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Skript AT I

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Strafrecht I<br />

Vorbemerkung<br />

Das vorliegende <strong>Skript</strong> hat vor allem drei Funktionen:<br />

• Es soll die Nachbereitung der Unterrichtsstunden, vor allem aber auch<br />

spätere Wiederholungen des Stoffes erleichtern, in dem wesentliche<br />

Punkte noch einmal knapp zusammengefasst werden.<br />

• Es soll die Vorlesung von Mitschriften zumindest insoweit entlasten<br />

(und damit das Aufpassen und Mitarbeiten erleichtern!), als sich die<br />

von mir als wichtig erachteten Strukturen und etwaige in der Vorlesung<br />

verwendete systematische Folien bzw. Präsentationen hier wiederfinden<br />

– und zwar noch um wichtige Informationen angereichert. Wer gerne<br />

mitschreiben möchte (und wem das beim Lernen hilft – aus persönlicher<br />

Erfahrung empfehle ich allerdings, eher sparsam mitzuschreiben),<br />

soll das natürlich tun; es besteht aber kein Anlass, all zu hektisch jedes<br />

– vielleicht sogar an die Wand geworfene – Wort mitzuschreiben.<br />

• Es soll über den „nackten Stoff“ hinaus klausurtaktische Ratschläge<br />

oder Verständnistipps enthalten, die ich in dieser Form in vielen Lehrbüchern<br />

vermisse.<br />

Dagegen soll Vorbereitung und/oder Nacharbeit des Stoffes in einem Lehrbuch<br />

keinesfalls ersetzen (und ist deshalb auch zumeist bewusst so knapp<br />

gehalten, dass die Nachbereitungszeit davon nicht alleine in Anspruch genommen<br />

wird 1 ). Im Gegenteil: Zum einen halte ich meine eigenen Ansichten<br />

und meine Art, die Sachen darzustellen, nicht für so wichtig, dass Sie deshalb<br />

auf die Hilfestellung durch eines der zahlreichen gelungenen Lehrbücher,<br />

die teilweise schon seit Generationen bewährt sind, verzichten sollten.<br />

Zum anderen lege ich großen Wert darauf, dass Sie sich in der Vorlesung<br />

aktiv beteiligen und wir die jeweils behandelten Probleme miteinander dis-<br />

kutieren, denn davon und von einer ständigen Umsetzung des Stoffes anhand<br />

von Beispielen haben Sie den größten Lernerfolg; eine solche aktive Mitarbeit<br />

in der Vorlesung dürfte aber nach einer Lektüre allein des in späteren<br />

Passagen eher stichpunktartig gehaltenen <strong>Skript</strong>s nur schwer möglich sein.<br />

Anders formuliert: ich hoffe, dass Ihnen das <strong>Skript</strong> neben den oben erwähnten<br />

Klausurratschlägen und Verständnistipps auch zu einem raschen Wiederholen<br />

des eigentlichen Stoffes von Nutzen sein; um sich diesen aber<br />

erstmalig zu erarbeiten, wird es vielfach zu knapp sein.<br />

Für Verbesserungsvorschläge bin ich selbstverständlich jederzeit offen und<br />

dankbar!<br />

Viel Spaß und Erfolg im Strafrecht!<br />

Erlangen, im Oktober 2004<br />

Hans Kudlich<br />

1 Eine Ausnahme bilden die ersten Teile, weil eine Reihe an sich durchaus empfehlenswerter<br />

Kurzlehrbücher zu den einführenden Grundlagen nur (sehr) wenig enthalten und ich auch<br />

nicht ohne weiteres davon ausgehen möchte, dass alle Vorlesungsteilnehmer sich in den<br />

ersten Tagen des Semesters schon für ein Lehrbuch entschieden haben.


A. Einführung und Grundlagen<br />

I. Abgrenzung und Aufgabe des Strafrechts<br />

1. Abgrenzung des Strafrechts von anderen Rechtsgebieten<br />

a) Versucht man, das Strafrecht von den anderen Teilen der Rechtsordnung<br />

abzugrenzen, so kann man zum einen darauf abstellen, dass an die im Tatbestand<br />

beschriebenen Verhaltensweisen als Rechtsfolge die Strafe (oder in<br />

bestimmten Fällen Maßregeln der Besserung und Sicherung 2 ) treten.<br />

Bsp: Wird festgestellt, dass durch ein Medikament die Patienten zu Schaden kommen,<br />

so könnte diesem die Zulassung entzogen, könnte die vertreibende Firma zur<br />

Zahlung von Schadensersatz verurteilt und könnten die Verantwortlichen zu einer<br />

Geldstrafe verurteilt werden. Nur die letzte Frage gehört zum Bereich des Strafrechts.<br />

Durch die Bedrohung mit Strafe wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass<br />

dieses Verhalten verboten ist, d.h. das auf den ersten Blick scheinbar bloße<br />

„Konditionalprogramm“ von Tatbestand und Rechtsfolge enthält in Wahrheit<br />

auch einen „Sollenssatz“. Man sagt auch: In der strafrechtlichen „Sanktionsnorm“<br />

(also der Vorschrift, die eine Strafbarkeit anordnet) steckt<br />

zugleich auch eine „Verhaltensnorm“.<br />

Bsp.: § 212 StGB enthält die Aussage: „Wer einen Menschen tötet, wird ... bestraft.“,<br />

also das Konditionalprogramm „Wenn Du einen Menschen tötest, wirst Du<br />

bestraft.“ Darin steckt zugleich die Verhaltensnorm „Du sollst nicht töten!“.<br />

b) Zum anderen kann man von der Zielrichtung des Strafrechts her feststellen,<br />

dass es sich um ein repressives staatliches Verhalten handelt (wenngleich<br />

es im Ergebnis vor späteren ähnlichen Taten schützen möchte und<br />

damit zugleich präventive Funktion hat, vgl. dazu unten S. 7 f.). Die Unter-<br />

2 Lies § 61 StGB. Insoweit wäre es vielleicht genauer, von „Straf- und Maßregelrecht“ zu<br />

sprechen. Für Ausbildung und Prüfung spielen allerdings diese Maßregeln im Pflichtbereich<br />

praktisch keine Rolle.<br />

schiede zwischen den drei großen Rechtsgebieten skizziert die folgende<br />

Übersicht:<br />

Teilgebiet<br />

Zivilrecht<br />

Öffentliches Recht<br />

Strafrecht<br />

Hauptfunktion beim Rechtsgüterschutz<br />

retributiv, (insb. durch Schadensersatz)<br />

präventiv (z.B. durch eine Gewerbeuntersagung)<br />

repressiv (z.B. Freiheitsstrafe): „Prävention durch<br />

Repression“<br />

2. Teilgebiete des Strafrechts i.w.S.<br />

Das Strafrecht i.w.S. muss nicht nur Regelungen enthalten, welches Verhalten<br />

bei Strafe verboten ist, sondern darüber hinaus auch bestimmen, wie im<br />

Einzelfall geklärt wird, ob jemand die verbotene Tat überhaupt begonnen hat<br />

und wie – insbesondere im Falle einer Freiheitsstrafe 3 – der Vollzug einer<br />

gerichtlich ausgesprochenen Strafe im Einzelnen ablaufen soll. Entsprechende<br />

Regelungen sind in verschiedenen Untergebieten des Strafrechts<br />

enthalten, die teilweise im weiteren Verlauf Ihres Studiums als Pflicht- oder<br />

Wahlfächer eine Rolle spielen und deren Inhalt und Bedeutung die nachfolgende<br />

Übersicht zusammenfasst:<br />

Teilgebiet Regelungsinhalt gesetzliche<br />

Grundlagen<br />

materielles<br />

Strafrecht<br />

z.B. Gebots- und<br />

Verbotsnormen;<br />

Zurechnungsregeln;<br />

Rechtfertigungsgründe;<br />

Rechtsfolgen<br />

vor allem<br />

StGB; daneben<br />

aber<br />

auch zahlreiche<br />

strafrechtliche<br />

Nebenge-<br />

3 Zu den Arten der Strafe vgl. knapp den Überblick unter III..<br />

Bedeutung für Ausbildung<br />

und Prüfung<br />

Stoff der Vorlesungen<br />

zum Strafrecht <strong>AT</strong> und<br />

BT; Schwerpunkt der<br />

meisten Klausuren;<br />

allerdings aus dem BT<br />

nicht alle Delikte und<br />

aus dem <strong>AT</strong> insbesondere<br />

nicht die Rechts-<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 2


Strafverfahrensrecht<br />

Jugendstrafrecht<br />

Stoff der Wahlvorlesung<br />

Jugendstrafrecht;<br />

grundsätzlich keine<br />

Bedeutung im Pflichtfachbereich<br />

Strafvollzugsrecht<br />

z.B. Ablauf eines<br />

Strafverfahrens;<br />

Ermittlungsmaßnahmen;<br />

Rechtsmittel<br />

gegen Urteile<br />

eines Strafgerichts<br />

setze<br />

vor allem<br />

StPO und<br />

GVG; große<br />

Bedeutung<br />

des GG<br />

Sonderregelungen JGG; ergänzend<br />

zum materiellen<br />

allge-<br />

wie zum Prozessrecht<br />

meine Rege-<br />

für junge lungen<br />

Straftäter (StGB und<br />

StPO)<br />

Vollzug der Freiheitsstrafe<br />

und der<br />

freiheitsentziehenden<br />

Maßregeln<br />

vor allem<br />

StVollzG;<br />

große Bedeutung<br />

des<br />

GG<br />

folgen ( vgl. dazu<br />

die Wahlvorlesung<br />

Sanktionenrecht)<br />

Stoff der Vorlesung<br />

Strafprozessrecht;<br />

Zusatzfragen in Klausuren<br />

möglich; Wechselbeziehung<br />

zwischen<br />

mat. Strafrecht und<br />

Strafprozessrecht<br />

Stoff der Vorlesung<br />

Strafvollzug; grundsätzlich<br />

keine Bedeutung<br />

im Pflichtfachbereich<br />

3. Die Aufgabe des Strafrechts<br />

Hält man sich vor Augen, dass der Einsatz von Strafe, d.h. von bewusster<br />

und erheblicher staatlicher Übelszufügung, ein überaus scharfes Schwert ist,<br />

stellt sich die Frage, welches Ziel damit überhaupt verfolgt wird und wann<br />

der Einsatz von Strafe dazu zulässig sein soll. Anders gefragt: Warum und<br />

unter welchen Voraussetzungen soll der Staat zum Strafen legitimiert sein?<br />

Verkürzend kann man hierzu auf zwei Stichwörter verweisen (die im Übrigen<br />

auch in der Argumentation bei konkreten Auslegungsproblemen herangezogen<br />

werden können): Rechtsgüterschutzdogma und ultima-ratio-<br />

Charakter des Strafrechts.<br />

Klausurhinweis:<br />

Hinterfragt man beide Stichworte kritisch, wird schnell klar, dass<br />

sie mitunter wesentlich weniger argumentatives Gewicht haben,<br />

als ihre Verwendung vorgibt: So ist oftmals gerade nicht klar, was<br />

das geschützte Rechtsgut einer Vorschrift ist und insbesondere,<br />

wie weit dieser Schutz reichen soll. Und ob die Straflosigkeit in<br />

einem bestimmten Fall eine „nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücke“<br />

oder aber „notwendige Konsequenz des bewusst fragmentarischen<br />

Charakters des Strafrechts ist“, erscheint vielfach recht beliebig<br />

und austauschbar.<br />

Trotzdem macht sich der Rückgriff auf solche Grundsatzwertungen<br />

nach meiner Erfahrung bei den Korrektoren oft gut (zumal,<br />

wenn er nicht nur schlagwortartig und begründungslos erfolgt,<br />

sondern durch Sachargumente „unterfüttert“ wird), so dass er klausurtaktisch<br />

sinnvoll sein mag. Hinzu kommt aber ein auch noch ein<br />

Weiteres: Da nicht in jeder Klausur das Strafrecht neu erfunden<br />

werden kann, muss auch nicht z.B. bei jeder Argumentation mit<br />

dem ultima-ratio-Gedanken neu darauf hingewiesen werden, dass<br />

dieses ambivalent ist – vielmehr „klingt“ dieser background gewissermaßen<br />

durch die Begriffsverwendung mehr oder weniger mit,<br />

und ein solcher Rückgriff auf den in bestimmten Begriffen „geronnenen“<br />

Diskussionsstand erscheint mir in einer fachwissenschaftlichen<br />

Diskussion auch lege artis und unumgänglich.<br />

a) Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts<br />

Nach verbreiteter Ansicht liegt die Aufgabe des Strafrechts vor allem im<br />

Rechtsgüterschutz. Dabei darf nicht verkannt werden, dass der Rechtsgutsbegriff<br />

immer noch nicht endgültig geklärt erscheint und dass im Einzelfalls<br />

durchaus schwierig zu bestimmen ist, welches anerkennenswerte Gut von<br />

einer Norm geschützt werden soll.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 3


Bsp.: § 145d StGB stellt das Vortäuschen der Begehung einer Straftat (auch ohne<br />

konkrete falsche Verdächtigung eines anderen) unter Strafe. Welches Rechtsgut soll<br />

dadurch geschützt werden?<br />

• Der Schutz der staatlichen Einrichtungen vor ihrer ungerechtfertigten Inanspruchnahme?<br />

Aber wäre das gerechtfertigt, obwohl die ungerechtfertigte Inanspruchnahme<br />

privater Leistungen oder auch die ungerechtfertigte Inanspruchnahme<br />

anderer staatlicher Leistungen nicht (ohne weiteres 4 ) unter Strafe<br />

steht?<br />

• Die angemessene „Ehrfurcht gegenüber Staat und Obrigkeit“, die nicht „angelogen“<br />

werden wollen? Aber wäre das wirklich ein so zentrales Rechtsgut,<br />

dass es den Einsatz von Strafrecht legitimiert?<br />

Die Systematisierung des Besonderen Teils des StGB spiegelt die im Kernstrafrecht<br />

geschützten Rechtsgüter deutlich wider. Auf Grund der besonderen<br />

Schärfe des Instruments Strafrecht soll dieses aber nur zum Schutz besonders<br />

wichtiger, elementarer Güter vor nicht unerheblichen Eingriffen<br />

angewandt werden.<br />

Daneben werden auch andere Funktionen wie die Stabilisierung von durch<br />

die Straftat verletzten Verhaltenserwartungen 5 oder die Unterbindung sozialschädlicher<br />

Verhaltensweisen 6 genannt. Allerdings dürfte diesen Ansätzen<br />

wohl nur ergänzende Bedeutung zukommen, 7 da ohne Rückgriff auf den<br />

Rechtsgüterschutz nur schwer erklärbar ist, warum entsprechende Verhaltenserwartungen<br />

überhaupt bestehen und schützenswert sind bzw. warum es<br />

wenig wünschenswert erscheint, dass bei jeder Tötung eines Menschen darüber<br />

diskutiert wird, ob dieser Tod für die Gemeinschaft tatsächlich schädlich<br />

ist.<br />

Für den dadurch zentralen Begriff des „Rechtsgutes“ soll auf zwei Punkte<br />

hingewiesen werden:<br />

4 Eine solche Inanspruchnahme kann im Einzelfall etwa als Betrug (§ 263 StGB) strafbar<br />

sein. Aber dafür müssen weitere Voraussetzungen (insbesondere Eintritt eines Vermögensschadens<br />

beim Opfer und Bereicherungsabsicht beim Täter) hinzukommen.<br />

5 Deutlich etwa bei Jakobs, <strong>AT</strong>, Abschn. 2, Rn. 4 ff.; ähnlich auch Lesch, Der Verbrechensbegriff<br />

(1999), S. 186 ff.<br />

6 Grundlegend Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), insb.<br />

S. 330 ff.<br />

7 Das schließt natürlich nicht aus, dass diesen Ansätzen in Problemfällen ergänzendes argumentatives<br />

Potential zukommt.<br />

• Das Rechtsgut ist nicht mit dem konkreten Tatobjekt gleichzusetzen.<br />

Bsp.: Geschütztes Rechtsgut bei den Tötungsdelikten ist das Leben, Tatobjekt<br />

ist ein anderer Mensch. Geschütztes Rechtsgut beim Diebstahl (§ 242 StGB) ist<br />

unter anderem das Eigentum. Tatobjekt ist eine (konkrete) fremde bewegliche<br />

