen. Die Intrigen<br />
aus dem Palast unterstellten ihm Aufruhrabsichten,<br />
Vater Suleiman schickte ihm<br />
die schwarzen Eunuchen mit der seidenen<br />
Schnur. Ob Mustafa tatsächlich Pläne für<br />
der Niederlage von Wien 1683 und der Seeschlacht<br />
von Lepanto am 7.Oktober 1571,<br />
die Selim aufs Konto geschrieben wird. Natürlich<br />
war er nicht dabei. Das Osmanische<br />
Reich war längst zu groß, als das der Sultan<br />
persönlich ins Feld ziehen würde. Er musste<br />
sich auf seine Paschas verlassen und auf<br />
seinen Großwesir Sokollu Mehmet Pascha.<br />
Doch diesmal hatte er daneben gegriffen.<br />
Sein Flottenbefehlshaber Ali Pascha verwendete<br />
eine veranstaltete Aufstellung und ließ<br />
sich in einer ungünstigen Position erwischen.<br />
Außerdem hatten die Venezianer mit der<br />
Galeone eine Wunderwaffe entwickelt: das<br />
erste große Kriegsschiff mit Breitseitenbewaffnung,<br />
das die hilflosen Galeeren der Gegenseite<br />
in Ruhe zusammenschießen konnte.<br />
Zudem hatte die osmanische Seemacht ein<br />
echtes Führungsproblem: Der große Chaireddin<br />
Barbarossa, der 1538 die erste Flotte<br />
der Heiligen Liga zusammengeschlagen<br />
hatte, war schon lange tot. Sein Nachfolger<br />
Dragot (Turgut Reis in heute gebräuchlicher<br />
Schreibweise) war bei der Belagerung von<br />
Malta ums Leben gekommen. Gewiss, Ali<br />
Pascha war eine Fehlbesetzung, aber Uludsch<br />
Ali konnte sich aus dem Gemetzel mit 30<br />
Schiffen befreien und nach Konstantinopel<br />
gelangen. Er hatte die Malteserritter auf dem<br />
Meer überwunden und deren Flagge erbeutet,<br />
keine kleine Leistung. Man würde noch<br />
von ihm hören.<br />
Expansion<br />
Selim II gelang etwas, was seinem Vater nicht<br />
gelungen war: 1571 wurde Zypern eingenommen.<br />
Venedig musste zähneknirschend<br />
zustimmen, Zypern blieb erstmal türkisch.<br />
Mit dem Heiligen Römischen Reich wurde<br />
1568 ein Friedensvertrag geschlossen; Kaiser<br />
Maximilian II musste Moldavien und<br />
die Wallachei abtreten und pro Jahr 30.000<br />
Dukaten bezahlen. Auch Ivan Grosny ( Ivan<br />
IV, der Schreckliche), holte sich eine blutige<br />
Nase auf seinem Drang nach Süden und<br />
musste 1570 Frieden schließen. Seine Energie<br />
richtete sich künftig auf Sibirien und das<br />
Gold im Osten. Der Hedjaz und Jemen wurden<br />
dem Osmanischen Reich eingegliedert,<br />
und 1574 gelang der größte Schlag: Tunesien,<br />
bislang von den Spaniern beherrscht, wurde<br />
unter einem sehr aktiven Piratenadmiral Teil<br />
der Staaten des Osmanischen Reiches. Die<br />
Bilanz von Selim dem Säufer: eine verlorene<br />
Schlacht, 3 Friedensschlüsse und 27.000 km²<br />
Vergrößerung des Reiches. Für eine ähnliche<br />
Leistung hätten europäische Herrscher gerne<br />
zur Flasche gegriffen.<br />
Niedergang trotzdem unausweichlich<br />
Letztendlich scheiterte das osmanische Reich<br />
an einem Konstruktionsfehler und der Entdeckung<br />
Amerikas. Der Konstruktionsfehler:<br />
Es gab nie eine festgelegte Erbfolge. Sultan<br />
wurde, wessen Anhängerschaft im Kampf<br />
Die folgende Zeit wurde als „Weiberherrschaft“<br />
bezeichnet, die Sultane galten als<br />
unfähig bis unzurechnungsfähig. Auch hier<br />
steht die geschichtliche Realität wieder im<br />
Gegensatz zur allgemeinen Auffassung: Die<br />
Expansion hielt an bis 1683, der Belagerung<br />
von Wien und Mehmet IV. Erst ab 1827<br />
begann der allmähliche, später beschleunigte<br />
Fall des Osmanischen Reiches. Selim II hatte<br />
daran keinen Anteil.<br />
Die europäischen Staaten und der Papst<br />
hatten große Probleme, gegen die osmanische<br />
Expansion Tritt zu fassen. Bezeichnenderweise<br />
wurden auch den Nachfolgern von<br />
Selim II Schimpfnamen angehängt wie Mustafa<br />
der Dumme und Ibrahim der Verrückte.<br />
Doch bis 1583 ging die Expansion ungehindert<br />
weiter.<br />
War Selims Suff doch nur üble Nachrede<br />
aus dem Vatikan und aus Europa, die gegen<br />
ihn und sein Reich den Kürzeren gezogen<br />
hatten?<br />
