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Nr. 62 - Soziale Welt

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Japan- Straßenzeitung<br />

unterstützt obdachlose<br />

Verkäufer<br />

Seite 2<br />

Unabhängige Frankfurter Straßenzeitung <strong>Nr</strong>. <strong>62</strong> Euro 1,80<br />

M i t g l i e d i m “ I n t e r n a t i o n a l Ne t w o r k o f S t r e e t Pa p e r s”<br />

Von der Leyen´s Kindereien<br />

Augenzeugenberichte<br />

aus Fukushima<br />

Seite 4<br />

Der Lisbeth-Treff<br />

im Frankfurter Gallus<br />

Seite 8<br />

Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes<br />

war ganz klar: ALG II, vulgo Hartz IV, Regelsätze<br />

an den tatsächlichen Bedarf anpassen und<br />

endlich eine nachvollziehbare Regelung für<br />

die Kinder in ALG II Haushalten festzulegen.<br />

Das ist nicht geschehen, der nächste Gang zum<br />

obersten Gericht steht bevor.<br />

Statt dessen wurde im zuständigen Bundesministerium<br />

unter der Leitung von Frau von der Leyen<br />

solange hin- und hergerechnet, bis die vorab<br />

beschlossene „Erhöhung“ von 5 € herausgekommen<br />

ist. Statt klarer Regelungen für die Kinder<br />

reitet Frau von der Leyen ihr Steckenpferd in<br />

Form des „Bildungspakets“ – Leistungen für<br />

Schulmaterial, Schulessen, Sport- Kultur- und<br />

Musikangeboten am Nachmittag, die in nicht<br />

nachvollziehbarer Weise übernommen werden<br />

sollen. In Höhe von 10 € pro Monat.<br />

Löblich, nicht ausreichend, nicht zielführend<br />

und vor allen Dingen nicht zu vermitteln. In<br />

Berlin z.B. haben erst 3 von 100 Berechtigten<br />

die Formulare für die Geltendmachung ihres<br />

Anspruches eingereicht. Bundesweit sind es weniger<br />

als 10%. CDU-Rambo Frank Steffel aus<br />

Berlin tönt: „Gutscheine lassen sich eben nicht<br />

verrauchen und versaufen.“ Frau von der Leyen<br />

will nun eine Werbeoffensive nachschieben,<br />

denn es geht um 2,5 Mio. betroffene Kinder.<br />

Aber am prinzipiell verfehlten Verfahren soll<br />

nichts geändert werden. Dafür wurde sogar ein<br />

runder Tisch nach Berlin einberufen. Einige<br />

Teilnehmer fühlen sich getäuscht: Es ging gar<br />

nicht um Hartz IV, sondern ausschließlich um<br />

eine Fristverlängerung bis zum 30.06, um einigermaßen<br />

anständige Zahlen für ein vom Grunde<br />

auf verfehltes Paket durchzubringen.<br />

Man muss schon weitab von Praxis und Bildung<br />

sein wie die zuständige Ministerin, um<br />

Musikunterricht oder Mitgliedschaft in einem<br />

Sportverein mit dem heute notwendigen Bildungsbedarf<br />

der Kinder zu verwechseln. Sogar<br />

Bayerns Sozialministerin Haderthauer (CSU)<br />

rügt: „Das Paket hat klare Defizite“. Sie meint:<br />

„Teilhabe ist doch mehr als ein Vereinsbeitrag“.<br />

Die bayerische Sozialministerin meint, man<br />

solle Geld auszahlen und überprüfen lassen, ob<br />

die 10 € pro Monat oder im Gesamten für die<br />

kulturellen Interessen der Kinder ausgegeben<br />

worden sind. Richtig, Frau Halerthauer: Kinder<br />

kaufen sich lieber ein Musikinstrument, Farben<br />

zum Malen, Ausrüstungen für eine nicht organisierte<br />

Sportart oder – Gott helfe Frau von der<br />

Leyen – gar Bücher, aus denen man zumindest<br />

lernen kann, wie man weiter recherchiert und<br />

andere Meinungen finden lernt. Das vorliegende<br />

Modell ist schlicht und einfach wegen mangelnder<br />

Praktikabilität nicht attraktiv und wird<br />

deshalb nicht angenommen. Der Präsident des<br />

Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, forderte<br />

eine deutliche Vereinfachung der Hilfen –<br />

sprich der Beantragungsformulare. So wird das<br />

nichts, weder zu Ostern noch zum 30.06.<br />

Wie oft muss einer Bundesministerin vom<br />

Bundesverfassungsgericht fachliche Inkompetenz<br />

bescheinigt werden, bis sie zurücktritt?<br />

Wir werden es erleben.<br />

RS<br />

(Fotos: Badische Zeitung)<br />

CD des Monats<br />

Serum 114<br />

Frankfurter Punk-Rock<br />

Seite 9<br />

Künstler des Monats<br />

Man Ray<br />

Seite 14<br />

Studie in Doppelzüngigkeit<br />

Ai Weiwei, weltweit bekannter chinesischer<br />

Künstler mit besonderen Beziehungen zu<br />

Deutschland, ist am 3 April verhaftet und verschleppt<br />

worden. Das ist nicht das erste Mal, das<br />

sich das chinesische Regime gegen ihn wendet,<br />

denn der Künstler ist, ebenso international wie<br />

auch im Lande selbst, als scharfer Regimekritiker<br />

bekannt. Ai, geboren 1957, ist der Sohn des<br />

Dichters Ai Quing (+1996), der während der<br />

Kulturrevolution verfolgt und mit einer 20-jährigen<br />

Verbannung in die Mandschurei und Xinjiang<br />

belegt wurde. Schon Ai Quing musste leiden<br />

unter einem Regime, das künstlerische Freiheit<br />

nicht akzeptiert und Kultur nur unter staatlicher<br />

Leitung duldet. Sein Sohn hatte ebenfalls<br />

zu leiden – Reiseverbote, Verhaftungen, seine<br />

Arbeitsstätten wurden mehrfach willkürlich abgerissen.<br />

Trotzdem machte er Kulturgeschichte:<br />

1979 gründete er mit anderen die Stars Group,<br />

die eine staatliche Leitlinie ablehnte, 1994 eine<br />

Galerie für experimentelle Kunst in Peking. International<br />

ist er 2007 durch eine Installation<br />

auf der documenta in Kassel und seiner Mitarbeit<br />

am Nationalstadion zur Olympiade in Peking<br />

bekannt geworden – dem Vogelnest. Seine<br />

Kritik an der Megalomanie der Olympiade ist<br />

Teil seiner politischen Haltung: „Die Regierung,<br />

das gesamte System(…) opfert Bildung, Umweltressourcen<br />

und die Interessen der meisten<br />

Menschen, nur damit einige wenige Menschen<br />

mit Verbindung zur Regierung extrem reich<br />

werden können.“ Er bezieht sich damit direkt<br />

auf die chinesische Geschichte, wie auch oft<br />

in seinen Werken Antiquitäten und Zitate der<br />

alten Kunst verwendet werden. Damit trifft er<br />

Ai Weiwei 2007 auf der documenta 12<br />

den Nerv der Machthaber: Demokratie gab es in<br />

China nie, aber jeder Umsturz wurde durch eine<br />

Bauernrevolte ausgelöst, wenn der Abstand vom<br />

Regime und den damit eng verbundenen Reichen<br />

zu den Bauern und Lohnarbeitern zu groß<br />

geworden war. Für die nächsten drei Jahre sollte<br />

er als Gastprofessor an der Universität der Künste<br />

in Berlin wirken – wenn er denn frei wäre.<br />

Deutschlands Politiker aller Couleurs schäumen,<br />

solange das weitab vom Schuss vor der<br />

deutschen Presse stattfinden kann. In China will<br />

man dagegen die Zusammenarbeit vertiefen und<br />

wirtschaftliche Chancen nutzen, was immer das<br />

Regime auch anstellen mag. Guido Westerwelle,<br />

der Außenminister, erklärt, dass er erwarte,<br />

dass Ai WeiWei umgehend freigelassen werde.<br />

Dabei hatte er noch kurz zuvor eine Ausstellung<br />

„Kunst der Aufklärung“ in Peking eröffnet<br />

– ausgerechnet am Platz des Himmlischen<br />

Friedens, wo 1989 die Protestbewegung mit<br />

Panzern niedergewalzt wurde.<br />

CDU-Fraktionschef Kauder will sich in Peking<br />

für Ai WeiWei ausgesprochen haben – bislang<br />

erfolgs- und wirkungslos. Worauf es ihm<br />

wirklich ankommt, hat er auch gesagt: „(Wir)<br />

konnten uns davon überzeugen, dass sich die<br />

Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern<br />

weiter rasant entwickeln.“ Die deutsche<br />

Automobilwirtschaft präsentiert sich pompös<br />

auf der Automobilausstellung in Shanghai –<br />

Profit statt Protest.<br />

Dagegen kann man was tun. Nicht wirkungslos<br />

mit Schweige- und Sitzdemonstrationen,<br />

sondern direkt bei den Maulhelden<br />

der deutschen Politik. Schreibt die Abgeordneten<br />

und Spitzenpolitiker an, überflutet ihre<br />

E-Mail-Adressen, blockiert ihre Twitter mit<br />

Protesten! Befreit Ai WeiWei mit den Mitteln<br />

der Informationsgesellschaft und der „elektronischen<br />

Kriegsführung“!<br />

RS<br />

(Foto: wikipedia)<br />

Seite 4 - Augenzeugen berichten aus Fukushima!


2<br />

P O L I T I K<br />

Nichts wird mehr so sein wie es war<br />

Nach dem Erdbeben der Stärke 9 in Japan<br />

und den massiven Zerstörungen sind die<br />

Armen und Obdachlosen seit Mitte März<br />

zurück auf Tokios Straßen und verkaufen<br />

„The Big Issue Japan“<br />

Gleichzeitig kämpfen im Norden des Landes<br />

Tausende ums Überleben. „Big Issue“-<br />

Geschäftsführerin Miku Sano berichtet über<br />

THE BIG ISSUE JAPAN 29.03.2011<br />

Sendais, sah ich viele Menschen die anstanden,<br />

um ein paar halb verfaulte Orangen und<br />

eine Banane zu bekommen. An die Tausend<br />

Leichen liegen unbeaufsichtigt in einer Schule,<br />

und es gibt keine Informationen über die<br />

vielen ungezählten Toten. Wir werden ab 11<br />

Uhr allen Menschen ohne Obdach Curryreis<br />

anbieten. Die Zahl der Todesopfer.<br />

verseucht werden. Tausende Menschen schlafen<br />

in Grundschulen, Rathäusern und öffentlichen<br />

Einrichtungen. Ich werde mein Bestes<br />

geben, um auch morgen wieder Essen anbieten<br />

zu können. Obwohl ich fürchte, dass wir<br />

dann nichts mehr haben werden.<br />

Pyrrhussieg<br />

In SPD-Kreisen wird gejubelt. Zwei Landtagswahlen<br />

scheinen zu zeigen, dass Rot/<br />

Grün als politische Alternative wieder möglich<br />

ist. Nach Hamburg feiert man den dritten<br />

Sieg.<br />

„Noch so ein Sieg und wir sind verloren“.<br />

Diese Äußerung schreibt man den antiken<br />

König Pyrrhus zu, dessen Siege gegen die<br />

Römer so verlustreich waren, dass er es damit<br />

in die Geschichte geschafft hat. Und<br />

genau so täuschend sind die Wahlerfolge in<br />

Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg.<br />

Der Weg führt statt zu Rot/Grün zu<br />

Grün/Rot. In Baden-Württemberg wird das<br />

Fakt, Kurt Beck in Rheinland-Pfalz hat als<br />

Partei heftig verloren und ist mehr denn je<br />

auf grüne Schützenhilfe angewiesen. Auch<br />

unter Gabriel ist die SPD weiter eine Partei<br />

mit Projekt 18 – von der Volkspartei zum<br />

Mehrheitsbeschaffer für Andere.<br />

Grün hat vom Atomunfall in Japan<br />

profitiert. Das ist verständlich, weil Grün<br />

in Sachen Atom als einzige Partei keinen<br />

Wackelkurs gefahren hat. Schwarz hat den<br />

so genannten Atomausstieg mitgestaltet.<br />

Rot ist nur zu gerne bereit, sich den Kurs<br />

in Restlaufzeiten gegen andere Zugeständnisse<br />

abhandeln zu lassen. Die FDP schlägt<br />

Kobolz zwischen der Technikförderung für<br />

neue Atomkraftwerke und beschleunigtem<br />

Abschalten, auch wenns teuer kommt. Nur<br />

Grün fährt einen klaren Kurs: Umweltzerstörung<br />

durch Windenergieanlagen als allein<br />

selig machende Lösung statt Energiemix<br />

aus alter und neuer, noch zu entwickelnder<br />

Technologie.<br />

die Situation in Sendai, Vertriebschef Aoki<br />

San gibt Einblick in sein „Tagebuch der<br />

Zerstörung“.<br />

In Sendai, der Hauptstadt von Miyagi,<br />

und der vom Erdbeben am schlimmsten<br />

betroffenen Region, sind alle Verkäufer am<br />

Leben. Die Zerstörung der Infrastruktur bedeutet<br />

allerdings, dass in den ganzen Norden<br />

keine Magazine geliefert werden konnten.<br />

Miku Sano, Geschäftsführerin des Big Issue-Büros<br />

Tokio, sagt: „In Sendai haben zwar<br />

alle Verkäufer überlebt, aber sie wissen nicht,<br />

wann sie wieder etwas verdienen können. Alle<br />

Menschen im Norden des Landes kämpfen<br />

ums Überleben und darum, jene zu finden,<br />

die sie lieben. Wir versuchen alles, um ihnen<br />

zu helfen. Nichts wird mehr so sein wie es war,<br />

aber wir sind nicht besiegt.“<br />

Auch das Fußballtraining und damit ein<br />

Stück Normalität soll rasch wieder beginnen.<br />

„Alle Spiele wurden abgesagt, aber unsere Verkäufer<br />

möchten wieder spielen, um sich besser<br />

zu fühlen.“<br />

Big Issue Japan arbeitet mit der „Sendai<br />

Nachtpatrouille“ zusammen, um den Obdachlosen<br />

zu helfen. Unsere Mitarbeiter haben seit<br />

dem 11. März unermüdlich kostenloses Essen<br />

an jeden gegeben, der im Freien übernachten<br />

muss. Auszüge aus dem „Tagebuch der Zerstörung“<br />

von Aoki San, Chef der Patrouille und<br />

des Big Issue-Vertriebs in Sendai:<br />

14. März<br />

Wasser und Elektrizität sind in einigen Gegenden<br />

wieder vorhanden. Aber es wird noch<br />

mindestens einen Monat dauern, bis die Gasleitungen<br />

wieder funktionieren. In Wakabayashi,<br />

dem am schlimmsten zerstörten Viertel<br />

Miku Sana mit einem Straßenverkäufer in strahlender Umgebung<br />

15. März<br />

Straßen, Flugzeuge und Züge dürfen nur<br />

von Rettungsdiensten benutzt werden, uns<br />

bleibt nur der düstere Ausblick auf wenig Essen.<br />

Mehr als 1000 Leute sind an einem Bus<br />

Schlange gestanden. Ich habe mich in eine<br />

Schlange vor dem Daiei Supermarkt gestellt,<br />

aber eine halbe Stunde nach der Öffnung<br />

sind die Grundnahrungsmittel alle ausverkauft.<br />

Gasflaschen, Nudeln, Dosen, Batterien,<br />

Reis - alles ist knapp.<br />

Die öffentliche Verwaltung ist komplett<br />

gelähmt. Das Rathaus hat heute einen Informationsschalter<br />

eröffnet. Vier Tage nach dem<br />

Erdbeben. Die Krankenhäuser können immer<br />

nur abhängig von der Stromversorgung<br />

Hilfe leisten. Ohne batteriebetriebenes Radio<br />

hat man keinerlei Informationen. Viele<br />

Bewohner wissen nichts über den Unfall im<br />

Atomkraftwerk Fukushima. Die Menschen<br />

sind „Informations-Flüchtlinge“. Lokale Radiosender<br />

helfen, vermisste Angehörige zu<br />

finden. Starke Nachbeben um 3 Uhr und 4<br />

Uhr morgens.<br />

16. März<br />

Der Tag hat mit Regen begonnen. Das Lokalradio<br />

hat über unser Essensangebot im Rathaus<br />

von Wakabayashi informiert, also haben<br />

wir an die 1000 Portionen vorbereitet. Mittags<br />

haben wir Curry, Misosuppe und Reis<br />

für über 800 Menschen ausgegeben, nach<br />

kürzester Zeit war alles weg. Einige Menschen<br />

hatten seit drei Tagen nichts gegessen<br />

und warteten im Regen auf eine Mahlzeit.<br />

Ich mache mir Sorgen, weil wir nichts<br />

darüber erfahren, was im Atomkraftwerk<br />

geschieht. Wir haben Nordwind, ich befürchte,<br />

die Kanto-Region könnte radioaktiv<br />

Nachtrag von Miku Sano am 21. März<br />

Wir haben dieses Wochenende ein Fußballtraining<br />

mit Verkäufern organisiert. Auch<br />

viele Freiwillige haben mitgemacht (Bilder<br />

dazu im Japan Blog von Big Issue: http://<br />

ameblo.jp/one-goal-one-step). Den meisten<br />

unserer Straßenverkäufer geht es ganz okay,<br />

aber diejenigen in den am meisten zerstörten<br />

Gebieten sehen sich gewaltigen Herausforderungen<br />

gegenüber.<br />

Zuerst waren viele von uns überrascht, wie<br />

stark und unberührt die meisten Verkäufer<br />

wirken. Aber wenn man bedenkt, dass viele<br />

unserer Verkäufer immer draußen schlafen,<br />

dann bedeutet das, dass diese Situation, die<br />

wir als Notstand und Katastrophe empfinden,<br />

für sie das tägliche Leben ist.<br />

Ich hoffe, dass uns diese Krise zusammenbringt<br />

und uns die Chance gibt, mehr an die<br />

Menschen zu denken, die unter solch harten<br />

Bedingungen leben müssen. Nicht nur nach<br />

einem Erdbeben, sondern jeden Tag.<br />

In der Zwischenzeit ist die letzte Ausgabe<br />

des Big Issue in Sapporo angekommen. Hokkaido<br />

hinkt fünf Tage hinter dem Plan her.<br />

Wir erleben weiterhin jeden Tag Erdbeben<br />

der Stärke 5 bis 6 in den Küstenregionen um<br />

Tokio und im Norden.<br />

Strom und Gas sind in Tokio und im Norden<br />

knapp. Die Menschen in Tokio haben<br />

Panikkäufe getätigt, aber das lässt so langsam<br />

nach. Die Dinge sind weiterhin sehr<br />

ungewiss, aber jeder versucht den anderen zu<br />

helfen.<br />

www.streetnewsservice.org<br />

Hier wird Politik auf ein einziges Thema<br />

konzentriert. Das ist für eine einzige Wahl<br />

vielleicht zulässig, aber auch in diesem Zusammenhang<br />

nicht zielführend. Man kann<br />

die Politik eines der wichtigsten Industrieländer<br />

nicht auf den Atomausstieg alleine<br />

reduzieren. Denn wenn in anderen Staaten<br />

der <strong>Welt</strong> noch Energieerzeugung per<br />

Atomkraft betrieben wird, in Deutschland<br />

aber gar nicht mehr, werden wir auch im<br />

Störungsfall nicht mehr helfen können.<br />

Und uns möglicherweise sogar nicht einmal<br />

mehr, so hilflos alle Maßnahmen auch sein<br />

mögen, unsere eigene Bevölkerung schützen<br />

können. Japan mag weit weg sein, aber<br />

es gibt aktive und ähnlich veraltete Meiler<br />

in naher Distanz zur Grenze, in Frankreich.<br />

Deutschland liegt voll in der vorherrschenden<br />

Windrichtung. Logischerweise müssten<br />

wir die französischen Atomkraftwerke abschalten<br />

statt unsere. Das geht nicht.<br />

Es ist nichts Schlimmes daran, wenn<br />

eine Regierung in der Bundesrepublik die<br />

Mehrheit im Bundesrat verliert. Umso sorgfältiger<br />

muss Politik vorbereitet und konsequenter<br />

durchdacht werden. Es ist aber<br />

schlimm, wenn man über eine Katastrophe<br />

den Kopf verliert. Und vorschnell Entscheidungen<br />

trifft, die man später wieder korrigieren<br />

muss.<br />

Bis zur nächsten Bundestagswahl, die<br />

als einzige Wahl letztendlich über die politische<br />

Ausrichtung für zumindest eine<br />

Wahlperiode entscheidet, ist noch Zeit. Bis<br />

dahin wird noch Einiges passieren. Zumindest<br />

wird man die Rechnung präsentiert bekommen:<br />

höhere Strompreise, Bauprojekte<br />

für neue Anlagen, die garantiert auf lokale<br />

Proteste stoßen, die alle Zeitpläne über den<br />

Haufen werfen. Höhere Kosten für Öl und<br />

Erdgas, die die nun vorliegenden Kalkulationen<br />

ad absurdum führen werden. Und so<br />

weiter. Bleiben wir wachsam.<br />

RS


NACHRICHTEN 3<br />

Der Krieg, den der Westen nicht wollte<br />

Barack Obama wollte ihn nicht, David<br />

Cameron brauchte ihn nicht, Angela Merkel<br />

war ihm nicht gewachsen und Silvio Berlusconi<br />

fürchtete ihn. Lediglich Nicolas Sarkozy<br />

betrachtete den Volksaufstand, der in Libyen<br />

am 15. Februar begann, als eine Möglichkeit<br />

zur politischen und diplomatischen Erlösung.<br />

Ob aber die energische Leitung einer<br />

internationalen Koalition, die das libysche<br />

Volk vor Muammar Gaddafi beschützen<br />

soll, reichen wird, um die schwindende Unterstützung<br />

für den Präsidenten Frankreichs<br />

im eigenen Land rechtzeitig zu den Wahlen<br />

im nächsten Jahr wiederzubeleben, ist sehr<br />

unsicher. Durch die Forderung nach Militärschlägen<br />

hofft er, den Ruf Frankreichs<br />

in der arabischen <strong>Welt</strong> wiederherzustellen.<br />

Doch der Weg zur Militärintervention ist<br />

gepflastert mit gegenseitigem Misstrauen,<br />

die Furcht vor einem weiteren Endloseinsatz<br />

in einem muslimischen Land, Zweifel<br />

über die Stärke und Zusammensetzung der<br />

libyschen Opposition. Der Ausbruch demokratischer<br />

Aufstände hat Frankreich auf dem<br />

falschen Fuß erwischt. Die damalige Außenministerin<br />

Michele Alliot-Marie hatte einen<br />

Winterurlaub in Tunesien verbracht und gar<br />

französische Unterstützung bei der Kontrolle<br />

des Aufstands öffentlich angeboten, wenige<br />

Tage, bevor Präsident Ben Ali gestürzt wurde.<br />

Mehr noch: Premierminister Francois Fillon<br />

hatte als Gast von Ägyptens Präsident Hosni<br />

Mubarak den Weihnachtsurlaub auf dem Nil<br />

verbracht. Als Schadensminderung hat Sarkozy<br />

am 27 Februar die Außenministerin gefeuert<br />

und Alain Juppe berufen. Noch sind<br />

die Würfel in Libyen nicht gefallen, aber einige<br />

politische Verlierer sind schon sicher. Nur<br />

wenn die Kämpfe in einem Desaster enden,<br />

werden Deutschland, die Kanzlerin und insbesondere<br />

der Außenminister nicht als Verlierer<br />

dastehen. Der zweite Verlierer ist der<br />

Versuch der EU, eine gemeinsame Außenpolitik,<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