Sache. Geschütztes Rechtsgut bei der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) ist die<br />

Sicherheit des Beweisverkehrs, Tatobjekt ist eine Urkunde.<br />

• Verbreitet wird zwischen Individualrechtsgütern (z.B. Leib und Leben)<br />

und überindividuellen Rechtsgütern (z.B. Sicherheit des Straßenverkehrs;<br />

Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege) unterschieden, wobei die<br />

Legitimationskraft zweiterer vielfach noch skeptisch betrachtet wird<br />

(bzw. versucht wird, diese von Individualrechtsgütern mittelbar herzuleiten).<br />

Klausurhinweis:<br />

Auch in der Klausursituation spielt der Rechtsgutsbegriff – wie<br />

oben schon angedeutet – eine Rolle. Dies ist besonders bei der<br />

Auslegung der Tatbestände (und dabei vor allem des Tatobjekts)<br />

und in der Einwilligungslehre (hier bei der Frage, ob der Verletzte<br />

über das geschützte Gut dispositionsbefugt ist und daher mit rechtfertigender<br />

Wirkung in seine Verletzung einwilligen kann) der<br />

Fall.<br />

b) Das ultima-ratio-Prinzip (der fragmentarische Charakter)<br />

Wie oben schon angedeutet wurde, ist das „scharfe Schwert des Strafrechts“<br />

auf mehr oder weniger schwerwiegende Verletzungen elementarer Rechtsgüter<br />

beschränkt. Es sollte eigentlich nur eingesetzt werden, wenn andere<br />

staatliche Eingriffsmechanismen (Zivilrecht, Verwaltungsrecht) versagen. Es<br />

werden daher nicht alle (und insbesondere nicht alle strengen) ethischmoralischen<br />

Wertmaßstäbe durch das Strafrecht geschützt, sondern dieses<br />

hat bewusst „fragmentarischen Charakter“.<br />

Bsp.: Das wird etwa deutlich beim Vergleich zwischen § 303 StGB und<br />

§ 823 I BGB: Während eine Schadensersatzpflicht auch für fahrlässige Eigentumsverletzungen<br />

besteht, sind diese grundsätzliche straflos (lies § 15 StGB).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 4


Klausurhinweis:<br />

Dieser bewusst fragmentarische Charakter hinterlässt bei der Behauptung<br />

von angeblich zu schließenden Strafbarkeitslücken oftmals<br />

einen etwas „faden Beigeschmack“. Man sollte schon darlegen<br />

können, dass es sich um eine „Strafbarkeitslücke“ handelt, die<br />

nach der Systematik des Gesetzes nicht gewollt sein kann (und<br />

nicht nur um ein Verhalten, das man persönlich als besonders<br />

schlimm empfindet).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 5


II. Grundlagen<br />

Das Gesamtphänomen Strafe und Strafrecht ist über die „klausurrelevanten“<br />

gesetzlichen Vorschriften hinaus mit einer Reihe Fragen verquickt. Ohne<br />

dass diese hier wirklich vertieft werden könnten, seien einige von ihnen<br />

wenigstens kurz angesprochen. Dabei wird vorliegend vor allem solchen<br />

Grundlagen Bedeutung zugemessen, die den engsten Bezug zum „klassischen<br />

Klausurstoff“ haben und daher zumindest bei einer ausführlicheren<br />

Argumentation an schwierigen Stellen in ihren Grundzügen überblickt sein<br />

wollen (d.h. konkret: den verfassungsrechtlichen 8 und strafrechtsdogmatischen<br />

9 Grundlagen):<br />

1. Kriminologische Grundlagen: Die Kriminalitätstheorien – o-<br />

der:<br />

Warum wird der Mensch kriminell?<br />

Zu den „gesamten Strafrechtswissenschaften“ gehört auch die Kriminologie,<br />

d.h. die Wissenschaft von Ursache und Phänomenologie kriminellen Verhaltens<br />

sowie der Wirkung von Strafe. 10 Anders als das Strafrecht ist die Kriminologie<br />

also keine normative, sondern eher eine empirische Disziplin.<br />

Entsprechende Kenntnisse sind zwar für Ausbildung und Prüfung in aller<br />

Regel nicht erforderlich, für rationale, praktische rechtspolitische Arbeit<br />

aber unverzichtbar. Als wichtiger Bestandteil dieser Wissenschaft gehen die<br />

sog. Kriminalitätstheorien gehen der Frage nach, warum Menschen kriminell<br />

werden (sog. Kriminalätiologie). Die wichtigsten Obergruppen unter<br />

diesen Ansätzen lassen sich wie folgt gegenüberstellen:<br />

8 Unten S. 11 ff.<br />

9 Unten S. 15 ff.<br />

10 Zu den verschiedenen Gegenständen der Kriminologie vgl. Schwind, Kriminologie, § 1<br />

Rn. 14 – wer ein bisschen „privates“ Interesse für diese spannenden Fragen entwickelt und<br />

einmal entspannt, aber zugleich fundiert etwas dazu „schmökern“ will, dem sei dieses Büchlein<br />

dringend ans Herz gelegt.<br />

Theorie<br />

Kernaussage<br />

biologische<br />

Theorien<br />

psychologische<br />

Theorien<br />

Freud,<br />

Sutherland,<br />

Eysenck<br />

soziologische<br />

Theorien<br />

Die Neigung<br />

−<br />

zur<br />

Kriminalität<br />

ist angeboren<br />

−<br />

Spielarten<br />

−<br />

−<br />

−<br />

−<br />

−<br />

−<br />

−<br />

−<br />

biologisch-anthropologische Ansätze<br />

(Verbrechen als Atavismus,<br />

d.h. als Rückfall auf frühere Entwicklungsstufe)<br />

erbbiologische Theorien (Zwillings-<br />

und Adoptionsforschung)<br />

Ethologie<br />

Psychoanalyse<br />

Lerntheoretische Ansätze<br />

Aggressionstheorien<br />

Kontrolltheorien<br />

Milieutheorien der französischen<br />

kriminalsoziologischen Schule<br />

Anomietheorien<br />

Subkulturtheorien (Theorie der<br />

„delinquency areas”, Theorie der<br />

delinquenten Subkultur)<br />

− Kulturkonflikttheorien<br />

− Etikettierungsansätze (labeling<br />

approach)<br />

Wichtige<br />

Vertreter<br />

Lombroso,<br />

Ferri,<br />

Crowe<br />

Kriminalität<br />

ist das<br />

Ergebnis<br />

bestimmter<br />

seelischer<br />

Entwicklungen<br />

Kriminalität<br />

ist das<br />

Ergebnis<br />

von gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen,<br />

insb.<br />

von sozialstrukturell<br />

bedingten<br />

Missständen<br />

Lacassagne,<br />

Franz von<br />

Liszt,<br />

Durkheim,<br />

Merton<br />

Heute ist man sich im Wesentlichen einig, dass kein monokausaler Ansatz<br />

die Entstehung von Kriminalität angemessen erklären kann ( Tendenz zu<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 6


Mehrfaktorenansätzen). Das macht die Frage aber nicht hinfällig, da immerhin<br />

versucht werden kann, (etwa durch statistische Untersuchungen 11 ) wesentliche<br />

Faktoren und ihr Zusammenspiel herauszufinden (und das Augenmerk<br />

vor allem auf solche zu legen, bei denen man ansetzen kann).<br />

2. Rechtsphilosophische Grundlagen: Die Strafzwecktheorien –<br />

oder: Warum strafen wir?a) Problembeschreibung und Einordnung<br />

Eine bis in die Philosophie der Antike zurückzuverfolgende Diskussion<br />

dreht sich um die Frage, „wozu überhaupt strafen“, m.a.W.: welcher Zweck<br />

mit dem Strafen verfolgt wird. 12 Es ist ja nicht ohne Weiteres selbstverständlich,<br />

dass eine (repressive) Strafe verhängt wird, die den eingetretenen Schaden<br />

nicht wieder gut machen kann: „das Kind ist ja schon in den Brunnen<br />

gefallen“.<br />

Obwohl sich für diese Diskussion die Bezeichnung der „Strafzwecktheorie“<br />

eingebürgert hat, geht es dabei weniger um das Ziel des Strafrechts als Regelungsmaterie<br />

als vielmehr um die Wirkungsweise von Strafandrohung und<br />

Strafvollzug in Abhängigkeit von der dem Strafrecht zugewiesenen Aufgaben,<br />

oder anders ausgedrückt: um die Frage, wie Strafandrohung bzw. –<br />

vollzug dazu beitragen können, dass diese Aufgaben erfüllt werden. Im Einzelnen<br />

ist hier allerdings vieles umstritten. Während manche Autoren strikt<br />

zwischen Wirkungen der Strafe (bei denen dann die Strafzwecktheorien<br />

diskutiert werden) und Aufgabe des Strafrechts trennen, behandeln andere<br />

beides mehr oder weniger zusammen. Über zwei Punkte sollte aber eigentlich<br />

Einigkeit bestehen: Natürlich kann zwischen einer Diskussion über das<br />

„ob“ der Strafe und das „wie“ der Strafe unterschieden werden; ebenso<br />

selbstverständlich ist aber das „wie“ vom „ob“ abhängig bzw. wird dadurch<br />

begrenzt: nur wenn die konkrete Durchführung geeignet ist, ein solches Ziel,<br />

das hinsichtlich des „ob“ als legitim erachtet worden ist, zu fördern, ist sie<br />

auch ihrerseits legitimiert.<br />

Jedenfalls weitgehend unabhängig ist die Strafzwecklehre von der Auswahl der<br />

Rechtsgüter, deren Schutz dem Strafrecht in einem konkreten gesellschaftlichen<br />

System obliegt. Verfolgt man etwa den spezialpräventiven Zweck, dass eine einmal<br />

begangenen Rechtsverletzung auf Grund der verhängten Strafe und der Androhung<br />

einer erneuten Strafe nicht wiederholt wird (vgl. unten S. 8 f.), spielt es letztlich<br />

keine Rolle, ob diese Rechtsverletzung in der – weithin als grundsätzlich strafwürdig<br />

angesehenen – Tötung eines Menschen, in der – in der Geschichte vielfach als<br />

Straftat angesehenen, in modernen Strafrechtssystemen aber ganz selbstverständlich<br />

unberücksichtigten – Betätigung als Zauberer oder in der – bis in die zweite Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts zumindest nicht als strafrechtliches Problem gesehenes, gegenwärtig<br />

aber in vielen Rechtsordnungen dem Kernstrafrecht zugehörigen – Verschmutzung<br />

der Umwelt liegt. Insoweit trägt die Strafzwecklehre nichts zur materiellen<br />

Legitimation einer konkreten Strafnorm bei, sondern beschreibt vielmehr die<br />

Funktionalität der Strafe zur Erreichung der in einer Rechtsordnung jeweils mit dem<br />

Strafrecht verfolgten Aufgaben.<br />

Es stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber, von denen insbesondere<br />

der zweite wieder eine Reihe von Unterdifferenzierungen enthält.<br />

Überblicksartig lässt sich die Diskussion wie folgt darstellen: 13<br />

11 Berühmt in Deutschland etwa Göppingers Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung<br />

(1983).<br />

12 Eine interessante Sammlung von Originalquellen (ggf. jeweils einschließlich deutscher<br />

Übersetzung) mit Stellungnahmen bedeutender Denker der Neuzeit zu dieser Frage findet<br />

sich bei Vorbaum, Strafrechtsdenker der Neuzeit.<br />

13 Instruktiv zu den Strafzwecken Lesch, JA 1994, 510 ff., 590 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 7


:<br />

absolute Straftheorien<br />

Punitur quia peccatum<br />

est<br />

Ziel: Vergeltung der<br />

vergangenen Tat<br />

[historisch wichtige<br />

Vertreter: Kant; Hegel]<br />

Lehre von den<br />

Strafzwecken<br />

(Straftheorien)<br />

Relative Straftheorien<br />

Punitur ne peccetur<br />

Generalprävention:<br />

* negativ: Abschreckung<br />

[historisch wichtiger Vertreter:<br />

Feuerbach]<br />

* positiv: Festigung der allgemeinen<br />

Rechtstreue<br />

[heute wohl h.M.]<br />

Spezialprävention<br />

[historisch wichtiger Vertreter:<br />

v. Liszt]<br />

* negativ: Abschreckung<br />

und Sicherung<br />

* positiv: Erziehung / Resozialisierung<br />

[vgl. heute § 2 StVollzG]<br />

b) Die absoluten Straftheorien<br />

Die Vertreter der sog. „absoluten Straftheorien“ gingen davon aus, dass die<br />

Strafe allein der Vergeltung der begangenen Straftat dient und darüber hinaus<br />

keinen (diesseitigen) Zweck verfolgt (sie von solchen Zwecken also<br />

„losgelöst“, lat. absolutus, ist). Gegen eine „diesseitige Zweckbindung“<br />

kann eingewendet werden, dass die Erreichung dieser Zwecke entweder<br />

−<br />

−<br />

höchst ungewiss ist 14 oder aber die einzelne für gesellschaftliche Zwecke<br />

„instrumentalisiert“ wird. 15<br />

Um dabei aber den „Vergeltungsgedanken“ nicht als (nur) archaisches Rachedenken<br />

misszuverstehen, muss man sich darüber hinaus den philosophischen<br />

Ausgangspunkt (insbesondere in der Diskussion während des deutschen<br />

Idealismus bei Kant und Hegel) vor Augen führen: Der rechtmäßige /<br />

gerechte Zustand wurde als solcher als ein ideeller Wert betrachtet, der<br />

durch die Straftat verletzt wurde. Zu seiner ideellen Wiederherstellung wurde<br />

die Strafe als eine Sühneleistung (oder nach Hegel: als „Negation der<br />

Negation“) als erforderlich und zugleich auch als „Heilmittel“ für den Verbrecher<br />

– der damit wieder mit der Gesellschaft versöhnt wird – erachtet.<br />

Einem solchen ausgleichenden Denken entsprach auch die Vorstellung der<br />

Vergeltung des „Gleichen mit Gleichem“ (des sog. „ius talionis“), das bei<br />

Kant noch i.S. einer unmittelbaren Entsprechung von Straftat und Strafe, bei<br />

Hegel in einer wertungsmäßigen Entsprechung gesehen wurde.<br />

c) Die relativen Straftheorien<br />

Demgegenüber besteht unter den Vertretern der „relativen Straftheorien“<br />

Einigkeit darüber, dass mit der Strafe ein zukunftsgerichteter Zweck verfolgt<br />

wird (sie also zu einem solchen Zweck in Beziehung steht, lat. relatus). Dieser<br />

besteht in der Prävention gegen zukünftige Straftaten, wobei unterschiedliche<br />