RS<br />
(Bildmaterial:desivalley.com,<br />
pogo.lakesideschool.com)
14<br />
KÜNSTLER DES MONATS<br />
Zurzeit ist in der Schirn Kunsthalle Frankfurt<br />
eine Ausstellung über surreale Dinge,<br />
Skulpturen und Objekte zu sehen. Die Ausstellung,<br />
die noch bis Ende Mai zu besuchen<br />
ist, zeigt Werke bekannter Künstler wie<br />
Dali, Magritte und eben auch von Man Ray.<br />
Eine kurze Biografie<br />
Man Ray wurde mit bürgerlichem Namen<br />
Emanuel Radinsky als Sohn eines jüdischen<br />
Schneiders am 27. August 1890 in Philadelphia,<br />
USA, geboren.<br />
Emanuel Radinsky stammt aus einer russischen<br />
Familie, die in die Vereinigten Staaten<br />
emigrierte. Im Jahr 1897 zog er mit seiner<br />
Familie nach Brooklyn. Dort besuchte er<br />
die Schule. 1906 erhielt er ein College-Stipendium<br />
für ein Architekturstudium, doch<br />
er lehnte die Ausbildungsmöglichkeit ab. Er<br />
war in New York als Radierer und später in<br />
einem Büro tätig. Zur gleichen Zeit absolvierte<br />
er Abendkurse an der National Academy<br />
of Design. Anschließend war er in einer<br />
Werbeagentur beschäftigt und er betätigte<br />
sich für einen Verlag als Landkartenzeichner.<br />
In der Zeit von 1911 bis 1913 bildete er<br />
sich in Zeichenkursen im Ferrer Center weiter.<br />
Man Ray lernte in der Galerie „291“ von<br />
Alfred Stieglitz die europäischen Avantgardisten<br />
und die Photographie kennen. 1914<br />
heiratete er die Dichterin Adon Lacroix aus<br />
Belgien. Im Jahr darauf organisierte er seine<br />
erste Einzelausstellung in der Daniel Gallery.<br />
In dieser Zeit begegnete ihm der französischen<br />
Künstler Marcel Duchamp, der auf<br />
ihn einen großen Eindruck hinterließ. In<br />
New York lernte er gleichfalls den französischen<br />
Maler Francis Picabia kennen. Man<br />
Ray, Picabia und Duchamp riefen die Dada-<br />
Bewegung in New York ins Leben.<br />
Im Jahr 1918 entstanden die ersten „Aerographien“.<br />
Man Ray malte dabei mit einer<br />
Spritzpistole auf Photopapier. 1920 befand<br />
er sich neben Marcel Duchamp und Katherine<br />
Dreier unter den Mitbegründern der<br />
„Société Anonyme“. Im Jahr darauf verließ<br />
er die Vereinigten Staaten und siedelte nach<br />
Paris über. Dort schloss er sich den Dadaisten<br />
an und wurde bald einer ihrer führendsten<br />
Köpfe. Glücklichere Aufnahme fanden Man<br />
Rays Kunstbemühungen in Paris, wohin er<br />
Duchamp 1921 gefolgt war. Fast unmittelbar<br />
nach seiner Ankunft machte er Furore,<br />
anfangs mit Werk- und Künstlerfotos, bald<br />
mit Porträts und Modeaufnahmen. Auch<br />
die Reichen und Schönen rissen sich darum,<br />
von Man Ray abgelichtet zu werden - und<br />
waren selbst dann noch begeistert, wenn die<br />
Aufnahmen völlig in die Hose gingen. Das<br />
verhunzte Foto der schrillen Marquise Casati<br />
- unscharf und verwackelt bis zur Unkenntlichkeit<br />
- zeigte drei Paar Augen untereinander<br />
und sollte sofort nach der Entwicklung in<br />
den Papierkorb. Aber die betuchte Exzentrikerin<br />
bettelte um einen Abzug und war überwältigt.<br />
Nichts Geringeres als ein „Porträt ihrer<br />
Seele“ habe der große Meister geschaffen,<br />
schmachtete sie ergriffen. Mit diesem historischen<br />
Stoßseufzer verhalf sie Man Ray zu<br />
einer steilen Karriere als Porträtist der feinen<br />
Gesellschaft.<br />
In Paris fertigte er Portraits berühmter<br />
zeitgenössischer Persönlichkeiten an, vor allen<br />
Dingen der Surrealisten. Man Ray führte<br />
Experimente in der Photographie durch und<br />
entwickelte die sogenannte „Rayographie“.<br />
Werkschau<br />
Dabei handelt es sich um eine Methode,<br />
um ohne Kamera zu photographieren. Mit<br />
diesem Verfahren gelang es ihm, abstrakte<br />
Formen auf Photopapier zu bringen. Um<br />
das Jahr 1924 leitete sich der Surrealismus<br />
aus dem Dadaismus ab, und Ray Man trieb<br />
diese Entwicklung maßgeblich voran. In der<br />
Folge beteiligte er sich an den Ausstellungen<br />
der Surrealisten. Man Rays Modell wurde als<br />