zu begründen. Verlierer ist hier insbesondere<br />

Kommissarin Catherine Ashton. Was Sarkozy<br />

angeht, wird sich noch herausstellen, ob<br />

er als Held oder rücksichtsloser Abenteuer als<br />

dem Libyenkonflikt hervorgeht. Justin Vaisse,<br />

ein Franzose, der am Brookings Institute<br />

in Washington das Zentrum für Studien<br />

der Vereinigten Staaten und Europas leitet,<br />

hat einen Unterton von „Frankophobie und<br />

Sarkozyphobie“ in den US-Eliten festgestellt.<br />

„Entweder der Krieg verläuft gut und er wird<br />

als weitsichtiger, entschiedener Staatsmann<br />

dastehen, oder der Krieg verläuft schlecht<br />

und das wird sein Image als großsprecherischer<br />

Cowboy verstärken, der die <strong>Welt</strong> in den<br />

Krieg treibt.“ Die Jury tagt noch.<br />

(Quelle: Paul Taylor, Reuters)<br />

Klimawandel betrifft vor allem Städte<br />

in den Entwicklungsländern<br />

Viele der am schnellsten wachsenden Städte<br />

leiden überproportional unter den Auswirkungen<br />

des Klimawandels, vor allem wenn<br />

sie in den Entwicklungsländern liegen, wie<br />

eine neue Studie zeigt. Laut der Studie, die<br />

im Journal „Current Opinion in Environmental<br />

Sustainability and European Planning<br />

Studies“ („Aktuelle Meinungen zu ökologischer<br />

Nachhaltigkeit und Europäischen Planungswissenschaften“)<br />

erscheinen wird, unternehmen<br />

nur wenige urbane Regionen die<br />

nötigen Schritte, um ihre Einwohner - immerhin<br />

Milliarden von Menschen auf der ganzen<br />

<strong>Welt</strong> - vor wahrscheinlichen Ereignissen wie<br />

Hitzewellen und dem steigenden Meeresspiegel<br />

zu schützen. Die Studie zeigt außerdem, dass sie<br />

es auch nicht schaffen, den Ausstoß der klimaschädlichen<br />

Treibhausgase zu verringern.<br />

Besonders in den Städten können lange<br />

Hitzeperioden die Luftverschmutzung<br />

verstärken und damit Gesundheitsprobleme<br />

hervorrufen. Ärmere Stadtviertel ohne<br />

verlässliche Entsorgung, Wasserversorgung<br />

oder Straßen sind besonders gefährdet, sagt<br />

Romero Lanko vom U.S. National Center<br />

for Atmosperic Research. Die Zahl der Stadtbewohner<br />

hat sich seit 1950 vervierfacht,<br />

und 2020 werden mehr als 500 Städte eine<br />

Million Bewohner oder mehr habe., sagt die<br />

Studie. Aber die Stadtväter sind meist nicht<br />

bereit, die Städte für künftige Naturereignisse<br />

vorzubereiten, insbesondere Massentransportsysteme,<br />

die den Treibhauseffekt<br />

vermindern. „Städte können enormen Einfluss<br />

auf die Emissionen haben, wenn sie<br />

sich auf Verkehrssystem und effiziente Energieübertragungssysteme<br />

konzentrieren, sagt<br />

Romero Lankao. „Aber die lokalen Führer<br />

stehen unter Druck, mehr Straßen zu bauen<br />

und Regelungen gegen Energieverbrauch zu<br />

erleichtern.“<br />

(Quelle: Laura McInnis, Reuters)<br />

Aufrufe im Radio verhindern<br />

Todesfälle durch Malaria<br />

Wer würde nicht gerne vor dem Schlafengehen<br />

die Stimme einer bekannten Persönlichkeit<br />

hören? Im Senegal kommen Eltern<br />

und Kinder jeden Abend in den Genuss einer<br />

30-sekündigen Radioansage: Diese informiert<br />

sie aber nicht über den neuesten<br />

Klatsch aus der <strong>Welt</strong> der Reichen und Schönen,<br />

sondern erinnert Familien daran, ihre<br />

Moskitonetze anzubringen, bevor sie zu Bett<br />

gehen. Jede Nacht, kurz vor dem Zubettgehen,<br />

tönt die Stimme von Senegals Superstar<br />

Youssou Ndour über die Radiostationen<br />

überall im Land. „Es ist neun Uhr“, singt er<br />

in seinem heimatlichen Wolof. „Bist du und<br />

deine Familie sicher unter dem Moskitonetz<br />

heute Nacht?“<br />

Die Night Watch Campign als erstes interaktives<br />

Medienprojekt wurde im letzten<br />

September von den Gruppen Malaria No<br />

More und Lalela Projekt ins Leben gerufen.<br />

Es knüpft an Vorläufer aus den USA an, wo<br />

Eltern über Radio aufgefordert wurden, in<br />

der Nacht auf ihre Kinder aufzupassen. Auch<br />

die lokale Telefongesellschaft TIGO hat sich<br />

der Kampagne angeschlossen und verschickt<br />

täglich 50.000 Textnachrichten an Menschen<br />

im Senegal mit der Erinnerung an die Moskitonetze.<br />

Denn Malaria bleibt Killer Nummer<br />

Eins für Kinder unter fünf Jahren in Afrika.<br />

Alle 45 Sekunden stirbt ein Kind an dieser<br />

vermeidbaren und behandelbaren Krankheit.<br />

Die Verminderung der Malariatoten um<br />

Smog im morgendlichen Mexico City<br />

zwei Drittel in dieser Altersklasse ist Teil der<br />

Millennium Development Ziels für 2015. Es<br />

muss noch viel Arbeit auf diesem Weg geleistet<br />

werden. Noch in diesem Jahr soll die<br />

Kampagne zusammen mit der Verteilung<br />

von 8,6 Mio. Moskitonetze auf Kamerun<br />

ausgeweitet werden.<br />

(Quelle: Amanda Fortier, Street News Service)<br />

Erste Generalstaatsanwältin im Amt<br />

Frauenmorde als Herausforderung<br />

In Mexiko steht erstmals eine Frau an der Spitze<br />

der Generalstaatsanwaltschaft. Doch die<br />

Freude der Frauenrechtsbewegung im Land<br />

ist angesichts der ausufernden Gewalt verhalten.<br />

Auch die Kaltblütigkeit, mit der Frauenaktivistinnen,<br />

Polizeichefinnen und Mitglieder<br />

ein und derselben Familie hingerichtet<br />

wurden, dämpft den Enthusiasmus. Am 7.<br />

April stimmte der mexikanische Senat der<br />

Ernennung der 41-jährigen Juristin Maricela<br />

Morales zur neuen Generalstaatsanwältin<br />

des lateinamerikanischen Landes zu. Sie bekleidet<br />

nun eines der wichtigsten Ämter der<br />

Regierung des konservativen Staatspräsidenten<br />

Felipe Calderón. Morales wird sich auch<br />

mit fünf Verbrechen auseinander setzen, die<br />

in den letzten vier Monaten selbst die gewaltgewohnte<br />

mexikanische Gesellschaft erschüttert<br />

hat: die Ermordung von zwei Frauenrechtlerinnen,<br />

zwei Polizeichefinnen und<br />

drei weiteren Mitgliedern der Familie der<br />

ebenfalls ermordeten Sozialaktivistin Josefina<br />

Reyes. „Wir Frauen sind keine Kriegsbeute.<br />

Schluss mit den Frauenmorden“, war am 6.<br />

April auf einem Transparent in Mexiko-Stadt<br />

zu lesen. In der mexikanischen Hauptstadt<br />

und zwei Dutzend weiteren Städten fanden<br />

an jenem Tag Demonstrationen gegen die<br />

Gewalt im Lande statt, die seit dem Amtsantritt<br />

von Calderón 2007 und seiner Militarisierung<br />

des Anti-Drogen-Kampfes 35.000<br />

Todesopfer gefordert hat. „Das Land durchlebt<br />

einen kritischen Augenblick, den schwierigsten<br />

seit mindestens 30 Jahren“, meint<br />

Emilienne de León, Leiterin der Frauenorganisation<br />

‚Instituto del Liderazgo Simone de<br />

Beauvoir‘. „Eine solche Situation lässt keinen<br />

Raum mehr für die Fortschritte an der Frauenfront<br />

und für andere wichtigen Themen,<br />

die Rückschläge hinnehmen mussten.“ Die<br />

Militarisierung des Anti-Drogenfeldzugs hat<br />

den Norden Mexikos quasi in ein Kriegsgebiet<br />

verwandelt. Vor allem der Bundesstaat<br />

Chihuahua ist betroffen. Dort liegt auch<br />

Ciudad Juárez, die weltweit verrufene ‚Stadt<br />

der Frauenmorde‘. Hatte das allgemeine<br />

Klima der Gewalt die geschlechtsspezifischen<br />

Übergriffe auf Frauen in dem Bundesstaat in<br />

Vergessenheit geraten lassen, treten sie nun<br />

aufgrund der Brutalität im Umgang mit den<br />

Opfern wieder in den Vordergrund. Ebenfalls<br />

im Oktober wurde die 20-jährige Polizeischülerin<br />

Marisol Valles zur Polizeichefin<br />

des Gemeindebezirks Praxedis im Juárez-Tal<br />

ernannt. Sie war die einzige Kandidatin für<br />

das Amt nach der Ermordung ihres Amtsvorgängers.<br />

Keine sechs Monate später flohen sie<br />

und ihre Familie ins US-amerikanische Exil.<br />

Ende März wurden die Polizeikommissarin<br />

des Bundesstaates Chihuahua, Brenda Carrillo,<br />

und ihre fünfjährige Tochter auf dem<br />

Weg zur Schule erschossen. Unterstützung<br />

bekommen Mexikos Frauen nun von der<br />

neuen Generalstaatsanwältin, die von der<br />

US-amerikanischen Außenministerin Hillary<br />

Clinton für ihre Arbeit als unerschrockene<br />

Ermittlerin gegen das organisierte Verbrechen<br />

den diesjährigen Internationalen Frauen-Tapferkeitspreis<br />

‚entgegengenommen hat.<br />

Für Mexikos Frauenorganisationen ist die<br />

Ernennung von Maricela Morales auch aus<br />

einem anderen Grund ein Schritt nach vorn.<br />

Morales ersetzt Arturo Chávez Chávez, der<br />

nach eineinhalb Jahren von seinem Posten<br />

Amt zurücktrat. Die Frauenbewegung wirft<br />

dem Ex-Generalstaatanwalt vor, die Aufklärung<br />

von Frauenmorden in Chihuahua halbherzig<br />

betrieben zu haben.<br />

(Quelle: Daniela Pastrana, IPS)<br />

Hochzeit auf der Gefängnisinsel<br />

Wenn Verliebte ihre Hochzeit planen, suchen<br />

sie normalerweise lange nach dem richtigen<br />

Ort für ihr Ja-Wort. Der geeignete Platz<br />

dafür soll wunderschön, romantisch und bedeutsam<br />

sein. Daher wird die Wahl von 18<br />

Paaren aus Südafrika einige überraschen: Sie<br />

haben sich als Ort für ihre Trauung Robben<br />

Island ausgesucht, das Gefängnis, in dem<br />

Nelson Mandela 27 Jahre lang gefangen gehalten<br />

wurde. Eines kann man dabei nicht<br />

abstreiten – bedeutsam ist der Ort auf jeden<br />

Fall.<br />

Margret Mgxashe, Regionalmanager von<br />

Home Affair Cape Town, hatte eine brillante<br />

Idee: auf Robben Island eine Massenhochzeit<br />

im chinesischen Stil abzuhalten. Das war<br />

vor 12 Jahren und seit dieser Zeit kommen<br />

Hochzeitspaare nach Robben Island, um<br />

sich dort das Jawort zu geben. „ich dachte,<br />

dass eine Veränderung des Images nötig war,<br />

um das neue Jahrtausend zu feiern“, erklärt<br />

Mgxashe. „Robben Island, früher die Behausung<br />

für inhaftierte politische Gefangene,<br />

unser leidenschaftlichen Anführer, war dafür<br />

Ideal. Warum diesen Platz nicht nutzen, um<br />

die Liebe zu feiern?“<br />

Und es ist nicht einmal teuer. Die Hochzeit,<br />

ein Mittagessen, eine Inseltour und die<br />

Fähre kostet nur 300 Rand, etwa 27 Euro.<br />

Qm Valentinstag dieses Jahres warteten 18<br />

Bräute auf ihre Hochzeit gewartet. „Es handelt<br />

sich um eine Ziviltrauung, somit sind alle<br />

Glaubensbekenntnisse willkommen, auch<br />

homosexuelle Paare. Das Essen ist halaal, falls<br />

nicht besondere diätetische Wünsche vorliegen.<br />

Saskia Schmidt, 28, aus Deutschland<br />

ist eine der glücklichen Bräute von Robben<br />

Island. „All die afrikanischen Gesänge, das<br />

Klatschen, die Liebe, das war perfekt. Es war,<br />

so viel mehr als ich erwartet hatte.“<br />

(Quelle: Lizar van Reenen, Big Issue South Africa)


4<br />

UMWELT<br />

Augenzeugenberichte aus Fukushima<br />

Von Suvendrini Kakuchi<br />

Das Atomunglück in Fukushima hat großes<br />

Echo in Deutschland erzeugt. Presse, Funk<br />

und Fernsehen sind voll von selbst ernannten<br />

Experten und kenntnislosen Politikern,<br />

die ihr eigenes Süppchen an diesem Feuer<br />

kochen wollen. Das ist nicht unsere Aufgabe.<br />

Aber dank des weltweiten Netzes der Straßenzeitungen<br />

können wir unseren Lesern etwas<br />

bieten, was in der hiesigen Berichterstattung<br />

deutlich zu kurz kommt: Augenzeugenberichte<br />

vom Ort des Geschehens.<br />

–Die Redaktion<br />

Meine Entscheidung, nach Fukushima zu<br />

fahren – dem Gebiet, das am schwersten<br />

von dem starken Erdbeben, dem Tsunami<br />

und der Nuklearkatastrophe betroffen ist<br />

– fiel an einem Nachmittag der letzten Woche<br />

nach einem langen Treffen mit Wissenschaftlern.<br />

(Geschrieben 11. April –d.R.)<br />

Die Einladung, Wissenschaftler bei einer<br />

privaten Faktenfindungsmission zu begleiten,<br />

war unwiderstehlich. Die Wissenschaftler<br />

und Ingenieure, die sich an diesem Tag<br />

versammelt haben, hatten für Jahrzehnte<br />

Bedenken hinsichtlich der Reaktorsicherheit<br />

und die Sicherheitsvorkehrungen. Sie sind<br />

aktiv in der Debatte über die Zukunft der<br />

Nuklearenergie in Japan.<br />

„Es besteht zwingender Bedarf für eine<br />

Echtzeitüberwachung der Strahlung in den<br />

Gebieten, die von dem beschädigten Fukushima<br />

Daiichi Atomrektoren betroffen sind“,<br />

sagt Atsuo Suzuki, Leiter der Forschungsgruppe<br />

für Hochenergiebescheunigung an<br />

der Universität Tsukuba. „Hier können wir<br />

unsere Expertisen einbringen.“<br />

Unsere Reise begann um 6 Uhr morgens,<br />

ausgerüstet mit Mineralwasserflaschen, Kleidung,<br />

die vor der Rückkehr nach Tokio vernichtet<br />

werden sollte, und Gesichtsmasken<br />

als Schutz vor Strahlung bei Annäherung an<br />

die 20-Meilen-Sicherheitszone um die beschädigten<br />

Reaktoren.<br />

Wir hatten uns Dosimeter umgehängt,<br />

die etwas wie große Thermometer aussehen.<br />

Diese Messgeräte zeigen in Mikrosieverts die<br />

Strahlenbelastung akkumuliert an. Wir erhielten<br />

Instruktionen, diese Messgeräte immer<br />

bei uns zu tragen und die Steigerung der<br />

Werte zusammen mit dem Ort der Ablesung<br />

aufzuzeichnen.<br />

„Unsere eigene Dokumentation des radioaktiven<br />

Materials ist der Schlüssel dafür, das<br />

Unglück in Fukushima zu verstehen“, erklärt<br />

Yoichi Tao, ein Physiker mit Spezialisierung<br />

in Risk Management im Ruhestand. Er ist<br />

Absolvent der Universität von Tokio. Aber<br />

Tao ist kein Mitglied der engen Gruppe von<br />

Experten, die die ambitionierten Pläne für<br />

die Nuklearindustrie in Japan geleitet haben.<br />

Tao selbst hat im Alter von sechs Jahren die<br />

Atombombe auf Hiroshima miterlebt. Er<br />

bestreitet die die These, dass Nuklearenergie<br />

absolut sicher zu erzeugen sei und bezeichnet<br />

dies als „Mythos“. Die bittere Wahrheit,<br />

dass dem nicht so ist, hat Japan bis heute beschlossen<br />

zu ignorieren.<br />

„Es ist an der Zeit, eine klarere Definition<br />

des komplexen Sicherheitskonzepts zu beginnen“,<br />

erklärt er. „Das bedeutet Forschungen<br />

aus unterschiedlichen Perspektiven, eingeschlossen<br />

der Ansichten der Bewohner, unabhängigen<br />

Ansichten und auch die Einbeziehung<br />

der Folgen eines Unglücks auf andere<br />

Länder.“<br />

Die Fahrt von drei Stunden nach Fukushima<br />

war belastend und bedeutend. Die Autobahnen<br />

sind wieder offen und man fährt<br />

an der grandiosen Szenerie vorbei, die Japans<br />

nördliche Region auszeichnet: Berge mit<br />

jungfräulichen Nadelwäldern auf der einen<br />

Seite und dem blauen Meer, nun ruhig, auf<br />

der anderen Seite. Scharfe Winde kamen uns<br />

auf einer fast leeren Straße entgegen, ein Zeichen<br />

des verlorenen Reizes von Fukushima.<br />

Bis zum Unglück was Fukushima ein Touristenziel<br />

mit therapeutischen Heißwasserquellen<br />

und fischen Fischen und Meeresfrüchten.<br />

Verwüstung<br />

Ein schrecklicher Anblick erwartete uns in Iwaki,<br />

unser Tor nach Fukushima. Iwaki, früher eine belebte<br />

Fischerstadt, hat die volle Wucht des Tsunami<br />

abbekommen mit Wellen von 14 m Höhe.<br />

Wir hielten in Dorf Yotsukura an. Die<br />

Halte der Bevölkerung hatten Opfer zu beklagen,<br />

ihre Häuser, Fischerboote und Autos<br />

verloren oder waren gar noch immer vermisst.<br />

Menschen mit Masken schiene noch wie<br />

betäubt, während sie die durchnässten Trümmer<br />

in hilflosen Versuchen eines Wiederaufbaus<br />

durchsuchten. „Die Gemeinschaft ist<br />

noch immer verstreut in Auffanglagern, denn<br />

es fehlt am Ort an Essen und Wasser und es<br />

gibt auch eine große Knappheit an Benzin“,<br />

erklärt Yuuji Kojima, am Ort für die Rettungsoperationen<br />

zuständig.<br />

Am Nachmittag wollten wir so dicht wie<br />

möglich zum Ort der Nuklearkatastrophe<br />

vordringen. Wir wählten die Route nicht am<br />

Meer endlang, sondern über Land. Bei der<br />

Annäherung an den Unfallort passierten wir<br />

auf Meilen verlassene Dörfer, wo Hunde und<br />

Kühe an zerstörten Häusern und Straßen<br />

vorbeigehen.<br />

Der Himmel war dunkel geworden, wir<br />

fürchteten Regen, der das Risiko einer Kontamination<br />

erhöhen würde. Wir zogen unsere<br />

Masken und eine weitere Schicht von<br />

Schutzkleidung an. Dann lasen wir unsere<br />

Messgeräte ab.<br />

Bei Überschreitung der 30-Kilometer-<br />

Zone, eine erst kürzlich von der Regierung<br />

angeordnete Erweiterung der Risikozone, erreichten<br />

wir Miyakoji-machi, früher ein üppiges<br />

Agrargebiet, nun eine Geisterstadt.<br />

Ein Polizeiwagen stand am Ortseingang<br />

und stoppte unseren Wagen. Die Beamten<br />

erklärten uns, höflich aber unerbittlich, dass<br />

nur Regierungsbeauftragte oder Beauftragte<br />

der Tokio Electric Power Company, dem<br />

Betreiber der Reaktoren in Fukushima, innerhalb<br />

der Risikozone geduldet sind. Wir<br />

stellten das Auto mit laufendem Motor am<br />

Straßenrand ab und suchen eine passende<br />

Stelle, wo die Wissenschaftler ihre Überwachungsinstrumente<br />

aufbauen konnten.<br />

Der Regen hatte sich in Schnee verwandelt.<br />

Innerhalb des dunklen Autos stiegen die<br />

Messwerte unserer Geräte an. Meines zeigte<br />

einen kumulierten Wert von 325 Mikrosieverts<br />

an, schon jetzt das Äquivalent eines<br />

Brust-Röngtenbildes.<br />

Drei zerstörte Gebäude- darunter, radioaktiv verseuchtes Kühlwasser<br />

Evakuierungszentren<br />

Die schlimmsten Erfahrungen machten wir<br />

in den zwei Evakuierungszentren, die wir besucht<br />

haben.<br />

Das Erste befand sich in Tamura und beherbergte<br />

800 Einwohner, die man in eine<br />

große Turnhalle gepfercht hatte. Ursache war<br />

nicht der Tsunami, sondern das Reaktorunglück.<br />

In den letzen 40 Jahren hatten sie diese<br />

Einrichtung toleriert, die nun ihr Leben zerstört<br />

hatte.<br />

Kartonbegrenzungen zeugten den zugebilligten<br />

Platz für Familien. Auf einer Seite<br />

lagen alte Leute unter Decken.<br />

Ich wollte die Bedingungen selbst erfahren.<br />

Am Eingang muss man seine Schuhe<br />

Evakuierung eines Verletzten<br />

abgeben, die Besucher erhalten Slipper. Ich<br />

habe sie nicht angezogen, mit Absicht. Fast<br />

sofort waren meine Füße gefroren, ein Anzeichen<br />

der schlimmen Lage der Flüchtlinge,<br />

die auf diesem kalten und feuchten Boden<br />

seit Wochen leben müssen.<br />

Im anderen Evakuierungszentrum gab es<br />

nur tragbare Toilettenhäuschen außerhalb<br />

des Gebäudes, ein Albraum für alte Leute<br />

in den froststarrenden Nächten. Eine einzige<br />

Ärztin versuchte, Ströme von Patienten<br />

medizinisch zu versorgen. „Die Autoritäten<br />

haben uns jahrelang versprochen, dass alles<br />

sicher wäre. Wir glauben ihnen nichts mehr“,<br />

sagte sie. Fotografieren oder Identifizieren<br />

lehnte sie ab. Sie zögerte damit, die Situation<br />

offen zu kommentieren. Statt dessen konzentrierte<br />

sie sich auf die Pflege der Kranken.<br />

Bittere Lektionen<br />

Während Japan darum kämpft, das vermutlich<br />

zweitschlimmste Nuklearunglück<br />

weltweit einzudämmen, ruft die Bevölkerung<br />

nach einem Alternativmodell für die<br />

Energieversorgung.<br />

Dies bezeichnet den Anfang einer nie da<br />

gewesenen Bemühung eines sich schnell erweiternden<br />

Netzwerks von Wissenschaftlern<br />

und Experten in Japan – unterstützt durch<br />

ihre Kollegen in den USA und Europa – um<br />

die unfassendste Sicherheitsstudie der <strong>Welt</strong>,<br />

wie sie von einigen schon benannt wird.<br />

Aber bis jetzt konzentrieren sich Tao und<br />

seine Kollegen darauf, sich den Weg in das<br />

streng kontrollierte bürokratische System zu<br />

bahnen, das sich lange gegen Intervention<br />

von Außen gewehrt hat. Dies ist einer der<br />

bedenklichsten Aspekte der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung, jetzt offen gelegt durch das<br />