Ansatzpunkte möglich sind: Auf der ersten Ebene lässt sich zwischen<br />

der Wirkung auf den bestraften Täter selbst und der Rechtsgemeinschaft<br />

unterscheiden; auf einer zweiten Ebene zwischen einer negativabschreckenden<br />

und einer positiv-bestärkenden Wirkung. Damit ergeben<br />

sich folgende Möglichkeiten:<br />

• Die negative Spezialprävention stellt darauf ab, dass der bestrafte Täter<br />

auf Grund der Wirkung der Strafe von der Begehung neuer Taten abgeschreckt<br />

– bzw. soweit dies nicht möglich erscheint – durch „Wegsperren“<br />

oder gar Eliminieren unschädlich gemacht wird.<br />

14 Wird jemand wirklich durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ein besserer Mensch?<br />

15 Wird ein einzelner besonders hart bestraft, um andere Täter abzuschrecken, so ist das kein<br />

gerechter Ausgleich seiner Schuld, sondern er wird zum Hilfsmittel<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 8


• Bei der positiven Spezialprävention wird die Möglichkeit einer Besserung<br />

des Täters durch die Strafe (bzw. eine Behandlung während des<br />

Strafvollzuges) betont („Erziehung durch Strafe“).<br />

• Die negative Generalprävention baut darauf, dass bereits durch die<br />

Strafandrohung jeder Einzelne genau überlegen wird, ob sich die mit<br />

der Straftat möglicherweise verbundenen Konsequenzen „lohnen“.<br />

M.a.W.: der Mensch begeht Straftaten, weil er sich einen Vorteil daraus<br />

erhofft; wenn aber die zugleich drohenden Nachteile unverhältnismäßig<br />

hoch erscheinen, wird er sich von der Vorteilshoffnung nicht leiten lassen<br />

(Theorie des psychologischen Zwanges nach Feuerbach).<br />

• Die positive Generalprävention schließlich geht davon aus, dass die<br />

Rechtsgemeinschaft in ihrer Rechtstreue insgesamt bestärkt und bestätigt<br />

wird, wenn sie erkennt, dass Verbrecher bestraft werden. Insoweit<br />

ist eine Parallele zur Sicht der Aufgabe des Strafrechts in der kontrafaktischen<br />

Stabilisierung von durch die Straftat verletzten Verhaltenserwartungen<br />

deutlich sichtbar. 16<br />

d) Kritik und Vereinigungstheorien<br />

An allen Modellen kann – insbesondere in ihrer „Reinform“ – Kritik geübt<br />

werden: So erscheint bloße Vergeltung „archaisch“, die Hoffnung auf Besserung<br />

angesichts der Rückfallstatistiken teilweise utopisch und die Legitimation,<br />

die Bestrafung des einzelnen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen,<br />

zumindest fraglich. Bei der präventiven Wirkung aus Angst vor einer angedrohten<br />

Strafe wird außerdem nicht ausreichend berücksichtigt, dass nach<br />

allen historischen und kriminologischen Erfahrungen, weniger die Existenz<br />

oder gar Höhe der zu erwartenden Strafe, sondern die Wahrscheinlichkeit<br />

„erwischt zu werden“, das Verhalten des Täters maßgeblich steuert.<br />

Aus diesem Grunde sind heute sog. Vereinigungstheorien herrschend, wobei<br />

einer rein „additiven“ Betrachtung (alle Strafzwecke nebeneinander) eine<br />

„dialektische“ vorzuziehen ist, die etwa für die Stufen Strafandrohung,<br />

Strafverhängung und Strafvollzug jeweils unterschiedliche Strafzwecke im<br />

Vordergrund sieht.<br />

16 Vgl. oben zu Fußn. 5.<br />

Im StGB selbst sind ebenfalls alle drei Strafzwecke zum Ausdruck gekommen:<br />

Nach der zentralen Vorschrift für die Strafzumessung in § 46 I 1 StGB<br />

ist die Schuld der Täters Grundlage der Strafe ( Vergeltung), wobei aber<br />

nach S. 2 auch die Auswirkungen auf das künftige Leben des Täters zu berücksichtigen<br />

sind ( Spezialprävention); im Einzelfall nach § 47 I StGB ist<br />

auch die „Verteidigung der Rechtsordnung” zu berücksichtigen ( Generalprävention).<br />

3. Historische Grundlagen<br />

Eine Beschäftigung mit den einschlägigen historischen Grundlagen unseres<br />

Strafrechts müsste hier so unvollständig und selektiv erfolgen, dass es mir<br />

„seriöser“ erscheint, völlig auf sie zu verzichten. 17 Es soll hier bei einigen<br />

mehr oder weniger willkürlich gesetzten Punkten bleiben, die man als<br />

Schlagwort schon einmal gehört haben sollte:<br />

• In der germanisch-fränkischen Zeit findet sich noch keine Trennung<br />

zwischen Strafprozess und Zivilprozess. Eine Straftat führt zu einer<br />

Privatklage des Verletzten oder seiner Sippe. Wichtigste Gesetzbuch ist<br />

die Lex Salica (um 500).<br />

• Im deutschen Hochmittelalter entsteht ein öffentliches Strafrecht in<br />

Deutschland. Charakteristisch ist die Idee der „spiegelnden Strafen“.<br />

Bedeutendstes strafrechtliches Gesetzbuch in dieser Zeit ist der Sachsenspiegel<br />

(um 1230).<br />

• In der frühen Neuzeit findet in Deutschland langsam die Rezeption der<br />

in Oberitalien schon seit dem 12. Jahrhundert erfolgenden Beschäftigung<br />

mit dem römischen Recht statt. Es beginnt die Zeit der Hexenprozesse;<br />

das Verfahren ist durch die Inquisition geprägt. Bedeutendstes<br />

Gesetzbuch dieser Zeit ist die „Constitutio Criminalis Carolina“, die<br />

peinliche Gerichtsordnung Karls V (um 1530).<br />

17 Interessierte seien zur Vertiefung etwa auf das Kurzlehrbuch von Rüping, Grundriß der<br />

Strafrechtsgeschichte, verwiesen. Einen interessanten Überblick über die Geschichte der<br />

Strafgerichtsbarkeit gibt Schild, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit (1997); die klassischen<br />

frühen Strafrechtskodifikationen der Neuzeit im deutschsprachigen Raum finden sich zusammengestellt<br />

bei Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit (1998).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 9


• Die Aufklärung ist durch naturrechtliche (an Stelle von religiösen) I-<br />

deen geprägt; der Kodifikationsgedanke (d.h. die Vorstellung, dass das<br />

Recht möglichst vollständig in geschriebener Form vorliegen soll) gewinnt<br />

enorm an Bedeutung. Beispiele sind in Österreich die sog. Theresiana<br />

(1768) und Josephina (1787) sowie in Preußen das Allgemeine<br />

Preußische Landrecht (ALR, 1794).<br />

• Aufbauend auf dem Preußischen StGB von 1851 wird nach der Reichgründung<br />

1871 das Reichsstrafgesetzbuch erlassen, aus dem später das<br />

StGB hervorgeht.<br />

• Die NS-Zeit führt zu (z.T. noch heute im StGB befindlichen) Änderungen<br />

des StGB, vor allem aber zu Sondergesetzen und zu einer veränderten<br />

Anwendung der Strafgesetze.<br />

• Zwischen 1969 und 1974 finden umfangreiche Reformen, insbesondere<br />

des Allgemeinen Teils statt, die von der Wissenschaft ausführlich begleitet<br />

werden. 1998 kommt es mit dem 6. StrRG zu zahlreichen Änderungen<br />

des Besonderen Teils.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 10


4. Verfassungsrechtliche und methodische Grundlagen, insbesondere<br />

der Grundsatz nulla poena sine lege<br />

Das Strafrecht als schärfster staatlicher Eingriff in die Rechte des einzelnen<br />

muss sich in besonderem Maße an den Vorgaben des Grundgesetzes (GG)<br />

messen lassen. Hierzu sind zahlreiche (geschriebene und ungeschriebene)<br />

„Sicherungen“ zu beachten, die sowohl materiell als auch formell wirken.<br />

−<br />

−<br />

−<br />

formell<br />

Art. 97 I GG<br />

Art. 103 II GG<br />

Art. 104 GG<br />

−<br />

−<br />

−<br />

materiell<br />

Schuldprinzip<br />

allgemeine GR-Bindung<br />

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

a) Materiell-verfassungsrechtliche „Sicherungen“<br />

Es ist wenig sinnvoll, die im Schaubild genannten materiellverfassungsrechtlichen<br />

Garantien zu vertiefen, bevor diese in den einschlägigen<br />

Veranstaltungen zum Staatsrecht (Grundkurs Öffentliches Recht) behandelt<br />

worden sind. Einstweilen soll so viel genügen: Wenn nach<br />

Art. 1 III GG die öffentliche Gewalt insgesamt an die Grundrecht (also etwa<br />

an die Garantien der Meinungsfreiheit, der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />

etc.) gebunden ist, dann müssen sich natürlich erst Recht die Strafnormen als<br />

schärfstes staatliches Eingriffsinstrumentarium sowie ihre Auslegung im<br />

konkreten Einzelfall an den grundrechtlichen Vorgaben messen lassen. 18<br />

Besondere Bedeutung kommt dabei dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

zu, nach dem Eingriffe in Grundrechte u.a. nur gerechtfertigt<br />

sind, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet,<br />

18 Vgl. zur grundrechtsorientierten Auslegung im materiellen Strafrecht vertiefend Kudlich,<br />

JZ 2003, 127 ff.<br />

erforderlich und angemessen sind („nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“).<br />

Zumindest bei der Auslegung von zu weit geratenen Straftatbeständen<br />

ist dieser Grundsatz zu beachten, wenn die Verhängung der angedrohten<br />

Strafe für die außer Verhältnis stünde.<br />

b) Insbesondere die Garantie nulla poena sine lege<br />

Die größte Bedeutung unter den verfassungsrechtlichen Garantien (auch mit<br />

Blick auf die „gängige“ Rechtsanwendung in Klausuren) kommt dabei der<br />

Garantie des Art. 103 II GG zu, da dieser – in § 1 StGB nicht umsonst wortgleich<br />

wiederholte – sog. „nulla-poena-Grundsatz“ letztlich auch das Programm<br />

vorgibt, das bei der Auslegung umgesetzt werden muss.<br />

Art. 103 II GG ordnet dabei an:<br />

„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich<br />

bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“<br />

Dem werden vier Garantien entnommen:<br />

Garantie Wirkungsweise Adressat Klausurbedeutung<br />

lex scripta Verbot von strafbegründendem<br />

Gewohnheitsrecht<br />

lex praevia Rückwirkungsverbot<br />

Richter<br />

Gesetzgeber<br />

(Richter hat<br />

§ 2 StGB zu beachten)<br />

lex stricta Analogieverbot Richter groß:<br />

gering; nur in engen<br />

Fallgruppen zu diskutieren<br />

(z.B. Zulässigkeit<br />

der a.l.i.c.)<br />

grds. gering; beliebtes<br />

Problem: Geltung für<br />

Rspr.-Änderung?<br />

• keine Analogie zu<br />

Lasten aussprechen<br />

• prüfen, ob vorgenommene<br />

Auslegung<br />

nicht Grenze zur A-<br />

nalogie überschreitet<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 11


lex certa<br />

Bestimmtheitsgebot<br />

grds. Gesetzgeber;<br />

aber auch<br />

eher gering<br />

Richter darf allgemeine<br />

Obersätze<br />

nicht so<br />

bilden, dass Ergebnisse<br />

unvorhersehbar<br />

werden<br />

Diese Garantien gelten für die „Strafe“, d.h.<br />

• jedenfalls für die gesetzlichen Tatbestände des Besonderen Teils (wo<br />

sie ihre Hauptbedeutung haben), aber<br />

• grundsätzlich auch für den Allgemeinen Teil (in dem aber nach der<br />

Natur der Sache Einschränkungen bei der Bestimmtheit unumgänglich<br />

sind, die auch auf das Analogieverbot durchschlagen).<br />

Gebote der lex certa und auch der lex stricta gestellt. Dies hat seinen<br />

Grund letztlich darin, dass eine „natürliche Sprache“ (wie es –<br />

man mag sich wundern ☺ – auch die Rechtssprache im Unterschied<br />

z.B. zu einer Computersprache ist) realistischerweise das<br />

Maß an Determination einer Entscheidung gar nicht leisten kann,<br />

dass traditionell voraussetzt wird. Aber: Das weiß jeder, der ein<br />

Gedicht interpretiert, und auch die Sprachwissenschaftler sind sich<br />

darüber einig; wir Juristen jedoch verschließen uns vor dieser Einsicht<br />

ganz gerne, weil wir denn die Last, einen Bedeutungskonflikt<br />

selbst zu entscheiden, vermeintlich auf die Sprache „abwälzen“<br />

können. Deswegen – und natürlich auch und vor allem, weil die<br />

Sprache durchaus erhebliches Argumentationsmaterial an die Hand<br />

gibt – sollte man in der Klausur nicht darauf verzichten, etwa auf<br />

Bilder wie die „Wortlautgrenze“ zurückzugreifen.<br />

Dagegen gilt Art. 103 II GG nach vorzugswürdiger Ansicht nicht für das<br />

Strafprozessrecht, in dem jedoch bei eingreifenden Maßnahmen der allgemeine<br />

Gesetzesvorbehalt zu beachten ist.<br />

Das Analogieverbot und das Verbot von Gewohnheitsrecht sollen dabei<br />

nicht zugunsten das Täters gelten (im einzelnen str.). Ferner ist trotz des<br />

Bestimmtheitsgrundsatzes das Bedürfnis des Gesetzgebers zu berücksichtigen,<br />

im Gesetz generelle Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von<br />

Fällen aufzustellen. Im Ergebnis verschiebt sich daher das Erfordernis der<br />

Bestimmtheit hin zur Forderung nach der Bestimmbarkeit lege artis (so<br />

nicht als h.M. anerkannt, aber auch von denjenigen, die es nicht so sagen, in<br />

der Sache praktiziert).<br />

Klausurhinweis:<br />

Obwohl die große Bedeutung von Art. 103 II GG – nicht nur hier!<br />

– theoretisch stets bekräftigt wird, werden an die praktische Handhabung<br />

scheinbar gelockerte Anforderungen an die Erfüllung der<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 12


Auslegungsmethode<br />

Kriterium/erschlossener<br />

Kontext<br />

Probleme<br />

c) Umsetzung des Programms des Art. 103 II GG: Die Auslegung von<br />

Strafgesetzen<br />

Wie aber soll dann ausgelegt werden, um Art. 103 II GG gerecht zu werden?<br />

Fest steht zumindest, dass auch Strafgesetze ausgelegt werden müssen (was<br />

in der Gesetzesbindungseuphorie früherer Jahrhunderte teilweise sogar offiziell<br />

verboten wurde!) Denn praktisch jede Anwendung des Gesetzes ist<br />

letztlich mit einem Akt der „Auslegung“ – sei dieser im Einzelfall komplexer<br />

oder auch einfacher – verbunden. Sieht man vom „Analogieverbot“ ab<br />

und bewegt sich im Bereich dessen, was traditionell als „Auslegung secundum<br />

legem“ bezeichnet wird, bestehen im Strafrecht zunächst einmal keine<br />

Besonderheiten; es kann daher auf die allgemeinen Kanones der Auslegung<br />

verwiesen werden, die auch in anderen Fächern gelten. Die folgende Übersicht<br />

zeigt noch einmal Kriterien und Probleme dieser Kanones im Überblick:<br />

grammatische Wortlaut der Norm Mehrdeutigkeit bzw.<br />

Offenheit sprachlicher<br />

Begriffe<br />

systematische Sinnzusammenhang oft ambivalent (Gegenoder<br />

Erst-Recht-<br />

Schluss?)<br />

historische und genetische<br />

Entstehungsgeschichte<br />

der Norm; Vorläufervorschriften<br />

teleologische Sinn und Zweck der<br />

Norm (im Strafrecht insbesondere<br />

auch Rechtsgut)<br />

oft unklar / unvollständig;<br />

wer ist der historische<br />

Gesetzgeber?<br />

Einfallstor für subjektive<br />

Vorwertungen<br />

Daneben wird oft die „verfassungskonforme“ (und zunehmend auch die europarechtskonforme)<br />