„Kiki von Montparnass“ bekannt. Sie regte<br />
ihn beispielsweise zu dem Rückenakt im<br />
Jahr 1924 entstandenen Titel „Le Violon<br />
d`Ingres“ an, der zwei aufgemalte Schallöffnungen<br />
einer Violine zeigt. „Es gab immer<br />
und gibt immer“, so bekannte er, „zwei Beweggründe<br />
für das, was ich tue: die Freiheit<br />
und die Freude.“ Kaum hatte Kiki Man Ray<br />
verlassen, fand sich Lee Miller ein, um bei<br />
ihm die Fotografie zu erlernen. Sie hatte in<br />
den USA als Model gearbeitet und wollte<br />
nun hinter der Kamera stehen. Miller war<br />
drei Jahre seine Assistentin, sein Model, seine<br />
Geliebte - und wurde selbst eine große<br />
Fotografin. Ihr Mund taucht in Man Rays<br />
bekanntestem Gemälde auf: Es zeigt ein Lippenpaar,<br />
das wolkengleich über einer Landschaft<br />
schwebt und im Parallelschwung des<br />
Mundes die aneinander geschmiegten Körper<br />
zweier Liebenden evoziert.<br />
Le Violon d`Ingres (1924)<br />
1926 fotografierte er für Zeitschriften,<br />
unter anderem die Haute-Couture-Sektion<br />
der Arts-Deco-Ausstellung.<br />
In den beiden Jahren 1932 und 1933 entstand<br />
das Werk mit dem Titel „A l`heure de<br />
l`observatoire – Les amoureux“, das eine riesige<br />
Lippe über eine Landschaft schwebend<br />
am Himmel zeigt. 1934 entstand ein Schachbrett<br />
aus einer Fotomontage von Surrealisten;<br />
das Werk nannte Man Ray „L`echiquier<br />
surrealiste“. 1938 fertigte er das berühmt<br />
gewordene „Imaginäre Portrait von D.A.F.<br />
Sade“ an. Man Ray betätigte sich auch als<br />
Filmemacher. So entstand im Jahr 1928 der<br />
Streifen „L`Etoil de Mer“ im avantgardistischen<br />
Stil sowie weitere Filme. Eines seiner<br />
berühmtesten Kunstobjekte trägt der Titel<br />
„Cadeau“, ein Bügeleisen mit Nägeln auf der<br />
Unterseite.<br />
Man Ray<br />
Der instinktive Dadaist<br />
Tränen (1933)<br />
Selbstportrait (1942)<br />
Im Jahr 1940 verließ Man Ray Paris wieder.<br />
Er zog zunächst nach New York und siedelte<br />
dann nach Hollywood über. Dort hielt er<br />
Vorträge und übte eine Lehrtätigkeit aus.<br />
1948 heiratete in Beverly Hills Juliet Browner.<br />
Die Hochzeit wurde zusammen mit der<br />
Hochzeit des deutsch-amerikanischen Malers<br />
Max Ernst gefeiert. 1951 ließ er sich abermals<br />
in Paris nieder. Dort in der französischen<br />
Kunstmetropole feierte er größere Erfolge als<br />
Künstler als in den Vereinigten Staaten. 1961<br />
wurde er mit einer Goldmedaille auf der Biennale<br />
in Venedig ausgezeichnet.<br />
Zwei Jahre später kam seine Autobiographie<br />
mit dem Titel „Self Portrait“ auf den<br />
Markt. In der deutschen Ausgabe lag sie erst<br />
im Jahr 1983 vor. Man Ray war nicht nur ein<br />
sehr vielseitiger Künstler, sondern auch sehr<br />
experimentierfreudig. Sein Gesamtwerk lässt<br />
sich nicht in bestimmte Kategorien einordnen.<br />
Es zeichnet sich besonders durch seine<br />
ironische Doppeldeutigkeit und Assoziationsfreudigkeit<br />
aus. Immer spielen dabei auch<br />
irrationale Elemente eine Rolle. Zu seinen<br />
weiteren Tätigkeiten zählte die Beschäftigung<br />
als Modefotograf bei dem Pariser Modemacher<br />
Poiret.<br />
Bedeutung<br />
Man Ray blieb vielen Menschen rätselhaft,<br />
schwer zugänglich und fand erst spät Beachtung.<br />
Allein der Umfang seines vielschichtigen<br />
Gesamtwerks erschwert eine formale Erschließung<br />
und somit die Kategorisierung in<br />
bestimmte Stile. Er vereinigte nahezu sämtliche<br />
Richtungen der modernen Kunst des beginnenden<br />
20. Jahrhunderts, weshalb er oft<br />
verallgemeinernd als „Modernist“ oder „Erneuerer<br />
des Modernismus“ bezeichnet wurde.<br />
Man Ray war neben Marcel Duchamp<br />
und Francis Picabia zwar die treibende Kraft<br />
des New York Dada, stand aber schon dort<br />
deutlich an der Schwelle zum Surrealismus.<br />
André Breton bezeichnete Man Ray als einen<br />
„Prä-Surrealisten“, weil viele seiner Werke<br />
richtungsweisend für die spätere Bewegung<br />
waren. Obwohl Man Ray zeitlebens viele<br />