Nukleardesaster.<br />

Spät in der Nacht auf dem Rückweg nach<br />

Tokio, fragten wir uns offen nach den Lektionen,<br />

die Japan lernen muss. Wir fragten<br />

Tao nach den nächsten Schritten. „Die Antworten<br />

brauchen Zeit“, sagte er. „Es ist jetzt<br />

wichtiger, eine kollektive Anstrengung aufrechtzuerhalten,<br />

um der Katastrophe einzudämmen.<br />

Daran müssen sowohl Befürworter<br />

wie auch Gegner der Nuklearenergie einbezogen<br />

sein.“<br />

Nach mehr als 20 Jahren in Japan weiß<br />

ich, dass Tao und seine Gruppe besorgter<br />

Wissenschaftler recht hat. In Zeiten der Tragödie<br />

wendet man sich an japanische Weisheit.<br />

Das Wichtige zuerst, dann die richtige<br />

Plattform aufbauen, um die großen Herausforderungen<br />

zu diskutieren.<br />

Zuerst veröffentlicht durch:<br />

IPS©www.streetnewsservice.org<br />

(Fotos: physikblog.eu, REUTERS)


SOZIALES<br />

Gefühlte vs. reale Kriminalität<br />

5<br />

Hauptstadt der Kriminalität in Deutschland,<br />

hinter jeder Ecke lauert ein Gewalttäter, hinter<br />

jedem Busch ein Kinderschänder und an<br />

jedem Bildschirm ein Betrüger. Es würde<br />

immer schlimmer und jeder wäre demnächst<br />

Opfer, meint man. Nicht könnte ferner von<br />

der Realität sein.<br />

22 von 25 mal auf Platz 1 in der Polizeilichen<br />

Kriminalstatistik – das muss doch die gefährlichste<br />

Stadt in Deutschland sein? Die Stadt<br />

heißt Frankfurt, und die Statistik stimmt<br />

nicht. Sie hat zwei grobe Fehler: Die Zahl der<br />

Ein-und Auspendler ist nicht berücksichtigt.<br />

Frankfurt als räumlich kleinste Großstadt in<br />

Deutschland hat im Vergleich zur Zahl der in<br />

Frankfurt Arbeitenden eine geringe Wohnbevölkerung.<br />

Doch auch Pendler, Fluggäste,<br />

Messebesucher begehen Straftaten – z.B.<br />

Schwarzfahren, Verstöße gegen Einreisebestimmungen,<br />

gegen das Waffenrecht infolge<br />

illegal mitgeführter Souvenirs wie Messer<br />

und Dolche, Plagiate und Zollvergehen.<br />

Vieles davon sind Delikte, die nicht sicherheitsrelevant<br />

sind oder keine personifizierbaren<br />

Opfer haben, wie z.B. Schwarzfahren<br />

und Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz.<br />

Nimmt man diese „Straftaten“ aus der Gesamtzahl<br />

heraus, rutscht Frankfurt gleich von<br />

Platz 1 auf Platz 8 der Statistik: nach Bremen,<br />

Köln, Lübeck, Kiel, Magdeburg und<br />

Hamburg. Berücksichtigt man auch noch<br />

die Pendler und Besucher und legt die Zahl<br />

der Menschen dem statistischen Vergleich<br />

zugrunde, rutscht Frankfurt auf Platz 21<br />

der 38 deutschen Städte mit über 200.000<br />

Einwohnern.<br />

Je weniger je besser<br />

Jedes Jahr im Frühjahr legt das Polizeipräsidium<br />

Frankfurt die Statistik für das abgelaufene<br />

Vorjahr vor. Dabei gilt: je weniger<br />

je sicherer – außer bei Aufklärungsquote<br />

und der Anzahl der festgenommenen Tatverdächtigen.<br />

Unter diesen Gesichtspunkten<br />

kann sich das Ergebnis 2010 gut sehen lassen,<br />

denn Frankfurt ist nicht unsicherer geworden,<br />

sondern das Gegenteil ist der Fall.<br />

Die Gesamtstraftaten sind zurückgegangen<br />

(um 1,6%), der Anteil der Gewalttaten an<br />

der Gesamtkriminalität ist gleich geblieben,<br />

Straßenraub wurde nochmals um 4,8% reduziert,<br />

auch die Zahl der Betrugsdelikte<br />

sank (um 1.100 Fälle). Die Aufklärungsquote<br />

hat mit 60,0% den zweithöchsten Stand<br />

seit 1970 erreicht, über 1.500 Tatverdächtige<br />

mehr wurden ermittelt bzw. festgenommen.<br />

Wermutstropfen: auch wenn der Frankfurter<br />

auf den Straßen sicherer lebt als im Vorjahr,<br />

in seinem Heim sieht es anders aus, denn es<br />

gibt eine deutliche Zunahme bei Wohnungseinbrüchen.<br />

Dagegen allerdings könnte man<br />

sich absichern.<br />

Über den Aufbau einer Statistik kann man<br />

sich stundenlang streiten. Wichtig ist nur,<br />

dass eine Vergleichbarkeit mit den Vorjahren<br />

leicht ersichtlich ist und einen Vergleich<br />

nicht nur mit den Vorjahren, sondern auch<br />

mit anderen Städten erlaubt. Das ist der Fall,<br />

die Reihenfolge der Darstellung muss demzufolge<br />

zurücktreten. Deshalb ist die Unterscheidung<br />

in Straftaten mit und ohne personifizierbare<br />

Opfer aus der offiziellen Statistik<br />

nicht unmittelbar sichtbar, man muss eben<br />

zu Ende lesen.<br />

Das Gesamtbild<br />

107.356 Fälle sind eine ganze Menge. Aber es<br />

sind auch 1.744 gleich 1,6% weniger als im<br />

Vorjahr. Die Aufklärungsquote konnte bei<br />

60% gehalten werden, im Vorjahr waren es<br />

0,5% mehr. Nun ist eigentlich Aufgabe einer<br />

Sicherheitsbehörde, Straftaten zu verhindern.<br />

Somit sollten auch diejenigen Straftaten mitberücksichtigt<br />

werden, die verhindert werden<br />

konnten: 2010 konnten 8.240 Fälle in Ansatz<br />

vereitelt werden gleich 7,7%. Im Vorjahr<br />

waren es 7.100 Fälle gleich 6,5% der Straftaten.<br />

Nach Zahlen sind die Hauptdeliktgruppen<br />

weiterhin die Bereiche Diebstahl,<br />

Betrug, Verstöße gegen Asyl- und Aufenthaltsrecht<br />

sowie Sachbeschädigungen. Gewaltkriminalität<br />

rangiert erst an siebter Stelle<br />

mit jahrelang gleich bleibendem 3% Anteil.<br />

Schwerpunkt Diebstahl<br />

35,5% der erfassten Gesamtkriminalität<br />

entfallen auf diesen vielfältigen Bereich kriminellen<br />

Aktivitäten, vom Ladendiebstahl<br />

bis zum Fahrradklau und Entwendung von<br />

Gegenständen nach Einbruch in abgestellte<br />

Pkws. Diese Kriminalitätsgruppe ist um 411<br />

Fälle auf nunmehr 38.144 Straftaten angestiegen<br />

in 2010, gleich 0,9% und ist damit<br />

Schwerpunkt der kriminellen Aktivitäten.<br />

Die Aufgliederung folgt dem Strafrecht und<br />

ist deshalb für den hoffentlich nicht betroffenen<br />

Bürger nicht einfach nachzuvollziehen.<br />

In Einzelnen: Ladendiebstahl rückläufig auf<br />

6.353 Fälle (- 0,4%), einfacher Diebstahl<br />

und 0,53% auf 21.553 Fälle. Ebenfalls gesunken<br />

der schwere Fahrzeugdiebstahl um<br />

69 Fälle gleich 1,9%.<br />

Dagegen zunehmend der schwere Diebstahl<br />

auf 16,591 Fälle, 3,3% mehr als im<br />

Vorjahr.<br />

Rückläufig ist auch die Zahl des schweren<br />

KFZ-Diebstahls um 25,5% auf 227 Straftaten<br />

und die Zahl der schweren Diebstähle<br />

in und aus KFZs – 414 Delikte gleich 9,3%<br />

weniger auf 4.016 Fälle. Hier kommt im<br />

Berichtsjahr eine 14 köpfige Bande ermittelt<br />

werden, gegen sieben Mitglieder erging<br />

Haftbefehl.<br />

Unerfreulich ist dagegen der Entwicklung<br />

bei den Wohnungseinbrüchen: Trotz<br />

Einrichtung einer speziellen Arbeitsgruppe<br />

steigt die Zahl der Wohnungseinbrüche seit<br />

2008 ständig an. Im Berichtszeitraum waren<br />

es 8,6% mehr gleich 2.105 Straftaten. Die<br />

Polizei: „Ursache für das erhöhte Fallaufkommen<br />

sind im Jahre 2010 nicht wie in der<br />

Vergangenheit schwerpunktmäßig die Täter<br />

aus Südamerika (Chile und Kolumbien und<br />

mobile Kinderbanden aus dem Bereich Straßburg<br />

(F), sondern sehr mobile „Südosteuropäer.<br />

Dazu gehören Kinderbanden (überwiegend<br />

Mädchen) für Mehrfamilienobjekte<br />

und Erwachsene, hauptsächlich Männer, für<br />

höherwertige Einfamilienhäuser.“ 76,4% der<br />

Delikte betrafen Mehrfamilien – und Hochhäuser,<br />

23,6% Einfamilien- und Reihenhäuser<br />

und weniger als 0,4% Villen – das dürfte<br />

dem Grand der Absicherung dieser Objekte<br />

in etwa entsprechen. Auch hier gilt weiterhin<br />

die Aufforderung an die Bürger, durch eigenes<br />

Verhalten und Sicherheitsvorkehrungen<br />

den Schaden für die eigene Person zu verhindern.<br />

Polizeipräsident Dr. Thiel. „Bei 809<br />

(Vorjahr: 657) Objekten, bei denen die Täter<br />

nicht bzw. nicht schnell genug an ihr Ziel gelangen<br />

konnten, sahen sie von einer weiteren<br />

Tatausführung ab.“<br />

Schwerpunkt Betrug<br />

Zahlenmäßig zweiter Schwerpunkt in der<br />

Statistik sind die 22.954 Betrugsdelikte,<br />

21,4% der Gesamtkriminalität. Das ist ein<br />

Rückgang von 4,6% gegenüber dem Vorjahr.<br />

Dazu gehören allerdings auch 12.207 Fälle<br />

von „Leistungserschleichung“, vulgo beim<br />

Schwarzfahren erwischt. Da kaum anzunehmen<br />

ist, dass Frankfurter mehr zum Schwarzfahren<br />

neigen als z.B. die Kölner, hat die Zahl<br />

wohl mehr mit dem Kontrollverhalten von<br />

VGF und RMV zu tun als mit der tatsächlichen<br />

Kriminalität. Die Zahl der Schwarzfahrer<br />

ist bei ca. 170 Mio. Fahrgästen im Jahr<br />

wohl kaum aussagekräftig zu ermitteln.<br />

Verbesserte Kaufkraft könnte die Ursache<br />

für den Rückgang um 251 Delikte bei Waren-<br />

und Warenkreditbetrug sein (-9,8%).<br />

Davon könnten 63,6 % aufgeklärt werden.<br />

Bei Leistungsbetrug, insbesondere Gewinnspielverfahren<br />

und Abofallen im Internet,<br />

gab es eine deutliche Steigerung von 248 auf<br />

1.165 Fälle, davon konnten 85,8% aufgeklärt<br />

werden. Nebenbemerkung: Könnte es<br />

sein, dass insbesondere die Kriminalität Modeerscheinungen<br />

zeigt?<br />

Speziell gegen alte Mitbürger richten sich<br />

die „Enkeltrickbetrügereien“ mit 231 Fällen<br />

und allerdings nur 26 vollendeten Delikten<br />

Sieben Täter konnten auf frischer Tat festgenommen<br />

werden.<br />

Scheckbetrügereien und Kreditkartenbetrug,<br />

sind rückläufig, dagegen steigt die<br />

Computerkriminalität. Hier waren 2010<br />

994 Ereignisse registriert, 15,4% mehr als im<br />

Vorjahr. Die Aufklärungsquote konnten auf<br />

47,0% gesteigert werden. In allen Fällen, bei<br />

denen Banken beteiligt sind, z.B. beim Skimming<br />

am Geldautomaten und dem betrügerischen<br />

Einsatz von Debitkarten mit und<br />

ohne Pin, kritisieren die Kriminalisten das<br />

Verhalten der Banken: „Die Kriminalisten<br />

betonen, dass die Eröffnung eines Kontos für<br />

potenzielle Täter noch immer zu einfach ist.<br />

Diese Erkenntnisse haben sich 2010 erneut<br />

in zwei größeren, noch nicht abgeschlossenen<br />

Ermittlungskomplexen gegen Rumänen<br />

und Bulgaren gezeigt…. Gelegentlich gab es<br />

sogar noch für „Neukunden“ 50 € Prämie<br />

aufs eröffnete leere Konto.“<br />

Die Internetkriminalität entzieht sich in<br />

mehr als einer Richtung den Fähigkeiten einer<br />

lokalen Polizeibehörde. In Frankfurt gab<br />

es 198 Fälle, die angezeigt wurden, aber von<br />

51 Tatverdächtigen waren 24 Nichtdeutsche,<br />

die teilweise aus dem Ausland agierten. Hier<br />

ist internationale Zusammenarbeit und eine<br />

Anpassung der Gesetzes- und Speicherungsbestimmungen<br />

gefragt. Dr. Thiel: “Geschädigte<br />

bleiben auf ihren Schäden sitzen und<br />

erfahren immer weniger Gerechtigkeit, da<br />

ein wesentlicher Nachforschungsansatz, die<br />

ehemalige vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung,<br />

weggefallen ist .... Hier wird nach<br />

meiner Meinung mehr Täter- als Opferschutz<br />

betrieben.“<br />

Effekt Internationalität<br />

10,1 % der Frankfurter Gesamtkriminalität<br />

entfallen auf Aufenthalts- und Asylverfahrensdelikte.<br />

Dabei ist das Märchen vom<br />

Schwarzen, der seinen Pass wegwirft, einfach<br />

nur ein Märchen. Die Aufklärungsquote<br />

liegt bei 98,3%. Und: Von den festgestellten<br />

10.883 Fällen wurden 6,837 gleich 58,8%<br />

am Flughafen von der Bundespolizei festgestellt<br />

worden und werden der Frankfurter<br />

Statistik zugerechnet. Diesen Effekt haben<br />

andere Städte ohne internationalen Flughafen<br />

nicht.<br />

Sachbeschädigungen rückläufig<br />

Ist das wieder eine Modeerscheinung? 1.035<br />

Fälle weniger in 2010 bei den Sachbeschädigungen.<br />

Es gab „nur“ 7.857 Fälle gleich<br />

7,3% vom Gesamtaufkommen. Allerdings<br />

konnten auch nur 20,3% entsprechend<br />

1,592 Fälle aufgeklärt werden.<br />

Ähnliches ist von den Graffiti-Delikten<br />

zu vermelden: Rückgang auf 2. 0<strong>62</strong> Delikte,<br />

weniger 23,5%. Allerdings sind die Erfassungskriterien<br />

geändert wurden, sodass die<br />

Zahlen mit denen der Vorjahre nur bedingt<br />

vergleichbar sind.<br />

Drogendelikte<br />

Auf Frankfurts Straßen sind Drogendelikte besonders<br />

auffällig und auch besonders störend.<br />

Über 40% der Klientel kommen nicht aus<br />

Frankfurt, sondern reisen aus dem Umland und<br />

aus anderen Städten ein. Eine Bekämpfung ist<br />

nur langfristig Erfolg versprechend. Deshalb<br />

wurde bereits 2004 ein Konzept OSSIP = Offensive<br />

Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention<br />

und Prävention beschlossen. Die statistischen<br />

Zahlen zeigen nicht unbedingt mehr Kriminalität,<br />

sondern vor allen Dingen die intensiven<br />

Bemühungen um die Aufklärung eines<br />

„Dunkelfeldes“, die Straftaten innerhalb einer<br />

ziemlich unübersichtlichen und geschlossenen<br />

Szene. 2010 wurden 7.639 Delikte registriert,<br />

177 Fälle weniger als im Vorjahr. Die Aufklärungsquote<br />

lag bei 91,8%. Wie im Vorjahr, gab<br />

es auch 2010 wieder 35 Drogentote. >Seite 6<br />

Interessant ist die Differenzierung nach<br />

Drogenarten. In der Reihenfolge: 2.631 im<br />

Zusammenhang mit Cannabis, 1.875 mit


6<br />

SOZIALES<br />

Gefühlte vs. reale Kriminalität (Fortsetzung von Seite 5)<br />

Heroin, 1.756 mit Kokain und Crack, 372<br />

mit Amphetaminen. Bei den sichergestellten<br />

Drogenmengen schlagen mehrere Hasch-<br />

Plantagen zu Buche, die 2010 ausgehoben<br />

wurden. – 431,95 kg gegenüber 158,4 kg im<br />

Vorjahr. Veränderte Razzien- und Durchsuchungsmaßnahmen<br />

sind die Ursache im Bereich<br />

Khat, 415,99 kg nach 134,15 kg.<br />

Die Polizei: „Zu den Dealern ist bekannt,<br />

dass überwiegend mazedonische bzw. bulgarische<br />

Staatsangehörige den Heroinmarkt<br />

beherrschen, Kokain wird mehrheitlich<br />

durch Türken und Marokkaner vertrieben<br />

und Cannabisprodukte hauptsächlich durch<br />

Nordafrikaner (u.a. auch Marokkaner).<br />

Gewalt gegen Menschen<br />

Der unerfreulichste Bereich der Kriminalität<br />

ist der, in der sich Gewalt gegen Menschen<br />

richten. In Frankfurt ist der Anteil an der Gesamtkriminalität<br />

gering, aber auch eine einzige<br />

Straftat ist zu viel. Doch sind hier auch die<br />

polizeilichen Präventivmöglichkeiten sehr<br />

eng begrenzt.<br />

Körperverletzungen haben einen Anteil<br />

von 5,3%. Insgesamt 5,685 Straftaten, von<br />

denen 85 % aufgeklärt werden konnten.<br />

Meist kennen sich Täter und Opfer. Im Bereich<br />

der Häuslichen Gewalt ist die Dunkelziffer<br />

wohl deutlich gefallen, man ist einfach<br />

immer mehr dazu bereit, solche Taten anzuzeigen<br />

und die Täter zur Rechenschaft zu<br />

ziehen. Es gab 1.313 Fälle, 86,9 % der Täter<br />

waren Männer, meist lagen Körperverletzungen<br />

vor. Auffällig: 49,8% der Tatverdächtigen<br />

waren Ausländer. Meist liegen hier sogar<br />

Mehrfachtaten vor: Die Täter sind bekannt,<br />

die Aufklärungsquote ist mit 99,8% extrem<br />

hoch. In diesem Straftatenkomplex sind auch<br />

48 Fälle von Verstößen gegen familiengerichtliche<br />

Auflagen enthalten.<br />

Der Tatbestand „Stalking“, die Nachstellung<br />

gemäß § 238 STGB, kann erstmals statistisch<br />

verglichen werden. 2010 gab es 219<br />

Vorfälle, 87% gleich 192 Delikte konnten<br />

aufgeklärt werden.<br />

Die schwersten Fälle, die eigentliche Gewaltkriminalität,<br />

liegt seit Jahren kontinuierlich<br />

bei drei Prozent der Gesamtkriminalität<br />

mit nur geringsten Schwankungsraten.<br />

Hier die „Fleischerrechnung“ – man verzeihe<br />

den Militärausdruck – für 2010:<br />

Mord: 14 Fälle erfasst, zwei im Anfang<br />

verhindert, alle aufgeklärt.<br />

Totschlag: 29 Fälle, drei verhindert, 86,2%<br />

aufgeklärt<br />

Raub: 976 Fälle, 83 weniger, 49,4%<br />

aufgeklärt<br />

Vergewaltigung: 88 Ereignisse, 61,4%<br />

aufgeklärt<br />

Gefährliche Körperverletzung: 2.081 Fälle,<br />

davon 79,3% geklärt.<br />

Körperverletzung mit Todesfolge: 1,<br />

geklärt<br />

Erpresserischer Menschenraub: 2 Fälle,<br />

beide geklärt.<br />

Und das auch noch<br />

Urkundenfälschungen: 1.676 Delikte, 9,8%<br />

mehr, aufgeklärt zu 91,5%.<br />

Missbrauch von Ausweispapieren: 163<br />

Fälle, zu 94,5% geklärt.<br />

Waffendelikte:954, davon 90,5 % geklärt,<br />

meist Kontrolldelikte.<br />

Politisch motivierte Straftaten: 105 von<br />

rechts, davon 6 Gewaltdelikte, zu 42,3% aufgeklärt.<br />

123 von links, davon 30 Gewaltdelikte,<br />

zu 40,7% geklärt. Insgesamt sind die<br />

Fallzahlen der politisch motivierten Straftaten<br />

seit Jahren rückläufig. Es gibt keine Anhaltspunkte<br />

für die Bildung entsprechender<br />

Szenen mit Gewaltbereitschaft in Frankfurt.<br />

Aufgliederung der Tatverdächtigen<br />

2010 wurden insgesamt 41.328 Tatverdächtige<br />

entweder bei der Tat ergriffen oder später<br />

ermittelt. Das sind 1.554 mehr als im<br />

Vorjahr. Davon waren 30.155 gleich 73%<br />

männlich, 11.173 Personen gleich 27% Prozent<br />

weiblich. Unter den Tätern waren die<br />

Erwachsenen mit 33,768 Fällen in der Mehrheit<br />

(81,7%). Heranwachsende – laut Statistik<br />

18-21 – waren an 3.758 = 9,1%, Jugendliche<br />

mit 2.980 Delikten = 7,2% und Kinder<br />

(unter 14) mit 822 = 2,0% beteiligt.<br />

Die Anzahl nichtdeutscher Tatverdächtiger<br />

stieg auf 22.567%. Rechnet man aber<br />

ihren Anteil an der Gesamtzahl der ermittelten<br />

Tatverdächtigen, sank ihr Anteil um 05%<br />

auf jetzt 54,6%. Darin sind 10.883 Fälle von<br />

Delikten aus dem Bereich „Aufenthalts- und<br />

Asylverfahrensgesetz“. Die ausländerrechtlichen<br />

Delikte können Deutsche gar nicht,<br />

EU-Bürger teilweise auch nicht begehen.<br />

Wenn man diese Straftaten ausklammert, reduziert<br />

sich die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen<br />

auf 12.989, ein Rückgang um<br />

7,3% auf jetzt 31,4%.<br />

Sehr frankfurtspezifisch ist das Bild bei der<br />

Tatort-Wohnort-Beziehung: 44,3% gleich<br />

18.290 Tatverdächtige kamen direkt aus<br />

Frankfurt, 18,1 gleich 7.471 Tatverdächtige<br />

aus Hessen, 8,2% gleich 3.374 aus dem übrigen<br />

Bundesgebiet. 15,2 gleich 6,281 Tatverdächtige<br />

hatten keinen festen Wohnsitz,<br />

19,8% gleich 8.184 Tatverdächtige kamen<br />

nicht aus Deutschland.<br />

Bei Tatverdächtigen mit fremdländischer<br />

Nationalität kamen 54,3 % aus Frankfurt,<br />

22,3% aus Hessen, 9,5% aus dem übrigen<br />

Bundesgebiet. 14,6% hatten keinen festen<br />

Wohnsitz, 5,8% kamen von außerhalb<br />

Deutschlands.<br />

Fazit<br />

Frankfurt ist ein Magnet für Menschen als<br />

Wohnort und Arbeitsplatz. Mittlerweile leben<br />

688.492 Mitbürger in den viel zu klein<br />

gezogenen Stadtgrenzen. Nach den Worten<br />

des Polizeipräsidenten Dr. Achim Thiel „aus<br />

polizeilicher Sicht eine der sichersten Städte<br />

Deutschlands. … Jedoch dort wo Menschen<br />

leben, wird es auch immer Kriminalität in<br />

den unterschiedlichsten Erscheinungsformen<br />

geben… (Die) Polizei bietet rund um die<br />

Uhr Sicherheit und ist auch Ansprechpartner<br />

für alle Lebenssituationen. Diese gesellschaftliche<br />

Aufgabe ist... nur mit Hilfe verantwortungsbewusster<br />

und couragierter Bürger (zu<br />

leisten), die uns täglich durch Zeugenhinweise<br />

und in anderer Form vielfältig unterstützen….Andere<br />

möchte ich anspornen,<br />

diesem Verhalten nachzueifern. Courage<br />

zeigen bedeutet nicht, sich mutig dem Täter<br />

entgegenzuwerfen. Dafür sind wir Profis<br />

da! Zur rechten Zeit zu telefonieren und die<br />

momentane Beobachtung direkt mitzuteilen<br />

bedeutet, dem Opfer oder dem Geschädigten<br />

gegenüber Verantwortung zu zeigen.“<br />

Dem ist nichts hinzuzufügen.<br />

RS<br />

(Grafiken: AWO, duckmania.de)