Auslegung genannt. Diese ist allerdings streng genommen<br />

weniger eigenes Auslegungskriterium als vielmehr „Kontrollmechanismus“,<br />

ob von mehreren möglichen Auslegungen eine nicht mit der<br />

Verfassung vereinbar ist. Daneben ist aber auch diesseits der Grenze harter<br />

Verfassungswidrigkeit einer verfassungsorientierte (quasi „grundgesetzlichsystematische“)<br />

Auslegung anzuerkennen. 19 Speziell im Strafrecht wird außerdem<br />

oft noch „strafrahmenorientiert“ ausgelegt (was häufig so aussieht,<br />

dass eine Norm um so enger ausgelegt wird, je höher der Strafrahmen ist);<br />

hierbei dürfte es sich aber zumeist um Unterfälle anderer Auslegungsarten<br />

handeln, bei denen dem Strafrahmen die Funktion zukommt, als „Auslegungskriterium<br />

zweiter Stufe“ zu zeigen, wie die Systematik des Gesetzes zu<br />

verstehen ist, was sich der Gesetzgeber wohl gedacht hat oder wie Sinn und<br />

Zweck einer Vorschrift liegen. 20<br />

Klausurhinweis:<br />

Üblicherweise wird gelehrt: Erster Ausgangspunkt und Grenze der<br />

Auslegung ist im Strafrecht der mögliche Wortsinn<br />

(Art. 103 II GG); im Übrigen entscheide zumeist die teleologische<br />

Auslegung (insbesondere vom geschützten Rechtsgut her) als<br />

„Krone der Auslegung“. 21<br />

Das ist eigentlich verwunderlich, wenn man berücksichtigt, dass<br />

einerseits der normtextnächsten, andererseits aber auch der normtextfernsten<br />

Methode eine entscheidende Funktion zukommen soll.<br />

Woran liegt das? Wohl daran, dass die Leistungsfähigkeit eines<br />

Auslegungsarguments immer sowohl nach der Normstruktur<br />

(normtextnah oder –fern?) als auch nach der Intensität (möglich,<br />

plausibel oder gar zwingend?) bewertet werden kann. Und auf<br />

dieser zweiten Stufe ist eben die teleologische Argumentation oft<br />

die stärkste. In der Klausur sollten Sie deshalb bei einer ausführlichen<br />

Auslegung die Formel vom „Wortlaut als Ausgangspunkt und<br />

19 Vgl. bereits oben Fn. 18.<br />

20 Vertiefend Kudlich, ZStW 115 (2003), 1 ff.<br />

21 So die Metapher bei Jescheck/Weigend, <strong>AT</strong>, § 17 IV 1b.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 13


Grenze“ ruhig verwenden, und oft bietet sich auch die Reihenfolge<br />

„Grammatik – Systematik – Historie – Telos“ beim Vorgehen an;<br />

aber das ist nicht zwingend, und natürlich spricht auch nichts dagegen,<br />

das Ergebnis auf ein überzeugendes systematisches Argument<br />

zu stützen, wenn man über Sinn und Zweck letztlich nur spekulieren<br />

kann.<br />

Allgemein gilt im Übrigen: Aufgabe von juristischer Methodik und<br />

Dogmatik ist nicht die Garantie einer „richtigen” Entscheidung<br />

(i.S. eines „so und nicht anders“), sondern ihre rational nachvollziehbare<br />

Begründung lege artis. Prüfungsleistung ist weniger das<br />

„richtige” Ergebnis i.S.d. obergerichtlichen Rechtsprechung oder<br />

die Wiedergabe fremder Meinungen (in sog. Theorienstreitigkeiten),<br />

sondern die saubere methodische Lösung auftretender Auslegungsprobleme.<br />

Bei Auslegungsproblemen sind daher – insbesondere<br />

in Fortgeschrittenenklausuren – oft Punkte zu holen.<br />

Tatbestand: § 242 I StGB: Wer eine fremde, bewegliche Sache einem anderen<br />

in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen,<br />

...<br />

Subsumtion:<br />

Wer? T<br />

einem anderen? dem O<br />

eine fremde bewegliche Sache? Geldbeutel<br />

...<br />

• die (wenngleich nicht übertriebene) Verwendung des Gutachtensstils,<br />

d.h. die Entwicklung eines Ergebnisses von einer Arbeitshypothese aus<br />

( typische Konjunktionen: „also“; „folglich“ 22 )<br />

d) Exkurs: Die Subsumtion und Gutachtenstil<br />

Auch eine gute Auslegung einer problematischen Vorschrift „wirkt“ im Übrigen<br />

nur, wenn sie auch im Übrigen in eine korrekt aufgebaute Fall-Lösung<br />

eingebaut ist. Dazu gehören neben dem speziellen Aufbau der jeweils fachspezifischen<br />

Tatbestandsprüfung (vgl. dazu für das Strafrecht später unten in<br />

Vorlesung und <strong>Skript</strong>):<br />

• die saubere Subsumtion, d.h. das Zur-Deckung-Bringen von Sachverhalt<br />

und Normtext nach folgendem idealtypischen Muster<br />

Für T(atbestand) gilt<br />

R(echtsfolge)<br />

S(achverhalt) = T(atbestand)<br />

Für S(achverhalt) gilt<br />

R(echtsfolge)<br />

Bsp.:<br />

Sachverhalt: T zieht O im Gedränge seine Brieftasche aus der Manteltasche<br />

und behält sie samt Inhalt.<br />

22 Im Gegensatz dazu ist der Urteilsstil durch das Voranstellen des Ergebnisses mit anschließender<br />

Begründung geprägt ( typische Konjunktionen: „weil“; „denn“).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 14


5. Strafrechtsdogmatische und –systematische Grundlagen<br />

Eine vertiefte wissenschaftliche Beschäftigung, aber auch eine in Grenzen<br />

vorhersehbare Handhabung in der Praxis erfordert, dass die zahlreichen Fragen<br />

und Wertungen, die letztlich über die Strafbarkeit entscheiden, so gut<br />

wie möglich in ein System gebracht werden. Dies betrifft zum einen die<br />

verschiedenen Arten von Straftatbeständen (um diese so in Gruppen einzuordnen,<br />

dass Aussagen getroffen werden können, die immer für mehrere<br />

Delikte gelten), zum anderen aber auch für die Prüfung, ob ein konkretes<br />

Verhalten einem ganz bestimmten Tatbestand entspricht. Eine spezielle<br />

Ausprägung eines solchen systematisch-dogmatischen Denkens schließlich<br />

ist die Idee eines Allgemeinen Teils.<br />

a) Einteilungsmöglichkeiten der Delikte<br />

Die Delikte des Besonderen Teils lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten<br />

in Gruppen einteilen. Diese Einteilungen helfen, allgemeine Grundsätze<br />

aufzustellen, die dann jeweils für alle der jeweiligen Gruppe zugehörigen<br />

Delikte gelten. Möglich ist z.B. eine Einteilung nach<br />

• der Art des Verhaltens<br />

* Begehungsdelikte: Werden durch aktives Tun begangen (die meisten<br />

Delikte des BT im Falle eines Unterlassens nur als „unechte“<br />

Unterlassungsdelikte i.V.m. § 13 StGB möglich).<br />

* echte Unterlassungsdelikte (insb. §§ 138, 323c StGB): Werden<br />

durch Untätigkeit begangen.<br />

• der inneren Beziehung des Täters zu der Tat<br />

* Vorsatzdelikte (z.B. §§ 212, 223, 303 StGB): Nach § 15 StGB alle<br />

Delikte, bei denen eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht explizit<br />

angeordnet ist.<br />

* Fahrlässigkeitsdelikte (insbesondere §§ 222, 229 StGB)<br />

* Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen (z.B. § 315c I, III Nr.1<br />

StGB)<br />

• der Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung<br />

* Verletzungsdelikte (z.B. §§ 223, 303 StGB)<br />

* (Konkrete oder abstrakte) Gefährdungsdelikte (z.B. §§ 315c, 316<br />

StGB)<br />

• der Beziehung zwischen Handlung und Erfolg<br />

* Erfolgsdelikte (z.B. §§ 223, 303 StGB): Erfordern im Tatbestand<br />

einen von der Handlung abgrenzbaren Erfolg<br />

* schlichte Tätigkeitsdelikte (z.B. §§ 153, 316 StGB)<br />

• den tauglichen Tätern<br />

* Allgemeindelikte: Können von jedermann begangen werden<br />

* Sonderdelikte (z.B. §§ 203, 331 ff. StGB): Können grundsätzlich<br />

(z.B. § 203 StGB) oder in einer qualifizierten Form (z.B. § 340<br />

StGB, sog. unechte Sonderdelikte) nur von bestimmten Tätern begangen<br />

werden.<br />

* Eigenhändige Delikte (z.B. §§ 173, 179 StGB): Der Tatbestand<br />

kann nur eigenhändig verwirklicht werden (jedoch ist Teilnahme<br />

möglich).<br />

• dem Zeitpunkt der Beendigung der Tat<br />

* Dauerdelikte (z.B. §§ 239, 123 StGB): Die Aufrechterhaltung des<br />

widerrechtlichen Zustandes hängt vom Willen des Täters ab, der<br />

die Tat fortdauern lassen will.<br />

* Zustandsdelikte (z.B. § 303 StGB): Der Tatunwert erschöpft sich<br />

in der erstmaligen Herbeiführung des widerrechtlichen Zustands.<br />

• der Verwirklichungsstufe der Tat<br />

* Vollendung: Sämtliche Tatbestandsmerkmale werden erfüllt<br />

* Versuch: Noch nicht sämtliche Tatbestandsmerkmale sind objektiv<br />

(aber subjektiv) erfüllt<br />

* Unternehmensdelikte (vgl. § §11 I Nr. 6 307, 309 StGB): Vollendung<br />

und Versuch sind gleichgestellt.<br />

• Schwere der Strafdrohung (vgl. § 12 StGB)<br />

* Verbrechen (z.B. §§ 211, 249 StGB): Mindeststrafe 1 Jahr Freiheitsstrafe<br />

* Vergehen (z.B. §§ 242, 263 StGB)<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 15


Klausurhinweis:<br />

Die meisten der bisher genannten Unterscheidungen sind durchaus<br />

nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von ganz praktischem<br />

Interesse für die Klausur, weil gewisse Konsequenzen mit<br />

ihnen verbunden sind. So ist z.B. bei eigenhändigen Delikten keine<br />

mittelbare Täterschaft (§ 25 I Alt. 2 StGB) möglich; an Dauerdelikten<br />

ist länger eine Teilnahme möglich usw.<br />

Bei der Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen gilt<br />

dies in ganz besonderem Maße, weil das Gesetz selbst auf diese<br />

explizit Bezug nimmt, insbesondere bei der Frage nach der Strafbarkeit<br />

des Versuchs (vgl. § 23 I StGB), aber etwa auch in verschiedenen<br />

strafprozessualen Vorschriften. Auch wenn Ihnen die<br />

1-Jahresgrenze bald in Fleisch und Blut übergehen wird, ohne dass<br />

Sie darüber nachdenken müssen, sollten Sie in der Klausur nicht<br />

vergessen, § 12 StGB mitzuzitieren.<br />

• dem Spezifikationsgrad der gesetzlichen Beschreibung<br />

* Grundtatbestand (z.B. §§ 223, 242, 303 StGB): Beschreibt das als<br />

strafwürdig angesehenes Minimum des jeweiligen Deliktstyps<br />

* Qualifikation (z.B: §§ 224, 244, 305 StGB): Enthält als nichtsselbständige<br />

Abwandlung unrechts- bzw. schulderhöhenden Merkmale<br />

[ unterscheide davon: bloße Strafzumessungsregeln (z.B.<br />

§ 243 StGB); modifiziert nur den Strafrahmen beim gleichen Delikt]<br />

* Privilegierung (z.B.: § 216 StGB)<br />

b) Der strafrechtlicher Handlungsbegriff<br />

Die Diskussion über den strafrechtlichen Handlungsbegriff (die bis vor ca.<br />

25 Jahren wesentlich intensiver geführt wurde als heute) dreht sich um die<br />

Frage, ob menschliches Verhalten in einer Weise beschreiben lässt, dass sich<br />

darauf ein strafrechtliches System aufbauen lässt. Man sucht also nach einer<br />

Qualifizierung menschlichen Verhaltens, die Grundlage aller anerkannten<br />

Verbrechensformen sein kann, dabei aber zugleich strafloses Verhalten a<br />

priori ausscheidet. Dabei ist insbesondere umstritten, ob diese Handlung eine<br />

Kategorie des Seins (ontologischer Handlungsbegriff) oder des Rechts (juristischer<br />

Handlungsbegriff) ist.<br />

In historischer Reihenfolge lassen sich folgende Handlungsbegriffe skizzieren:<br />

Handlungsbegriff Handlungsdefinition Kritik<br />

Naturalistischer<br />

Handlungsbegriff<br />

Handlungs-<br />

Sozialer<br />

begriff<br />

neuere Ansätze<br />

Typik spezifisch<br />

menschlichen Verhaltens<br />

nicht erfasst; Spontanreaktionen<br />

sowie<br />

Affekttaten nur schwer<br />

erfassbar<br />

Handlungs-<br />

Finaler<br />

begriff<br />

Handlung = „gewillkürtes<br />

Körperverhalten“<br />

bzw. willkürliches Verhalten<br />

zur Außenwelt<br />

Handlung = Ausübung<br />

von Zwecktätigkeit<br />

durch zielgerichtetes<br />

(finales) Tätigwerden<br />

Handlung = willkürliches<br />

sozialerhebliches<br />

menschliches Verhalten<br />

Handlung = vermeidbare<br />

Erfolgsherbeiführung<br />

(Jakobs); Handlung =<br />

Persönlichkeitsäußerung<br />

(Roxin)<br />

Fahrlässigkeit<br />

Unterlassen)<br />

erfassbar<br />

(und<br />

schwer<br />

Begriff der Sozialerheblichkeit<br />

ist unbestimmt<br />

und enthält Wertung<br />

(die eigentlich in Tatbestandsprüfung<br />

gehören<br />

würde)<br />

z.T. Abgrenzungsprobleme;<br />

z.T. Überfrachtung<br />

des Handlungsbegriffs<br />

Ein möglicher (keinesfalls verbindlicher!) Vorschlag für eine Handlungsdefinition<br />

könnte etwa so aussehen: Eine strafrechtliche Handlung ist eine<br />

Persönlichkeitsäußerung in Gestalt eines menschlichen Verhaltens, das vom<br />

Willen beherrscht oder doch wenigstens beherrschbar ist. Diese Formel<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 16


kann vielleicht umschreiben, was in den Ergebnissen teils nahezu unstreitig,<br />

teils doch zumindest überwiegend anerkannt ist.<br />

In einer negativen Abgrenzung werden nicht als Handlung anerkannt<br />

• Akte von juristischen Personen (möglicherweise aber solche ihrer der<br />

Organe)<br />

• Verhaltensweisen von Tieren (möglicherweise aber solche – insbesondere<br />

in Gestalt von Unterlassungen – ihrer Halter)<br />

• Naturgewalten<br />

• Bloße GedankenVerhaltensweisen, die durch vis absoluta hervorgerufen<br />

werden (anders bei vis compulsiva)<br />

Bsp.: Zerstörung einer Sache, in die man gegen seinen Willen hineingeschubst<br />

worden ist.<br />

• Reflexbewegungen (unmittelbar vom Empfindungszentrum auf das<br />

Bewegungszentrum; anders bei eintrainierten Spontanreaktionen)Bspe:<br />

(1) Keine Handlungen wären danach ein Tritt, der dadurch erfolgt, dass der<br />

Patellasehnenreflex ausgelöst wird; ebenfalls reflexhaft ist wohl das Verhalten,<br />

wenn jemandem ein kleiner Gegenstand ins Auge fliegt (Schließen des Auges,<br />

Führen des Arms zum Auge)<br />

(2) Dagegen ist das scharfe Bremsen bei einem Hindernis auf der Straße kein<br />

