Nr. 62 - Soziale Welt
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4<br />
UMWELT<br />
Augenzeugenberichte aus Fukushima<br />
Von Suvendrini Kakuchi<br />
Das Atomunglück in Fukushima hat großes<br />
Echo in Deutschland erzeugt. Presse, Funk<br />
und Fernsehen sind voll von selbst ernannten<br />
Experten und kenntnislosen Politikern,<br />
die ihr eigenes Süppchen an diesem Feuer<br />
kochen wollen. Das ist nicht unsere Aufgabe.<br />
Aber dank des weltweiten Netzes der Straßenzeitungen<br />
können wir unseren Lesern etwas<br />
bieten, was in der hiesigen Berichterstattung<br />
deutlich zu kurz kommt: Augenzeugenberichte<br />
vom Ort des Geschehens.<br />
–Die Redaktion<br />
Meine Entscheidung, nach Fukushima zu<br />
fahren – dem Gebiet, das am schwersten<br />
von dem starken Erdbeben, dem Tsunami<br />
und der Nuklearkatastrophe betroffen ist<br />
– fiel an einem Nachmittag der letzten Woche<br />
nach einem langen Treffen mit Wissenschaftlern.<br />
(Geschrieben 11. April –d.R.)<br />
Die Einladung, Wissenschaftler bei einer<br />
privaten Faktenfindungsmission zu begleiten,<br />
war unwiderstehlich. Die Wissenschaftler<br />
und Ingenieure, die sich an diesem Tag<br />
versammelt haben, hatten für Jahrzehnte<br />
Bedenken hinsichtlich der Reaktorsicherheit<br />
und die Sicherheitsvorkehrungen. Sie sind<br />
aktiv in der Debatte über die Zukunft der<br />
Nuklearenergie in Japan.<br />
„Es besteht zwingender Bedarf für eine<br />
Echtzeitüberwachung der Strahlung in den<br />
Gebieten, die von dem beschädigten Fukushima<br />
Daiichi Atomrektoren betroffen sind“,<br />
sagt Atsuo Suzuki, Leiter der Forschungsgruppe<br />
für Hochenergiebescheunigung an<br />
der Universität Tsukuba. „Hier können wir<br />
unsere Expertisen einbringen.“<br />
Unsere Reise begann um 6 Uhr morgens,<br />
ausgerüstet mit Mineralwasserflaschen, Kleidung,<br />
die vor der Rückkehr nach Tokio vernichtet<br />
werden sollte, und Gesichtsmasken<br />
als Schutz vor Strahlung bei Annäherung an<br />
die 20-Meilen-Sicherheitszone um die beschädigten<br />
Reaktoren.<br />
Wir hatten uns Dosimeter umgehängt,<br />
die etwas wie große Thermometer aussehen.<br />
Diese Messgeräte zeigen in Mikrosieverts die<br />
Strahlenbelastung akkumuliert an. Wir erhielten<br />
Instruktionen, diese Messgeräte immer<br />
bei uns zu tragen und die Steigerung der<br />
Werte zusammen mit dem Ort der Ablesung<br />
aufzuzeichnen.<br />
„Unsere eigene Dokumentation des radioaktiven<br />
Materials ist der Schlüssel dafür, das<br />
Unglück in Fukushima zu verstehen“, erklärt<br />
Yoichi Tao, ein Physiker mit Spezialisierung<br />
in Risk Management im Ruhestand. Er ist<br />
Absolvent der Universität von Tokio. Aber<br />
Tao ist kein Mitglied der engen Gruppe von<br />
Experten, die die ambitionierten Pläne für<br />
die Nuklearindustrie in Japan geleitet haben.<br />
Tao selbst hat im Alter von sechs Jahren die<br />
Atombombe auf Hiroshima miterlebt. Er<br />
bestreitet die die These, dass Nuklearenergie<br />
absolut sicher zu erzeugen sei und bezeichnet<br />
dies als „Mythos“. Die bittere Wahrheit,<br />
dass dem nicht so ist, hat Japan bis heute beschlossen<br />
zu ignorieren.<br />
„Es ist an der Zeit, eine klarere Definition<br />
des komplexen Sicherheitskonzepts zu beginnen“,<br />
erklärt er. „Das bedeutet Forschungen<br />