INTEGRATION / REZEPT 7<br />

‚Afrika trifft Deutschland‘<br />

Ein engagierter Film von Migranten über ihr Leben in Frankfurt<br />

‚Hier waren Menschen am Werk, die sich<br />

auskennen – mit Filmen, aber auch mit der<br />

Situation vieler Afrikaner in Deutschland‘,<br />

so die Frankfurter Stadträtin für Integration,<br />

Dr. Eskandari-Grünberg, in ihrem Grußwort<br />

zur Premiere des Films ‚Afrika trifft<br />

Deutschland‘, die im Januar 2011 im Filmforum<br />

Frankfurt-Höchst stattfand. Frau Dr.<br />

Eskandari-Grünburg weiter: ‚Nicht ohne<br />

Grund halten wir in unserem neuen Integrationskonzept<br />

als ein Ziel eigens fest: Die<br />

Stadt Frankfurt wird im Umgang mit ihren<br />

Bürgerinnen und Bürgern nicht ‚kulturalisieren‘;<br />

denn wir sollen und wollen einander<br />

in erster Linie als handelnde und verantwortliche<br />

Individuen erkennen. Eben diese<br />

Frage stellt sich in diesem Kurzfilm auch<br />

der Hauptdarsteller selbst. Er hinterfragt<br />

seine Erfahrungen, seine eigene Situation<br />

und auch sein Lebensziel: „Was definiert<br />

mich als Mensch...?“ Es ist die Sensibilität<br />

im Umgang mit den allzu oft nur als kurze<br />

Schlagworte gebrauchten Themen ‚Migration‘<br />

und ‚Integration‘, mit verbreiteten Klischees,<br />

die dieses Projekt auszeichnet‘.<br />

Produziert wurde der Film 2010, und zwar<br />

gemeinsam von der aus Sierra Leone stammenden<br />

Drehbuchautorin L.Hamelburg,<br />

dem aus Chile stammenden Regisseur<br />

M.Morales und Laienschauspielern aus afrikanischen<br />

Ländern, den USA und Deutschland.<br />

Was sie eint, ist, dass sie alle im Raum<br />

Frankfurt leben. Nach seiner erfolgreichen<br />

Drei Freunde unterwegs<br />

Premiere im Filmforum Höchst wollten sich<br />

die Darsteller einer Diskussion mit einem<br />

breiten Publikum stellen. Dazu luden im Februar<br />

der ‚Club Voltaire‘ und das ‚Forum für<br />

mehr Integration‘ ein.<br />

Nun aber zum Film selbst: Im Mittelpunkt<br />

steht Brian Otanga, ein junger afrikanischer<br />

Mann, der von seiner Familie nach Deutschland<br />

geschickt wurde, um zu studieren und<br />

sich damit für sein Leben eine vernünftige<br />

Basis zu erarbeiten. Aber seine Familie verbindet<br />

damit, dass er etwas aus seinem Leben<br />

macht, auch Erwartungen. Sein Erfolg<br />

soll auch dazu dienen, dass er Geld verdient,<br />

um seine Familie in seiner afrikanischen<br />

Heimat zu unterstützen.<br />

Dies macht der Film<br />

recht deutlich. Brian Otanga<br />

ist Hin- und Hergerissen<br />

zwischen dem Pflichtgefühl<br />

seiner Familie gegenüber und<br />

der Notwendigkeit, seinen<br />

eigenen Lebensunterhalt hier<br />

in Deutschland zu bestreiten.<br />

Seine Freunde, mit denen er<br />

in einer WG lebt, versuchen<br />

zwar auch immer wieder,<br />

ihn aufzurichten, aber Brian<br />

Otanga kann nicht aus sich<br />

herausgehen. Denn für ihn<br />

ist alles nicht gerade einfach.<br />

Dazu kommt, dass er auch mit<br />

den deutschen Eigenheiten<br />

Der Hauptdarsteller: er denkt nach<br />

und Regeln umgehen muss. So schafft er es<br />

zwar, eines Tages zu einem Bewerbungsgespräch<br />

für eine Festeinstellung eingeladen zu<br />

werden. Jedoch kommt er zu spät zu diesem<br />

Termin…und erlebt so in diesem Gespräch<br />

eine weitere Frustration in seinem neuen Leben.<br />

Dennoch glaubt er an eine positive Zukunft,<br />

denn ‚morgen<br />

ist ein anderer<br />

Tag ...‘.<br />

hier der Film?‘, so ein Zuschauer: ‚Jeder Einzelne<br />

hat sein Schicksal in der Hand. Jeder<br />

muss sich entscheiden, was er will und wie er<br />

seine Ziele erreichen kann. Das macht auch<br />

ihr jungen Laienschauspieler. Herzlichen<br />

Glückwunsch dazu!‘.<br />

Kritsch angemerkt wurde, dass der Film<br />

existierende Vorurteile von ‚Deutschen‘ (als<br />

streng und ernst) und ‚Afrikanern‘ (als lebenslustig<br />

und nicht so diszipliniert) nicht<br />

genug reflektiere. Auch sollten doch Frauen<br />

eine größere Rolle haben. Die Darsteller<br />

zeigten sich offen für diese Anregungen und<br />

versprachen, diese für den zweiten Film aufzunehmen.<br />

Bei diesem Film zum Leben von<br />

Rentnern in Frankfurt, an dem sie mit Regisseur<br />

Morales und Drehbuchautorin Hamelburg<br />

schon arbeiten, soll das Thema Integration<br />

wieder im Zentrum stehen – mit lustigen,<br />

aber auch tragischen Elementen. Denn:<br />

‚Wir alle sind Deutschland, und das wollen<br />

wir auch mit unserem zweiten Film zeigen!‘,<br />

wie sie betonten. Man darf auf diesen Film<br />

gespannt sein.<br />

Das zahlreiche<br />

Publikum bei<br />

der Premiere und<br />

im Club Voltaire<br />

war insgesamt angetan<br />

von dem<br />

Film. Denn der<br />

Film spiegelt, so<br />

die Zuschauer, das<br />

reale Leben von<br />

jungen Menschen<br />

Hürden bei der Jobsuche<br />

mit afrikanischem<br />

Migrationshintergrund wider: die Hoffnungen,<br />

Sorgen und die Last der Verantwortung<br />

gegenüber den Angehörigen in Afrika: ‚Das<br />

ist mein Leben, was hier im Film beschrieben<br />

wird‘ so ein kamerunischer Student. Auch<br />

zeige er deutlich, dass die Jugend die Zukunft<br />

Deutschlands sei – und nur wenn mehr zu<br />

Bildung und Ausbildung geschehe, hätten<br />

junge Menschen eine Chance: ‚Lernen, Lernen,<br />

Lernen‘, wie ein aus Nigeria stammender<br />

Arzt betonte. ‚Welche Lösung zeigt uns<br />

Der ‚Club Voltaire‘ und das ‚Forum für<br />

mehr Integration‘ werden 2011 noch weitere<br />

gemeinsame Veranstaltungen durchführen.<br />

Mehr Informationen dazu finden sich<br />

unter www.opendiscussionforum.com und<br />

www.club-voltaire.de.<br />

Text und Fotos: Peter Speier für das<br />

‚Forum für mehr Integration‘<br />

Unsere Chefköche empfehlen<br />

Nudel-Bohnen-Suppe<br />

Wir sind mal wieder in Italien bei einem<br />

klassischen Gericht, was im Sommer sogar<br />

oft kalt gegessen wird. Es ist täuschend<br />

simpel mit nur wenigen Zutaten und<br />

muss gerade deshalb sehr sorgfältig<br />

zubereitet werden. Man braucht: 300 gr.<br />

frische oder 200 gr. getrocknete Bohnen<br />

(Borlotti oder weiße Bohnen), Olivenöl<br />

(6 El.), eine fein gehackte Zwiebel,<br />

1 lt. Hühner- oder Gemüsebrühe, 2<br />

Basilikumblätter, 1 Zweig Rosmarin,<br />

1 frischen roten Peperoncino, so man<br />

hat, 1 El. Tomatenmark, 150 gr. kleine<br />

Röhrchennudeln (Tubetti) und nochmals<br />

sehr gutes Olivenöl zum Verfeinern beim<br />

Servieren. Bei frischen Bohnen kann<br />

man sofort loslegen, getrocknete müssen<br />

über Nacht im kalten Wasser eingeweicht<br />

und abgetropft werden. Und so geht’s:<br />

Die Bohnen in einem großen Topf mit<br />

Wasser bedecken. In Italien nimmt man<br />

gerne einen Tontopf, aber den hat man<br />

meistens nicht in unseren Küchen. Zum<br />

Kochen bringen und anschließend köcheln<br />

lassen – 1 Stunde bei frischen, 1 ½ - 2<br />

Stunden bei getrockneten Bohnen. Bitte<br />

ohne Salz, sonst werden sie hart und das<br />

Gericht ist verdorben. Abseihen und die<br />

Hälfte aufheben. Die andere Hälfte wird<br />

erst einmal püriert (mit dem Stab oder<br />

im Mixer), dann kommt alles wieder<br />

zusammen.<br />

Dann gibt man 6 El. Olivenöl in den Topf<br />

und schwitzt die fein gehackte Zwiebel<br />

weich. Die Brühe wird abgeschmeckt mit<br />

Basilikum, Rosmarin und Tomatenmark.<br />

So man will und hat, hackt man den<br />

frischen Peperoncino fein und fügt ihn<br />

gleichfalls zu. Dann wird die Pasta<br />

beigegeben und al dente gekocht, etwa<br />

7-8 Minuten. Dann die Suppe ca. 30<br />

min. ruhen lassen, damit die Aromen<br />

verschmelzen. Vor dem Servieren auf<br />

Esstemperatur aufwärmen – oder vielleicht<br />

sogar kalt servieren. Und, da wir schon in<br />

Italien sind: vor dem Auftragen noch ein<br />

paar Tropfen Olivenöl auf jeden Teller als<br />

besonderer Pfiff. Guten Appetit!<br />

RS<br />

(Foto:: altfg.com)


8<br />

LOKALES<br />

Die Frauen vom Lisbeth-Treff<br />

Seit 1997 eine Anlaufstelle für wohnungslose und bedürftige Frauen<br />

Es ist Dienstag. Vor dem Haus der Frauenberatung<br />

am Affentorplatz 1 stehen schon<br />

einige Frauen und warten geduldig, dass<br />

die Tür des Lisbeth-Treffs aufgeschlossen<br />

wird. Viele haben einen Einkaufswagen dabei,<br />

manche einen Rollator, andere sind mit<br />

Plastiktüten bepackt, und eine Frau hat ihre<br />

Habseligkeiten in einen ausgedienten Kinderwagen<br />

geladen.<br />

Drinnen sind wir ehrenamtlichen Helferinnen<br />

eifrig dabei, alles für die Frauen vorzubereiten.<br />

Die Tische sind schon gedeckt<br />

mit Deckchen, Tassen und Blumenschmuck.<br />

Die Spenden, wie Brötchen, süße Stückchen<br />

und Obst, müssen aufbereitet werden. Wir<br />

streichen zusätzlich Brote und zaubern appetitliche<br />

Schnittchen. Heute haben wir mit<br />

der Obstlieferung besonders viele Erdbeeren<br />

bekommen, können aber diesmal keinen<br />

Obstsalat machen, weil wir sehr knapp besetzt<br />

sind. Wir entscheiden uns, das Obst zu<br />

waschen und auf Tellern zu verteilen. Die<br />

Zeit drängt, es stehen nun schon viele Frauen<br />

vor der Tür und werden unruhig.<br />

Um 13 Uhr 30 wird der Lisbeth-Treff<br />

geöffnet. Die Frauen stürmen herein, jede<br />

möchte die Erste sein, die an der Theke steht<br />

oder ihre Wäsche in die Waschmaschine stecken<br />

kann. Oft frage ich mich, was sie so zur<br />

Eile treibt. Die Angst zu spät zu kommen?<br />

Hunger? Oder ist es die Erfahrung, im Leben<br />

zu kurz gekommen zu sein? Wahrscheinlich<br />

werde ich das nie erfahren.<br />

Für die Kleiderkammer werden Nummern<br />

ausgegeben, die Namen werden notiert, und<br />

wer dienstags keine Nummer bekommt, erhält<br />

sie donnerstags. Die meisten Frauen<br />

begrüßen uns freundlich. Johanna will uns<br />

immer mit einer Umarmung und feuchtem<br />

Küsschen begrüßen. Andere stehen schweigend<br />

vor der Theke, nehmen sich einen Teller<br />

und schauen sich das Essensangebot an. Wir<br />

möchten gerne allen gerecht werden, was<br />

nicht immer sehr einfach ist.<br />

Manche Frauen stecken sich Brötchen<br />

oder Stückchen verstohlen in ihre Tasche<br />

oder Plastiktüte und stellen sich erneut in<br />

die Reihe. Wenn möglich, übersehen wir das.<br />

Manchmal macht mich das sehr traurig und<br />

häufig habe ich die Frauen vor Augen, wenn<br />

ich mir in der Kleinmarkthalle meinen Lieblingsschinken<br />

hole.<br />

Alle Frauen sind in irgendeiner Weise verarmt,<br />

sei es an materiellen Dingen oder auch<br />

an menschlicher Zuwendung und vor allem<br />

an Wertschätzung. Es kommt mir oft vor, als<br />

hätten sie unsichtbare Rucksäcke auf dem<br />

Rücken, vollgestopft mit Sorgen, schrecklichen<br />

Erinnerungen und Angst. Die meisten<br />

haben hart gearbeitet und Kinder groß gezogen<br />

und sind trotzdem arm und einsam. Viele<br />

sind sehr krank, körperlich und psychisch.<br />

Manche haben einmal sehr gute Zeiten erlebt<br />

und bekommen glänzende Augen, wenn sie<br />

davon erzählen.<br />

Heute kommt Lina mit einer Torte. Sie<br />

schluchzt, stellt eine Kerze auf und ein Foto<br />

davor. Ihre 20-jährige Enkelin ist an Krebs<br />

gestorben, deshalb bringt sie die Torte mit.<br />

Sie setzt sich an ihren Stammplatz und ist<br />

schnell umringt von Frauen, die sie trösten.<br />

Es tut gut zu sehen, wenn die Frauen miteinander<br />

kommunizieren, was nicht immer der<br />

Fall ist.<br />

Es ist Ruhe eingekehrt, alle Frauen sind<br />

versorgt mit Essen und Trinken. Sie warten<br />

Zusammen ist man weniger allein -<br />

das gilt auch für die Frauen, die den Lisbeth-Treff in Sachsenhausen besuchen.<br />

nun, bis die Kleiderkammer öffnet. Die ist<br />

unten im Keller und es ist für manche gehbehinderte<br />

Frauen schwer, die Treppe zu bewältigen.<br />

Die ehrenamtlichen Kolleginnen<br />

von der Kleiderkammer arbeiten sich wöchentlich<br />

durch Berge von gespendeter Bekleidung,<br />

sortieren Unbrauchbares aus und<br />

ordnen die schönen Sachen liebevoll in die<br />

Regale und hängen sie auf Kleiderständer.<br />

Ich bewundere sie, denn manchmal sind die<br />

Sachen, die sie aus den Plastiksäcken holen,<br />

schmutzig und muffeln vor sich hin. In der<br />

Kleiderkammer kann es jetzt losgehen, die<br />

Frau mit der Nummer 1 macht sich auf den<br />

Weg.<br />

Die älteste Mitarbeiterin in unserem Team<br />

arbeitet schon über ein Jahrzehnt im Lisbeth-<br />

Treff. Sie hat ihn mit aufgebaut und im Laufe<br />

der Jahre unendlich viel Kraft, Herzblut<br />

und Energie investiert. Sie ist unser Vorbild,<br />

wir bewundern sie. Es wäre schön, wenn sie<br />

mehr Zeit hätte, sich den einzelnen Frauen<br />

zu widmen, aber auch sie ist hauptsächlich<br />

mit den Arbeiten in der Küche und an der<br />

Theke beschäftigt.<br />

Zwei Frauen möchten Stoff-Taschen bedrucken,<br />

wir müssen warten, bis sich einige<br />

Gäste verabschieden, damit wir einen Tisch<br />

frei haben. Wilhelmina winkt mir zu, sie<br />

war drei Wochen krank und möchte mir etwas<br />

Wichtiges erzählen. Ich vertröste sie auf<br />

später. Sie ist dieses Jahr 80 geworden. Sieben<br />

Kinder hat sie geboren, von denen eins<br />

gestorben ist. Sie hat die Kleinen mehr oder<br />

weniger alleine großgezogen. Jetzt lebt sie mit<br />

ihrem behinderten Sohn zusammen, der ihr<br />

immer wieder Sorgen bereitet. Jeden Dienstag<br />

kommt sie mit ihrem Rollator aus dem<br />

Norden der Stadt. Sie ist immer freundlich<br />

und dankbar für alles.<br />

Klara schickt mir fragende Blicke, wir hatten<br />

uns zum Singen verabredet. Sie ist eine<br />

zierliche 86-jährige Frau mit rot gefärbten<br />

Haaren und kommt aus dem Sudetenland.<br />

Das Leben hat ihren Rücken gebeugt, aber<br />

sie hat fast immer ein Lachen in ihren Augen.<br />

Vor ein paar Wochen haben wir festgestellt,<br />

dass wir beide alte Schlager lieben, und nun<br />

wollten wir jeden Dienstag einen zusammen<br />

singen, zumal sie alle Texte auswendig kann.<br />

Ich nicke ihr zu, schaue rüber zu der traurigen<br />

Lina und schüttle den Kopf. Heute nicht,<br />

nächstes Mal singen wir. Sie nickt mir zu.<br />

Katharina kommt vom Duschen und sieht<br />

richtig gepflegt aus. Trotz vieler Anstrengungen<br />

der Sozialarbeiterinnen lebt sie wieder<br />

auf der Straße. Eigentlich ist sie eine hübsche<br />

Frau im mittleren Alter. Sie scheint psychisch<br />

krank zu sein. Neulich hatte sie eine kranke<br />

Taube in der Tasche. Sorgt da eine arme Kreatur<br />

für eine noch ärmere? Wenn Katharina<br />

oder andere Frauen mit besonderen Problemen<br />

längere Zeit nicht zum Treff kommen,<br />

forscht die Sozialarbeiterin über ihren Verbleib<br />

nach.<br />

Ich gehe zu den Rauchern vor das Haus.<br />

Der Platz auf der Bank ist bei den Frauen<br />

sehr beliebt. Sie rauchen, schwatzen, streiten,<br />

trinken Kaffee und beobachten die Gäste<br />

der umliegenden Apfelweinkneipen. Heute<br />

war der Stammplatz von Maria anfangs belegt.<br />

Wie ich sehe, hat sie ihn sich wieder erkämpft.<br />

Die Lieblingslektüre der Frauen sind<br />

die Reklameblätter der Supermärkte. Es gibt<br />

angeregte Diskussionen, wo was am billigsten<br />

ist. Auch Zeitschriften von der Apotheke<br />

sind beliebt.<br />

Drinnen leert sich so langsam der Raum.<br />

Manche Frauen sind mit ihren Kleidertüten<br />

abgezogen, die Frauen, die am Basteln interessiert<br />

sind, haben einen leeren Tisch ergattert,<br />

und ich zeige ihnen wie das geht mit<br />

dem Drucken.<br />

Corinna ist angekommen, und alle halten<br />

die Luft an und erwarten das übliche Theater,<br />

das sie uns immer bietet. Sie rennt durch den<br />

Raum und überprüft, was die Frauen vielleicht<br />

noch auf den Tellern haben, um dies<br />

oder jenes lautstark für sich einzufordern.<br />

Sie will Kaffee, Wasser, Milch, Tee und eine<br />

Untertasse und versucht, alle Mitarbeiter zu<br />

beschäftigen. Bekommt sie nicht, was sie fordert,<br />

hört sie nicht auf zu schimpfen und zu<br />

schreien. Wir haben alle schon versucht, sie<br />

zu beruhigen, aber es gab nie einen Erfolg.<br />

Obwohl sie schon Tüten mit Lebensmittel<br />

mit sich mitschleppt, fordert sie von uns alles<br />

Übriggebliebene. Das geht schon Jahre<br />

so. Woher kommt diese Gier? Sie ist sicher<br />

irgendwo begründet, aber auch das wird<br />

wohl im Dunkel bleiben. Die Taschen sind<br />

nun fertig bedruckt, wir beginnen mit dem<br />

Aufräumen. Corinna schaut auf die Uhr und<br />

stellt für sich fest, dass sie noch 15 Minuten<br />

fordern kann.<br />

Die Frauen verabschieden sich, viele bedanken<br />

sich auch. Da gehen sie mit ihren<br />

unsichtbaren Rucksäcken voller Sorgen.<br />

Vielleicht konnten sie heute einige dalassen<br />

und sich etwas erholen und entspannen. Zumindest<br />

sind sie satt. Ich will auf dem Heimweg<br />

noch nach Ursula schauen, sie war heute<br />

nicht da, obwohl sie letzte Woche Geburtstag<br />

hatte. Sie sitzt in der Regel auf der Zeil vor<br />

einem Kaufhaus auf einem dort ausgestellten<br />

Gartenstuhl und schimpft vor sich hin, wenn<br />

Frauen mit kurzen Röcken vorbeikommen.<br />

Vielleicht kann ich noch gratulieren, ihre vier<br />

Kinder melden sich nicht mehr bei ihr.<br />

Inzwischen ist das Geschirr abgetragen,<br />

die Spülmaschine beladen, die Tische sind<br />

gewischt und alles sieht ordentlich aus. Corinna<br />

möchte aber nicht gehen und fordert<br />

noch dies und das. Laut schimpfend verlässt<br />

sie den Treff.<br />

Auch wir Ehrenamtliche treten jetzt mehr<br />

oder weniger erschöpft unsere Heimwege an.<br />

Wenn mir eine Fee begegnen würde und ich<br />

drei Wünsche frei hätte, würde ich mir folgendes<br />

wünschen: Mehr Zeit für Gespräche<br />

mit den Frauen und mehr Raum, auch zum<br />

Spielen und Basteln. Aber Feen gibt es leider<br />

nur in Märchen. Wir leben hier und jetzt.<br />

Der nächste Dienstag kommt bestimmt, und<br />

die Frauen werden wieder geduldig vor dem<br />

Lisbeth-Treff warten.<br />

Die Autorin des Artikels ist eine ehrenamtlich<br />

engagierte Frau aus dem Team<br />

des Lisbeth-Treffs. Sie beschreibt ihre Arbeit.<br />

Die Namen in dem Beitrag sind alle<br />

geändert.<br />

Fotos: Caritas<br />

Siehe auch Kasten Seite 9<br />

Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen halten den Treff am Laufen<br />

und sorgen manchmal auch für neue Kleidung.