Reflex, sondern eine eintrainierte Spontanreaktion.<br />

Dagegen sind Affekttaten i.d.R. Handlungen; streitig ist die Bewertung von<br />

Verhalten in Hypnose.<br />

Klausurhinweis:<br />

Dass die Abgrenzung eher negativ dahingehend vorgenommen<br />

wird, wann ausnahmsweise keine Handlung vorliegt, führt dazu,<br />

dass Sie in der Klausur zur Handlungsqualität eines Verhaltens<br />

kein Wort zu verlieren brauchen, wenn nicht ausnahmsweise ein<br />

entsprechender Problemfalls (Handeln in Hypnose; Reflex; Abgrenzung<br />

von Reflex und Spontanreaktion) vorliegt.<br />

Sollte – was die Ausnahme ist – ein solcher Fall vorliegen, dürfte<br />

die Handlungsfrage dogmatisch korrekt wohl an sich eine Vorfrage<br />

vor der Tatbestandsprüfung sein. Wenn Sie allerdings – was ich für<br />

möglich halte – ohnehin auf entsprechende Zwischenüberschriften<br />

verzichten, ist diese Einordnung nicht so wichtig, wenn die Prüfung<br />

jedenfalls gleich mit der Handlungsfrage begonnen wird.<br />

Sie sollten in der Klausur auch daran denken, dass auch bei einer<br />

scheinbar fehlenden Handlung u.U. eine (insbes. Fahrlässigkeits-)<br />

Strafbarkeit in Betracht kommt, wenn der Vorwurf an ein anderes<br />

(vorgelagertes) Verhalten angeknüpft werden kann.<br />

Bspe:<br />

(1) Einem Autofahrer springt sein Bernhardiner so von hinten in den<br />

Arm, dass unwillkürlich das Steuer verrissen wird. Zwar nimmt er hier<br />

keine strafrechtlich relevante Handlung vor. Eine solche kann aber im<br />

Transportieren des großen Tieres im Auto ohne ausreichende Sicherung<br />

liegen.<br />

(2) Eine Kerze wird im Schlaf umgestoßen. Zwar nimmt der Schlafende<br />

keine strafrechtlich relevante Handlung vor. Eine solche kann aber im<br />

Anzünden bzw. im Nichtauslöschen der Kerze vor dem Schlafen liegen.<br />

c) Zusammenspiel von Allgemeinem und Besonderem Teil<br />

Typisch für die meisten rechtliche Regelungen und insbesondere für das<br />

materielle Strafrecht ist das Zusammenspiel von Allgemeinen und Besonderen<br />

Teilen. Die „Idee des Allgemeinen Teils“ besteht dabei darin, solche<br />

Fragen, die immer wieder und von den Besonderheiten bestimmter Tatbestände<br />

unabhängig auftreten können, gewissermaßen „vor die Klammer zu<br />

ziehen“. Für die konkrete Fall-Lösung müssen dann beide Regelungsgebiete<br />

wieder zusammengeführt werden.<br />

Bsp.: Eine Körperverletzung kann in ähnlicher Weise wie ein Totschlag oder eine<br />

Sachbeschädigung durch Notwehr (lies § 32 StGB) gerechtfertigt sein; bei einem<br />

Mord, einem Diebstahl oder einer Urkundenfälschung kann in gleicher Weise neben<br />

dem Täter eine weitere Person beteiligt sein, die ihn unterstützt hat (lies § 27 StGB)<br />

usw. Es wäre wenig sinnvoll, wenn entsprechende Regelungen immer für jedes Delikt<br />

des Besonderen Teils einzeln getroffen würden.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 17


Klausurhinweis:<br />

Das System eines Allgemeinen und eines Besonderen Teils hat für<br />

die Klausur, aber auch schon für das Lernen u.a. zwei Konsequenzen:<br />

Zum einen sollte klar sein, dass Fragen des Allgemeinen Teils<br />

besonders wichtig sind, weil sie eben in Verbindung mit jedem<br />

„Lebensbereich“ und damit allen Delikten des Besonderen Teils<br />

gut abgeprüft werden können – Sie sollten daher hier besonders<br />

gründlich arbeiten. Zum anderen können Fallbeispiele nie ohne<br />

Delikte des Besonderen Teils gebildet werden, d.h. wir werden für<br />

unsere Fälle unvermeidlich schon auf den BT „vorgreifen“ müssen<br />

(auch wenn ich mich bemühen werden, anfangs zumeist recht einfach<br />

strukturierte Tatbestände heranzuziehen). Sehen Sie dies aber<br />

nicht als Ärgernis, sondern als Chance, auf dieses Weise schon<br />

Vorstellungen (und im Einzelfall sogar schon vertieftere Kenntnisse)<br />

von einer Reihe von Delikten zu bekommen.<br />

Das Zusammenspiel der Vorschriften sei an einem kurzen Beispielsfall demonstriert:<br />

A entdeckt beim Skifahren im Hochgebirge einen Frau, die in eine Gletscherspalte<br />

gerutscht ist und bewusstlos in dieser liegt. A hält auf die Entfernung für möglich,<br />

dass es sich um seine Frau handelt, die auf der gleichen Abfahrt unterwegs ist. Er<br />

möchte sofort Hilfe holen, wird aber von seinem Freund F, der A’s Frau nicht leiden<br />

kann, dazu überredet, „diese Chance, wieder frei und ungebunden zu werden,<br />

nicht verstreichen zu lassen.“ F hatte zu diesem Zeitpunkt auf Grund des übermäßigen<br />

Genusses von „Jagertee“ bereits eine BAK von 2,5‰. A und F kümmern sich<br />

nicht um die Frau, so dass diese erfriert. Die späteren Ermittlungen ergeben, dass<br />

es sich gar nicht um A’s Frau gehandelt hatte, dass die Fremde aber hätte gerettet<br />

werden können, wenn A die Bergwacht alarmiert hätte.<br />

Wo finden sich Bestimmungen, welche die Strafbarkeit des A und des F regeln?<br />

−<br />

−<br />

Welche Straftatbestände kommen in Betracht?<br />

aus dem BT: §§ 212, 211; 221; 323c StGB<br />

Spielt es eine Rolle, dass A nichts aktiv unternahm, sondern nur eine Rettung<br />

unterließ?<br />

aus dem <strong>AT</strong>: § 13 StGB; aus dem BT: § 323c StGB<br />

− Spielt es eine Rolle, dass A sich nur vorstellte, das Opfer sei seine Frau?<br />

aus dem <strong>AT</strong>: § 22 StGB („... wer nach seiner Vorstellung von der Tat ...“)<br />

− Wie wirkt es sich aus, dass F dem A zuredete, untätig zu bleiben?<br />

aus dem <strong>AT</strong>: § 26 StGB<br />

− Wie wirkt es sich aus, dass F hochgradig alkoholisiert war?<br />

aus dem <strong>AT</strong>: § 21 StGB<br />

III. Exkurs: Das strafrechtliche Sanktions- bzw. Rechtsfolgesystem<br />

1. Die Prüfungen im materiellen Strafrecht enden bis zum 1. Staatsexamen<br />

üblicherweise bei der Feststellung des Schuldspruchs. Ausführungen darüber,<br />

wie der Täter für eine bestimmte rechtswidrig und schuldhaft begangene<br />

Straftat zu bestrafen ist, werden im Gutachten regelmäßig nicht erwartet.<br />

23 Dennoch gehört es zu einem gewissen Minimum strafrechtlicher Allgemeinbildung<br />

zu wissen, welche ganz grundsätzlichen Rechtsfolgen sich an<br />

die Feststellung einer Straftat anschließen können.<br />

Im Bereich des Strafrechts wird üblicherweise von einem „zweispurigen“<br />

Rechtsfolgesystem gesprochen. Dies bedeutet, dass einer Straftat zum einen<br />

eine Strafe (als bewusste Übelzufügung, die an eine schuldhafte Rechtsverletzung<br />

anknüpft) oder zum anderen eine Maßregel der Besserung und Sicherung<br />

als staatliche Reaktion nachfolgen kann. Neben Strafen bzw. Maßregeln<br />

der Besserung und Sicherung können außerdem noch einige begrenzte<br />

Nebenfolgen sowie sonstige Folgen verhängt werden. 24<br />

2. Für einen ersten Überblick lassen sich damit folgende Komplexe unterscheiden:<br />

23 Entsprechende Fragen sind – einschließlich der konkreten Strafzumessung im Einzelfall –<br />

Stoff der Wahlvorlesung „Sanktionenrecht“, die in einem fortgeschrittenen Semester besucht<br />

werden kann.<br />

24 Das strafrechtliche Rechtsfolgesystem ist gegenwärtig Gegenstand einer lebhaften rechtspolitischen<br />

Diskussion; vgl. dazu aus neuerer Zeit etwa den Referentenentwurf zu einer Änderung<br />

des Sanktionssystems in BT-Drs. 14/9358.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 18


a) Strafen, die wiederum in Geld- und Freiheitsstrafen unterteilt werden<br />

können.<br />

Die früher in § 43a geregelte Vermögensstrafe wurde vom Bundesverfassungsgericht<br />

im Jahre 2002 für verfassungswidrig erklärt. 25<br />

Ebenfalls im Zusammenhang mit den Strafen zu sehen sind auch die Vorschriften<br />

über<br />

• das mögliche Absehen von Strafe (vgl. aus dem BT etwa § 157 II StGB;<br />

aus dem <strong>AT</strong> als allgemeine Vorschrift vor allem § 60 StGB [lesen!]),<br />

• die Straffreierklärung bei Beleidigungsdelikten nach § 199 StGB,<br />

• die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB sowie<br />

• das Fahrverbot als Nebenstrafe nach § 44 StGB.<br />

b) Demgegenüber bilden die Maßregeln der Besserung und Sicherung<br />

neben den Strafen den zweiten Grundtypus der strafrechtlichen<br />

Rechtsfolgen.<br />

Anders als die Strafe knüpfen die Maßregeln allein an die Gefährlichkeit des<br />

Täters in der Zukunft an und sind nicht an das Vorliegen und das Maß der<br />

Schuld gebunden. Eine Aufzählung der Maßregeln der Besserung und Sicherung<br />

findet sich in § 61 StGB. Man sollte dabei jedenfalls die Unterscheidung<br />

zwischen freiheitsentziehenden (vgl. § 61 Nr. 1–3) und sonstigen Maßregeln<br />

schon einmal gehört haben.<br />

c) Nebenfolgen, die neben eine Verurteilung und Bestrafung treten können.<br />

Solche sind aus dem Allgemeinen Teil der Verlust der Amtsfähigkeit, der<br />

Wählbarkeit und des Stimmrechts nach § 45 StGB bei bestimmten gravierenden<br />

Verurteilungen sowie aus dem Besonderen Teil die §§ 165 und 200<br />

StGB (Bekanntgabe der Verurteilung bei falschen Verdächtigungen sowie<br />

bei bestimmten Begehungsweisen von Beleidigungsdelikten).<br />

25 Vgl. BVerfG NJW 2002, 1779; interessant in diesem Zusammenhang: Das BVerfG stützt<br />

dieses Urteil nicht auf einen Verstoß gegen das im Zusammenhang mit der Vermögensstrafe<br />

vorher in der Literatur häufig diskutierte Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG, sondern auf<br />

die mangelnde Bestimmtheit bei der Rechtsfolge und damit auf ein Verstoß gegen Art. 103 II<br />

GG.<br />

d) Sonstige mögliche Rechtsfolgen sind Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung<br />

von Tatgewinnen bzw. Tatmitteln nach §§ 73 ff. StGB.<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

I. Verbrechensbegriff und Tatbestandsaufbau<br />

1. Bedeutung<br />

Die Frage, welche Wertungsstufen geprüft und durchlaufen werden müssen,<br />

bis feststeht, dass der Täter sich strafbar gemacht hat, hat eine doppelte Bedeutung:<br />

• Eher strafrechtstheoretisch ist der Blickwinkel, aus dem nach dem<br />

Verbrechensbegriff gefragt wird, also danach, welche Elemente vorliegen<br />

müssen, damit eine Handlung als Verbrechen bewertet werden<br />

kann. Vor allem auf dieser Ebene ist auch die historische Entwicklung<br />

des Verbrechensbegriffs (die mit der des strafrechtlichen Handlungsbegriffs<br />

eng zusammenhängt) von Interesse.<br />

• Eher formal-prüfungstechnisch – und damit für Ausbildung und Prüfung<br />

entscheidend – ist dagegen die Frage, wie die Strafbarkeitsprüfung<br />

„richtig“ aufgebaut wird. Hier haben historische Überlegungen keinen<br />

Raum, sondern die Prüfung wird kommentarlos nach dem System aufgebaut,<br />

das man insoweit zu Grunde legt (wobei es von allen Sachgesichtspunkten<br />

abgesehen „prüfungstaktisch“ in aller Regeln empfehlenswert<br />

sein wird, sich am herrschenden Verbrechensbegriff 26 zu orientieren).<br />

26 Dieser kann mit Wessels/Beulke, <strong>AT</strong>, Rn. 817 als teleologischer Verbrechensbegriff bezeichnet<br />

werden; dabei werden Ansätze zusammengefasst, die bei noch weiterer Ausdifferenzierung<br />

teils als gemischt neoklassisch-finalistisch, teils als funktional beschrieben werden<br />

könnten, vgl. etwa Roxin, <strong>AT</strong> I, § 7 Rn. 21 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 19


2. Historische Entwicklung<br />

Die historische Entwicklung des Verbrechensbegriffs sei hier nur ganz kurz<br />

und notwendig pauschalierend skizziert. 27 Sie ist gekennzeichnet durch die<br />

Wegentwicklung von der Unterscheidung zwischen wertfreien äußeren einerseits<br />

und innerlich-psychologischen Fakten andererseits hin zu einer stärker<br />

funktional-wertungsgeleiteten Betrachtung. Die folgende Übersicht bezeichnet<br />

jeweils einige charakteristische Merkmale unterschiedlicher strafrechtlicher<br />

