Evangelische Zeitung - Evangelische Hoffnungsgemeinde
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Winterspeisung<br />
kennt viele Geschichten. Hier sind Ein-<br />
blicke in die Gefühle und Erfahrungen wohnungsloser Menschen aus<br />
Frankfurt. Aufgeschrieben von Stefan Weiller für die „Frankfurter Winterreise“.<br />
Man denkt ja immer, Weihnachten sei das<br />
mit der Obdachlosigkeit besonders schlimm.<br />
Das stimmt gar nicht. Schlimm ist es im April,<br />
wenn sich kein Mensch und keine <strong>Zeitung</strong><br />
mehr für dich interessiert. Oder im Juli, wenn<br />
jeder denkt, wir hätten es ja jetzt hübsch warm<br />
und romantisch – so arbeitslos und lässig im<br />
Park. Weihnachten, da kommen den Leuten<br />
Gefühle, da hat jeder Angst, du könntest unter<br />
städtischem Lichterschmuck erfrieren und<br />
mit deinem toten Kadaver so richtig die Glühweinstimmung<br />
vermiesen. Sobald es draußen<br />
wieder blüht, glaubt jeder: jetzt sei alles gut.<br />
Aber hab ich mehr Freunde, nur weil die Rosen<br />
blühen? Gibt mir einer einen Job, nur weil Krokusse<br />
im Park stehen? Soll ich zufrieden sein,<br />
nur weil es warm ist? Im Sommer, wenn sich<br />
wirklich keiner mehr für dich interessiert, dann<br />
ist eigentlich Eiszeit.<br />
Da stehst Du also und brauchst dringend Kohle<br />
für eine Flasche Schnaps. Dann will Dir einer<br />
kein Geld geben, sondern ein Brötchen. Eine<br />
sagte: „Du würdest es doch sowieso bloß versaufen.“<br />
Aber Du zitterst vor Entzug. Du brauchst Deinen<br />
Schnaps, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht.<br />
Ein Brötchen hilft da nichts. Entzug<br />
– mal eben so auf der Straße – so läuft das<br />
nun mal nicht.<br />
Norma schmeißt die besten Sachen weg. Anfangs<br />
habe ich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen,<br />
damit mich keiner erkennt. Irgendwann<br />
gewöhnte ich mich dran, von der Hand in den<br />
Mund zu leben – und aus Müllcontainern von<br />
Norma.<br />
Das war sie also: meine erste Nacht auf der<br />
Straße. Es war unheimlich kalt, und ich war<br />
komplett durchs Netz gefallen. Mein Konzept<br />
hieß, diese Nacht irgendwie durchzustehen.<br />
Ich irrte durch die Stadt. Dürr wie ich bin, kroch<br />
mir die Kälte tief in die Knochen. Ich wartete,<br />
bis der Bahnhof öffnete. In der B-Ebene wollte<br />
ich mich aufwärmen – und zitterte auch dann<br />
Vor 1990 hatte ich für die Typen auf der Straße<br />
nur verächtliche Blicke übrig. Dann verlor<br />
ich alles. Wir hatten zwei Kinder und ein Haus.<br />
Ich hatte einen wirklich guten Job – und plötzlich<br />
nur noch diese Leere, als sie starb. Meine<br />
Sandkastenliebe. Drei Wochen und dann, peng!,<br />
legte sich ein Schalter um. Die Kinder brachte<br />
ich zu meiner Schwägerin, weil sie dort besser<br />
versorgt waren. Das Haus verkaufte ich und<br />
hinterlegte den Kauferlös für die Zukunft der<br />
Kinder auf ihr Konto. Alle Reste verbrannte ich<br />
in einer Tonne. Dann bin ich gegangen – und<br />
seither unterwegs. Eines habe ich behalten:<br />
Jeden Abend spiele ich mir mit meinem Handy<br />
ein Lied vor, schon so viele Jahre: unser Lied.<br />
Dann stelle ich mir vor, wie sie sagen würde:<br />
„Mensch, reiß dich doch zusammen! Lass dir<br />
helfen!“ Vielleicht würde sie mir auch einfach<br />
eine knallen. Mit der Erinnerung an ihr Lachen<br />
schlafe ich ein.<br />
Du kleckerst mit der Suppe: der erste Fleck.<br />
Dann kommt der nächste hinzu – und plötzlich<br />
siehst du aus wie ein Penner und bedienst das<br />
Klischee.<br />
Es gibt unter Jugendlichen eine neue Mode:<br />
Während du auf dem Boden liegst und schläfst,<br />
schleichen sie sich an und spritzen dir Haarspray<br />
ins Gesicht. Du ringst nach Atem, öffnest<br />
erschreckt die Augen, kneifst sie vor Schmerz<br />
schnell wieder zusammen. Dann lachen sie<br />
und rennen weg. Das ist in Frankfurt extrem.<br />
Im Wald schlafen wir in der Gruppe. Eine<br />
Schutzgemeinschaft.<br />
Winterspeisung<br />
Jemand wie ich wird schnell geduzt: „Komm,<br />
hau ab, du!“ Das hasse ich am meisten.<br />
Mein bester Freund, mein guter Beschützer,<br />
mein Lebensretter, mein Begleiter, mein Verteidiger<br />
in der Not, meine schärfste Waffe - das<br />
ist mir diese Trillerpfeife: laut, mutig, wehrhaft<br />
- das, was ich nicht bin, sobald mir einer zu<br />
nahe kommt. Und in dieser Situation bist du<br />
Freiwild. Ich hab ja keine Mauer um mich herum,<br />
stattdessen: ein kleines Stückchen Plastik<br />
in der Hand. Gebraucht habe ich es zum Glück<br />
noch nicht, aber die Panik nagt an mir, auch<br />
während ich schlafe.<br />
8 noch, als ich längst schon nicht mehr fror.<br />
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