Schriftstücke mit kunsttheoretischen Ansätzen<br />
und Betrachtungen verfasste, war er<br />
selbst nie wirklich an einer Manifestation<br />
respektive am dogmatischen Überbau einer<br />
bestimmten Kunstrichtung interessiert<br />
oder beteiligt. Mit dieser teilweise aus der<br />
Not geborenen „Außenseiterposition“ und<br />
dem drängenden Wunsch, sich ständig neu<br />
zu erfinden, folgte er wahrscheinlich seinem<br />
Freund und Mentor Duchamp.<br />
Typisch für Man Rays Werk ist die Idee<br />
der ständigen mechanischen Wiederholung<br />
und Reproduktion, auch in kommerzieller<br />
Hinsicht, womit er ein grundlegendes<br />
Prinzip Andy Warhols sowie der Pop Art<br />
im Allgemeinen vorwegnimmt. Mit Warhol<br />
hat Man Ray auch biographische Gemeinsamkeiten:<br />
beide stammten aus armen Immigrantenfamilien<br />
und verkehrten später in<br />
höheren Gesellschaftskreisen, von denen sie<br />
zumeist ihre Aufträge bezogen, waren aber<br />
im wesentlichen Einzelgänger.<br />
Man Ray löste mit seiner Vielfalt der Techniken,<br />
der Fotocollage, dem Rayogramm –<br />
respektive der Solarisation – einen wichtigen<br />
Impuls für den Surrealismus aus. Indem er<br />
die gewöhnliche Bedeutung der Objekte aufhob<br />
und ihnen eine traumhaft-sinnliche, sogar<br />
erotische Komponente zukommen ließ,<br />
unterschied er sich von seinen europäischen<br />
Zeitgenossen wie Moholy-Nagy oder Lissitzky,<br />
die, ganz dem Gedanken des Bauhaus und<br />
des Konstruktivismus folgend, das nüchterne<br />
gegenstandslose Abbild suchten.<br />
Der Kunsttheoretiker Karel Teige bezeichnete<br />
ihn hingegen als „zweitrangigen kubistischen<br />
Maler, der dank der Mode jener Zeit<br />
zum Dadaisten wurde, aufhörte zu malen<br />
und begann, metamechanische Konstruktionen<br />
– den suprematischen Konstruktionen<br />
der Russen Rodtschenko und Lissitzky ähnlich<br />
– zu konstruieren um sie schließlich mit<br />
genauer Kenntnis des fotografischen Handwerks<br />
zu fotografieren.“. Womit Man Rays<br />
Dilemma, dass die Fotografie lange nicht<br />
als „Kunst“ angesehen wurde, deutlich wird:<br />
Die von Literaten beherrschten Dadaisten<br />
schätzen ihn als Freund und Dokumentaristen,<br />
die künstlerische Anerkennung als Maler<br />
und Fotograf verwehrten sie ihm jedoch.<br />
Während ihn die meisten zeitgenössischen<br />
amerikanischen Künstlerkollegen und Kritiker<br />
wie Thomas Hart Benton eher distanziert-abwertend<br />
als „Handwerker“ betrachteten<br />
– da ja die Fotografie „untrennbar“ mit<br />
der Mechanik verbunden sei und allenfalls<br />
Alfred Stieglitz, Paul Strand und Edward<br />
Steichen anerkannten – war einzig Georgia<br />
O’Keeffe, die sich selbst mit den Möglichkeiten<br />
der Fotografie befasste, bereit ihn als<br />
„jungen Maler mit ultramodernen Tendenzen“<br />
hervorzuheben. Der Kritiker Henry McBride<br />
nannte ihn anlässlich einer Ausstellung in<br />
der Vallentine Gallery in New York „… einen<br />
Ursprungs-Dadaisten und den einzigen von Bedeutung,<br />
den Amerika produziert hat.“<br />
Für viele Fotografen und Filmemacher war<br />
Man Ray Berater, Entdecker, Lehrmeister<br />
und spiritus rector zugleich: unter ihnen finden<br />
sich bekannte Namen wie Eugène Atget,<br />
Berenice Abbott, Bill Brandt oder Lee Miller.<br />
Man Ray starb am 18. November 1976 in Paris.<br />
Aribert Kirschner<br />
(Bildquellen: unox.lv; Kingsroad.it,<br />
americanart.si.edu)
LOKALES / IN EIGENER SACHE<br />
Auf(Reizungen) aus dem Gallus<br />
Eine Möglichkeit Junge Kunst zu sehen und gesehen zu werden<br />
15<br />
Diese Kunstgalerie ist leicht zu finden auf der<br />
Lorsbacher Str. 1, aber die Öffnungszeiten<br />
zu erraten ist schwieriger: sie ist nur<br />
montags von 14 bis 16 Uhr um mittwochs<br />
von 13 bis 15 Uhr geöffnet. Die Halle für<br />
die Kunstausstellungen ist eine Initiative<br />
von Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim<br />
in Gallus.<br />
Das Projekt wird von der Hessischen Gemeinschaftsinitiative<br />
<strong>Soziale</strong> Stadt (HE-<br />