Lehrsysteme (und damit auch Verbrechensbegriffe):<br />

System<br />

Handlungsbegriff<br />

Unrechtselemente nur objektive<br />

Elemente<br />

Berücksichtigung<br />

subjektiver Elemente<br />

Wichtige Vertreter<br />

allein in<br />

der<br />

Schuld<br />

v Liszt,<br />

Beling<br />

27 Näher Roxin, <strong>AT</strong> I, § 7 Rn. 12 ff.<br />

klassisch<br />

neoklassisch<br />

naturalistisch<br />

naturalistisch<br />

v.a. objektive<br />

Elemente,<br />

daneben<br />

auch ein-<br />

einzelne im<br />

Tatbestand<br />

Mezger<br />

final<br />

final<br />

und<br />

Un-<br />

objektive<br />

subjektive<br />

rechtselemente,<br />

insbesondere<br />

auch Vorsatz<br />

zelne subjektive<br />

Elemente<br />

Vorsatz (allein)<br />

im Tatbestand<br />

Welzel, Hirsch,<br />

Stratenwerth<br />

teleologisch<br />

sozial/personal<br />

objektive und<br />

subjektive Unrechtselemente,<br />

insbesondere<br />

auch Vorsatz<br />

Doppelfunktion<br />

von Vorsatz und<br />

Fahrlässigkeit in<br />

Tatbestand und<br />

Schuld<br />

heute h.L. (mit<br />

vielfältigen Spielarten)<br />

3. Der Verbrechensaufbau nach der heute h.L.<br />

Prüfungsstufe<br />

Inhalt der getroffenen<br />

Wertung<br />

0. Handlung Liegt eine strafrechtlich<br />

relevante<br />

Handlung vor?<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

obj. TB<br />

+<br />

subj. TB<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Erfüllt die Handlung<br />

den objektiven<br />

und subjektiven<br />

Tatbestand?<br />

1. Wertungsstufe:<br />

Tatbestandsmäßige<br />

Handlungen<br />

typischerweise<br />

rechtswidrig<br />

sind<br />

Ist das typischerweise<br />

unrechtmäßige<br />

Verhalten im<br />

konkreten<br />

ausnahmsweise<br />

erlaubt?<br />

Fall<br />

2. Wertungsstufe:<br />

Endgültiges Unwerturteil<br />

über die<br />

Tat<br />

3. Schuld Ist das rechtswidrige<br />

Verhalten dem<br />

Täter individuell<br />

Gesetzliche<br />

Anknüpfungspunkte<br />

keine<br />

vor allem Tatbestände<br />

des<br />

Besonderen<br />

Teils; daneben<br />

aber auch ungeschriebene<br />

Grundsätze des<br />

Allgemeinen<br />

Teils (z.B. Zurechnungslehre)<br />

Rechtfertigungsgründe<br />

v.a. der §§ 32,<br />

34 StGB;<br />

daneben aber<br />

auch aus anderen<br />

Gesetzen<br />

(z.B. §§ 228,<br />

904 BGB)<br />

insbesondere<br />

§§ 19, 20, 33,<br />

35 StGB<br />

Klausurhinweise<br />

nur ausnahmsweise<br />

anzusprechen; bei<br />

Verneinung an mögliche<br />

Vorverlagerung<br />

denken<br />

saubere Subsumtion<br />

beachten; insbesondere<br />

im Besonderen<br />

Teil Kenntnis von<br />

erfor-<br />

Definitionen<br />

derlich<br />

nur kurz abhandeln,<br />

wenn keine Probleme<br />

ersichtlich sind;<br />

an Rechtfertigungsgründe<br />

aus anderen<br />

Gesetzen denken<br />

nur kurz abhandeln,<br />

wenn keine Probleme<br />

ersichtlich sind;<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 20


vorwerfbar?<br />

3. Wertungsstufe:<br />

Unwerturteil über<br />

den Täter<br />

Sonstige Voraussetzungen<br />

Objektive Bedingungen<br />

der Strafbarkeit<br />

Persönliche Strafausschließungs-,<br />

Strafaufhebungsoder<br />

Strafminderungsgründe<br />

Verfolgungsvor-<br />

aussetzungen/-<br />

hindernisse<br />

z.B. §§ 231,<br />

323a StGB<br />

z.B. §§ 24,<br />

258 VI StGB<br />

z.B. §§ 77,<br />

78 StGB<br />

an Folgeprobleme<br />

wie a.li.c., mittelbare<br />

Täterschaft etc.<br />

denken<br />

nur ansprechen,<br />

wenn Anhaltspunkte<br />

im Sachverhalt<br />

Klausurhinweise:<br />

Hinsichtlich der Stufen der Verbrechenslehre bzw. des Tatbestandsaufbaus<br />

sind für die Klausurtechnik mehrere Punkte zu beachten:<br />

• Die Struktur des Verbrechensbegriffs gibt die „korrekte“<br />

Prüfungsreihenfolge in der Klausur vor. 28<br />

• Allgemeine Feststellungen über das abstrakte Verhältnis der<br />

Wertungsstufen zueinander müssen (falls man sie überhaupt<br />

erwähnt, zumindest) nicht in jedem Tatbestand erneut getroffen<br />

werden.<br />

• Auch wenn die Strafbarkeit auf einer späteren Stufe des<br />

Verbrechensaufbaus entfällt, sollte im Gutachten grundsätzlich<br />

(wenngleich im Einzelfall nur kurz und summarisch)<br />

geprüft werden, ob die früheren Stufen erfüllt sind.<br />

4. Exkurs: Drei- oder zweistufiger Verbrechensaufbau<br />

Die drei hier beschriebenen Wertungsebenen führen zu einem (von der h.M.<br />

vertretenen) dreistufigen Verbrechensaufbau. Demgegenüber vertritt eine<br />

M.M. einen zweistufigen Verbrechensaufbau, bei dem die Rechtfertigungsgründe<br />

gleichsam zu „negativen Tatbestandsmerkmalen” eines Gesamtunrechtstatbestandes<br />

werden. Diese Unterschiede sind allerdings in letzter<br />

Konsequenz eher darstellerischer Natur, denn selbst bei der Behandlung von<br />

Irrtumsfragen (vgl. später in Vorlesung und <strong>Skript</strong>) ergeben sich daraus nicht<br />

zwingend Unterschiede in der Sache. In der Klausur muss daher auf diese<br />

Frage nicht eingegangen werden.<br />

Für den im Folgenden in Übereinstimmung mit der h.M. zu Grunde gelegten<br />

dreistufigen Verbrechensaufbau spricht, dass die Prüfung von Tatbestandsmäßigkeit<br />

und Rechtswidrigkeit auch zwei unterschiedliche Wertungsstufen<br />

zum Ausdruck bringt: Es ist eben ein Unterschied, ob ein in jeder Hinsicht<br />

sozialadäquates, kein anerkanntes Rechtsgut verletzendes Verhalten vorliegt,<br />

das keinen Tatbestand erfüllt (z.B. das Zerstören eines eigenen Sache, die<br />

weggeworfen werden soll, oder das Erschlagen einer Stubenfliege), oder<br />

aber ob ein grundsätzlich untersagtes, typischerweise missbilligtes Verhalten<br />

vorliegt, das nur auf Grund der Besonderheiten des konkreten Einzelfalles<br />

von der Rechtsordnung gebilligt wird (wie das Zerstören einer fremden Sache<br />

im rechtfertigenden Notstand oder das Erschlagen eines Menschen in<br />

Notwehr).<br />

28 Dabei ist der Begriff „korrekt“ zu stark: Die formale Prüfungsreihenfolge ist im Gesetz<br />

nicht zwingend festgelegt (wenngleich die unterschiedlichen Wertungsstufen durchaus vorausgesetzt<br />

werden). Man ist aber „auf der sicheren Seite“, wenn man sich an diesem herrschenden<br />

Aufbau orientiert. Lesenswert zur Bedeutung der Strafrechtssystematik Roxin, <strong>AT</strong> I,<br />

§ 7 Rn. 1 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 21


5. Einführendes Beispiel der Prüfungsstruktur im strafrechtlichen<br />

Gutachten mit Formulierungsbeispielen<br />

Fall:<br />

Tapezierer T hat in seiner Stammkneipe wieder einmal „zu tief ins Glas geschaut“<br />

und sich bis zu einer BAK von 3,4 ‰ betrunken. In diesem Zustand kommt ihm beim<br />

Verlassen des Lokals die Idee, an der Garderobe die Jacke des Gastes X mit nach<br />

Hause zu nehmen. Er nimmt seine Arbeitstasche, aus der ein spitzes Tapeziermesser<br />

herausschaut, in die eine Hand, greift die Jacke mit der anderen und wankt hinaus.<br />

Allerdings gehört die Jacke nicht dem X, sondern dem Gastwirt O.<br />

Lösung:<br />

I. §§ 242 I, 244 I Nr. 1a°StGB 29<br />

1. [Tatbestand]<br />

A könnte sich durch das Verlassen des Lokals mit der Jacke des O wegen Diebstahls<br />

mit Waffen gem. §§ 242 I, 244 I Nr. 1a°StGB strafbar gemacht haben.<br />

a) [objektiver Tatbestand]<br />

Dazu müsste er zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben: Die<br />

Jacke des O ist eine ...<br />

Unter Wegnahme versteht man den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams,<br />

wobei Gewahrsam die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene<br />

Sachherrschaft ist, deren Reichweite von der Verkehrsanschauung bestimmt<br />

wird. Vorliegend ...<br />

Möglicherweise hat T das Qualifikationsmerkmal des § 244 I Nr. 1a StGB verwirklicht.<br />

Das Tapezierermesser ist zwar keine Waffe, da ... Es könnte aber ein anderes<br />

gefährliches Werkzeug sein. Die Auslegung dieses Begriffes i.R. des § 244 I<br />

Nr. 1 StGB ist problematisch, da ...<br />

b) [subjektiver Tatbestand]<br />

Ferner müsste T vorsätzlich gehandelt haben, vgl. § 15 StGB. Dies könnte hier problematisch<br />

sein, da T tatsächlich die Jacke des O mitnahm, dabei aber dachte, es sei<br />

die Jacke des X ...<br />

Des Weiteren müsste T auch in der Absicht gehandelt haben, sich die Jacke rechtswidrig<br />

zuzueignen ...<br />

2. [Rechtswidrigkeit]<br />

[Die in den Straftatbeständen enthaltene Verhaltensweisen enthalten vertyptes Unrecht.<br />

Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert deswegen die Rechtswidrigkeit.] Vorliegend<br />

sind keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich. T handelte [also] rechtswidrig.<br />

3. [Schuld]<br />

Fraglich ist jedoch, ob T schuldhaft handelte: Seine Schuldfähigkeit könnte nach<br />

§ 20 StGB ausgeschlossen sein, wenn er sich wegen seiner Alkoholisierung ...<br />

d) [Ergebnis]<br />

T hat sich damit nicht gem. §§ 242, 244 I Nr. 1a StGB strafbar gemacht.<br />

29 Die in eckige Klammern gesetzten Überschriften bei den Prüfungsstufen sind bei der Niederschrift<br />

in der Klausur m.E. nicht erforderlich (aber natürlich auch nicht verkehrt), sondern<br />

sollen nur verdeutlichen, wo welche Punkte angesprochen werden.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 22


II. Der objektive Tatbestand,<br />

insbesondere Kausalität und objektive Zurechnung<br />

1. Überblick<br />

<br />

<br />

<br />

Prüfung des objektiven Tatbestandes vor allem Materie des Besonderen<br />

Teils<br />

Aber auch hier allgemeine Materien (zumeist in Gestalt ungeschriebener<br />

allgemeiner Lehren), z.B.<br />

• tatbestandsausschließendes Einverständnis (vgl. dazu später bei der<br />

Einwilligung)<br />

• insbesondere bei sog. Erfolgsdelikten Fragen der Kausalität und der<br />

objektiven Zurechnung.<br />

Vielzahl denkbarer Schritte zwischen Handlung und späterem Erfolgseintritt<br />

• Beispiele:<br />

A schießt auf B. Als dieser getroffen auf die Straße wankt, wird er von einem<br />

Pkw angefahren. Auf Grund seiner schweren Verletzung muss er ins<br />

Krankenhaus gebracht werden.<br />

a) ... dort verstirbt er auf Grund eines (nicht zu eklatanten) Kunstfehlers,<br />

wie er gelegentlich passieren kann.<br />

b) ... dort verstirbt er auf Grund einer Rauchvergiftung, die er sich am<br />

Tag vor seiner Entlassung bei einem Klinikbrand zuzieht.<br />

c) ... dort kommt er jedoch gar nicht an, weil der Krankenwagen<br />

... auf Grund der angesichts von B’s Verletzungen angezeigten hohen Geschwindigkeit<br />

... auf Grund einer Kollision mit einer entgleisten Straßenbahn<br />

unterwegs einen Unfall hat, bei dem B ums Leben kommt.<br />

• Prüfungskategorien nach h.L. 30<br />

30 In der Rechtsprechung hat sich die Lehre von der objektiven Zurechnung noch nicht durchgesetzt;<br />

hier wird vielfach mit dem Bild der „wesentlichen Abweichung vom vorgestellten<br />

Kausalverlauf“ gearbeitet und die Frage damit in den subjektiven Tatbestand verschoben.<br />

∗<br />

∗<br />

Kausalität: „tatsächlicher“ (quasi naturwissenschaftlicher) Zusammenhang<br />

objektive Zurechnung: normatives (wertendes) Zurechnungskorrektiv<br />

2. Kausalität<br />

Literatur: Kühl: § 4 Rn. 6 ff.; W/B: Rn. 152 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 35 – 45.<br />

a) Strafrechtliche Kausalitätslehren<br />

<br />

Herrschende strafrechtliche Kausalitätstheorie: Äquivalenztheorie, d.h. im<br />

Ausgangspunkt Behandlung jeder Teilursache als selbständige, gleichwertige (äquivalente)<br />

Ursache, ohne diese zu gewichten<br />

prominenteste Ausprägungen:<br />

• Conditio-sine-qua-non-Formel<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

in Rechtsprechung und Teilen der Literatur herangezogen<br />

Handlung ist kausal für Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden<br />

kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfällt (= hypothetisches<br />

Eliminierungsverfahren)<br />

Kritik: Modifizierungsbedarf bei bestimmten Problemfällen der<br />

Kausalität (vgl. u.)<br />

• Formel von der gesetzmäßigen Bedingungvon verbreiteter Lehre als (nicht<br />

unbedingt sachlich abweichend, aber) genauer bevorzugtHandlung<br />

ist kausal für Erfolg, wenn sich an Handlung zeitlich<br />

nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt anschließen, die mit der<br />

Handlung naturgesetzlich notwendig verbunden sind<br />

Klausurhinweis:<br />

Die Conditio-sine-qua-non-Formel wird zwar zu recht vorgeworfen,<br />

dass sie manche Problemfälle der Kausalität nur unter Modifikationen<br />

angemessen lösen kann. Auch setzt sie – insoweit aber<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 23


gerade nicht anders als die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung<br />

– schon Kenntnis vom Kausalverlauf voraus (um entscheiden<br />

zu können, ob die Handlung hinweggedacht werden kann). Allerdings<br />

ist sie gerade bei längeren Kausalketten m.E. anschaulich<br />

und – als erste grobe Annäherung vor dem Korrektiv der objektiven<br />

Zurechnung – zumeist tauglich. Es spricht deswegen nichts<br />

dagegen, sie in der Klausur zugrunde zu legen. „Auf Nummer sicher“<br />

geht man, wenn man beide Kausalitätsformeln heranzieht,<br />

zwischen denen sich bei richtiger Anwendung normalerweise kein<br />

Unterschied ergeben sollte.<br />

<br />

Abweichende Konzepte in Teilen der<br />

• Adäquanztheorie (Erhöhung der objektiven Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts<br />

nach allgemeiner Lebenserfahrung)<br />

Ausscheiden von atypischen Kausalverläufen<br />

• Relevanztheorie (Ergänzung um Erfordernis der tatbestandsadäquaten<br />

Bedingung um den Schutzbereich des Straftatbestandes)<br />

b) Problemfälle der Kausalität<br />

Hinweis: Im Folgenden wird zunächst einmal nach der Kausalität in den<br />

problematischen Fallgruppen gefragt; darüber hinaus wird aber<br />

auch darauf hingewiesen, wo eine weitere Einschränkung nach den<br />

Grundsätzen der objektiven Zurechnung erfolgen kann – wenn Sie<br />

sich mit dieser beschäftigt haben, lohnt ein Blick zurück auf die<br />

hier genannten Fallgruppen.<br />

<br />

Alternative Kausalität (Doppelkausalität, Mehrfachkausalität)<br />

Zwei Handlungen führen unabhängig voneinander zum Erfolg<br />

Bsp.: A und B schütten beide eine (schon für sich) tödliche Dosis Gift in den Tee ihrer Mutter<br />