LOKALES / CD DES MONATS 9<br />

Jeden Dienstag und Donnerstag<br />

- mehr als nur ein Treffpunkt<br />

Der Lisbeth-Treff in Frankfurt-Sachsenhausen besteht seit November 1997. Gegründet<br />

hat ihn die Deutschordensschwester Hemma mit ehrenamtlich engagierten Frauen als einen<br />

Begegnungsort für benachteiligte und wohnungslose Frauen. Ziel der Arbeit ist es,<br />

diesen Frauen in Frankfurt einen Raum zu geben, wo sie angenommen sind. Hier können<br />

sie sich begegnen und mit lebenswichtigen Dingen versorgen. Zum Angebot gehören eine<br />

Duschmöglichkeit, eine Kleiderkammer und die Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Daneben<br />

gibt es auch Freizeitaktivitäten.<br />

Seit Januar 2003 ist der Lisbeth-Treff eine Einrichtung des Caritasverbands Frankfurt und<br />

ein Kooperationsprojekt von Wohnungslosenhilfe und Frauenberatung. Er befindet sich im<br />

Haus der Frauenberatung am Affentorplatz 1 in Frankfurt-Sachsenhausen und ist ganzjährig<br />

dienstags und donnerstags von 13:30 bis 16:30 Uhr geöffnet. Bis zu 40 Frauen kommen,<br />

Tendenz leicht steigend. Das ehrenamtliche Team besteht aus 15 Frauen, zwei aus dem<br />

Gründungsteam sind bis heute mit dabei.<br />

Zum Lisbeth-Treff kommen Frauen, die wohnungslos sind, die mal hier mal dort eine<br />

Unterkunft haben oder auf der Straße leben. Viele haben Gewalterfahrungen gemacht, ein<br />

großer Teil sind Migrantinnen. Alle leben in Armut und sind isoliert, viele sind psychisch<br />

krank und immer in der Gefahr, ihre noch vorhandene Wohnung zu verlieren. Der Lisbeth-<br />

Treff gibt ihnen Halt und ist oft die einzige Gemeinschaft, die sie erleben.<br />

Jeden Dienstag und Donnerstag kommen Frauen aus ganz Frankfurt zum Lisbeth-Treff.<br />

2010 waren es durchschnittlich 30 an jedem Nachmittag. Sie machen es sich bei Kaffee, Tee,<br />

Kuchen und Brötchen gemütlich. Sie können duschen gehen und sich in der Kleiderausgabe<br />

mit frischer Wäsche versorgen oder ihre verschmutzte Kleidung waschen. Zusätzlich gibt<br />

es ein breites Angebot an Freizeitaktivitäten.<br />

Manche spielen gern Gesellschaftsspiele, andere basteln gern. Das Basteln aktiviert die<br />

Frauen, von denen viele gute handwerkliche Fähigkeiten haben. Stolz nehmen sie ihre kleinen<br />

Kunstwerke mit nach Hause.<br />

Besondere Höhepunkte im Jahreslauf sind kleine Ausflüge in und um Frankfurt herum,<br />

die vom ehrenamtlichen Team organisiert werden. So gab es zum Beispiel eine Führung<br />

durch das Schloss Freudenberg bei Wiesbaden, einen Ausstellungsbesuch im Palmengarten,<br />

einen Ausflug ins Stadtwaldhaus und zu einer Krippenausstellung in Frankfurt Rödelheim.<br />

Seit einem Jahr bietet der Lisbeth-Treff auch ein Gesundheitsangebot für die Frauen an.<br />

Frei nach dem Motto: „Gesund und munter in 2011 – wir lassen uns nicht unterkriegen!“<br />

sorgen Bewegungs-, Entspannungs- und Atemübungen für ein besseres körperliches Wohlbefinden<br />

der Besucherinnen.<br />

Der Lisbeth-Treff ist auch in den Stadtteil integriert: Viele Läden in der Umgebung stiften<br />

Essen und Kleidung für die Frauen. Einmal im Jahr beteiligt sich der Lisbeth-Treff am<br />

Frankfurter Stadtteilsonntag und stellt seine Arbeit vor. Neue ehrenamtliche Mitarbeiter/-<br />

innen sind willkommen.<br />

In diesem Jahr wurde der Lisbeth-Treff mit dem Senfkormpreis der Caritas<br />

ausgezeichnet.<br />

Das „Senfkorn“ wird seit 1987 von der Arbeitsgemeinschaft Caritas der Gemeinde<br />

verliehen.<br />

Als Zusammenschluss ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht es der<br />

ArGe nicht nur um die Würdigung des Ehrenamtes, sondern auch um Förderung und Qualifizierung<br />

