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Nr. 57 - Soziale Welt

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14<br />

Künstler des Monats<br />

„Mer darf gar net so viel denke!“<br />

Lia Wöhr - ein Multitalent aus dem Gallusviertel<br />

Lia Wöhr ist heute auch in Frankfurt fast<br />

vergessen. Jüngere Frankfurter erinnern<br />

sich nicht mehr an sie. Die Frau ist 1994<br />

gestorben nach einem langen und bewegten<br />

Leben, in dem sie keineswegs nur in<br />

Frankfurt wirkte, ja nicht einmal nur in<br />

Deutschland.<br />

Vielmehr hatte sie, als sie mit den Hesselbachs<br />

und dem Blauen Bock in ganz West-Deutschland<br />

populär wurde, im Grunde schon mehrere<br />

Karrieren hinter sich und war teilweise in Italien,<br />

Spanien, England, Portugal und Südamerika<br />

bekannter als in ihrer Heimat.<br />

Aber der Reihe nach:<br />

Lia (Kurzform von Elisabeth) Wöhr wurde<br />

am 26. 7. 1911 im Frankfurter Gallusviertel als<br />

Tochter eines Bäckers geboren. Schon als Kind<br />

trat sie als Tänzerin auf, ihrem ersten Traumberuf,<br />

nachdem sie die Oper Salome gesehen hatte.<br />

Im Jahre 1924 -da war sie also gerade einmal<br />

13 Jahre alt und hatte schon fünf Jahre als Tänzerin<br />

hinter sich! - gab sie das Tanzen auf: Für<br />

den damaligen Zeitgeschmack mit knabenhaft<br />

dünnen Tänzerinnen wuchs sie zu sehr, wurde<br />

„für eine Tänzerin etwas zu kräftig“, das heißt,<br />

sie begann von einem Mädchen, zu einer Frau<br />

zu werden.<br />

Lia Wöhr und Liesel Christ (Hintergrund) bei einer Vereinsfeier<br />

Sie ging weiterhin zur Schule und begann<br />

1927 eine Ausbildung an der Schauspielschule,<br />

die sie 1929 abschloss. Mit 18 Jahren schon<br />

bekam sie nach Auftritten als Chansonsängerin<br />

in Berlin ein Engagement am Stadttheater<br />

Halberstadt. Hier trat sie vier Jahre lang teils in<br />

Revuen auf, sang, übernahm aber auch Sprechrollen,<br />

trotz ihres nie ganz unterdrückten hessischen<br />

Akzents, der später im Radio und im<br />

Fernsehen gerade einen Teil ihrer Popularität<br />

ausmachen sollte.<br />

Sie brachte 1933 den Mut auf, ihr<br />

Engagement zu kündigen, weil einer<br />

jüdischen Kollegin, gekündigt worden<br />

war.<br />

Aber es gelang der energischen Frau, sich<br />

weiterhin durchzubeißen und dem Theater treu<br />

zu bleiben. An der Frankfurter Oper wurde sie<br />

immerhin Soubrette und auch Souffleuse und<br />

spielte seit 1935 ebenfalls in Frankfurt die verschiedensten<br />

Rollen, vor allem Chargen und<br />

Salondamen für ein Jahresgehalt von 1500<br />

Reichsmark. Sie war immer zäh und ließ sich<br />

nicht unterkriegen.<br />

1937 gelang es ihr sogar, die Regie einer<br />

Lia Wöhr und Heinz Schenk als Wirtin und Oberkellner in einer Sendung „Zum Blauen<br />