M. M trinkt den Tee und verstirbt.<br />

<br />

<br />

Lösung: Nach der Grundform der conditio-sine-qua-non-Formel wäre keine<br />

der beiden Handlungen kausal, da jede hinweggedacht werden könnte, ohne<br />

dass der Erfolg entfiele.<br />

Nach h.M. ist die Formel aber dahingehend zu modifizieren, dass beide Handlungen<br />

kausal sind, wenn sie zwar jede für sich, nicht aber beide weggedacht<br />

werden könnten. Genauer erscheint mir allerdings eine konkrete Betrachtung 31<br />

mit Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel auf beide Handlungen einzeln<br />

(und ggf. mit Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“). Dabei<br />

kann aber beim Nachweis, dass beide Handlungen (hier also: beide Giftdosen)<br />

zusammen gewirkt haben, das Ergebnis auch mit der Grundformel begründet<br />

werden (Erfolg in seiner konkreten Gestalt).<br />

Kumulative Kausalität<br />

Zwei Handlungen führen erst durch ihr Zusammenwirken zum Erfolg<br />

Bsp.: A und B schütten unabhängig voneinander Gift in den Tee der O. Erst beide Dosen zusammen<br />

wirken tödlich.<br />

Lösung: Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel sind beide Handlungen kausal,<br />

da beim Hinwegdenken einer Dosis die verbleibende nicht tödlich gewirkt<br />

hätte. Das gilt auch dann, wenn die zweite Kausalkette erst durch die erste<br />

Handlung in Gang gesetzt wurde.<br />

Das Ergebnis kann aber in der objektiven Zurechnung (im Tod der O realisiert<br />

sich nicht die von A bzw. B geschaffene Gefahr, vgl. u.) oder im subjektiven<br />

Tatbestand (wesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf) zu korrigieren<br />

sein.<br />

Hypothetische Ersatzursachen<br />

Eine Handlung führt zum Erfolg, der sonst in ähnlicher Weise durch<br />

eine andere Handlung herbeigeführt worden wäre<br />

Bsp.: A erschießt die O. Sekunden später explodiert O’s Schaukelstuhl wegen eines von B angebrachten<br />

Zeitzünders.<br />

Lösung: Zwar wäre der Erfolg auch bei Wegdenken von A’s Handlung eingetreten,<br />

jedoch nicht zum gleichen Zeitpunkt und nicht in seiner konkreten Gestalt.<br />

Daher ist A’s Handlung kausal. Für B kommt nur noch ein Versuch in Betracht.<br />

Aber: Ausnahme vom Verbot, hypothetische Kausalverläufe hinzuzudenken,<br />

bei der Unterbrechung rettender Kausalverläufe (Bsp.: T stößt A von der Brü-<br />

31 So wohl auch Roxin, <strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 24 f.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 24


cke, der O gerade ein Seit zugeworfen hatte, um ihn vor dem Ertrinken zu retten)<br />

exakter: Unberücksichtigt bleiben hypothetische Ersatzursachen, die anstelle<br />

der wegzudenkenden Handlung erfolgswirksam geworden wären. Dagegen<br />

sind solche Umstände hinzuzudenken, die den Erfolg verhindert hätten, wenn<br />

die Handlung nicht stattgefunden hätte.<br />

Überholende Kausalität<br />

Eine Handlung würde zum Erfolg führen, wenn nicht eine andere<br />

Handlung diesen Erfolg unabhängig und schneller herbeiführen würde<br />

Bsp.: A schüttet Gift in O’s Tee. Bevor dieses tödlich wirken kann, kommt B und erschießt O,<br />

die sofort tot ist.<br />

Lösung: Ohne die Handlung des A wäre der Erfolg in gleicher Weise eingetreten.<br />

Sie ist daher nicht kausal. Dagegen wäre er ohne die Handlung des B später<br />

und in anderer Weise eingetreten; B’s Handlung ist daher kausal.<br />

(1) Kausalität muss „nur“ zur Überzeugung des Gerichts feststehen<br />

(vgl. § 261 StPO), das allerdings bei seiner Überzeugungsbildung<br />

nicht gegen anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse oder<br />

die Denkgesetze verstoßen darf.<br />

(2) Ausreichend, dass Kausalzusammenhang als solcher bekannt<br />

ist; genaue Kenntnis seiner Einzelheiten (also etwa bei einem Gift:<br />

Pathomechanismen auf molekularer Ebene o.ä.) ist nicht erforderlich.<br />

Exkurs: In manchen Fällen sind hypothetische Ersatzursache und überholende<br />

Kausalität korrespondieren Phänomene des gleichen Falles:<br />

Auf Grund der überholenden Kausalität der zweiten Handlung<br />

bleibt die erste nur noch als hypothetische Reserveursache übrig.<br />

<br />

Atypischer Kausalverlauf<br />

Die Handlung führt zwar zum Erfolg, allerdings auf ganz ungewöhnlichen<br />

Wegen<br />

Bsp.: T schießt O mit Tötungsvorsatz an. Während dieser – schwer, aber nicht lebensgefährlich<br />

verletzt – auf den Krankenwagen wartet, wird er von einem entlaufenen Löwen totgebissen, dem<br />

er unverletzt entkommen wäre.<br />

Lösung: Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel ist die Handlung kausal. Das<br />

Ergebnis kann aber in der objektiven Zurechnung (im Tod des O realisiert sich<br />

nicht die von T geschaffene Gefahr) oder im subjektiven Tatbestand (wesentliche<br />

Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf) zu korrigieren sein.<br />

Merke: Kein Problem des Kausalitätsbegriffs (und daher mit diesen auch<br />

nicht lösbar!) sind Ungewissheiten über den Kausalzusammenhang.<br />

Für die Praxis ist dabei aber zweierlei zu berücksichtigen:<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 25


3. Objektive Zurechnung<br />

Literatur: Kühl: § 4 Rn. 36 ff.; W/B: Rn. 176 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 35 –<br />

45, 174 – 177.<br />

<br />

<br />

Ausgangspunkt: „uferlose Weite der Äquivalenztheorie“<br />

Bsp.: Auch die Eltern eines späteren Mörders haben mit der Zeugung einen kausalen Beitrag<br />

zum späteren Tod geliefert.<br />

Erfordernis von zusätzlichen Einschränkungen:<br />

• Rechtsprechung: oft Lösung im subjektiven Tatbestand als „wesentliche<br />

Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf”<br />

• h.L.: Lehre von der objektiven Zurechnung (als „normatives Zurechnungskorrektiv)<br />

a) Grundformel<br />

Ein Erfolg ist nur dann objektiv zurechenbar, wenn durch die kausale Handlung<br />

(1) eine rechtlich missbilligte Gefahr (bzw. ein Risiko) geschaffen wurde,<br />

(2) sich diese Gefahr im konkreten Erfolgseintritt realisierte und<br />

(3) die Verwirklichung derartiger Gefahren vom Schutzzweck des jeweiligen<br />

Straftatbestandes erfasst wird. 32<br />

b) Wichtige Fallgruppen<br />

<br />

Fehlen einer rechtlich missbilligten Gefahrschaffung<br />

• Risikoverringerung<br />

Bsp.: A lenkt den Schlag des B so ab, dass dieser nicht den Kopf, sondern<br />

den Arm des Opfrs trifft.<br />

32 Vgl. etwa Roxin, <strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 42 f.; ähnlich auch bei anderen Autoren.<br />

Klausurhinweis<br />

Der Lösungsweg über objektive Zurechnung bei Risikoverringerung<br />

ist nur gangbar, soweit es um die Rechtsgüter des selben Opfers<br />

geht. Wird zur Rettung in die Rechte Dritter eingegriffen,<br />

kann aber zumeist über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB)<br />

geholfen werden.<br />

<br />

<br />

• Ausübung eines (sozial normalen) erlaubten Risikos (im Einzelnen<br />

str.)<br />

Bsp.: ordnungsgemäße Teilnahme am Straßenverkehr; gefährliches, aber<br />

regelkonformes Verhalten im Sport (u.U. auch über eine Einwilligung<br />

lösbar)<br />

• fehlende Beherrschbarkeit des Geschehens<br />

Bsp.: der Erbonkel stürzt – wie von seinem Neffen erhofft – mit der Linienmaschine<br />

auf dem Weg in den Urlaub ab, zu dem der Neffe ihn überredet<br />

hat.<br />

Fehlende Realisierung der Gefahrschaffung<br />

• völlig atypische Kausalverläufe<br />

Bsp.: Opfer eines Schusses stirbt im Krankenhaus an einer Rauchvergiftung<br />

• das Fehlen einer Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigen Alternativverhalten<br />

(str.; anders die sog. Risikoerhöhungslehre)<br />

Bsp.: Der von einem Pkw angefahrene Radfahrer wäre auch bei ordnungsgemäßem<br />

Abstand erfasst worden, weil er auf Grund seiner Alkoholisierung<br />

erhebliche Schlangenlinien fuhr.<br />

• Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch freiverantwortlichen<br />

Dritten (im Einzelnen sehr str.!)<br />

Fehlenden Einschlägigkeit des Schutzzwecks<br />

• Erfolgseintritt außerhalb des Schutzzwecks der verletzten Norm<br />

Bsp.: A fährt bei rot über eine Ampel. Als er die Kreuzung bereits 20 Meter<br />

überquert hat, erfasst der die L, die gedankenlos und für A völlig unvorhersehbar<br />

über die Straße rennt.<br />

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• Mitwirkung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung<br />

Bsp.: A und B veranstalten ein waghalsiges Motorradrennen über einen<br />

Acker, bei dem sich B schwer verletzt.<br />

• Zurechnung zu einem fremden Verantwortungsbereich<br />

Bsp.: Retter-Fälle: O sieht, dass es im Haus des A brennt. Er möchte retten,<br />

was zu retten ist und wird von einem herunterfallenden Dachbalken<br />

erschlagen. A hatte das Haus selbst angezündet, um die Versicherungssumme<br />

zu kassieren. (Anregung zum Nachdenken: Spielt es eine Rolle, ob<br />

O ein völlig Unbeteiligter, der Bruder von A’s Frau [die er im Haus vermutet]<br />

oder ein Feuerwehrmann ist?)<br />

Klausurhinweis:<br />

Die Lehre von der objektiven Zurechnung sowie die vorgenannten<br />

Fallgruppen und Untergruppen sind in ihren Details teilweise heftig<br />

umstritten. In praktischen Fällen sind auch oft mehrere der vorgenannten<br />

Lösungspunkte anwendbar (so z.B. bei den „Retter-<br />

Fällen“ der Gedanke der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung).<br />

In der Klausur sollte deswegen in derartigen Fällen mit möglichst<br />

vielen einschlägigen Gesichtspunkten argumentiert werden.<br />

Vertiefende Hinweise:<br />

a) Lesenswerte Entscheidungen<br />

− BGHSt 11, 1 (Latswagenfall)<br />

− BGHSt 49, 1 = NJW 2004, 237 m. Anm. Roxin StV 2004, 485 ff. sowie<br />

Puppe, NStZ 2004, 554 ff.<br />

b) Aufsätze<br />

− Erb, Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994, 449 ff.<br />

− Puppe, Die Lehre von der objektiven Zurechnung dargestellt an Beispielsfällen<br />

aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1997,<br />

408 ff., 513 ff.<br />

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1. Überblick<br />

III. Der subjektive Tatbestand<br />

H.M.: subjektive Elemente nicht mehr (nur) der Schuld, sondern auch<br />

dem Unrechtstatbestand zugerechnet<br />

Bspe.:<br />

(1) Bei den meisten Delikten ist fahrlässiges Verhalten nicht strafbar, vgl.<br />

§ 15 StGB. Dies ist nicht nur eine Schuldfrage, sondern betrifft bereits das Unrecht:<br />

Eine fahrlässige Sachbeschädigung verkörpert eben kein so großes (Handlungs-)<br />

Unrecht, dass das scharfe Schwert des Strafrechts gerechtfertigt wäre.<br />

(2) Die bloße Gebrauchsanmaßung, d.h. etwa die Entwendung einer Sache, um<br />

diese kurze Zeit später unversehrt wieder zurückzugeben, ist grds. kein (strafrechtliches<br />

33 ) Unrecht. 34 Erst das subjektive Merkmal der Zueignungsabsicht führt dazu,<br />

dass das Verhalten als strafrechtlich typisiertes Unrecht betrachtet wird.<br />

(3) Gegenüber einer „normalen“ Tötung eines Menschen, die nach § 212 StGB als<br />

Totschlag strafbar ist, stellt die aus mit Habgier ausgeführte Tötung einen Mord<br />

nach § 211 StGB dar.<br />

<br />

Bestandteile des subjektiven Tatbestands beim Vorsatzdelikt:<br />

• Vorsatz hinsichtlich der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes<br />

vgl. §§ 15, 16 StGB: Frage des Allgemeinen Teils (daher im<br />

Folgenden näher ausgeführt)<br />

• ggf. sonstige subjektive Merkmale<br />

vgl. etwa §§ 242, 263, 267 StGB: Frage des Besonderen Teils<br />

(daher im Folgenden nicht näher erläutert, sondern im Zusammenhang<br />

mit den jeweiligen Delikten des Besonderen Teils behandelt)<br />

33 Dies kann zivilrechtlich anders sein: die Gebrauchsbeeinträchtigung durch vorübergehende<br />

Sachentziehung kann u.U. zum Schadensersatz nach § 823 I BGB verpflichten. Aber das steht<br />

der Einordnung der Zueignungsabsicht als Tatbestandsmerkmal nicht entgegen, da eben nicht<br />

jedes Unrecht auch Kriminalunrecht ist (fragmentarischer Charakter des Strafrechts!).<br />

34 Lies als wichtige – wie die Zählung deutlich zeigt, aber auch erst später ins StGB eingeführte<br />

– Ausnahme § 248b StGB.<br />

Klausurhinweis:<br />

Merke bereits an dieser Stelle: Die beiden selben Merkmale sind<br />

im Prinzip bei der Versuchsprüfung i.R.d. Tatentschlusses zu prüfen.<br />

Es gibt zwar gewisse Abweichungen zwischen „Entschluss“<br />

und „Vorsatz“, die daraus resultieren, dass beim Versuch der objektive<br />

Tatbestand als Bezugs- und damit auch Vergleichsobjekt<br />

für den Vorsatz fehlt (dazu näher bei der Behandlung des Versuchs).<br />

Allerdings sind dies nur Detailprobleme, die nicht dagegen<br />

sprechen, sich als Grundsatz zu merken: In den Tatentschluss des<br />

Versuches gehören die Prüfungspunkte, die beim vollendeten Delikt<br />

im subjektiven Tatbestand zu behandeln sind.<br />

2. Gesetzliche Grundlagen des Vorsatzes<br />

Keine exakte Vorsatzdefinition im StGB (trotz, aber nicht entgegen 35<br />

Art. 103 II GG Erfordernis der Entwicklung einer Definition durch<br />

Wissenschaft und Rechtsprechung)<br />

Aber Anhaltspunkte für die Bestimmung des Vorsatzbegriffs aus:<br />

• § 15 StGB (grundsätzliches nur Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns)<br />

• § 16 StGB (Aussage über erforderliches Wissenselement des Vorsatzes<br />

sowie mit Formel „bei Begehung der Tat“ über Zeitpunkt,<br />

zu dem der Vorsatz vorliegen muss)<br />

35 „Nicht entgegen“ soll hier so verstanden werden, dass Vorschriften, soweit sie bestehen,<br />

natürlich beachtet werden müssen: Wenn also § 15 StGB anordnet, dass nur vorsätzliches<br />