aus unterschiedlichen Perspektiven, eingeschlossen<br />
der Ansichten der Bewohner, unabhängigen<br />
Ansichten und auch die Einbeziehung<br />
der Folgen eines Unglücks auf andere<br />
Länder.“<br />
Die Fahrt von drei Stunden nach Fukushima<br />
war belastend und bedeutend. Die Autobahnen<br />
sind wieder offen und man fährt<br />
an der grandiosen Szenerie vorbei, die Japans<br />
nördliche Region auszeichnet: Berge mit<br />
jungfräulichen Nadelwäldern auf der einen<br />
Seite und dem blauen Meer, nun ruhig, auf<br />
der anderen Seite. Scharfe Winde kamen uns<br />
auf einer fast leeren Straße entgegen, ein Zeichen<br />
des verlorenen Reizes von Fukushima.<br />
Bis zum Unglück was Fukushima ein Touristenziel<br />
mit therapeutischen Heißwasserquellen<br />
und fischen Fischen und Meeresfrüchten.<br />
Verwüstung<br />
Ein schrecklicher Anblick erwartete uns in Iwaki,<br />
unser Tor nach Fukushima. Iwaki, früher eine belebte<br />
Fischerstadt, hat die volle Wucht des Tsunami<br />
abbekommen mit Wellen von 14 m Höhe.<br />
Wir hielten in Dorf Yotsukura an. Die<br />
Halte der Bevölkerung hatten Opfer zu beklagen,<br />
ihre Häuser, Fischerboote und Autos<br />
verloren oder waren gar noch immer vermisst.<br />
Menschen mit Masken schiene noch wie<br />
betäubt, während sie die durchnässten Trümmer<br />
in hilflosen Versuchen eines Wiederaufbaus<br />
durchsuchten. „Die Gemeinschaft ist<br />
noch immer verstreut in Auffanglagern, denn<br />
es fehlt am Ort an Essen und Wasser und es<br />
gibt auch eine große Knappheit an Benzin“,<br />
erklärt Yuuji Kojima, am Ort für die Rettungsoperationen<br />
zuständig.<br />
Am Nachmittag wollten wir so dicht wie<br />
möglich zum Ort der Nuklearkatastrophe<br />
vordringen. Wir wählten die Route nicht am<br />
Meer endlang, sondern über Land. Bei der<br />
Annäherung an den Unfallort passierten wir<br />
auf Meilen verlassene Dörfer, wo Hunde und<br />
Kühe an zerstörten Häusern und Straßen<br />
vorbeigehen.<br />
Der Himmel war dunkel geworden, wir<br />
fürchteten Regen, der das Risiko einer Kontamination<br />
erhöhen würde. Wir zogen unsere<br />
Masken und eine weitere Schicht von<br />
Schutzkleidung an. Dann lasen wir unsere<br />
Messgeräte ab.<br />
Bei Überschreitung der 30-Kilometer-<br />
Zone, eine erst kürzlich von der Regierung<br />
angeordnete Erweiterung der Risikozone, erreichten<br />
wir Miyakoji-machi, früher ein üppiges<br />
Agrargebiet, nun eine Geisterstadt.<br />
Ein Polizeiwagen stand am Ortseingang<br />
und stoppte unseren Wagen. Die Beamten<br />
erklärten uns, höflich aber unerbittlich, dass<br />
nur Regierungsbeauftragte oder Beauftragte<br />
der Tokio Electric Power Company, dem<br />
Betreiber der Reaktoren in Fukushima, innerhalb<br />
der Risikozone geduldet sind. Wir<br />
stellten das Auto mit laufendem Motor am<br />
Straßenrand ab und suchen eine passende<br />
Stelle, wo die Wissenschaftler ihre Überwachungsinstrumente<br />
aufbauen konnten.<br />
Der Regen hatte sich in Schnee verwandelt.<br />
Innerhalb des dunklen Autos stiegen die<br />
Messwerte unserer Geräte an. Meines zeigte<br />
einen kumulierten Wert von 325 Mikrosieverts<br />
an, schon jetzt das Äquivalent eines<br />
Brust-Röngtenbildes.<br />
Drei zerstörte Gebäude- darunter, radioaktiv verseuchtes Kühlwasser<br />
Evakuierungszentren<br />
