18.07.2014 Aufrufe

Nr. 62 - Soziale Welt

Nr. 62 - Soziale Welt

Nr. 62 - Soziale Welt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

4<br />

UMWELT<br />

Augenzeugenberichte aus Fukushima<br />

Von Suvendrini Kakuchi<br />

Das Atomunglück in Fukushima hat großes<br />

Echo in Deutschland erzeugt. Presse, Funk<br />

und Fernsehen sind voll von selbst ernannten<br />

Experten und kenntnislosen Politikern,<br />

die ihr eigenes Süppchen an diesem Feuer<br />

kochen wollen. Das ist nicht unsere Aufgabe.<br />

Aber dank des weltweiten Netzes der Straßenzeitungen<br />

können wir unseren Lesern etwas<br />

bieten, was in der hiesigen Berichterstattung<br />

deutlich zu kurz kommt: Augenzeugenberichte<br />

vom Ort des Geschehens.<br />

–Die Redaktion<br />

Meine Entscheidung, nach Fukushima zu<br />

fahren – dem Gebiet, das am schwersten<br />

von dem starken Erdbeben, dem Tsunami<br />

und der Nuklearkatastrophe betroffen ist<br />

– fiel an einem Nachmittag der letzten Woche<br />

nach einem langen Treffen mit Wissenschaftlern.<br />

(Geschrieben 11. April –d.R.)<br />

Die Einladung, Wissenschaftler bei einer<br />

privaten Faktenfindungsmission zu begleiten,<br />

war unwiderstehlich. Die Wissenschaftler<br />

und Ingenieure, die sich an diesem Tag<br />

versammelt haben, hatten für Jahrzehnte<br />

Bedenken hinsichtlich der Reaktorsicherheit<br />

und die Sicherheitsvorkehrungen. Sie sind<br />

aktiv in der Debatte über die Zukunft der<br />

Nuklearenergie in Japan.<br />

„Es besteht zwingender Bedarf für eine<br />

Echtzeitüberwachung der Strahlung in den<br />

Gebieten, die von dem beschädigten Fukushima<br />

Daiichi Atomrektoren betroffen sind“,<br />

sagt Atsuo Suzuki, Leiter der Forschungsgruppe<br />

für Hochenergiebescheunigung an<br />

der Universität Tsukuba. „Hier können wir<br />

unsere Expertisen einbringen.“<br />

Unsere Reise begann um 6 Uhr morgens,<br />

ausgerüstet mit Mineralwasserflaschen, Kleidung,<br />

die vor der Rückkehr nach Tokio vernichtet<br />

werden sollte, und Gesichtsmasken<br />

als Schutz vor Strahlung bei Annäherung an<br />

die 20-Meilen-Sicherheitszone um die beschädigten<br />

Reaktoren.<br />

Wir hatten uns Dosimeter umgehängt,<br />

die etwas wie große Thermometer aussehen.<br />

Diese Messgeräte zeigen in Mikrosieverts die<br />

Strahlenbelastung akkumuliert an. Wir erhielten<br />

Instruktionen, diese Messgeräte immer<br />

bei uns zu tragen und die Steigerung der<br />

Werte zusammen mit dem Ort der Ablesung<br />

aufzuzeichnen.<br />

„Unsere eigene Dokumentation des radioaktiven<br />

Materials ist der Schlüssel dafür, das<br />

Unglück in Fukushima zu verstehen“, erklärt<br />

Yoichi Tao, ein Physiker mit Spezialisierung<br />

in Risk Management im Ruhestand. Er ist<br />

Absolvent der Universität von Tokio. Aber<br />

Tao ist kein Mitglied der engen Gruppe von<br />

Experten, die die ambitionierten Pläne für<br />

die Nuklearindustrie in Japan geleitet haben.<br />

Tao selbst hat im Alter von sechs Jahren die<br />

Atombombe auf Hiroshima miterlebt. Er<br />

bestreitet die die These, dass Nuklearenergie<br />

absolut sicher zu erzeugen sei und bezeichnet<br />

dies als „Mythos“. Die bittere Wahrheit,<br />

dass dem nicht so ist, hat Japan bis heute beschlossen<br />

zu ignorieren.<br />

„Es ist an der Zeit, eine klarere Definition<br />

des komplexen Sicherheitskonzepts zu beginnen“,<br />