für Engagierte.<br />

UND ES HAT ZOOM GEMACHT...<br />

SERUM 114 „ANTIHELD“<br />

Sie beschreiben sich selbst als „stolzer, sturer<br />

und ehrlicher Haufen“ und haben sich<br />

nach jenem unheilbringenden Mittel benannt,<br />

das in Stanley Kubricks Filmklassiker<br />

„Clockwork Orange“ Berühmtheit erlangte:<br />

SERUM 114.<br />

In der Tat sind die Frankfurter Punkrocker<br />

von SERUM 114 unbequemer und dabei<br />

auch zäher als die meisten anderen jungen<br />

Bands. Und hätte man den Hessen diese<br />

Eigenschaften nicht injiziert - sie wären<br />

längst an ihrem Schicksal vergiftet. SERUM<br />

114 haben wie kaum andere junge deutsche<br />

Künstler die drastischen Nebenwirkungen<br />

vom Traum des Musikmachens erfahren. Von<br />

Anfang an mussten sie für ihren Traum hart<br />

arbeiten. Als dann Mitte 2000 ein dicker<br />

Plattenvertrag winkt, glauben sich SERUM<br />

114 ihrem Ziel einen großen Schritt näher.<br />

Ein Videodreh steht ins Haus, ein Marketingplan<br />

mit riesigem Werbebudget wird<br />

aufgesetzt und die Zeit scheint für SERUM<br />

114 gekommen, um ihre Wirkung richtig entfalten<br />

zu können. Doch dann zerbricht das<br />

Reagenzglas über Nacht: ihre Plattenfirma<br />

meldet Insolvenz an, kann noch ausstehende<br />

Budgets nicht mehr stemmen und die vier<br />

jungen Musiker stehen vor dem Nichts - und<br />

vor einem ganzen Berg Schulden, der auf ihr<br />

Konto gegossen wurde. Die Band ist mental<br />

und finanziell am Abgrund und kann sich<br />

nicht einmal mehr die Miete für ihre Wohnungen<br />

und den Proberaum leisten.<br />

Daraufhin spielten Serum 114 erst recht<br />

an jeder Steckdose der Republik, um sich<br />

auf knapp 200 Konzerten all den Frust und<br />

die Schulden der Insolvenz aus dem Leib zu<br />

spielen.<br />

Zwei Jahre lang verbringen SERUM 114,<br />

bis sich mit Rookies & Kings, dem Label der<br />

deutschen Erfolgsrocker von FREI.WILD<br />

(Platz 2 der deutschen Media Control Charts<br />

mit dem aktuellen Album „Gegengift“) ein<br />

neuer Firmenpartner findet. Zwei Jahre, in<br />

denen ein ganzes Labor voller neuer Songideen<br />

entsteht, die nun laut, unangepasst und<br />

gesellschaftskritisch ihrer Veröffentlichung<br />

entgegen brodeln.<br />

Komplett im „Alleingang“ führten Serum<br />

114 ihre zweite Albumproduktion durch und<br />

recordeten, mischten und produzierten das<br />

daraus entstandene Werk selbst. Lediglich<br />

ein Hosentaschenbudget war dafür nötig.<br />

„Antiheld“ heißt der bezeichnende Titel des<br />

neuen, am 28. April erscheinenden Albums.<br />

Er beschreibt die Musiker hinter SERUM<br />

114. „Ein Antiheld ist jemand, der seinen eigenen<br />

Weg geht, auch wenn dieser nicht an<br />

gesellschaftlichen Moralvorstellungen entlang<br />

führt“, erklärt Sänger Esche. „Wir sind<br />

stolz darauf, solche Antihelden zu sein und<br />

immer unseren Weg gegangen zu sein, auch<br />

wenn der noch so steinig und unpopulär war.<br />

Wir können ohne Reue auf alles zurückblicken<br />

und werden diesen Weg ganz sicher und<br />

unbeirrt so weitergehen.“<br />

SERUM 114 scheuen sich nicht davor,<br />

auch unbequeme Themen anzusprechen. In<br />

ihrem Song „Hängt Sie Höher“ kritisieren sie<br />

das zunehmende Gefälle zwischen arm und<br />

reich in unserer Gesellschaft, oder, um es<br />

mit den direkten Worten von Sänger Esche<br />

zu beschreiben, machen sie darin , eine klare<br />

Ansage an die ganzen Vorstandswichser und<br />

Manager, die unter anderem für die Scheiße<br />

verantwortlich sind, die auf sozialer Ebene<br />

gerade abgeht. „Dennoch möchte die Band<br />

nicht als „Dauerkritisierer“ gesehen werden,<br />

sondern als ganz normale Zeitgenossen, die<br />

auch ganz persönliche Themen wie Liebe und<br />

Verlassen werden beschäftigt. „Irgendwann<br />

hat man das Rummeckern auch satt“, so<br />

Esche. „Viel wichtiger ist es doch mittlerweile<br />

geworden, an Dinge zu appellieren, die in unserer<br />

Wohlstandsgesellschaft fast vollständig<br />

verloren gegangen sind, zum Beispiel Zusammenhalt<br />

oder Teilen. Auch wenn es grade<br />

nichts zu teilen gibt. In vielen Ländern sind<br />

diese Dinge noch eine Selbstverständlichkeit<br />

- bezeichnenderweise oft in Ländern, die<br />

über kein staatliches soziales Netz verfügen.“<br />

Sozialität kann man SERUM 114 wiederum<br />

nicht absprechen. Am 28. Januar ist als<br />

Vorgeschmack zum Album mit „Was Wir Machen“<br />

eine Single erscheinen, auf der die Band<br />

mit ihren Labelkollegen FREI.WILD zusammengearbeitet<br />

hat.<br />

Band:<br />

Esche (Vocals / Guitar), Markus (Bass), Nils<br />

(Drums) und Thorsten (Guitar) kennen sich<br />

seit über 10 Jahren und machten in diversen<br />

Bands zusammen die Hessische Region unsicher.<br />

Nach der Gründung der Band Serum<br />

114 war jedoch schnell klar, dass die Jungs<br />

nicht nur in Frankfurt ihre schweißtreibenden<br />

Rock‘n‘Roll Shows spielen wollen.<br />

Shows:<br />

Insgesamt spielte Serum 114 über 300<br />

Live Shows in Deutschland, Österreich,<br />

Schweiz, Belgien, Niederlande und Frankreich.<br />

Alleine im Jahr 2008 waren es über<br />

120 Konzerte.<br />

Text und Fotos Sandra Eichner<br />

Vertrieb: WWW.intergroove.de


10<br />

GESCHICHTE<br />

Der Wein und sein geschichtlicher Hintergrund (Teil 1)<br />

„Durst ist ein stärkerer Urtrieb als Hunger,<br />

weil der menschliche Organismus außerstande<br />

ist, längere Zeit ohne Flüssigkeitszufuhr<br />

auszuhalten, während er viele Wochen<br />

lang auf feste Nahrung verzichten kann.“<br />

Das Trinken von Wasser war jedoch in<br />

früherer Zeit mit Sicherheit problematisch,<br />

wenn nicht sogar gefährlich. Eine Definition<br />

von Trinkwasser lautet: „Das Wasser<br />

muss kühl, appetitlich, geruch- und farblos<br />

sein und von seiner Natur her zum Genuss<br />

anregen.“. Dies war häufig ganz und gar<br />

nicht der Fall. Oftmals war Wasser verunreinigt,<br />

was zum Ausbruch schwerwiegender<br />

Krankheiten und Seuchen führte. Erst ab<br />

dem 19. Jahrhundert existierte ein Abwasserentsorgungssystem,<br />

das die Verschmutzungen<br />

eindämmte und die Wasserqualität<br />

entscheidend erhöht hat. Die unzureichende<br />

Trinkwasserversorgung löste bis dato<br />

schwere Epidemien aus.<br />

Mangels Kenntnissen nahm man an, das<br />

die Cholera und andere Krankheiten wie die<br />

damals in Europa bereits ausgestorbene Pest<br />

sowie der Aussatz, gleichfalls nur noch eine<br />

Erinnerung aus dem Mittelalter, durch das<br />

Trinkwasser oder üble Gerüche übertragen<br />

werden. Dabei setzte man den Aussatz mit<br />

Lepra gleich, was vermutlich keine Basis in<br />

Faktischen hat.<br />

Über die Entdeckung des konservierenden<br />

Alkohols kann man in der „Kulturgeschichte<br />

des Essens und Trinkens“ folgende<br />

Informationen finden, auf die sich alle nachfolgenden<br />

Erkenntnisse stützen. Regenwasser<br />

war deutlich sauberer als das meiste<br />

Wasser in den Flüssen, Bächen, Teichen<br />

und Seen. Die Menschen lernten sehr früh,<br />

es aufzufangen. Zum Beispiel mit Hilfe von<br />

allen möglichen Gefäßen, Mulden und später<br />

auch Zisternen. Aber es blieb nicht lange<br />

frisch und trinkbar und in vielen Gegenden<br />

der <strong>Welt</strong> regnete es auch nicht genug.<br />

Besonders in den Gebieten, in denen sich viele<br />

Menschen versammelten, wie in den Städten,<br />

half der Alkohol, kein risikobehaftetes<br />

Wasser trinken zu müssen. Im Alten Ägypten<br />

(etwa 1800 v.Chr). war der Alkoholkonsum<br />

beispielsweise geringer als in Griechenland.<br />

Das Nilwasser war besser als das griechischer<br />

Flüsse.<br />

In der einen oder anderen Form haben ihn<br />

die Menschen so gut wie überall getrunken,<br />

sobald sie ihn entdeckt hatten, mit Ausnahmen<br />

einiger Völker im südlichen Pazifik und<br />

einiger in Amerika, natürlich bevor Kolumbus<br />

den Kontinent entdeckte.<br />

Ziemlich sicher ist Met, aus Honig mit<br />

Wasser, eines der ersten vergorenen Getränke<br />

der Menschheit gewesen.<br />

Der hohe Zuckergehalt des Honigs ermöglichte<br />

die spontane Gärung, sobald genügend<br />

Wasser zugesetzt wurde. Vielleicht<br />

war es nur Regenwasser. Und lange danach<br />

war Met wahrscheinlich eines der ersten<br />

Genuss von Met im Alten Ägypten<br />

Getränke, die dann zu Höherprozentigem<br />

destilliert wurden.<br />

Viele Völker der tropischen Länder mischten<br />

von jeher Honig wilder Bienen oder auch<br />

von Erdhummeln mit Wasser. Das verwendete<br />

Gefäß brauchte nur längere Zeit verschlossen<br />

in der Hitze stehen zu bleiben, dann<br />

lösten Wildhefen im Wasser die Gärung aus.<br />

Das Getränk wurde zu Met, ohne dass die<br />

Menschen großartig nachhelfen mussten.<br />

Met beglückte die Völker fast aller Kontinente,<br />

mit Ausnahme der Indianer Nordamerikas.<br />

Er wurde auch den Göttern als<br />

Opfergetränk dargebracht. Egal ob in Brasilien,<br />

in Afrika oder in England. Met liebten<br />

Griechen und Italiener, Kelten und Preußen<br />

gleichermaßen. Die Römer genossen sogar<br />

verschiedene Arten von Honiggetränken:<br />

Met, Honigwein (oenomeli) und Honigmost<br />

(mulsum). Neuvermählte tranken in ihrem<br />

ersten Monat miteinander Honigwasser.<br />

Noch immer stammt aus jener Zeit der Ausdruck:<br />

„Honey moon“. Met war somit lange<br />

von größter Bedeutung.<br />

Jedoch vollzog sich ca. 10.000 vor Chr.<br />

ein entscheidender Wandel, wie Historiker<br />

belegen. Der systematische Anbau von Pflanzen<br />

zu Ende der letzten Eiszeit begann. Die<br />

Menschen begannen in Amerika, China und<br />

dem nahen Osten, gleichermaßen begünstigt<br />

durch den Klimawandel, sesshaft zu werden<br />

und Ackerbau zu betreiben. Diese Epoche<br />

nennt sich die neolithische Revolution. Diese<br />

Entwicklung brachte dem Met langfristig<br />

vor mindestens 7500 Jahren eine gewaltige<br />

Konkurrenz: Das Bier und der Wein.<br />

Honiggetränke waren schließlich deswegen<br />

im Nachteil, weil Honig lange als wichtiger<br />

Süßstoff diente und äußerst kostbar war.<br />

So war es verschwenderisch, ihn zu einem<br />

Rauschgetränk zu machen, sobald es auch<br />

andere Möglichkeiten gab. Immerhin profitierten<br />

Bier und Wein ebenfalls vom Honig,<br />

der ihnen oft beigemischt wurde, bis sich die<br />

Menschheit an weniger süße Rauschgetränke<br />

gewöhnte. Denn Rauschgetränke blieben<br />

sie, auch wenn schon vor Jahrtausenden begonnen<br />

wurde, Wein und Bier zum Essen zu<br />

trinken.<br />

Eine wilde Vorstufe der frühesten bekannten<br />

Weinpflanze ( Vitis Vinifera sativa ), die<br />

noch als Liane Laubbäume erklomm, hatte<br />

die Eiszeit in Tälern, im Windschatten eines<br />

Gebirges überlebt: An der Ostküste des<br />

schwarzen Meeres, am Kaukasus. In Georgien<br />

herrschte ein Klima, das ihre Verbreitung<br />

ermöglichte. Dort wurde wahrscheinlich<br />

auch der erste trinkbare Wein gekeltert. In<br />

der Gegend um Vorderasien verbreitete sich<br />

der Weinbau bis in den Orient und nach<br />

China. Es ist bekannt, dass in Vorderasien<br />

bereits im 6. Jahrtausend v. Chr. Weinbau<br />

betrieben wurde. Die ältesten Spuren sind<br />

ca. 7400 Jahre alt.<br />

Etwa gleich alt sind Keilschrifterzeugnisse<br />

der Sumerer, einer<br />

mesopotamischen<br />

Hochkultur, die<br />

dies belegen und<br />

nur 1000 Jahre<br />

jünger sind sumerische<br />

Rollsiegel<br />

mit Weinmotiven,<br />

die aus dem<br />

Irak stammen.<br />

Ähnliche Funde<br />

fanden sich auch<br />

im Iran und in<br />

Anatolien. Die<br />

Sumerer hatten<br />

bereits eine eigene<br />

Weingöttin, die<br />

sie verehrten.<br />

Im Alten Ägypten zur Zeit<br />

der Pharaonenherrschaft,<br />

die ca. 3000 vor Chr. begann,<br />

wurde bereits intensiv<br />

Wein angebaut. Die Ägypter<br />

erfanden sogar Haltevorrichtungen,<br />

damit Arbeiter,<br />

die die Weintrauben mit<br />

den Füßen stampften, nicht<br />

ausrutschten. Die Reste<br />

wurden nachträglich in Säcken<br />

ausgewrungen. Die<br />

Ägypter etikettierten bereits<br />

ihre Weine, indem sie in die<br />

Krüge geritzt genau Sorte,<br />

Jahr und Hersteller angaben.<br />

Auch eine Kunst des<br />

Rebschnitts wurde entwickelt,<br />

die noch Jahrhunderte<br />

später die antiken Griechen<br />

veranlasste, Ägypter<br />

ihre Weinberge pflegen zu<br />

lassen.<br />

Das Bier galt eher als Getränk der einfachen<br />

Bevölkerung, während der Wein gerne<br />

an Festen der Oberschicht getrunken wurde.<br />

Darüber hinaus spielte Wein eine wichtige<br />

Rolle bei religiösen Anlässen und Begräbnissen.<br />

Er wurde sogar als Grabbeigabe<br />

verwendet.<br />

Zu Griechenland sind folgende Informationen<br />

zu finden: In der griechischen Antike,<br />

ca. 800 - 146 v. Chr., unterschied man drei<br />

Sorten Wein: Den Weißen, Schwarzen und<br />

Bernsteinfarbenen. Die alten Griechen gelten<br />

als wichtige Vorläufer der europäischen<br />

Zivilisation und so wurde bereits damals<br />

zwischen trockenen (austeros), halbtrockenen<br />

(autokratos) oder süßen (glykazon) Weinen<br />

unterschieden. Ebenso wurde ein alter Wein<br />

gegenüber einem jungen als besser angesehen.<br />

Der Wein hatte einen relativ hohen Alkoholgehalt.<br />

Man geht von 15-16 % aus. Daher<br />

wurde er grundsätzlich verdünnt mit Wasser<br />

getrunken. Doch noch einen anderen Grund<br />

gab es für diesen Brauch: Der Genuss unverdünnten<br />

Weines galt als unmäßig und wurde<br />

den Barbaren angelastet. Nur bei dem häufig<br />

zelebrierten Trankopfer, das den Göttern<br />

dargebracht wurde, wurde zur Eröffnung<br />

eines gemeinsamen Trinkgelages (Symposions)<br />

unvermischter Wein verwendet. Üblicherweise<br />

wurden ansonsten zwei Teile Wein<br />

auf fünf Teile Wasser gemischt. Auch wurde<br />

manches Mal Schnee verwendet. Bereits eine<br />

Mischung aus zwei gleichen Teilen Wein<br />

und Wasser galt als „akratos“. Dies bedeutet<br />

unvermischt.<br />

Meistens stammte der Wein, der im antiken<br />

Griechenland getrunken wurde, aus<br />

dem lokalen Anbau. Seine genaue Herkunft<br />

konnte man an den Transportamphoren erkennen,<br />

die entweder eine charakteristische<br />

Form besaßen oder Abbildungen trugen. Zur<br />

Lagerung bewahrte man den Wein in versiegelten<br />

Tonkrügen oder Schläuchen aus Ziegenhaut<br />

auf.<br />

Gemischt wurde er dann in einem sogenannten<br />

„kratèr“ und letztendlich aus flachen<br />

Schalen mit hohem Fuß getrunken.<br />

Die Griechen verehrten den Gott Dionysos,<br />

der ursprünglich nur Gott der Pflanzenwelt<br />

und der Fruchtbarkeit war, dann aber<br />

zum Gott des Weines wurde. Bei den Römern<br />

wurde dieser als Bacchus bezeichnet und war<br />

dahingehend besonders erfolgreich, als dass<br />

sein Kult den Weinbau und die Weinpflege<br />

förderte.<br />

Die Verbreitung des Weines über andere<br />

Teile Europas wurde durch die Vergrößerung<br />

Klassische Darstellung des Dyonisos<br />

des Römischen Reiches angetrieben, das im<br />

6. Jahrhundert v.Chr. bis zum 6. Jahrhundert<br />

n. Chr. Existierte. Ursprünglich war der<br />

Weinbau in den Provinzen verboten, aber<br />

unter den Kaisern obsiegte der Weindurst<br />

über die Profitgier der italienischen Weinbauern.<br />

Die Kelten pflanzten Weinreben und<br />

waren mit dem Keltern vertraut. Die Römer<br />

bauten in ihren eroberten Provinzen die regionalen<br />

Künste weiter aus. Vom Rheintal über Gallien<br />

bis nach England instrumentalisierten sie die<br />

Einheimischen, um ihren Weinbedarf decken zu<br />

können. Auch im nördlichen Afrika war der Wein<br />

bis zur islamischen Eroberung weit verbreitet<br />

Caravaggios Selbstportrait<br />

als kranker Bacchus<br />

Ähnlich wie die Griechen tranken die Römer<br />

Wein oft mit Wasser vermischt. Er stellte zur<br />

damaligen Zeit auch nicht das Genussmittel<br />

von heute dar, sondern war ein Getränk,<br />

dem man stärkende und heilende Wirkung<br />

zusprach und auf das man bei den Eroberungen<br />

nicht verzichten wollte.<br />

Yulika Bunya<br />

(Bildquellen: kestan.com; rpmedia.ask.com,<br />

gym-griez-eyv.sch.gr.)<br />

Ende des 1. Teils


SOZIALES<br />

11<br />

Mit Geduld und Puste<br />

Über die Barrierefreiheit Frankfurter Verkehrsmittel<br />

Auch wenn die Stadt Frankfurt sich bemüht,<br />

die öffentlichen Verkehrsmittel barrierefreie<br />

zu gestalten, bleibt noch viel zu<br />

verbessern. Denn wessen Mobilität eingeschränkt<br />

ist und in der Rhein-Main-Region<br />

mit Bus und Bahn fährt, kommt oft nur<br />

über Umwege ans Ziel.<br />

Der Weg aus dem U-Bahn-Schacht ans Tageslicht<br />

bereitet dem jungen Mann sichtlich<br />

Mühe. Langsam setzt er einen Fuß vor den<br />

anderen, er macht Pausen, atmet tief durch.<br />

Lang ist der Anstieg, zu lang, sagt er. Aber<br />

die flach aufsteigende Treppe sei immer noch<br />

besser zu bewältigen als die andere, die mit<br />

den hohen Stufen auf der gegenüberliegenden<br />

Seite. Nahezu jeden Tag mache er diese<br />

Quälerei durch, sein linkes Bein ist seit einem<br />

Unfall teilweise gelähmt. Einen Fahrstuhl<br />

gibt es hier nicht, obwohl die Kreuzung<br />

Eschersheimer Straße/Miquelallee ein zentraler<br />

Punkt der Stadt ist. Auf der einen Seite<br />

steht das Polizeipräsidium, auf der anderen<br />

das Amt für Wohnungswesen. Zwei Gebäude,<br />

die täglich von Hunderten von Menschen<br />

aufgesucht werden. Darunter auch viele, die<br />

gehbehindert oder auf einen Rollstuhl angewiesen<br />

sind. An der Pforte des Präsidiums<br />

kennt man die Verhältnisse. „Wer ins Präsidium<br />

will und die Treppen nicht nutzen<br />

kann, muss leider an einer anderen Station<br />

aussteigen“, sagt ein Beamter. Die Haltestelle<br />

Dornbusch sei barriereifrei, weiß sein Kollege,<br />

da komme man auch mit einem Rollstuhl<br />

zurecht. Doch wie bewältigt man die Strecke<br />

von dort bis zum Präsidium, wenn man bewegungseingeschränkt<br />

ist? Der junge Mann<br />

hat mittlerweile den Gehsteig erreicht und<br />

wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Viele<br />

Eltern mit kleinen Kindern wohnen hier<br />

in der Gegend“, sagt er. „Die kommen mit<br />

ihren Kinderwagen auch nicht hier hoch.“<br />

Für sie und ihn stünde noch die Buslinie 32<br />

zur Verfügung – die hält zwar an der Straße,<br />

direkt vor dem Präsidium, als Alternative zur<br />

U-Bahn taugt sie aber wenig, denn sie ist eine<br />

Querverbindung zwischen Hauptbahnhof<br />

und Ostbahnhof.<br />

Teures Nachrüsten<br />

Seit dem Jahr 2002 hat die Frankfurter Polizei<br />

ihren Hauptsitz an der Eschersheimer<br />

Straße. „Bei der Planung wurde wieder mal<br />

nicht darauf geachtet, dass der Standort von<br />

allen Bürgerinnen und Bürgern gleich gut<br />

erreichbar ist“, sagt Andrea Rüb. Als ehrenamtliche<br />

Mitarbeiterin des Zentrums für<br />

selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen<br />

in Frankfurt hat sie solche Szenarien<br />

schon öfter er lebt. Besonders missglückt sei<br />

der Umzug der Volkshochschule (VHS) vom<br />

Eschenheimer Tor in die Sonnemannstraße<br />

im Frankfurter Ostend. War die VHS früher<br />

gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu<br />

erreichen, so gibt es nun keinen direkten U-<br />

Bahn-Anschluss mehr. Denn die nahegelegene<br />

Station Ostendstraße ist nicht ausreichend<br />

Haltestelle Musterschule: Barrierefrei sieht anders aus<br />

ausgestattet, sodass für Rollstuhlfahrer nur<br />

noch der Notnagel Behindertentaxi bleibt.<br />

16 kostenfreie Fahrten können sie monatlich<br />

in Anspruch nehmen. Doch in der VHS ist<br />

auch das Abendgymnasium untergebracht.<br />

Wer dort ein- oder zweimal in der Woche hinund<br />

wieder zurückfährt, hat sein Kontingent<br />

schnell aufgebraucht. Für weitere Taxifahrten,<br />

etwa zum Einkaufen, muss dann bezahlt werden.<br />

Natürlich gab es vorab viele Einwände ob<br />

der abgelegenen Lage – doch die öffentliche<br />

Hand zeigte sich unnachgiebig. Erst jetzt wird<br />

den Bauherren klar, dass nachgerüstet werden<br />

muss, auch mit Blick auf die Zukunft. „Wir<br />

leben in einer alternden Gesellschaft, immer<br />

weniger Menschen werden künftig uneingeschränkt<br />

mobil sein. Von daher besteht auf jeden<br />

Fall Handlungsbedarf“, sagt Andrea Rüb.<br />

Kurzum: Es muss verbessert werden, was vor<br />

einigen Jahren bereits beim Umzug hätte günstiger<br />

geleistet werden können. „Das ist nicht<br />

nur zeitaufwändiger, sondern verschwendet<br />

auch Steuergelder.“<br />

Langwierige Entscheidungsfindung<br />

Mühsam sei es, sagt Rüb, die Behörden für solche<br />

Dinge zu sensibilisieren. Das hat sie in all<br />

den Jahren erfahren müssen, in denen sie sich<br />

gegen Missstände eingesetzt hat. Als Beispiel<br />

nennt sie die U-Bahn-Haltestelle Musterschule.<br />

Die liegt zwar oberirdisch, doch sind die<br />

Bahnen mit Treppen ausgestattet, das Einsteigen<br />

mit Rollstuhl ist also nicht möglich. Seit<br />

den neunziger Jahren diskutiert man im Römer,<br />

wie man die Station behindertengerecht<br />

umwandeln kann. Erst vor zwei Jahren fiel<br />

eine Entscheidung, die Haltestelle wird nun<br />

als Hochbahnsteig angelegt. Bis die Umbauten<br />

fertig sind, kann es aber noch Jahre dauern –<br />

das weiß Rüb aus Erfahrung. Aber nicht nur<br />

die U-Bahn, auch Tramlinien sind problematisch.<br />

Viele neue Bahnmodelle haben zwar<br />

flache Einstiege, trotzdem gibt es an manchen<br />

Stationen große Höhenunterschiede zum<br />

Bordstein. Die ausklappbare Rollstuhlrampe<br />

steht dann steil, das kostet viel Kraft. „In<br />

Düsseldorf oder München ist die Situation<br />

für Rollifahrer deutlich besser“, sagt Andrea<br />

Rüb.<br />

Verbesserungswürdiger Kundendienst<br />

Die VGF bietet seit kurzer Zeit einen im<br />

Grunde lobenswerten Service an: Auf der<br />

Internetseite des Verkehrsverbundes findet<br />

man eine „Fahrplanauskunft für eine barrierefreie<br />

Reisekette“. Wie üblich gibt man<br />

den Abfahrts- und Ankunftsort an – neu<br />

ist, dass hier auch vorhandene Aufzüge<br />

oder Rampen an den Stationen angezeigt<br />

werden. Wer mobilitätseingeschränkt ist,<br />

weiß so vor der Reise mehr über die Situation<br />

vor Ort. Was nützt aber dieser Service,<br />

wenn etwa auf der Linie U3, die prinzipiell<br />

barrierefrei ist, alte Züge eingesetzt werden,<br />

die im Einstiegsbereich mit Trennstangen<br />

versehen sind? „Das kommt manchmal<br />

vor und in diesem Fall ist die Strecke für<br />

Rollifahrer nicht nutzbar.“ Da heißt es warten<br />

und hoffen, dass die nächste Bahn ein<br />

neueres Modell ist. Warten muss man auch,<br />

wenn ein Aufzug nicht funktioniert. Bis der<br />

Wartungsdienst, den man über eine kostenlose<br />

Telefonnummer erreichen kann, vor Ort<br />

ist, vergeht viel Zeit. Oft ist man schneller<br />

am Ziel, wenn man mit der Bahn zur nächsten<br />

Station fährt.<br />

Bevor der öffentliche Verkehr in Frankfurt<br />

komplett barriefrei ist, wird wohl noch viel<br />

Zeit vergehen. Bei Andrea Rüb schwindet<br />

allmählich die Energie, sich weiter für die<br />

Belange Betroffener einzusetzen. Grund sind<br />

die Behörden, die zu langsam oder ignorant<br />

handeln. Das Fass zum Überlaufen gebracht<br />

haben die Kommunale Baubehörde und die<br />

Deutsche Bahn, als sie im vergangenen Jahr<br />

die VIP-Lounge im Frankfurter Hauptbahnhofs<br />

erweitert und eine von zwei Behindertentoiletten<br />

wegsaniert haben. Das alleine ist<br />

schon unerhört und verstößt unter anderem<br />

gegen Paragraf 46 der Hessischen Bauordnung.<br />

„Die vorhandene Toilette ist zudem<br />

mangelhaft ausgestattet und nur sehr schwer<br />

eigenständig nutzbar“, sagt Rüb. Unter anderem<br />

ist der Sitz so hoch angebracht, dass man<br />

zum Umsetzen vom Rolli zum Toilettensitz<br />

Hilfe benötigt. Mit einem Schreiben wandte<br />

sie sich unter anderem an die Frankfurter<br />

Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU).<br />

In einem Antwortbrief teilte ihr die Stadt<br />

Frankfurt mit, dass diese Änderung „notwendig<br />

sei“ und dass man im Grunde nicht verstünde,<br />

welche Einwände sie gegen die übrig<br />

gebliebene Toilette hätte. Sie sei doch sauber<br />

und würde regelmäßig geputzt.<br />

Text und Fotos: Marc-Alexander Reinbold<br />

Haltestelle Miquel-/Adickesallee, langgezogene Stufen<br />

machen den Aufstieg für Gehbehinderte beschwerlich<br />

Das kostenfreie Zeitungsarchiv auf:<br />

www.soziale-welt-ffm.de/archiv


12<br />

FAMILIE<br />

Der weiße Elefant<br />

Ein Märchen aus Indien<br />

Vor langer, langer Zeit lebten viele<br />

Zimmerleute an einem Flussufer in der<br />

Nähe eines großen Waldes. Jeden Tag<br />

mussten sie in den Wald gehen und<br />

Bäume fällen. Daraus machten sie dann<br />

am Flussufer Bretter und Bohlen für<br />

Dächer und Hauswände, was man eben<br />

braucht zum Bauen aus Holz und was<br />

man mit Axt, Beil und Handsäge so<br />

herstellen kann. Die Zimmerleute waren<br />

arm, aber ein anderes Leben kannten sie<br />

nicht. Sie schätzen den Wald, denn er<br />

bot ihnen nicht nur den Lebensunterhalt.<br />

Ihre Frauen und Kinder sammelten Obst<br />

und essbare Wurzeln am Rande des<br />

Waldes und die Heilkundigen blieben oft<br />

tageweise in der Tiefe des Waldes und<br />

kamen mit geheimnisvollen Wurzeln und<br />

Kräutern zurück, die man bei Krankheiten<br />

anwendete. Manchmal halfen sie,<br />

manchmal nicht.<br />

Die Zimmerleute waren nicht alleine im<br />

Wald, das wussten sie. Sie fürchteten<br />

den zuweilen übellaunigen Tiger und die<br />

immer bissigen Schlangen. Viele davon<br />

waren sogar giftig und man starb an ihrem<br />

Biss. Das gewaltigste Tier im Wald war<br />

der Elefant. Den hörte man manchmal,<br />

aber noch keiner hatte ihn zu Gesicht<br />

bekommen.<br />

Eines Tages, als sie wieder bei der Arbeit<br />

waren, kam einer der grauen Giganten<br />

auf sie zu. Er gab klagende Töne von<br />

sich und humpelte auf drei Beinen. Die<br />

Zimmerleute gingen furchtsam näher<br />

heran und sahen, dass sich der Elefant<br />

einen großen Splitter in den Fuß gerannt<br />

hatte. Der war nun dick und sah sehr<br />

krank aus. Einer der Zimmerleute stieg<br />

ins Boot und fuhr ins Dorf. Von dort<br />

brachte ein Messer und Zangen mit, die<br />

ihm der Schmied geliehen hatte, und einen<br />

Heilkundigen mit seinem Kräuterbeutel.<br />

Dann zogen sie mit vieler Mühe den<br />

Splitter aus der Wunde und säuberten<br />

sie, soweit sie konnten. Der Heilkundige<br />

kochte einen Kräutersud und verband<br />

die Wunde, so gut er konnte. Und dann<br />

brachten sie dem Elefanten Früchte und<br />

Äste mit Laub zum Essen und baten<br />

ihn, sich hinzulegen. Sie würden für ihn<br />

sorgen, solange er nicht laufen konnte,<br />

sagten sie. Und so geschah es.<br />

Als der Elefant wieder gesund war und auf<br />

eigenen Füßen stand, dachte er bei sich:<br />

„Die Zimmerleute haben mir geholfen.<br />