Bock“ des hessischen Rundfunks im Mai 1979<br />

(FOTO: DPA)<br />

Operninszenierung zu übernehmen. Damals<br />

hielt das vermutlich noch niemand realistisch,<br />

vielleicht nicht einmal sie selbst, aber wer weiß,<br />

für einen Hinweis auf die Zukunft.<br />

Vor allem in den 50er Jahren machte sie sich<br />

in Italien einen Namen als Opernregisseurin.<br />

Der Name war<br />

Elisabetta Wöhr,<br />

und sie inszenierte<br />

u. a. „Fidelio“,<br />

aber auch Verdi<br />

und Wagner, nicht<br />

nur in Rom, sondern<br />

ebenso in<br />

Madrid, London,<br />

Portugal, Mexiko<br />

und Südamerika.<br />

Dies war nun nach<br />

Tänzerin, Sängerin<br />

und Schauspielerin<br />

schon ihre<br />

vierte Karriere, in<br />

Deutschland war<br />

sie aber noch immer<br />

weitgehend<br />

(FOTO: FR) unbekannt. Sie<br />

sprach fünf Sprachen,<br />

wobei das Hessische, welches ihre Eigentliche<br />

war, nicht einmal mitgezählt ist.<br />

„Ich hab‘ kaa Zeit für Geschwätz,<br />

ich muss butze!“<br />

Das begann sich langsam zu ändern, seitdem<br />

sie ab 1945, also nach der Hitlerzeit, auch<br />

bei Radio Frankfurt arbeitete. Hier und auf<br />

verschiedenen Bühnen gab sie wie schon früher<br />

Chansons und Sketche in der klassischen Kabaretttradition<br />

zum Besten, z. B. seit 1947 als<br />

Hessemädche - sie war ja auch erst 36 Jahre alt.<br />

Sie trat im Hörfunk des Hessischen Rundfunks<br />

auf in den damals sehr populären Sendungen<br />

Frankfurter Wecker und Auf ein frohes<br />

Wochenende, mit so prominenten Unterhaltern<br />

wie Peter Frankenfeld und Hans-Joachim<br />

Kulenkampff, die beide später ihre eigenen,<br />

überaus beliebten Fernsehshows hatten. Auch<br />

Wolf Schmidt, der geistige Vater der Hesselbachs<br />

und Babba all der späteren Fernsehserien<br />

war schon mit dabei.<br />

Parallel - was machte sie nicht alles quasi<br />

gleichzeitig! - wurde sie erste weibliche Produzentin<br />

des Deutschen Femsehens, nicht von<br />

Sketchen, sondern von Bachs Johannespassion<br />

und Strawinskys Feuervogel. Sie sprach in den<br />

Hörfunkproduktionen der Hesselbachs die<br />

Mama, die in den folgenden Femsehproduktionen<br />

von Liesel Christ gespielt wurde. Lia<br />

Wöhr begnügte sich mit der allerdings markanten<br />

Nebenrolle der Putzfrau Siebenhals<br />

(ohne welche die Putzfrau der Lindenstraße<br />

kaum denkbar ist) und sie dirigierte die ganzen<br />

Fernseh-Hesselbachs als Produzentin.<br />

Zu all dem produzierte sie auch noch eine<br />

der zu ihrer Zeit beliebtesten Femsehshows Der<br />

Blaue Bock mit Heinz Schenk als Moderator,<br />

der gar kein Hesse, sondern ein Mainzer, also<br />

immerhin Rheinhesse war. Sie selbst war nicht<br />

nur die Produzentin der Sendung, sondern<br />

auch die Wirtin des Blauen Bock.<br />

Halbherzige Ehrung<br />

Diese Sendung sollte ursprünglich in der<br />

noch immer existierenden Wirtschaft „Zum<br />

Grauen Bock“ in Alt-Sachsenhausen produziert<br />

werden. Aber bald stellte man zum einen<br />

fest, dass die Wirtschaft für damalige Fernsehproduktionen,<br />

in der immerhin auch bekannte<br />

Opernsänger auftraten, zu klein war, zum<br />

anderen machte der damalige Wirt einen Rückzieher<br />

und zog auch den Namen seines Lokals<br />

zurück, hauptsächlich aus einer gewissen Angst<br />

vor zu viel fremdem Publikum. So wurden der<br />

Name und die Farbe passend zu dem im Apfelwein<br />

ganz heimlich versteckten Alkohol in<br />

Blau geändert. Der Bock aber blieb. Hessisch<br />

gehört ja zu den Dialekten, wo man auch üble<br />

Grobheiten so sagen kann, dass sie fast freundlich<br />

klingen.<br />

Diese Sendung wurde im Gegensatz zur ursprünglichen<br />

Planung (Funkausstellung 19<strong>57</strong>)<br />

nicht an einem Ort produziert, sondern damals<br />

ganz ungewöhnlich in verschiedenen Hallen, in<br />

unterschiedlichen, auch kleineren Orten, was<br />

dort jeweils für großes Aufsehen sorgte.<br />

Gerade beim Blauen Bock arbeitete Lia<br />

Wöhr eng mit Heinz Schenk zusammen, beide<br />

Vollblut-Theatermenschen, sie mehr Lenkerin<br />

im Hintergrund, er mehr die Rampensau, dem<br />

kein Kostüm und kein Witz zu banal oder zu<br />

schmutzig war.<br />

Aber ohne Lia Wöhr wäre Heinz Schenk<br />

sicher auch nicht geworden, was er war: Rotzfrecher<br />

Kellner neben dem unvergleichlichen<br />

Reno Nonsens, während Frau Wöhr eher im<br />

Hintergrund blieb und die beiden Spinner und<br />

volkstümlichen „Nonsens-Artisten“ unter ihrer<br />

Aufsicht machen ließ.<br />

Die Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin,<br />

Redakteurin, Produzentin war auch<br />

in verschiedenen Kino- und Fernsehfilmen zu<br />

sehen. Vor allem aber engagierte sie sich im Alter<br />

für kranke und behinderte Kinder, bis sie<br />

1994 in Oberursel sterben musste, wie wir alle<br />

irgendwann.<br />

Lia Wöhr wird bei denen, die sie kannten,<br />

immer unvergessen bleiben, und sei es nur als<br />

Frau Siebenhals.<br />

Martin Fischer<br />

Man wünscht sich mehr. Die Stadt Frankfurt hat ein Plätzchen am Rande<br />

des Gallusviertels nach ihr benannt. Der ist auf den offiziellen Stadtkarten<br />

nicht mal überall eingezeichnet und liegt da, wo die Kölner Straße<br />

von der Frankenalle abgeht. Dort steht ein Gedenkstein, den der Hessische<br />

Rundfunk spendiert hat. Und einen Lia-Wöhr-Weg gibt es auch, in<br />

Weißkirchen. Dürftig, oder?

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