erklärt er. „Das bedeutet Forschungen<br />

aus unterschiedlichen Perspektiven, eingeschlossen<br />

der Ansichten der Bewohner, unabhängigen<br />

Ansichten und auch die Einbeziehung<br />

der Folgen eines Unglücks auf andere<br />

Länder.“<br />

Die Fahrt von drei Stunden nach Fukushima<br />

war belastend und bedeutend. Die Autobahnen<br />

sind wieder offen und man fährt<br />

an der grandiosen Szenerie vorbei, die Japans<br />

nördliche Region auszeichnet: Berge mit<br />

jungfräulichen Nadelwäldern auf der einen<br />

Seite und dem blauen Meer, nun ruhig, auf<br />

der anderen Seite. Scharfe Winde kamen uns<br />

auf einer fast leeren Straße entgegen, ein Zeichen<br />

des verlorenen Reizes von Fukushima.<br />

Bis zum Unglück was Fukushima ein Touristenziel<br />

mit therapeutischen Heißwasserquellen<br />

und fischen Fischen und Meeresfrüchten.<br />

Verwüstung<br />

Ein schrecklicher Anblick erwartete uns in Iwaki,<br />

unser Tor nach Fukushima. Iwaki, früher eine belebte<br />

Fischerstadt, hat die volle Wucht des Tsunami<br />

abbekommen mit Wellen von 14 m Höhe.<br />

Wir hielten in Dorf Yotsukura an. Die<br />

Halte der Bevölkerung hatten Opfer zu beklagen,<br />

ihre Häuser, Fischerboote und Autos<br />

verloren oder waren gar noch immer vermisst.<br />

Menschen mit Masken schiene noch wie<br />

betäubt, während sie die durchnässten Trümmer<br />

in hilflosen Versuchen eines Wiederaufbaus<br />

durchsuchten. „Die Gemeinschaft ist<br />

noch immer verstreut in Auffanglagern, denn<br />

es fehlt am Ort an Essen und Wasser und es<br />

gibt auch eine große Knappheit an Benzin“,<br />

erklärt Yuuji Kojima, am Ort für die Rettungsoperationen<br />

zuständig.<br />

Am Nachmittag wollten wir so dicht wie<br />

möglich zum Ort der Nuklearkatastrophe<br />

vordringen. Wir wählten die Route nicht am<br />

Meer endlang, sondern über Land. Bei der<br />

Annäherung an den Unfallort passierten wir<br />

auf Meilen verlassene Dörfer, wo Hunde und<br />

Kühe an zerstörten Häusern und Straßen<br />

vorbeigehen.<br />

Der Himmel war dunkel geworden, wir<br />

fürchteten Regen, der das Risiko einer Kontamination<br />

erhöhen würde. Wir zogen unsere<br />

Masken und eine weitere Schicht von<br />

Schutzkleidung an. Dann lasen wir unsere<br />

Messgeräte ab.<br />

Bei Überschreitung der 30-Kilometer-<br />

Zone, eine erst kürzlich von der Regierung<br />

angeordnete Erweiterung der Risikozone, erreichten<br />

wir Miyakoji-machi, früher ein üppiges<br />

Agrargebiet, nun eine Geisterstadt.<br />

Ein Polizeiwagen stand am Ortseingang<br />

und stoppte unseren Wagen. Die Beamten<br />

erklärten uns, höflich aber unerbittlich, dass<br />

nur Regierungsbeauftragte oder Beauftragte<br />

der Tokio Electric Power Company, dem<br />

Betreiber der Reaktoren in Fukushima, innerhalb<br />

der Risikozone geduldet sind. Wir<br />

stellten das Auto mit laufendem Motor am<br />

Straßenrand ab und suchen eine passende<br />

Stelle, wo die Wissenschaftler ihre Überwachungsinstrumente<br />

aufbauen konnten.<br />

Der Regen hatte sich in Schnee verwandelt.<br />

Innerhalb des dunklen Autos stiegen die<br />

Messwerte unserer Geräte an. Meines zeigte<br />

einen kumulierten Wert von 325 Mikrosieverts<br />

an, schon jetzt das Äquivalent eines<br />

Brust-Röngtenbildes.<br />

Drei zerstörte Gebäude- darunter, radioaktiv verseuchtes Kühlwasser<br />

Evakuierungszentren<br />