Also will ich ihnen auch helfen.“ Er<br />

drückte mit seiner breiten Stirn Bäume<br />

für sie um, damit sie nicht so lange<br />

sägen mussten. Er rollte Stämme in den<br />

Fluss. Und manchmal brachte er ihnen<br />

mit seinem geschickten Rüssel auch<br />

Werkzeuge, die sie in Wald vergessen<br />

hatten oder gerade dringend brauchten.<br />

Das Dorf war froh über seinen Elefanten.<br />

Die Zimmerleute sammelten die Äste der<br />

Bäume für ihn zum Essen, die Frauen<br />

gaben gerne von den gesammelten<br />

Früchten ab und die Kinder sangen<br />

ihm Lieder und schmückten ihn mit<br />

Blumenkränzen.<br />

Aber auch Elefanten werden alt und<br />

verlieren ihre Kraft. Doch der alte Elefant<br />

hatte einen Sohn, einen weißen Bullen<br />

von außerordentlicher Stärke. Als der<br />

alte Elefant fühlte, dass seine Tage bald<br />

zu Ende gehen würden, lehrte er seinen<br />

Sohn, wie man mit den Zimmerleuten<br />

zusammenarbeitet, und der weiße<br />

Elefant nahm seine Rolle ein. Er half den<br />

Zimmerleuten und das ganze Dorf sorgte<br />

für ihn, so gut sie es eben konnten.<br />

Eines Tages kam der König vorbei und<br />

sah den schönen und klugen weißen<br />

Elefanten. Der spielte im Fluss mit den<br />

Kindern. Mal spritzte er sie nass, dann<br />

setzte er sie mit seinem Rüssel auf Ästen<br />

oder ließ sie auf seinem Rücken reiten.<br />

Dafür rieben die Kinder ihn sorgfältig mit<br />

dem Flussschlamm ab und verjagten die<br />

Mücken, die auch für Elefanten eine Plage<br />

sind.<br />

Der König hatte noch nie einen Elefanten<br />

gesehen, der mit den Menschen<br />

zusammenlebte und arbeitete. Er wollte<br />

dieses gewaltige Tier mit sich nehmen<br />

und bat die Dorfbewohner, ihm gegen<br />

eine große Zahlung den weißen Elefanten<br />

zu überlassen. Die Dorfbewohner fragten<br />

den Elefanten, ob er mit dem König<br />

gehen wollte. Der weiße Elefant aber war<br />

neugierig und wollte etwas mehr von der<br />

<strong>Welt</strong> sehen als den Wald und das Dorf.<br />

So ging er mit dem König weit weg und<br />

sah andere Dörfer, große Ströme, endlose<br />

Felder ohne Wald und schließlich die<br />

große Stadt und den Palast des Königs. Er<br />

war es zufrieden und trug den König gerne<br />

in seinen Festzügen auf dem Rücken.<br />

Der König aber ließ einen großen Teich<br />

graben, im dem seine Kinder sich mit dem<br />

Elefanten vergnügen konnten. Er sorgte<br />

gut für ihn. Der Elefant dachte an seinen<br />

Vater, den alten Elefanten, und brachte<br />

anderen Elefanten bei, mit den Menschen<br />

zu arbeiten. Der König und sein ganzes<br />

Volk waren sehr stolz auf den Anführer<br />

der Grauen, den weißen Elefanten. Der<br />

König und seine Nachfolger sorgten<br />

gut für den weißen Elefanten, so lange<br />

er lebte, und später für die anderen<br />

Elefanten, die sich den Menschen<br />

angeschlossen hatten. Und das ist auch<br />

heute noch so.<br />

RS<br />

…wann de Berjer nach seiner Meinung<br />

gefracht werdd. In Frankfort alle finf<br />

Johr, bei de Kommunalwahl. Des find<br />

ich zwor reischlisch lang, awwer die<br />

Stadtabgeordnete brauche e Johr, bis se<br />

sisch dreimal umgedreht und des richtische<br />

Plätzje fer zum Schlofe gefunne habbe. En<br />

Hund is da viel schneller in seim Körbche.<br />

Nor – diesmal hawwe se misch werklich<br />

geärjert. Un zwor alle Parteie un des<br />

ganze System. De Ärjer begann mit dem<br />

Probe-Wahlzettel – so groß wie e Plakat<br />

unn unmöchlich widder zesamme ze falte.<br />

Des Wahlsystem mi dem Kumulieren un<br />

Panaschieren is zwor ebbes kompliziert,<br />

awwer des stört de Berjer wenischer – die<br />

maaste wähle sowieso nor die gleisch<br />

Partei wie vor finf Johr. Awwer des<br />

Rieseding in de Wahlkabin ausenanner<br />

ze falte unn vor alle Dinge widder in den<br />

vorgesehene Umschlag ze packe, des<br />

hält uff. Deshalb habb isch briefgewählt<br />

– do heert misch kanner, wann isch<br />

bei Zesammefalte fluch wie en Derk.<br />

Ärscherlisch is es nor, des es ka werksam<br />

Prozentbegrenzung gibt – elf Parteie im<br />

Römer sind aafach zu viel. Denn zwecks<br />

Profilierung muß jedder zu allem sein Senf<br />

gewwe. Zum Schluß heert kanner mehr zu<br />

unn die ganz Diskussion wor fer die Katz.<br />

Richtsch ärjerlisch worn die Wahlplakate.<br />

In dem Johr worn se außergewehnlisch<br />

dumm, bei rundweg alle Parteie. Dorsch<br />

Es is jo gor schee<br />

die Bank is dene Herr- und Frauenschafte<br />

nix eingefalle, außer em Juchendbildnis<br />

fun ner Frau odder em Mann, wo mer<br />

entweder nedd kennt oder nedd leide<br />

mach, odder Geschrei iwwer Theme, die<br />

im Römer gor nedd entschiede werrn<br />

kenne. Iwwer Atomenregie odder soziale<br />

Theme wird in Berlin, schlimmstefalls<br />

in Wiesbade entschiede, awwer nedd in<br />

Frankfort. Unn beim annern wichtische<br />

Thema, dem Wohnungsbau fer Wohnunge,<br />

die mer bezahle kann, da wisse mer doch<br />

alle, des jeddes Verspreche am Dach nach<br />

de Wahl widder vergesse is, rundwech<br />

dorch alle Parteie.<br />

Unn zu meim greeste Ärjer räumt kaaner<br />

den Scheiß weg. Des bleibt alles hänge<br />

bis des Wetter es auflöst. Des is frech un<br />

misst bestroft werdde. Beim Karneval<br />

unn Festzuch kimmt die Stadtreinigung<br />

und am annern Morje is nix mehr da.<br />

Bei de Wahl riehrt kanner die Plakate<br />

und die Aufsteller an. Insbesunnere nedd<br />

die Parteie, wo des Zeuch hiegestellt<br />

hawwe. Heer, da hädd isch en Vorschlag.<br />

Mer haase die FES, am Dach noch de<br />

Wahl alles weg zu reiße, egal wers<br />

uffgehängt hadd. Des wird uff die Parteie<br />

nooch Stimmezahl umgelescht unn die<br />

Abgeordnete derfe erst dann in de Römer,<br />

wann die Stadtreinigung bezahlt is. Wer<br />

nedd zahlt, bleibt drausse. Des Zeusch<br />

geht ins Blockheizkraftwerk von de<br />

Mainova. So kennt mer aus haase Luft<br />

wenigstens noch ebbes Strom mache. Un<br />

der is garantiert nedd fun Kernernergie.<br />

Maant grandisch<br />

Ihne Ihrn<br />

Riewwedippel


Historische Person<br />

Selim der Säufer<br />

Ein Trunkenbold auf dem Sultansthron<br />

13<br />

Es gab ihm wirklich: Selim II, Oberherrscher<br />

des osmanischen Reiches von 1566 bis<br />

1574. Islamistische Publizisten schreiben<br />

seiner Alkoholsucht, ob real existent oder<br />

üble Nachrede, den Verfall des osmanischen<br />

Reiches zu. Westliche Historiker folgen gar<br />

zu gerne. Aber es war alles ganz anders.<br />

Die rohen Daten: Geboren am 30. Mai<br />

1524, gestorben am 13. Dezember 1574.<br />

1566 bestieg er den Thron. Er starb als Folge<br />

eines wohl alkoholbedingten Unfalls – er<br />

hatte ein noch nicht fertig gestelltes Badehaus<br />

besucht, war ausgeglitten und hatte<br />

sich eine Lungenentzündung eingefangen.<br />

Historiker und Andere kreiden ihm die Niederlage<br />

der Türken in der Seeschlacht bei<br />

Lepanto an. Seine Erfolge werden größtenteils<br />

verschwiegen oder bagatellisiert.<br />

eine Thronübernahme gehabt hat, ob dies<br />

Pläne der Janitscharen waren oder alles nur<br />

eine im Serail ausgebrütete Lüge, das weiß<br />

man nicht. Selim profitierte und nahm 1545<br />

eine namentlich bekannte Frau: Nurbanu,<br />

eigentlich eine Venezianerin mit den Familiennamen<br />

Venier-Buffo. Aber sie war schon<br />

als Kind entführt und für den Harem aufgezogen<br />

worden. Sie soll als Valide Sutan die<br />

Zeit der so genannten Weiberherrschaft eingeführt<br />

haben – man gibt Selims Verhältnis<br />

zum Alkohol die Schuld.<br />

Drei große Schlachten<br />

Den Zenit und den schließlichen Verfall<br />

bringt man in der Literatur meist mit drei<br />

Schlachten zusammen: der gescheiterten Belagerung<br />

von Malta (1565 unter Suleiman),<br />

Nichts mehr dagegen hörte man von der<br />

Heiligen Liga: Papst Pius V starb, Genua<br />

ging wieder auf Venedig los, König Philip II<br />

hatte reichlich Probleme mit England und, ja<br />

eben, auch mit Selim. Innerhalb eines halben<br />

Jahres waren die osmanischen Schiffe wieder<br />

so zahlreich wie zuvor und die Liga zerfallen.<br />

Venedig musste Frieden machen und die<br />

Herrschaft der Osmanen im Ostteil des Mittelmeeres<br />

anerkenne. Der Westteil blieb umstritten<br />

zwischen Spanien, den italienischen<br />

Städten, den Malteserrittern und den Grimaldis<br />

(beide Letzteren kaum mehr als Piraten)<br />

und den unter osmanischer Flagge segelnden<br />

Korsaren aus Algier und Tunis. Das<br />

würde sich erst im 18. und 19. Jahrhundert<br />

ändern, als England auch im Mittelmeer die<br />

Seeherrschaft anstrebte und letztlich gewann.<br />

um die Nachfolge am schnellsten durchsetzen<br />

konnte. Rivalen wurden umgebracht.<br />

Mehrfach war die Blutlinie dadurch sehr<br />

gefährdet, die Herrschaft geriet in die Hände<br />

von unfähigen Thronfolgern, ehrgeizigen<br />

Sultansmüttern, Großwesiren mit kurzer<br />

Zeitperspektive und Generälen, die von der<br />

Abtrennung ihrer Provinzen träumten. Die<br />

Söhne des Sultans wurden in goldenen Käfigen<br />

gehalten und waren bei Thronbesteigung<br />

fern von jeder <strong>Welt</strong>kenntnis und Bildung,<br />

nicht regierungsfähig und kaum lebensfähig.<br />

Wer nicht auf den Throm kam, wurde<br />

umgebracht.<br />

Mit der Entdeckung Amerikas und des<br />

Seewegs nach Indien ging nicht nur der<br />

Handel durch das Osmanische Reich stark<br />

zurück. Schlimmer: Das Geld der Osmanen<br />

war Silber. Aber in der Folge der Eroberung<br />

Perus floss so viel Silber ins Mittelmeer, dass<br />

eine rapide Inflation unausweichlich war. Die<br />

Großwesire versuchten, mit dem alten Mittel<br />

der Münzverschlechterung dagegen zu<br />

halten. Das hatte schon im römischen Reich<br />

nicht funktioniert, führte auch im Osmanischen<br />

Reich zu Krisen, letztlich zum Bankrott,<br />

aber wird heute noch von französischen<br />

Staatspräsidenten als Allheilmittel angesehen.<br />

Nicht die Hoffnung, die Dummheit<br />

stirbt zuletzt.<br />

Ein unerwarteter Thronfolger<br />

Sein Vater gilt als die Krönung des osmanischen<br />

Regimes: Suleiman der Prächtige. Aber<br />

auch das stimmt nicht, denn noch weite 9<br />

Sultane setzen die Expansion des osmanischen<br />

Reiches erfolgreich fort. Seine Mutter<br />

war eine Sklavin aus dem fernen Russland namens<br />

Aleksandra Lisowska, in den türkischen<br />

Quellen Hürrem, bei den Europäerin Roxelane<br />

genannt. Diese Frau, die ihren Sultan<br />

so sehr bezirzte, dass er mit ihr faktisch eine<br />

Einehe einging, hat die Dichter im Westen<br />

fasziniert: von Voltaire über Diderot bis zu<br />

Daniel Defoe und zahllose andere Schreiber<br />

geringeren literarischen Wertes. Die Qualität<br />

der Werke über Roxelane reicht von hoher<br />

Literatur über harmlose historische Romane<br />

bis zur schlichten Pornographie. Die Darstellungen<br />

des Lebens am osmanischen Hof<br />

waren fast immer völlig frei erfunden.<br />

Selim war der dritte Sohn aus der Verbindung<br />

von Suleiman und Hürrem. Der erste<br />

starb in jugendlichem Alter, der Zweite hatte<br />

einen Buckel und kam deshalb als Regent<br />

nicht in Frage. Doch es gab noch einen Sohn<br />

aus einer anderen Verbindung des Sultans:<br />

Mustafa, Liebling der Janitscharen und als<br />

kühn und erfolgreich angesehen. Die Intrigen<br />

aus dem Palast unterstellten ihm Aufruhrabsichten,<br />

Vater Suleiman schickte ihm<br />

die schwarzen Eunuchen mit der seidenen<br />

Schnur. Ob Mustafa tatsächlich Pläne für<br />

der Niederlage von Wien 1683 und der Seeschlacht<br />

von Lepanto am 7.Oktober 1571,<br />

die Selim aufs Konto geschrieben wird. Natürlich<br />

war er nicht dabei. Das Osmanische<br />

Reich war längst zu groß, als das der Sultan<br />

persönlich ins Feld ziehen würde. Er musste<br />

sich auf seine Paschas verlassen und auf<br />

seinen Großwesir Sokollu Mehmet Pascha.<br />

Doch diesmal hatte er daneben gegriffen.<br />

Sein Flottenbefehlshaber Ali Pascha verwendete<br />

eine veranstaltete Aufstellung und ließ<br />

sich in einer ungünstigen Position erwischen.<br />

Außerdem hatten die Venezianer mit der<br />

Galeone eine Wunderwaffe entwickelt: das<br />

erste große Kriegsschiff mit Breitseitenbewaffnung,<br />

das die hilflosen Galeeren der Gegenseite<br />

in Ruhe zusammenschießen konnte.<br />

Zudem hatte die osmanische Seemacht ein<br />

echtes Führungsproblem: Der große Chaireddin<br />

Barbarossa, der 1538 die erste Flotte<br />

der Heiligen Liga zusammengeschlagen<br />

hatte, war schon lange tot. Sein Nachfolger<br />

Dragot (Turgut Reis in heute gebräuchlicher<br />

Schreibweise) war bei der Belagerung von<br />

Malta ums Leben gekommen. Gewiss, Ali<br />

Pascha war eine Fehlbesetzung, aber Uludsch<br />

Ali konnte sich aus dem Gemetzel mit 30<br />

Schiffen befreien und nach Konstantinopel<br />

gelangen. Er hatte die Malteserritter auf dem<br />

Meer überwunden und deren Flagge erbeutet,<br />

keine kleine Leistung. Man würde noch<br />

von ihm hören.<br />

Expansion<br />

Selim II gelang etwas, was seinem Vater nicht<br />

gelungen war: 1571 wurde Zypern eingenommen.<br />

Venedig musste zähneknirschend<br />

zustimmen, Zypern blieb erstmal türkisch.<br />

Mit dem Heiligen Römischen Reich wurde<br />

1568 ein Friedensvertrag geschlossen; Kaiser<br />

Maximilian II musste Moldavien und<br />

die Wallachei abtreten und pro Jahr 30.000<br />

Dukaten bezahlen. Auch Ivan Grosny ( Ivan<br />

IV, der Schreckliche), holte sich eine blutige<br />

Nase auf seinem Drang nach Süden und<br />

musste 1570 Frieden schließen. Seine Energie<br />

richtete sich künftig auf Sibirien und das<br />

Gold im Osten. Der Hedjaz und Jemen wurden<br />

dem Osmanischen Reich eingegliedert,<br />

und 1574 gelang der größte Schlag: Tunesien,<br />

bislang von den Spaniern beherrscht, wurde<br />

unter einem sehr aktiven Piratenadmiral Teil<br />

der Staaten des Osmanischen Reiches. Die<br />

Bilanz von Selim dem Säufer: eine verlorene<br />

Schlacht, 3 Friedensschlüsse und 27.000 km²<br />

Vergrößerung des Reiches. Für eine ähnliche<br />

Leistung hätten europäische Herrscher gerne<br />

zur Flasche gegriffen.<br />

Niedergang trotzdem unausweichlich<br />

Letztendlich scheiterte das osmanische Reich<br />

an einem Konstruktionsfehler und der Entdeckung<br />

Amerikas. Der Konstruktionsfehler:<br />

Es gab nie eine festgelegte Erbfolge. Sultan<br />

wurde, wessen Anhängerschaft im Kampf<br />

Die folgende Zeit wurde als „Weiberherrschaft“<br />

bezeichnet, die Sultane galten als<br />

unfähig bis unzurechnungsfähig. Auch hier<br />

steht die geschichtliche Realität wieder im<br />

Gegensatz zur allgemeinen Auffassung: Die<br />

Expansion hielt an bis 1683, der Belagerung<br />

von Wien und Mehmet IV. Erst ab 1827<br />

begann der allmähliche, später beschleunigte<br />

Fall des Osmanischen Reiches. Selim II hatte<br />

daran keinen Anteil.<br />

Die europäischen Staaten und der Papst<br />

hatten große Probleme, gegen die osmanische<br />

Expansion Tritt zu fassen. Bezeichnenderweise<br />

wurden auch den Nachfolgern von<br />

Selim II Schimpfnamen angehängt wie Mustafa<br />

der Dumme und Ibrahim der Verrückte.<br />

Doch bis 1583 ging die Expansion ungehindert<br />

weiter.<br />

War Selims Suff doch nur üble Nachrede<br />

aus dem Vatikan und aus Europa, die gegen<br />

ihn und sein Reich den Kürzeren gezogen<br />

hatten?<br />

RS<br />

(Bildmaterial:desivalley.com,<br />

pogo.lakesideschool.com)


14<br />

KÜNSTLER DES MONATS<br />

Zurzeit ist in der Schirn Kunsthalle Frankfurt<br />

eine Ausstellung über surreale Dinge,<br />

Skulpturen und Objekte zu sehen. Die Ausstellung,<br />

die noch bis Ende Mai zu besuchen<br />

ist, zeigt Werke bekannter Künstler wie<br />

Dali, Magritte und eben auch von Man Ray.<br />

Eine kurze Biografie<br />

Man Ray wurde mit bürgerlichem Namen<br />

Emanuel Radinsky als Sohn eines jüdischen<br />

Schneiders am 27. August 1890 in Philadelphia,<br />

USA, geboren.<br />

Emanuel Radinsky stammt aus einer russischen<br />

Familie, die in die Vereinigten Staaten<br />

emigrierte. Im Jahr 1897 zog er mit seiner<br />

Familie nach Brooklyn. Dort besuchte er<br />

die Schule. 1906 erhielt er ein College-Stipendium<br />

für ein Architekturstudium, doch<br />

er lehnte die Ausbildungsmöglichkeit ab. Er<br />

war in New York als Radierer und später in<br />

einem Büro tätig. Zur gleichen Zeit absolvierte<br />

er Abendkurse an der National Academy<br />

of Design. Anschließend war er in einer<br />

Werbeagentur beschäftigt und er betätigte<br />

sich für einen Verlag als Landkartenzeichner.<br />

In der Zeit von 1911 bis 1913 bildete er<br />

sich in Zeichenkursen im Ferrer Center weiter.<br />

Man Ray lernte in der Galerie „291“ von<br />

Alfred Stieglitz die europäischen Avantgardisten<br />

und die Photographie kennen. 1914<br />

heiratete er die Dichterin Adon Lacroix aus<br />

Belgien. Im Jahr darauf organisierte er seine<br />

erste Einzelausstellung in der Daniel Gallery.<br />

In dieser Zeit begegnete ihm der französischen<br />

Künstler Marcel Duchamp, der auf<br />

ihn einen großen Eindruck hinterließ. In<br />

New York lernte er gleichfalls den französischen<br />

Maler Francis Picabia kennen. Man<br />

Ray, Picabia und Duchamp riefen die Dada-<br />

Bewegung in New York ins Leben.<br />

Im Jahr 1918 entstanden die ersten „Aerographien“.<br />

Man Ray malte dabei mit einer<br />

Spritzpistole auf Photopapier. 1920 befand<br />

er sich neben Marcel Duchamp und Katherine<br />

Dreier unter den Mitbegründern der<br />

„Société Anonyme“. Im Jahr darauf verließ<br />

er die Vereinigten Staaten und siedelte nach<br />

Paris über. Dort schloss er sich den Dadaisten<br />

an und wurde bald einer ihrer führendsten<br />

Köpfe. Glücklichere Aufnahme fanden Man<br />

Rays Kunstbemühungen in Paris, wohin er<br />

Duchamp 1921 gefolgt war. Fast unmittelbar<br />

nach seiner Ankunft machte er Furore,<br />

anfangs mit Werk- und Künstlerfotos, bald<br />

mit Porträts und Modeaufnahmen. Auch<br />

die Reichen und Schönen rissen sich darum,<br />

von Man Ray abgelichtet zu werden - und<br />

waren selbst dann noch begeistert, wenn die<br />

Aufnahmen völlig in die Hose gingen. Das<br />

verhunzte Foto der schrillen Marquise Casati<br />

- unscharf und verwackelt bis zur Unkenntlichkeit<br />

- zeigte drei Paar Augen untereinander<br />

und sollte sofort nach der Entwicklung in<br />

den Papierkorb. Aber die betuchte Exzentrikerin<br />

bettelte um einen Abzug und war überwältigt.<br />

Nichts Geringeres als ein „Porträt ihrer<br />

Seele“ habe der große Meister geschaffen,<br />

schmachtete sie ergriffen. Mit diesem historischen<br />

Stoßseufzer verhalf sie Man Ray zu<br />

einer steilen Karriere als Porträtist der feinen<br />

Gesellschaft.<br />

In Paris fertigte er Portraits berühmter<br />

zeitgenössischer Persönlichkeiten an, vor allen<br />

Dingen der Surrealisten. Man Ray führte<br />

Experimente in der Photographie durch und<br />

entwickelte die sogenannte „Rayographie“.<br />

Werkschau<br />

Dabei handelt es sich um eine Methode,<br />

um ohne Kamera zu photographieren. Mit<br />

diesem Verfahren gelang es ihm, abstrakte<br />

Formen auf Photopapier zu bringen. Um<br />

das Jahr 1924 leitete sich der Surrealismus<br />

aus dem Dadaismus ab, und Ray Man trieb<br />

diese Entwicklung maßgeblich voran. In der<br />

Folge beteiligte er sich an den Ausstellungen<br />

der Surrealisten. Man Rays Modell wurde als<br />

„Kiki von Montparnass“ bekannt. Sie regte<br />

ihn beispielsweise zu dem Rückenakt im<br />

Jahr 1924 entstandenen Titel „Le Violon<br />

d`Ingres“ an, der zwei aufgemalte Schallöffnungen<br />

einer Violine zeigt. „Es gab immer<br />

und gibt immer“, so bekannte er, „zwei Beweggründe<br />

für das, was ich tue: die Freiheit<br />

und die Freude.“ Kaum hatte Kiki Man Ray<br />

verlassen, fand sich Lee Miller ein, um bei<br />

ihm die Fotografie zu erlernen. Sie hatte in<br />

den USA als Model gearbeitet und wollte<br />

nun hinter der Kamera stehen. Miller war<br />

drei Jahre seine Assistentin, sein Model, seine<br />

Geliebte - und wurde selbst eine große<br />

Fotografin. Ihr Mund taucht in Man Rays<br />

bekanntestem Gemälde auf: Es zeigt ein Lippenpaar,<br />

das wolkengleich über einer Landschaft<br />

schwebt und im Parallelschwung des<br />

Mundes die aneinander geschmiegten Körper<br />

zweier Liebenden evoziert.<br />

Le Violon d`Ingres (1924)<br />

1926 fotografierte er für Zeitschriften,<br />

unter anderem die Haute-Couture-Sektion<br />

der Arts-Deco-Ausstellung.<br />

In den beiden Jahren 1932 und 1933 entstand<br />

das Werk mit dem Titel „A l`heure de<br />

l`observatoire – Les amoureux“, das eine riesige<br />

Lippe über eine Landschaft schwebend<br />

am Himmel zeigt. 1934 entstand ein Schachbrett<br />

aus einer Fotomontage von Surrealisten;<br />

das Werk nannte Man Ray „L`echiquier<br />

surrealiste“. 1938 fertigte er das berühmt<br />

gewordene „Imaginäre Portrait von D.A.F.<br />

Sade“ an. Man Ray betätigte sich auch als<br />

Filmemacher. So entstand im Jahr 1928 der<br />

Streifen „L`Etoil de Mer“ im avantgardistischen<br />

Stil sowie weitere Filme. Eines seiner<br />

berühmtesten Kunstobjekte trägt der Titel<br />

„Cadeau“, ein Bügeleisen mit Nägeln auf der<br />

Unterseite.<br />

Man Ray<br />

Der instinktive Dadaist<br />

Tränen (1933)<br />

Selbstportrait (1942)<br />

Im Jahr 1940 verließ Man Ray Paris wieder.<br />

Er zog zunächst nach New York und siedelte<br />

dann nach Hollywood über. Dort hielt er<br />

Vorträge und übte eine Lehrtätigkeit aus.<br />

1948 heiratete in Beverly Hills Juliet Browner.<br />

Die Hochzeit wurde zusammen mit der<br />

Hochzeit des deutsch-amerikanischen Malers<br />

Max Ernst gefeiert. 1951 ließ er sich abermals<br />

in Paris nieder. Dort in der französischen<br />

Kunstmetropole feierte er größere Erfolge als<br />

Künstler als in den Vereinigten Staaten. 1961<br />

wurde er mit einer Goldmedaille auf der Biennale<br />

in Venedig ausgezeichnet.<br />

Zwei Jahre später kam seine Autobiographie<br />

mit dem Titel „Self Portrait“ auf den<br />

Markt. In der deutschen Ausgabe lag sie erst<br />

im Jahr 1983 vor. Man Ray war nicht nur ein<br />

sehr vielseitiger Künstler, sondern auch sehr<br />

experimentierfreudig. Sein Gesamtwerk lässt<br />

sich nicht in bestimmte Kategorien einordnen.<br />

Es zeichnet sich besonders durch seine<br />

ironische Doppeldeutigkeit und Assoziationsfreudigkeit<br />

aus. Immer spielen dabei auch<br />

irrationale Elemente eine Rolle. Zu seinen<br />

weiteren Tätigkeiten zählte die Beschäftigung<br />

als Modefotograf bei dem Pariser Modemacher<br />

Poiret.<br />

Bedeutung<br />

Man Ray blieb vielen Menschen rätselhaft,<br />

schwer zugänglich und fand erst spät Beachtung.<br />

Allein der Umfang seines vielschichtigen<br />

Gesamtwerks erschwert eine formale Erschließung<br />

und somit die Kategorisierung in<br />

bestimmte Stile. Er vereinigte nahezu sämtliche<br />

Richtungen der modernen Kunst des beginnenden<br />

20. Jahrhunderts, weshalb er oft<br />

verallgemeinernd als „Modernist“ oder „Erneuerer<br />

des Modernismus“ bezeichnet wurde.<br />

Man Ray war neben Marcel Duchamp<br />

und Francis Picabia zwar die treibende Kraft<br />

des New York Dada, stand aber schon dort<br />

deutlich an der Schwelle zum Surrealismus.<br />

André Breton bezeichnete Man Ray als einen<br />

„Prä-Surrealisten“, weil viele seiner Werke<br />

richtungsweisend für die spätere Bewegung<br />

waren. Obwohl Man Ray zeitlebens viele<br />

Schriftstücke mit kunsttheoretischen Ansätzen<br />

und Betrachtungen verfasste, war er<br />

selbst nie wirklich an einer Manifestation<br />

respektive am dogmatischen Überbau einer<br />

bestimmten Kunstrichtung interessiert<br />

oder beteiligt. Mit dieser teilweise aus der<br />

Not geborenen „Außenseiterposition“ und<br />

dem drängenden Wunsch, sich ständig neu<br />

zu erfinden, folgte er wahrscheinlich seinem<br />

Freund und Mentor Duchamp.<br />

Typisch für Man Rays Werk ist die Idee<br />

der ständigen mechanischen Wiederholung<br />

und Reproduktion, auch in kommerzieller<br />

Hinsicht, womit er ein grundlegendes<br />

Prinzip Andy Warhols sowie der Pop Art<br />

im Allgemeinen vorwegnimmt. Mit Warhol<br />

hat Man Ray auch biographische Gemeinsamkeiten:<br />

beide stammten aus armen Immigrantenfamilien<br />

und verkehrten später in<br />

höheren Gesellschaftskreisen, von denen sie<br />

zumeist ihre Aufträge bezogen, waren aber<br />

im wesentlichen Einzelgänger.<br />

Man Ray löste mit seiner Vielfalt der Techniken,<br />

der Fotocollage, dem Rayogramm –<br />

respektive der Solarisation – einen wichtigen<br />

Impuls für den Surrealismus aus. Indem er<br />

die gewöhnliche Bedeutung der Objekte aufhob<br />

und ihnen eine traumhaft-sinnliche, sogar<br />

erotische Komponente zukommen ließ,<br />

unterschied er sich von seinen europäischen<br />

Zeitgenossen wie Moholy-Nagy oder Lissitzky,<br />

die, ganz dem Gedanken des Bauhaus und<br />

des Konstruktivismus folgend, das nüchterne<br />

gegenstandslose Abbild suchten.<br />

Der Kunsttheoretiker Karel Teige bezeichnete<br />

ihn hingegen als „zweitrangigen kubistischen<br />

Maler, der dank der Mode jener Zeit<br />

zum Dadaisten wurde, aufhörte zu malen<br />

und begann, metamechanische Konstruktionen<br />

– den suprematischen Konstruktionen<br />

der Russen Rodtschenko und Lissitzky ähnlich<br />

– zu konstruieren um sie schließlich mit<br />

genauer Kenntnis des fotografischen Handwerks<br />

zu fotografieren.“. Womit Man Rays<br />

Dilemma, dass die Fotografie lange nicht<br />

als „Kunst“ angesehen wurde, deutlich wird:<br />

Die von Literaten beherrschten Dadaisten<br />

schätzen ihn als Freund und Dokumentaristen,<br />

die künstlerische Anerkennung als Maler<br />

und Fotograf verwehrten sie ihm jedoch.<br />

Während ihn die meisten zeitgenössischen<br />

amerikanischen Künstlerkollegen und Kritiker<br />

wie Thomas Hart Benton eher distanziert-abwertend<br />

als „Handwerker“ betrachteten<br />

– da ja die Fotografie „untrennbar“ mit<br />

der Mechanik verbunden sei und allenfalls<br />

Alfred Stieglitz, Paul Strand und Edward<br />

Steichen anerkannten – war einzig Georgia<br />

O’Keeffe, die sich selbst mit den Möglichkeiten<br />

der Fotografie befasste, bereit ihn als<br />

„jungen Maler mit ultramodernen Tendenzen“<br />

hervorzuheben. Der Kritiker Henry McBride<br />

nannte ihn anlässlich einer Ausstellung in<br />

der Vallentine Gallery in New York „… einen<br />

Ursprungs-Dadaisten und den einzigen von Bedeutung,<br />

den Amerika produziert hat.“<br />

Für viele Fotografen und Filmemacher war<br />

Man Ray Berater, Entdecker, Lehrmeister<br />

und spiritus rector zugleich: unter ihnen finden<br />

sich bekannte Namen wie Eugène Atget,<br />

Berenice Abbott, Bill Brandt oder Lee Miller.<br />

Man Ray starb am 18. November 1976 in Paris.<br />

Aribert Kirschner<br />

(Bildquellen: unox.lv; Kingsroad.it,<br />

americanart.si.edu)