GISS) und dem Stadtplanungsamt der Stadt<br />
Frankfurt gefördert und hat den Zweck, den<br />
Kindern und Jugendlichen im Alter bis 25<br />
Jahren aus Frankfurt und Umgebung eine<br />
Möglichkeit zu schaffen, ihre künstlerischen<br />
Produktionen der Öffentlichkeit zu zeigen.<br />
Der Leiter des Projekts, Dominik Landwehr,<br />
ist auch selber im Haus präsent und empfängt<br />
Besucher. Jeden Monat findet hier eine neue<br />
Ausstellung statt. Die nächste Vernissage wird<br />
im Mai Werke von Hauptschülern zeigen.<br />
Die letzte, mit dem Titel „Reizungen“, die<br />
ab 03.03 bis 15.04 lief, wurde um 2 Wochen<br />
verlängert. „Reizungen“<br />
präsentiert Werke<br />
aus Zeichnungen,<br />
Malerei, Fotografie,<br />
Performance und<br />
Ready-made-Poesie<br />
von sechs Künstlern:<br />
Mandy Dott,<br />
Daria Burlak, Alexander<br />
Leonardo Rojas,<br />
Maria Hampe,<br />
Maria Krahl, Robert<br />
Schittko.<br />
Ich hatte das<br />
Glück, einen der<br />
Künstler, Robert<br />
Schittko, persönlich<br />
YANKADI<br />
kennen zu lernen. Seine Werke, bedruckte<br />
Papierblätter, die mit dunklem Holz elegant<br />
eingerahmt sind, besetzten eine der vier Wände<br />
im Ausstellungsladen. Auf ihnen werden<br />
auf den ersten Blick schockierende Erlebnisse<br />
aus einem Heim für Drogenabhängige<br />
aufgezeichnet, wo der Protagonist als Teil<br />
seines Zivildienstes Boden wäscht. Er ist mit<br />
Gesprächen um ihn herum überfordert und<br />
fängt an, ein Tagebuch zu führen, um sie zu<br />
verarbeiten. Hier kommt man wieder zu der<br />
Frage: was ist eigentlich Kunst in unserem<br />
digitalen Zeitalter und was nicht? Während<br />
aber Erwachsene darüber diskutieren, versuchen<br />
die Kinder und Jugendlichen, es selbst<br />
heraus zu finden.<br />
Yevheniya Genova<br />
(Fotos: hjs)<br />
Lahnstr. 37<br />
60326 Frankfurt am Main<br />
Tel.: 069 - 373 00 568<br />
Verkehrsmittel Straßenbahn: 11 Richtung Höchst, Zuckschwerdtstr.<br />
Haltestelle: Schwalbacher Straße<br />
S-Bahn: S3-S6 Haltestelle: Galluswarte<br />
Musik zum mitmachen- für alle Menschen!<br />
Wir treffen uns:<br />
Lahnstr. 37<br />
Frankfurt-Gallus<br />
Karl-Blum-Allee 1-3<br />
Frankfurt-Höchst<br />
Termine nach telefonischer Vereinbarung<br />
DAF-Kurs <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>/Musikgruppe Yankadi<br />
am 26.03.2011 fand in den Räumen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> der erste<br />
Fortbildungskurs im Bereich der Rahmentrommel statt. Herr Hadi<br />
Alizadeh aus München leitete den Kurs, 3 Teilnehmer konnten die<br />
Anfangstechniken für dieses Instrument erlernen.<br />
Die Daf ist eine Rahmentrommel,die aus Kurdistan kommt und<br />
vorwiegend im Iran und in Teilen vom Irak gespielt wird. Sie<br />
hat einen Durchmesser von 50-60cm und ist mit Ziegen oder<br />
Lammfell bespannt und innerhalb des Rahmens mit Metallringen<br />
bestückt ist.<br />
Innerhalb der Musikgruppe Yankadi soll diese Trommel als<br />
Begleit– als auch als Solo- Instrument eingesetzt werden.<br />
Kontakt: Reinhold Urbas Tel.: 06109 - 22527 E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />
Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />
Lahnstr. 37<br />
60326 Frankfurt am Main<br />
Tel.: 069-373 00 568<br />
Fax.: 069-254 97 248<br />
E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />
WEB: www.soziale-welt-ffm.de<br />
Chefredakteur:<br />
Rüdiger Stubenrecht (v.i.S.d.P.)<br />
Layout und Satz:<br />
Hans-Jürgen Schöpf ( C.v.D.)<br />
Redaktion:<br />
Martin Fischer , Lynda Hamelburg,<br />
Aribert Kirschner, Gerhard Pfeifer,<br />
Alexander Reinbold, Silvia Schöpf,<br />
Reinhold Urbas, Genova Yeuheniya,<br />
Bürozeit:<br />
Mo. - Fr. 08.00 - 15.00 Uhr<br />
Zeitungsverkauf:<br />
Mo., Mi., Fr. 10.00 - 12.00 Uhr<br />
und nach telefonischer Vereinbarung!<br />
Auflage: 3.000<br />
Druck: CARO-Druck<br />
Kasseler Str. 1a<br />
60486 Frankfurt am Main<br />
Unsere Termine<br />
Vorstandsitzung<br />
28.04.2011 17.00 Uhr<br />
26.05.2011 17.00 Uhr<br />