Die schlimmsten Erfahrungen machten wir<br />
in den zwei Evakuierungszentren, die wir besucht<br />
haben.<br />
Das Erste befand sich in Tamura und beherbergte<br />
800 Einwohner, die man in eine<br />
große Turnhalle gepfercht hatte. Ursache war<br />
nicht der Tsunami, sondern das Reaktorunglück.<br />
In den letzen 40 Jahren hatten sie diese<br />
Einrichtung toleriert, die nun ihr Leben zerstört<br />
hatte.<br />
Kartonbegrenzungen zeugten den zugebilligten<br />
Platz für Familien. Auf einer Seite<br />
lagen alte Leute unter Decken.<br />
Ich wollte die Bedingungen selbst erfahren.<br />
Am Eingang muss man seine Schuhe<br />
Evakuierung eines Verletzten<br />
abgeben, die Besucher erhalten Slipper. Ich<br />
habe sie nicht angezogen, mit Absicht. Fast<br />
sofort waren meine Füße gefroren, ein Anzeichen<br />
der schlimmen Lage der Flüchtlinge,<br />
die auf diesem kalten und feuchten Boden<br />
seit Wochen leben müssen.<br />
Im anderen Evakuierungszentrum gab es<br />
nur tragbare Toilettenhäuschen außerhalb<br />
des Gebäudes, ein Albraum für alte Leute<br />
in den froststarrenden Nächten. Eine einzige<br />
Ärztin versuchte, Ströme von Patienten<br />
medizinisch zu versorgen. „Die Autoritäten<br />
haben uns jahrelang versprochen, dass alles<br />
sicher wäre. Wir glauben ihnen nichts mehr“,<br />
sagte sie. Fotografieren oder Identifizieren<br />
lehnte sie ab. Sie zögerte damit, die Situation<br />
offen zu kommentieren. Statt dessen konzentrierte<br />
sie sich auf die Pflege der Kranken.<br />
Bittere Lektionen<br />
Während Japan darum kämpft, das vermutlich<br />
zweitschlimmste Nuklearunglück<br />
weltweit einzudämmen, ruft die Bevölkerung<br />
nach einem Alternativmodell für die<br />
Energieversorgung.<br />
Dies bezeichnet den Anfang einer nie da<br />
gewesenen Bemühung eines sich schnell erweiternden<br />
Netzwerks von Wissenschaftlern<br />
und Experten in Japan – unterstützt durch<br />
ihre Kollegen in den USA und Europa – um<br />
die unfassendste Sicherheitsstudie der <strong>Welt</strong>,<br />
wie sie von einigen schon benannt wird.<br />
Aber bis jetzt konzentrieren sich Tao und<br />
seine Kollegen darauf, sich den Weg in das<br />
streng kontrollierte bürokratische System zu<br />
bahnen, das sich lange gegen Intervention<br />
von Außen gewehrt hat. Dies ist einer der<br />
bedenklichsten Aspekte der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung, jetzt offen gelegt durch das<br />
Nukleardesaster.<br />
Spät in der Nacht auf dem Rückweg nach<br />
Tokio, fragten wir uns offen nach den Lektionen,<br />
die Japan lernen muss. Wir fragten<br />
Tao nach den nächsten Schritten. „Die Antworten<br />
brauchen Zeit“, sagte er. „Es ist jetzt<br />
wichtiger, eine kollektive Anstrengung aufrechtzuerhalten,<br />
um der Katastrophe einzudämmen.<br />
Daran müssen sowohl Befürworter<br />
wie auch Gegner der Nuklearenergie einbezogen<br />
sein.“<br />
Nach mehr als 20 Jahren in Japan weiß<br />
ich, dass Tao und seine Gruppe besorgter<br />
Wissenschaftler recht hat. In Zeiten der Tragödie<br />
wendet man sich an japanische Weisheit.<br />
Das Wichtige zuerst, dann die richtige<br />
Plattform aufbauen, um die großen Herausforderungen<br />
zu diskutieren.<br />
Zuerst veröffentlicht durch:<br />
IPS©www.streetnewsservice.org<br />
(Fotos: physikblog.eu, REUTERS)