LOKALES / IN EIGENER SACHE<br />

Auf(Reizungen) aus dem Gallus<br />

Eine Möglichkeit Junge Kunst zu sehen und gesehen zu werden<br />

15<br />

Diese Kunstgalerie ist leicht zu finden auf der<br />

Lorsbacher Str. 1, aber die Öffnungszeiten<br />

zu erraten ist schwieriger: sie ist nur<br />

montags von 14 bis 16 Uhr um mittwochs<br />

von 13 bis 15 Uhr geöffnet. Die Halle für<br />

die Kunstausstellungen ist eine Initiative<br />

von Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim<br />

in Gallus.<br />

Das Projekt wird von der Hessischen Gemeinschaftsinitiative<br />

<strong>Soziale</strong> Stadt (HE-<br />

GISS) und dem Stadtplanungsamt der Stadt<br />

Frankfurt gefördert und hat den Zweck, den<br />

Kindern und Jugendlichen im Alter bis 25<br />

Jahren aus Frankfurt und Umgebung eine<br />

Möglichkeit zu schaffen, ihre künstlerischen<br />

Produktionen der Öffentlichkeit zu zeigen.<br />

Der Leiter des Projekts, Dominik Landwehr,<br />

ist auch selber im Haus präsent und empfängt<br />

Besucher. Jeden Monat findet hier eine neue<br />

Ausstellung statt. Die nächste Vernissage wird<br />

im Mai Werke von Hauptschülern zeigen.<br />

Die letzte, mit dem Titel „Reizungen“, die<br />

ab 03.03 bis 15.04 lief, wurde um 2 Wochen<br />

verlängert. „Reizungen“<br />

präsentiert Werke<br />

aus Zeichnungen,<br />

Malerei, Fotografie,<br />

Performance und<br />

Ready-made-Poesie<br />

von sechs Künstlern:<br />

Mandy Dott,<br />

Daria Burlak, Alexander<br />

Leonardo Rojas,<br />

Maria Hampe,<br />

Maria Krahl, Robert<br />

Schittko.<br />

Ich hatte das<br />

Glück, einen der<br />

Künstler, Robert<br />

Schittko, persönlich<br />

YANKADI<br />

kennen zu lernen. Seine Werke, bedruckte<br />

Papierblätter, die mit dunklem Holz elegant<br />

eingerahmt sind, besetzten eine der vier Wände<br />

im Ausstellungsladen. Auf ihnen werden<br />

auf den ersten Blick schockierende Erlebnisse<br />

aus einem Heim für Drogenabhängige<br />

aufgezeichnet, wo der Protagonist als Teil<br />

seines Zivildienstes Boden wäscht. Er ist mit<br />

Gesprächen um ihn herum überfordert und<br />

fängt an, ein Tagebuch zu führen, um sie zu<br />

verarbeiten. Hier kommt man wieder zu der<br />

Frage: was ist eigentlich Kunst in unserem<br />

digitalen Zeitalter und was nicht? Während<br />

aber Erwachsene darüber diskutieren, versuchen<br />

die Kinder und Jugendlichen, es selbst<br />

heraus zu finden.<br />

Yevheniya Genova<br />

(Fotos: hjs)<br />

Lahnstr. 37<br />

60326 Frankfurt am Main<br />

Tel.: 069 - 373 00 568<br />

Verkehrsmittel Straßenbahn: 11 Richtung Höchst, Zuckschwerdtstr.<br />

Haltestelle: Schwalbacher Straße<br />

S-Bahn: S3-S6 Haltestelle: Galluswarte<br />

Musik zum mitmachen- für alle Menschen!<br />

Wir treffen uns:<br />

Lahnstr. 37<br />

Frankfurt-Gallus<br />

Karl-Blum-Allee 1-3<br />

Frankfurt-Höchst<br />

Termine nach telefonischer Vereinbarung<br />

DAF-Kurs <strong>Soziale</strong> <strong>Welt</strong>/Musikgruppe Yankadi<br />

am 26.03.2011 fand in den Räumen der <strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong> der erste<br />

Fortbildungskurs im Bereich der Rahmentrommel statt. Herr Hadi<br />

Alizadeh aus München leitete den Kurs, 3 Teilnehmer konnten die<br />

Anfangstechniken für dieses Instrument erlernen.<br />

Die Daf ist eine Rahmentrommel,die aus Kurdistan kommt und<br />

vorwiegend im Iran und in Teilen vom Irak gespielt wird. Sie<br />

hat einen Durchmesser von 50-60cm und ist mit Ziegen oder<br />

Lammfell bespannt und innerhalb des Rahmens mit Metallringen<br />

bestückt ist.<br />

Innerhalb der Musikgruppe Yankadi soll diese Trommel als<br />

Begleit– als auch als Solo- Instrument eingesetzt werden.<br />

Kontakt: Reinhold Urbas Tel.: 06109 - 22527 E-Mail: r.urbas@freenet.de<br />

Frankfurter Armutsaktie e. V.<br />

Lahnstr. 37<br />

60326 Frankfurt am Main<br />

Tel.: 069-373 00 568<br />

Fax.: 069-254 97 248<br />

E-Mail: sozialeweltffm@yahoo.de<br />

WEB: www.soziale-welt-ffm.de<br />

Chefredakteur:<br />

Rüdiger Stubenrecht (v.i.S.d.P.)<br />

Layout und Satz:<br />

Hans-Jürgen Schöpf ( C.v.D.)<br />

Redaktion:<br />

Martin Fischer , Lynda Hamelburg,<br />

Aribert Kirschner, Gerhard Pfeifer,<br />

Alexander Reinbold, Silvia Schöpf,<br />

Reinhold Urbas, Genova Yeuheniya,<br />

Bürozeit:<br />

Mo. - Fr. 08.00 - 15.00 Uhr<br />

Zeitungsverkauf:<br />

Mo., Mi., Fr. 10.00 - 12.00 Uhr<br />

und nach telefonischer Vereinbarung!<br />

Auflage: 3.000<br />

Druck: CARO-Druck<br />

Kasseler Str. 1a<br />

60486 Frankfurt am Main<br />

Unsere Termine<br />

Vorstandsitzung<br />

28.04.2011 17.00 Uhr<br />

26.05.2011 17.00 Uhr<br />

30.06.2011 17.00 Uhr<br />

Redaktionskonferenz<br />

28.04.2011 18.00 Uhr<br />

26.05.2011 18.00 Uhr<br />

30.06.2011 18.00 Uhr


16 UNSER REISETIPP<br />

M E T Z<br />

D i e S t a d t d e s b ö s e n D r a c h e n u n d d e s g u t e n K a i s e r s ( T e i l 2 )<br />

Der Beginn der Reise nach Metz hatte<br />

kein gutes Licht auf die Deutsche<br />

Bahn geworfen, genau gesagt war es<br />

ein Desaster: Der hochmoderne ICE hatte in<br />

Frankfurt schon vor der Abfahrt 72 Minuten<br />

Verspätung. Bereits in Ludwigshafen hatte<br />

man sie auf 99 Minuten erweitern können,<br />

wovon bis Saarbrücken auch nichts Nennenswertes<br />

aufgeholt wurde.<br />

Vor der Ankunft in Saarbrücken verkündeten<br />

die Lautsprecher fröhlich, dass der Anschlusszug<br />

nach Forbach warten würde. Das<br />

war natürlich nicht so, und mit einem französischen<br />

Mittagessen wurde es nichts: Stattdessen<br />

zwei Stunden Saarbrücken!<br />

Der Bahnhofsvorplatz gehört wie der Bahnhof<br />

selbst zu den scheußlichsten der <strong>Welt</strong>. In<br />

jeder französischen Stadt hätten sich auf dem<br />

Halbrund vor dem Bahnhof mindestens eine<br />

Brasserie und ein Café befunden. Hier gibt<br />

es in einem mustergültigen und schon bilderbuchartigen<br />

hässlichen Fast-Hochhaus der<br />

60er oder 70er Jahre ein etwas anderes Restaurant<br />

mit der nicht sehr saarländischen Spezialität<br />

Hamburger.<br />

Jetzt wieder in Metz<br />

Der Bahnhof von Metz ist dagegen ein Meisterwerk<br />

der neoromanischen deutschen Schule.<br />

Ich meine das nicht ironisch. Der Bahnhof<br />

hat Stil. Er ähnelt ein wenig den Bahnhöfen<br />

Gare de Lyon in Paris und dem Wiesbadener<br />

Hauptbahnhof, wo Kaiser Wilhelm II. auch<br />

gern war.<br />

Der Bahnhofsvorplatz ist allerdings, trotz<br />

etwas protziger deutscher Häuser französisch:<br />

Brasserien und Cafés sind da. Vom Taxi aus<br />

sahen wir eine Dependance der Brasserie Flo,<br />

bevor wir auf einer Art Boulevard peripherique<br />

in die Gegend nördlich der Kathedrale<br />

einbogen. Die Altstadt ist von Einbahnstraßen,<br />

Fußgängerzonen und teils engen Gassen<br />

geprägt und für Taxis wenig geeignet, auch<br />

wenn Busse fast überall herumfahren.<br />

Das Taxi hielt vor dem „Hotel de la Cathedrale“:<br />

25, place de Chambre. (Tel. 03 87 75 00<br />

02) Von der Eingangstür des Hotels sieht man<br />

direkt auf die Nordfassade der großen gotischen<br />

Kathedrale. Das Hotel war ursprünglich<br />

eine Poststation, schon im 17ten Jahrhundert<br />

ein hotel particulier, also ein Wohnhaus und<br />

bietet heute in dem alten Ambiente schöne<br />

moderne Zimmer.<br />

Immer wieder kommt man zur Kathedrale.<br />

Wir hatten nicht viel auszupacken und waren<br />

schon bald wieder im Freien. Genau gegenüber<br />

dem Hotel musste man nur ein paar Stufen<br />

hinaufsteigen zur Kathedrale. Sie war im<br />

Jahre 1522 nach nur 300 Jahren Bauzeit vollendet.<br />

Es war bereits die dritte Bischofskirche<br />

an derselben Stelle, und ihre teils chaotische<br />

Geschichte - lange Zeit war sie geteilt, bestand<br />

aus zwei unterschiedlichen Kirchen - kann<br />

man dem harmonischen Bauwerk heute nicht<br />

mehr ansehen.<br />

Das Mittelschiff hat die beeindruckende<br />

Höhe von über 40 Meter bei einer Breite<br />

von nur 13, 5 Metern, aber der Architekt Pierre<br />

Perrat hatte im 14. Jahrhundert auch einen<br />

Pakt mit dem Teufel geschlossen, um die<br />

baulichen Schwierigkeiten zu meistern. Die<br />

Bürger der Stadt begruben ihn nach seinem<br />

Tode nicht, sondern mauerten ihn über dem<br />

Erdboden in der Kirche ein, um den Teufel zu<br />

Der Drache Graoully- das Wappentier von Metz<br />

überlisten, der seinen Leichnam und seine<br />

Seele nach der Bestattung in der Erde für sich<br />

gefordert hatte. Dies gelang, wie man aus verlässlichen<br />

Berichten aus dem Jenseits weiß.<br />

Der Teufel lässt sich immer wieder hereinlegen,<br />

wenn er Verträge mit gerissenen Juristen,<br />

Theologen und anderen Schriftgelehrten<br />

macht. Der Architekt ist im Himmel, der Teufel<br />

noch heute beleidigt, weil man ihn wieder<br />

einmal überlistet hat.<br />

Mit 123 Meter Länge übertrifft die Kirche<br />

die 120 Meter von Notre Dame in Paris zwar,<br />

aber steht trotzdem, was die Berühmtheit angeht,<br />

in ihrem Schatten. Zwei Türme wären<br />

für eine größere Bekanntheit nützlich oder<br />

wenigstens einer wie in Strassburg, aber sie hat<br />

eben leider gar keinen markanten.<br />

Eine weitere Kuriosität dieser Kirche ist ein<br />

neugotischer Vorbau an der Westfassade, den<br />

man kaum als ein Werk von 1903 erkennen<br />

kann. Leider ist der kleine Vorraum immer<br />

durch ein Gitter abgesperrt - der Haupteingang<br />

befindet sich ungewöhnlicherweise an<br />

der Südfront. So kann man die etwa lebensgroße<br />

Statue des Hg. Daniel mit den Zügen<br />

Kaiser Wilhelms nicht sehen Deshalb kann<br />

man auch nicht überprüfen, ob es stimmt,<br />

dass in der Zeit, als Metz wieder einmal für<br />

wenige Jahre deutsch war, im 2. <strong>Welt</strong>krieg,<br />

ihm die deutschen Besatzer den typischen,<br />

steinernen Schnurrbart - Es ist erreicht - wegmeißelten.<br />

Man muss dem Reiseführer glauben,<br />

auch wenn man nicht recht versteht, warum<br />

das geschah.<br />

Der Dichter der Stadt<br />

Aber neben dem deutschen Kaiser gab es in<br />

Metz auch wichtige Persönlichkeiten. Der berühmteste<br />

Sohn der Stadt ist der heute hochverehrte<br />

und zu Lebzeiten 1844 - 1896 verachtete<br />

Dichter Paul Verlaine. Verachtet war<br />

er, weil er schon bevor er 30 Jahre alt war, sein<br />

kleinbürgerliches Leben ruiniert, seine junge<br />

Familie verlassen hatte und mit dem jungen<br />

Dichter Arthur Rimbaud ein Vagabundenund<br />

Boheme-Leben in Nordfrankreich, Belgien<br />

und England führte.<br />

Als er auf Rimbaud im Streit mit der Pistole<br />

geschossen hatte, landete er im Gefängnis und<br />

verbrachte den Rest seines Lebens hauptsächlich<br />

in zwielichtigen Kneipen, Bordellen und<br />

Krankenhäusern. Sein Dichterkollege Rimbaud<br />

gab schon 1874 im Alter von nur 20 Jahren<br />

die Literatur auf, wurde Waffenhändler in<br />

Arabien und erfuhr nie, dass sein alter Freund<br />

ihn zu einem berühmten Mann gemacht hatte.<br />

Aber auch Verlaine selbst, der die Stadt<br />

Metz seit seiner Kindheit nie wiedergesehen<br />

hatte, starb zwar als inzwischen bewunderter<br />

Dichter, aber einsam und elend.<br />

Sein äußerst schäbiges Geburtshaus in Metz<br />

in der Rue Haute-Pierre N° 2 mit einer ebenfalls<br />

recht schäbigen Gedenktafel steht noch<br />

und ist kurioserweise kaum einen Pistolenschuss<br />

von örtlichen Justizpalast entfernt. Touristen<br />

sieht man vor dem Gebäude keine.<br />

Metz - angenehm und unbekannt<br />

Um noch einmal auf den deutschen Kaiser<br />

zurückzukommen: Wie die Elsässer haben<br />

sich auch die Lothringer einige deutsche Gesetze<br />

erhalten, die es sonst in Frankreich nicht<br />

gibt. So haben sie wie in Preußen und in ganz<br />

Deutschland zwei Feiertage mehr als das restliche<br />

Frankreich: den Karfreitag und den zweiten<br />

Weihnachtsfeiertag. Auch einige andere<br />

Regelungen stammen noch aus der Zeit, als<br />

Lothringen deutsch war. Bischöfe werden vom<br />

Präsidenten ernannt, was in einem Land wie<br />

Frankreich mit strenger Trennung von Kirche<br />

und Staat sehr ungewöhnlich ist. Und: Geistliche<br />

sind staatliche Angestellte, und zwar Priester<br />

und Pfarrer und Rabbiner.<br />

Was dazu der geschwätzige örtliche Drache<br />

Graouilly - einst der Schrecken der Stadt - vor<br />

seinem Tode im Fluss wohl gesagt hätte? Vielleicht<br />

wäre es ihm ja doch noch gelungen, den<br />

Füg. Klemens zu überreden, in einem Restaurant<br />

mit Terrasse über dem Fluss Platz zu<br />

nehmen? Aber was bestellen Drachen in französischen<br />

Lokalen? Wovon ernähren sie sich<br />

überhaupt? Das ist ein wenig erforschtes historisches<br />

Gebiet. Vom Immer-nur-Feuer-Speien<br />

wird doch niemand satt, ein Drache schon gar<br />

nicht.<br />

Im Winter kann die alte Stadt Metz im<br />

Gegensatz etwa zu Venedig oder Paris leicht<br />

den Eindruck erwecken, touristenfrei zu sein,<br />

aber im Sommer wird man schon einige Gruppen<br />

von Bustouristen treffen. Möglicherweise<br />

schaffen es sogar einige mit der Deutschen<br />

Bahn (siehe oben!) hierher, aber die Stadt<br />

ist eher eine von Tagesausflüglern in Bussen<br />

bevorzugte.<br />

Verborgene Geschichte und<br />

beginnende Moderne<br />

Von der bewegten Geschichte der Stadt bekommt<br />

man auf einem Tagesausflug nicht sehr<br />

viel mit. Die Stadt gibt sich eher unauffällig,<br />

auch wenn sie einmal eine der größten Festungen<br />

Europas war. Von den alten Befestigungen<br />

aus dem Mittelalter sind kaum mehr als ein<br />

Turm und zwei Stadttore geblieben, während<br />

die gewaltigen Festungsanlagen aus der Zeit<br />

von König Ludwig XIV. bis Kaiser Wilhelm<br />

außerhalb der eigentlichen Stadt liegen und<br />

zum nicht geringen Teil in hübsche Parks verwandelt<br />

sind.<br />

Auch das Ensemble von Museen, genannt<br />

„Musees de la Cour d‘Or“, kann man außen<br />

leicht übersehen, obwohl es von der Kathedrale<br />

und dem Touristenzentrum nur wenige Meter<br />

entfernt steht. Der schmale Eingang direkt<br />

neben einer durchschnittlichen Barockkirche<br />

fällt einem Fremden schwerlich auf. Dabei<br />

trifft man im Innern auf ein weitläufiges Labyrinth<br />

verschiedener Paläste aus unterschiedlichen<br />

Jahrhunderten auf verwirrend vielen<br />

Ebenen mit den disparatesten Ausstellungsstücken:<br />

römische und mittelalterliche Skulpturen,<br />

Gemälde aus Renaissance und Barock,<br />

Handwerk, Kunstgewerbe, Volkskunst, Prähistorie<br />

aus gallischer und keltischer Zeit. Alles<br />

ist professionell präsentiert, jeder Besucher<br />

bekommt einen detaillierten Übersichtsplan<br />

- und trotzdem wird jeder Besucher irgendwann<br />

einmal die Übersicht kurzzeitig verlieren<br />

in den verschiedenen, verschachtelten alten<br />

Häusern mit ihren Dutzenden von Sälen und<br />

Zimmern. Bei unserem Besuch im November<br />

belief sich die Anzahl aller Besucher an einem<br />

Vormittag auf insgesamt vier. Von einem Gedränge<br />

kann also trotz wirklich interessanter<br />

Ausstellungsstücke nicht die Rede sein.<br />

Moderne Kunst kann der Interessierte in<br />

der im Jahre 2010 eröffneten Dependance<br />

des Centre Pompidou in Paris besichtigen.<br />

Die Architektur des Komplexes von Shigeru<br />

Ban aus Japan und Jean de Gastines wird zu<br />

Recht „gewagt“ genannt und wirkt ähnlich<br />

überraschend wie vor 30 Jahren die des Mutterhauses<br />

der modernen Kunst in Frankreich<br />

am Rande des 4. Arondissements. Der Metzer<br />

Aussenposten wird seine Rolle mit Ausstellungen<br />

und Veranstaltungen noch finden müssen.<br />

Aber in einer prinzipiell so traditionellen Stadt<br />

wie Metz ist er auf jeden Fall ein höchst ungewöhnliches<br />

Gebäude. Man hat es auch nicht<br />

mitten in die Altstadt platziert wie in Paris, was<br />

damals neben dem revolutionären Baukonzept<br />

auch Absicht war, sondern etwas außerhalb<br />

der eigentlichen Altstadt gebaut, wo es für sich<br />

allein wirken muss und kann.<br />

Vergessen wir nicht: Die Mirabellen!<br />

Man kann von Metz berichten und die Kathedrale<br />

ignorieren, die Museen, die Befestigungen,<br />

den legendären Drachen Graouilly,<br />

aber was unverzichtbar ist, auch wenn es hier<br />

erst ganz am Schluss kommt, das sind die<br />

Mirabellen.<br />

In keinem anderen Gebiet der <strong>Welt</strong> wachsen<br />

so viele Mirabellen, und nirgendwo verwendet<br />

man sie so vielfältig. Zunächst natürlich<br />

für den berühmten Lothringer Mirabellenschnaps,<br />

dann auch für Likör, für Desserts<br />

und für köstliche Kuchen und Torten. Aber<br />

auch an Vorspeisen und sogar an manchen<br />

Hauptspeisen mag man nicht darauf verzichten<br />

-und wer Mirabellen nicht in irgendeiner<br />

Form wenigstens probiert hat, der war überhaupt<br />

nicht wirklich in Metz!<br />

Martin Fischer<br />

(Foto: dragonflyteam.unblog.fr)

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