30.06.2011 17.00 Uhr<br />
Redaktionskonferenz<br />
28.04.2011 18.00 Uhr<br />
26.05.2011 18.00 Uhr<br />
30.06.2011 18.00 Uhr
16 UNSER REISETIPP<br />
M E T Z<br />
D i e S t a d t d e s b ö s e n D r a c h e n u n d d e s g u t e n K a i s e r s ( T e i l 2 )<br />
Der Beginn der Reise nach Metz hatte<br />
kein gutes Licht auf die Deutsche<br />
Bahn geworfen, genau gesagt war es<br />
ein Desaster: Der hochmoderne ICE hatte in<br />
Frankfurt schon vor der Abfahrt 72 Minuten<br />
Verspätung. Bereits in Ludwigshafen hatte<br />
man sie auf 99 Minuten erweitern können,<br />
wovon bis Saarbrücken auch nichts Nennenswertes<br />
aufgeholt wurde.<br />
Vor der Ankunft in Saarbrücken verkündeten<br />
die Lautsprecher fröhlich, dass der Anschlusszug<br />
nach Forbach warten würde. Das<br />
war natürlich nicht so, und mit einem französischen<br />
Mittagessen wurde es nichts: Stattdessen<br />
zwei Stunden Saarbrücken!<br />
Der Bahnhofsvorplatz gehört wie der Bahnhof<br />
selbst zu den scheußlichsten der <strong>Welt</strong>. In<br />
jeder französischen Stadt hätten sich auf dem<br />
Halbrund vor dem Bahnhof mindestens eine<br />
Brasserie und ein Café befunden. Hier gibt<br />
es in einem mustergültigen und schon bilderbuchartigen<br />
hässlichen Fast-Hochhaus der<br />
60er oder 70er Jahre ein etwas anderes Restaurant<br />
mit der nicht sehr saarländischen Spezialität<br />
Hamburger.<br />
Jetzt wieder in Metz<br />
Der Bahnhof von Metz ist dagegen ein Meisterwerk<br />
der neoromanischen deutschen Schule.<br />
Ich meine das nicht ironisch. Der Bahnhof<br />
hat Stil. Er ähnelt ein wenig den Bahnhöfen<br />
Gare de Lyon in Paris und dem Wiesbadener<br />
Hauptbahnhof, wo Kaiser Wilhelm II. auch<br />
gern war.<br />
Der Bahnhofsvorplatz ist allerdings, trotz<br />
etwas protziger deutscher Häuser französisch:<br />
Brasserien und Cafés sind da. Vom Taxi aus<br />
sahen wir eine Dependance der Brasserie Flo,<br />
bevor wir auf einer Art Boulevard peripherique<br />
in die Gegend nördlich der Kathedrale<br />
einbogen. Die Altstadt ist von Einbahnstraßen,<br />
Fußgängerzonen und teils engen Gassen<br />
geprägt und für Taxis wenig geeignet, auch<br />
wenn Busse fast überall herumfahren.<br />
Das Taxi hielt vor dem „Hotel de la Cathedrale“:<br />
25, place de Chambre. (Tel. 03 87 75 00<br />
02) Von der Eingangstür des Hotels sieht man<br />
direkt auf die Nordfassade der großen gotischen<br />
Kathedrale. Das Hotel war ursprünglich<br />
eine Poststation, schon im 17ten Jahrhundert<br />
ein hotel particulier, also ein Wohnhaus und<br />
bietet heute in dem alten Ambiente schöne<br />
moderne Zimmer.<br />
Immer wieder kommt man zur Kathedrale.<br />
Wir hatten nicht viel auszupacken und waren<br />
schon bald wieder im Freien. Genau gegenüber<br />
dem Hotel musste man nur ein paar Stufen<br />
hinaufsteigen zur Kathedrale. Sie war im<br />
Jahre 1522 nach nur 300 Jahren Bauzeit vollendet.<br />
Es war bereits die dritte Bischofskirche<br />
an derselben Stelle, und ihre teils chaotische<br />
Geschichte - lange Zeit war sie geteilt, bestand<br />
aus zwei unterschiedlichen Kirchen - kann<br />
man dem harmonischen Bauwerk heute nicht<br />
mehr ansehen.<br />
Das Mittelschiff hat die beeindruckende<br />
Höhe von über 40 Meter bei einer Breite<br />
von nur 13, 5 Metern, aber der Architekt Pierre<br />
Perrat hatte im 14. Jahrhundert auch einen<br />
Pakt mit dem Teufel geschlossen, um die<br />
baulichen Schwierigkeiten zu meistern. Die<br />
Bürger der Stadt begruben ihn nach seinem<br />
Tode nicht, sondern mauerten ihn über dem<br />
Erdboden in der Kirche ein, um den Teufel zu<br />
Der Drache Graoully- das Wappentier von Metz<br />
überlisten, der seinen Leichnam und seine<br />
Seele nach der Bestattung in der Erde für sich<br />
gefordert hatte. Dies gelang, wie man aus verlässlichen<br />
Berichten aus dem Jenseits weiß.<br />
Der Teufel lässt sich immer wieder hereinlegen,<br />
wenn er Verträge mit gerissenen Juristen,<br />
Theologen und anderen Schriftgelehrten<br />
macht. Der Architekt ist im Himmel, der Teufel<br />