Die schlimmsten Erfahrungen machten wir<br />

in den zwei Evakuierungszentren, die wir besucht<br />

haben.<br />

Das Erste befand sich in Tamura und beherbergte<br />

800 Einwohner, die man in eine<br />

große Turnhalle gepfercht hatte. Ursache war<br />

nicht der Tsunami, sondern das Reaktorunglück.<br />

In den letzen 40 Jahren hatten sie diese<br />

Einrichtung toleriert, die nun ihr Leben zerstört<br />

hatte.<br />

Kartonbegrenzungen zeugten den zugebilligten<br />

Platz für Familien. Auf einer Seite<br />

lagen alte Leute unter Decken.<br />

Ich wollte die Bedingungen selbst erfahren.<br />

Am Eingang muss man seine Schuhe<br />

Evakuierung eines Verletzten<br />

abgeben, die Besucher erhalten Slipper. Ich<br />

habe sie nicht angezogen, mit Absicht. Fast<br />

sofort waren meine Füße gefroren, ein Anzeichen<br />

der schlimmen Lage der Flüchtlinge,<br />

die auf diesem kalten und feuchten Boden<br />

seit Wochen leben müssen.<br />

Im anderen Evakuierungszentrum gab es<br />

nur tragbare Toilettenhäuschen außerhalb<br />

des Gebäudes, ein Albraum für alte Leute<br />

in den froststarrenden Nächten. Eine einzige<br />

Ärztin versuchte, Ströme von Patienten<br />

medizinisch zu versorgen. „Die Autoritäten<br />

haben uns jahrelang versprochen, dass alles<br />

sicher wäre. Wir glauben ihnen nichts mehr“,<br />

sagte sie. Fotografieren oder Identifizieren<br />

lehnte sie ab. Sie zögerte damit, die Situation<br />

offen zu kommentieren. Statt dessen konzentrierte<br />

sie sich auf die Pflege der Kranken.<br />

Bittere Lektionen<br />

Während Japan darum kämpft, das vermutlich<br />

zweitschlimmste Nuklearunglück<br />

weltweit einzudämmen, ruft die Bevölkerung<br />

nach einem Alternativmodell für die<br />

Energieversorgung.<br />

Dies bezeichnet den Anfang einer nie da<br />

gewesenen Bemühung eines sich schnell erweiternden<br />

Netzwerks von Wissenschaftlern<br />

und Experten in Japan – unterstützt durch<br />

ihre Kollegen in den USA und Europa – um<br />

die unfassendste Sicherheitsstudie der <strong>Welt</strong>,<br />

wie sie von einigen schon benannt wird.<br />

Aber bis jetzt konzentrieren sich Tao und<br />

seine Kollegen darauf, sich den Weg in das<br />

streng kontrollierte bürokratische System zu<br />

bahnen, das sich lange gegen Intervention<br />

von Außen gewehrt hat. Dies ist einer der<br />

bedenklichsten Aspekte der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung, jetzt offen gelegt durch das<br />

Nukleardesaster.<br />

Spät in der Nacht auf dem Rückweg nach<br />

Tokio, fragten wir uns offen nach den Lektionen,<br />

die Japan lernen muss. Wir fragten<br />

Tao nach den nächsten Schritten. „Die Antworten<br />

brauchen Zeit“, sagte er. „Es ist jetzt<br />

wichtiger, eine kollektive Anstrengung aufrechtzuerhalten,<br />

um der Katastrophe einzudämmen.<br />

Daran müssen sowohl Befürworter<br />

wie auch Gegner der Nuklearenergie einbezogen<br />

sein.“<br />

Nach mehr als 20 Jahren in Japan weiß<br />

ich, dass Tao und seine Gruppe besorgter<br />

Wissenschaftler recht hat. In Zeiten der Tragödie<br />

wendet man sich an japanische Weisheit.<br />

Das Wichtige zuerst, dann die richtige<br />

Plattform aufbauen, um die großen Herausforderungen<br />

zu diskutieren.<br />

Zuerst veröffentlicht durch:<br />

IPS©www.streetnewsservice.org<br />

(Fotos: physikblog.eu, REUTERS)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!