noch heute beleidigt, weil man ihn wieder<br />
einmal überlistet hat.<br />
Mit 123 Meter Länge übertrifft die Kirche<br />
die 120 Meter von Notre Dame in Paris zwar,<br />
aber steht trotzdem, was die Berühmtheit angeht,<br />
in ihrem Schatten. Zwei Türme wären<br />
für eine größere Bekanntheit nützlich oder<br />
wenigstens einer wie in Strassburg, aber sie hat<br />
eben leider gar keinen markanten.<br />
Eine weitere Kuriosität dieser Kirche ist ein<br />
neugotischer Vorbau an der Westfassade, den<br />
man kaum als ein Werk von 1903 erkennen<br />
kann. Leider ist der kleine Vorraum immer<br />
durch ein Gitter abgesperrt - der Haupteingang<br />
befindet sich ungewöhnlicherweise an<br />
der Südfront. So kann man die etwa lebensgroße<br />
Statue des Hg. Daniel mit den Zügen<br />
Kaiser Wilhelms nicht sehen Deshalb kann<br />
man auch nicht überprüfen, ob es stimmt,<br />
dass in der Zeit, als Metz wieder einmal für<br />
wenige Jahre deutsch war, im 2. <strong>Welt</strong>krieg,<br />
ihm die deutschen Besatzer den typischen,<br />
steinernen Schnurrbart - Es ist erreicht - wegmeißelten.<br />
Man muss dem Reiseführer glauben,<br />
auch wenn man nicht recht versteht, warum<br />
das geschah.<br />
Der Dichter der Stadt<br />
Aber neben dem deutschen Kaiser gab es in<br />
Metz auch wichtige Persönlichkeiten. Der berühmteste<br />
Sohn der Stadt ist der heute hochverehrte<br />
und zu Lebzeiten 1844 - 1896 verachtete<br />
Dichter Paul Verlaine. Verachtet war<br />
er, weil er schon bevor er 30 Jahre alt war, sein<br />
kleinbürgerliches Leben ruiniert, seine junge<br />
Familie verlassen hatte und mit dem jungen<br />
Dichter Arthur Rimbaud ein Vagabundenund<br />
Boheme-Leben in Nordfrankreich, Belgien<br />
und England führte.<br />
Als er auf Rimbaud im Streit mit der Pistole<br />
geschossen hatte, landete er im Gefängnis und<br />
verbrachte den Rest seines Lebens hauptsächlich<br />
in zwielichtigen Kneipen, Bordellen und<br />
Krankenhäusern. Sein Dichterkollege Rimbaud<br />
gab schon 1874 im Alter von nur 20 Jahren<br />
die Literatur auf, wurde Waffenhändler in<br />
Arabien und erfuhr nie, dass sein alter Freund<br />
ihn zu einem berühmten Mann gemacht hatte.<br />
Aber auch Verlaine selbst, der die Stadt<br />
Metz seit seiner Kindheit nie wiedergesehen<br />
hatte, starb zwar als inzwischen bewunderter<br />
Dichter, aber einsam und elend.<br />
Sein äußerst schäbiges Geburtshaus in Metz<br />
in der Rue Haute-Pierre N° 2 mit einer ebenfalls<br />
recht schäbigen Gedenktafel steht noch<br />
und ist kurioserweise kaum einen Pistolenschuss<br />
von örtlichen Justizpalast entfernt. Touristen<br />
sieht man vor dem Gebäude keine.<br />
Metz - angenehm und unbekannt<br />
Um noch einmal auf den deutschen Kaiser<br />
zurückzukommen: Wie die Elsässer haben<br />
sich auch die Lothringer einige deutsche Gesetze<br />
erhalten, die es sonst in Frankreich nicht<br />
gibt. So haben sie wie in Preußen und in ganz<br />
Deutschland zwei Feiertage mehr als das restliche<br />
Frankreich: den Karfreitag und den zweiten<br />
Weihnachtsfeiertag. Auch einige andere<br />
Regelungen stammen noch aus der Zeit, als<br />
Lothringen deutsch war. Bischöfe werden vom<br />
Präsidenten ernannt, was in einem Land wie<br />
Frankreich mit strenger Trennung von Kirche<br />
und Staat sehr ungewöhnlich ist. Und: Geistliche<br />
sind staatliche Angestellte, und zwar Priester<br />
und Pfarrer und Rabbiner.<br />
Was dazu der geschwätzige örtliche Drache<br />
Graouilly - einst der Schrecken der Stadt - vor<br />
seinem Tode im Fluss wohl gesagt hätte? Vielleicht<br />
wäre es ihm ja doch noch gelungen, den<br />
Füg. Klemens zu überreden, in einem Restaurant<br />
mit Terrasse über dem Fluss Platz zu<br />
nehmen? Aber was bestellen Drachen in französischen<br />
Lokalen? Wovon ernähren sie sich<br />
überhaupt? Das ist ein wenig erforschtes historisches<br />
Gebiet. Vom Immer-nur-Feuer-Speien<br />
wird doch niemand satt, ein Drache schon gar<br />
nicht.<br />
Im Winter kann die alte Stadt Metz im<br />
Gegensatz etwa zu Venedig oder Paris leicht<br />
den Eindruck erwecken, touristenfrei zu sein,<br />
aber im Sommer wird man schon einige Gruppen<br />
von Bustouristen treffen. Möglicherweise<br />
schaffen es sogar einige mit der Deutschen<br />
Bahn (siehe oben!) hierher, aber die Stadt<br />
ist eher eine von Tagesausflüglern in Bussen<br />
bevorzugte.<br />
Verborgene Geschichte und<br />
beginnende Moderne<br />
Von der bewegten Geschichte der Stadt bekommt<br />
man auf einem Tagesausflug nicht sehr<br />
viel mit. Die Stadt gibt sich eher unauffällig,<br />
auch wenn sie einmal eine der größten Festungen<br />
Europas war. Von den alten Befestigungen<br />
aus dem Mittelalter sind kaum mehr als ein<br />
Turm und zwei Stadttore geblieben, während<br />
die gewaltigen Festungsanlagen aus der Zeit<br />
von König Ludwig XIV. bis Kaiser Wilhelm<br />
außerhalb der eigentlichen Stadt liegen und<br />
zum nicht geringen Teil in hübsche Parks verwandelt<br />
sind.<br />
Auch das Ensemble von Museen, genannt<br />
„Musees de la Cour d‘Or“, kann man außen<br />
leicht übersehen, obwohl es von der Kathedrale<br />
und dem Touristenzentrum nur wenige Meter<br />
entfernt steht. Der schmale Eingang direkt<br />
neben einer durchschnittlichen Barockkirche<br />
fällt einem Fremden schwerlich auf. Dabei<br />
trifft man im Innern auf ein weitläufiges Labyrinth<br />
verschiedener Paläste aus unterschiedlichen<br />
Jahrhunderten auf verwirrend vielen<br />
Ebenen mit den disparatesten Ausstellungsstücken:<br />
römische und mittelalterliche Skulpturen,<br />
Gemälde aus Renaissance und Barock,<br />
Handwerk, Kunstgewerbe, Volkskunst, Prähistorie<br />
aus gallischer und keltischer Zeit. Alles<br />
ist professionell präsentiert, jeder Besucher<br />
bekommt einen detaillierten Übersichtsplan<br />
- und trotzdem wird jeder Besucher irgendwann<br />
einmal die Übersicht kurzzeitig verlieren<br />
in den verschiedenen, verschachtelten alten<br />
Häusern mit ihren Dutzenden von Sälen und<br />
Zimmern. Bei unserem Besuch im November<br />
belief sich die Anzahl aller Besucher an einem<br />
Vormittag auf insgesamt vier. Von einem Gedränge<br />
kann also trotz wirklich interessanter<br />
Ausstellungsstücke nicht die Rede sein.<br />
Moderne Kunst kann der Interessierte in<br />
der im Jahre 2010 eröffneten Dependance<br />
des Centre Pompidou in Paris besichtigen.<br />
Die Architektur des Komplexes von Shigeru<br />
Ban aus Japan und Jean de Gastines wird zu<br />
Recht „gewagt“ genannt und wirkt ähnlich<br />
überraschend wie vor 30 Jahren die des Mutterhauses<br />
der modernen Kunst in Frankreich<br />
am Rande des 4. Arondissements. Der Metzer<br />
Aussenposten wird seine Rolle mit Ausstellungen<br />
und Veranstaltungen noch finden müssen.<br />
Aber in einer prinzipiell so traditionellen Stadt<br />
wie Metz ist er auf jeden Fall ein höchst ungewöhnliches<br />
Gebäude. Man hat es auch nicht<br />
mitten in die Altstadt platziert wie in Paris, was<br />
damals neben dem revolutionären Baukonzept<br />
auch Absicht war, sondern etwas außerhalb<br />
der eigentlichen Altstadt gebaut, wo es für sich<br />
allein wirken muss und kann.<br />
Vergessen wir nicht: Die Mirabellen!<br />
Man kann von Metz berichten und die Kathedrale<br />
ignorieren, die Museen, die Befestigungen,<br />
den legendären Drachen Graouilly,<br />
aber was unverzichtbar ist, auch wenn es hier<br />
erst ganz am Schluss kommt, das sind die<br />
Mirabellen.<br />
In keinem anderen Gebiet der <strong>Welt</strong> wachsen<br />
so viele Mirabellen, und nirgendwo verwendet<br />
man sie so vielfältig. Zunächst natürlich<br />
für den berühmten Lothringer Mirabellenschnaps,<br />
dann auch für Likör, für Desserts<br />
und für köstliche Kuchen und Torten. Aber<br />
auch an Vorspeisen und sogar an manchen<br />
Hauptspeisen mag man nicht darauf verzichten<br />
-und wer Mirabellen nicht in irgendeiner<br />
Form wenigstens probiert hat, der war überhaupt<br />
nicht wirklich in Metz!<br />
Martin Fischer<br />
(Foto: dragonflyteam.unblog.fr)