Handeln strafbar ist, dürfte nicht entschieden werden, dass in bestimmten Fällen ohne gesetzliche<br />

Grundlage auch fahrlässiges Handeln nach einem Vorsatzdelikt bestraft wird. Vorstellbar<br />

ist dagegen in gewissen Grenzen eine extensive (= ausweitende) Auslegung des Vorsatzbegriffs,<br />

der dann auch einige Verhaltensweisen umfassen würde, die nach einem restriktiveren<br />

(= engeren) Verständnis nicht umfasst wären.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 28


• § 17 StGB (Klarstellung, dass Unrechtsbewusstsein kein Bestandteil<br />

des Vorsatzes, sondern erst der Schuld ist)<br />

3. Bezugspunkt und Zeitpunkt des Vorsatzes<br />

<br />

<br />

Notwendige Bezugspunkt des Vorsatzes sind alle Merkmale des objektiven<br />

Tatbestandes, z.B.<br />

• Handlungsobjekt<br />

• Tathandlung<br />

• Kausalverlauf (in seinen groben Zügen)<br />

objektives Geschehen und Vorstellung des Täters müssen übereinstimmen;<br />

„wesentliche“ Abweichungen schließen Vorsatz aus<br />

Keine Bezugspunkte des Vorsatzes sind dagegen das allgemeine<br />

Merkmal der Rechtswidrigkeit sowie sog. objektive Bedingungen der<br />

Strafbarkeit 36 , insbesondere<br />

• Eintritt einer schweren Verletzung oder des Todes in § 231 StGB<br />

(lesen!)<br />

• Begehung der Rauschtat in § 323a StGB (lesen!)<br />

Klausurhinweis:<br />

Von dem „allgemeinen Verbrechensmerkmal“ der Rechtswidrigkeit<br />

(d.h. der Verbrechensstufe im Schema TB-RW-SCH) sind<br />

Fälle zu unterscheiden, in denen die Rechtswidrigkeit eines bestimmten<br />

Verhaltens tatsächlich Tatbestandsmerkmal ist. 37 Dies ist<br />

etwa bei der Rechtswidrigkeit der (beabsichtigten) Zueignung in<br />

§§ 242, 246 StGB der Fall. Hier muss die (beabsichtigten) Einver-<br />

36 Hierbei handelt es sich Merkmale, die nur objektiv eintreten müssen, ohne dass sich Vorsatz,<br />

Rechtswidrigkeit oder Schuld darauf beziehen müssten, also um eine Art von (dem<br />

Strafrecht an sich fremder) reiner Erfolgshaftung.<br />

37 Wann dies der Fall ist, ist allerdings im Einzelnen wieder str. und lässt sich leider kaum<br />

allgemein beschreiben.<br />

leibung in das eigene Vermögen der „gesollten Rechtslage“ widersprechen<br />

(was etwa nicht der Fall ist, wenn der Täter einen fälligen<br />

und einredefreien Anspruch auf Übereignung genau der Sache<br />

hat). Auf diese Rechtswidrigkeit, oder genauer: auf die Tatsachen,<br />

die darüber entscheiden, ob die Zueignung rechtswidrig wären<br />

oder nicht, muss sich der Vorsatz beziehen.<br />

subjektiver Tatbestand<br />

Vorsatz Vorsatz (grobe Züge) Vorsatz sonstige subjektive<br />

Merkmale<br />

Handlung<br />

<br />

Kausalität und objektive<br />

Zurechnung<br />

objektiver Tatbestand<br />

Erfolg<br />

objektive Bedingung<br />

der<br />

Strafbarkeit<br />

Maßgeblicher Vorsatzzeitpunkt: „bei Begehung der Tat“ (vgl.<br />

§ 16 I StGB), d.h. nach § 8 StGB bei Begehung der Tathandlung, (sog.<br />

„Simultaneitätsprinzip“oder „Koinzidenzprinzip“)<br />

Konsequenzen:<br />

• allgemeine Pläne des Täters, die auf keine konkrete Handlung sind,<br />

reichen nicht aus<br />

Bsp.: A plant schon lange, gelegentlich seine Schwiegermutter S umzubringen.<br />

Auf der Straße erfasst er mit dem Auto unbeabsichtigt eine Passantin,<br />

die sofort tot ist. Nach dem Aussteigen stellt er fest, dass es sich<br />

um S handelte.<br />

Hier hatte A keinen Tötungsvorsatz, da der allgemeine, noch nicht näher<br />

konkretisierte Plan nicht ausreicht.<br />

• ein Vorsatz vor der Tathandlung ist unschädlich ist, wenn er z.Z.<br />

der Tat nicht mehr vorliegt (dolus antecedens non nocet)<br />

• eine spätere Billigung einer vorsatzlos begangenen Tat ist unschädlich<br />

(dolus subsequens non nocet)<br />

Bsp.: Im Beispiel oben wäre es daher unschädlich, wenn A nach dem Erkennen<br />

der S denkt: „Ach wie schön, dann war der Unfall ja doch für etwas<br />

gut“.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 29


• spätere „Reue“ und damit Aufgabe des Verwirklichungswillens –<br />

auch zwischen Handlung und Erfolgseintritt! – entlastet den Täter<br />

nicht<br />

Bsp.: Terrorist A hat eine Bombe unter eine Eisenbahnbrücke angebracht.<br />

Auf dem Nachhauseweg packen ihn Gewissensbisse. Er hofft sehr,<br />

dass der Zünder, der auf die Erschütterung durch einen über die Brücke<br />

fahrenden Zug ausgelöst werden soll, versagen wird. A hatte aber gut gearbeitet,<br />

und noch während er hoffte und betete, wurde die Brücke unter<br />

einem Zug gesprengt und 100 Fahrgäste fanden den Tod.<br />

unbeachtlich beachtlich unbeachtlich<br />

<br />

Insbesondere Anforderungen an die (kognitive) Wissenskomponente:<br />

• deskriptive (d.h. beschreibende) Merkmale: Täter muss „natürlichen“<br />

Sinngehalt erfassen, nicht etwa Fachdefinitionen kennen o-<br />

der sogar richtig subsumieren.<br />

Bsp.: Für den Vorsatz hinsichtlich einer Sachbeschädigung, § 303 StGB,<br />

ist nicht erforderlich, dass der Täter Definitionen wie die „körperliche<br />

Einwirkung mit Minderung der Brauchbarkeit“ o.ä. kennt – es genügt,<br />

wenn der Täter versteht, dass die Sache „kaputt“ oder „unbrauchbar“<br />

ist.<br />

• normative (d.h. wertungsausfüllungsbedürftige) Tatbestandsmerkmale<br />

(„fremd“ i.S.d. §§ 242 I, 303 StGB): Täter muss (nur) rechtlich-sozialen<br />

Bedeutungsgehalt erfassen, also richtige „Parallelwertung<br />

in der Laiensphäre” treffen<br />

Bsp.: Der Täter eines Diebstahls muss die zivilrechtliche Lage nicht<br />

schulmäßig prüfen können, um zu wissen, dass die Sache „fremd“ ist; es<br />

genügt, wenn er versteht, dass sie „(auch) jemand anders gehört“.<br />

4. Vorsatzelemente und Vorsatzarten<br />

a) Vorsatzelemente<br />

Handlung Erfolg<br />

Exkurs: Die Abgrenzung zwischen deskriptiven und normativen Merkmalen<br />

ist vielfach nicht ganz einfach, da bei den meisten (scheinbar)<br />

deskriptiven Begriffen zumindest an den „Randbereichen“ auch<br />

Wertungen erforderlich sind (z.B.: ab wann ist ein Kind während<br />

des Geburtsvorgangs eines „Mensch“ i.S.d. Tötungsdelikte?).<br />

<br />

Grundlagen:<br />

• Erfordernis von kognitiven (unstr.) und voluntativen (h.M.) Vorsatzelementen:<br />

Kurzformel: Vorsatz ist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung<br />

• Präziser: Vorsätzlich ist Handeln mit dem Willen zur Verwirklichung<br />

des Straftatbestandes in Kenntnis all seiner objektiven Tatumstände<br />

• Bei konkreter Fallanwendung und Subsumtion kann eines der beiden<br />

Elemente in den Hintergrund treten<br />

• grundsätzlich aktuelle Kenntnis erforderlich; bei selbstverständlichen<br />

Umständen aber Mitbewusstsein oder im Hintergrund bestehendes<br />

“Begleitwissen” ausreichend<br />

c) Vorsatzarten<br />

<br />

Überblick<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 30


Absicht (dolus directus<br />

I. Grades)<br />

Direkter Vorsatz (dolus<br />

directus<br />

II. Grades)<br />

Bedingter Vorsatz<br />

(dolus eventualis)<br />

Wissenselement<br />

weniger stark erforderlich:<br />

„Für-möglich-Halten“ genügt<br />

überwiegt: sichere Kenntnis /<br />

Voraussicht als sicher<br />

Wollenselement<br />

überwiegt:<br />

Handeln<br />

zielgerichtetes<br />

weniger stark erforderlich:<br />

„In-Kauf-Nehmen“ genügt<br />

(und kann aus Kenntnis<br />

geschlossen werden)<br />

keine Seite überwiegt, Voraussetzungen str.; nach Rspr. und<br />

damit wohl h.M. aber ausreichend, wenn:<br />

ernsthaft für möglich halten „Billigendes In-Kauf-<br />

Nehmen“ im Rechtssinne<br />

Klausurhinweis:<br />

Dolus directus I. Grades i.S. eines zielgerichteten Willens wird bei<br />

besonderen subjektiven Merkmalen in vielen Tatbeständen durch<br />

Formulierungen wie „um zu“ oder „in der Absicht“ zum Ausdruck<br />

gebracht (z.B. Zueignungsabsicht bei § 242 I StGB; Bereicherungsabsicht<br />

bei § 263 I StGB [lesen!]). Allerdings gibt es auch<br />

Fälle, in denen die h.M. trotz dieser Formulierung dolus directus<br />

II. Grades genügen lässt, so etwa bei § 274 I StGB (lesen!). Eine<br />

verbindliche Regel gibt es hier leider nicht (gelegentlich müssen<br />

also auch im Jurastudium Dinge schlicht „gelernt“ und „gewusst“<br />

werden); eine gewisse Faustregel geht aber dahin, dass bei entsprechenden<br />

Formulierungen auch dolus directus I. Grades gemeint<br />

ist, wenn sie sich auf einen Vorteil des Täters beziehen (Zueignungsabsicht,<br />

Bereicherungsabsicht); dagegen genügt dolus<br />

directus II. Grades, wenn es um die Schädigung des Opfers geht<br />

(Nachteilzufügungsabsicht). Grund: Man geht davon aus, dass die<br />

meisten Täter vor allem handeln, um sich einen Vorteil zu verschaffen,<br />

und nicht in erster Linie, um andere Personen zu schädigen.<br />

Wollte man auf dieses Motiv abstellen, würde (auch i.V.m.<br />

dem Grundsatz in dubio pro reo) der Anwendungsbereich der Vorschriften<br />

zu weit eingeengt.<br />

<br />

Insbesondere die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster<br />

Fahrlässigkeit<br />

A. Theorien, die auf ein voluntatives Element<br />

verzichten:<br />

1. Möglichkeitstheorie):<br />

Der Täter muss die konkrete Möglichkeit<br />

des Rechtsverstoßes erkennen und<br />

dennoch handeln.<br />

2. Gefährdungstheorie:<br />

Der Täter lässt sich von seinem Vorhaben<br />

nicht abhalten, obwohl er die<br />

konkrete Gefahr der Tatbestandsverwirklichung<br />

erkennt.<br />

3. Wahrscheinlichkeitstheorie:<br />

Der Täter muss die Rechtsgutsverletzung<br />

für wahrscheinlich gehalten haben.<br />

4. Gleichgültigkeitstheorie:<br />

Der Täter hat sich mit der Tatbestandsverwirklichung<br />

aus Gleichgültigkeit<br />

abgefunden bzw. die Tatbestandsverwirklichung<br />

aus Gleichgültigkeit in<br />

Kauf genommen.<br />

• Merksätze (zur schlagwortartigen Abgrenzung, nicht unbedingt<br />

klausurgeeignet):<br />

∗<br />

∗<br />

Der Täter, der bewusst bedingt vorsätzlich handelt, denkt sich:<br />

„Na wenn schon.“<br />

Der Täter, der bewusst fahrlässig handelt, denkt sich: „Es<br />

wird schon gut gehen.“<br />

• Abgrenzung auf der Grundlage der h.M. im konkreten Fall in der<br />

Klausursituation:<br />

∗<br />

B. Theorien, die neben dem intellektuellen<br />

auch ein voluntatives Element heranziehen:<br />

1. Ernstnahmetheorie:<br />

Der Täter hat das Risiko der Tatbestandsverwirklichung<br />

ernstgenommen,<br />

also damit gerechnet und sich damit abgefunden.<br />

2. Einwilligungs- bzw. Billigungstheorie<br />

(Rspr., und wohl h.L.):<br />

Der Täter hat den als möglich angenommenen<br />

Erfolgseintritt zustimmend<br />

bzw. billigend in Kauf genommen.<br />

3. Vereinigungstheorie:<br />

Der Täter hält die Tatbestandsverwirklichung<br />

für möglich, billigt sie, hält sie<br />

für wahrscheinlich oder steht ihr völlig<br />

gleichgültig gegenüber.<br />

Sachverhalt teilt mit, der Täter habe den Erfolg „als möglich<br />

vorhergesehen, aber billigend in Kauf genommen“ o.ä.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 31


kurze Feststellung, dass diese Voraussetzungen und damit<br />

nach h.M. dolus eventualis vorliegen. genügt<br />

Klausurhinweis:<br />

Ob Täter den Erfolg tatsächlich in Kauf genommen hat, darf dagegen<br />

in diesen Fällen nicht mehr in Frage gestellt werden! Der<br />

Sachverhalt ist als gegeben hinzunehmen.<br />

∗<br />

Sachverhalt enthält keine so klare Hinweise<br />

• Grundsatz: Handelnde Personen wissen mangels anderer<br />

Hinweise, was sie tun.<br />

• Wird geschildert, dass Erfolg nur für möglich gehalten<br />

wird, und zugleich nichts über „voluntatives Element“<br />

mitgeteilt, so muss dieses – letztlich wie in der Praxis –<br />

an Hand von anderen, auch äußeren Kriterien „erschlossen“<br />

werden:<br />

– Stärke des kognitiven Elements (je sicherer das Wissen,<br />

desto näher liegt Inkaufnahme der Folge eines<br />

Handelns)<br />

– objektive Gefährlichkeit der Handlung<br />

– Wahrnehmungszeit<br />

– Vermeidungs- bzw. Gefahrverminderungsverhalten<br />

– emotionale Nähe zwischen Täter und Opfer<br />

– Nachtatverhalten (allerdings Zurückhaltung geboten,<br />

da es auf den Vorsatz z.Z. der Tat ankommt!)<br />

– bei Tötungsdelikten: grundsätzlich hohe Hemmschwelle<br />

vor der Tötung eines Menschen<br />

Klausurhinweis:<br />

Mit manchen dieser Kriterien nimmt man zugleich Elemente auf,<br />

die von anderen Abgrenzungstheorien in den Mittelpunkt gestellt<br />

werden, z.B. mit dem Schluss von kognitiven aufs voluntative<br />

Element Ansätze der kognitiven Wahrscheinlichkeitstheorie oder<br />

mit dem Abstellen auf ein Gefahrverminderungsverhalten die Theorie<br />

von der unabgeschirmten Gefahr. 38 Das verdeutlicht, dass<br />

letztlich verschiedene Kriterien eine Rolle spielen, und dass der<br />

Vorteil der h.M. darin liegt, diese alle fruchtbar machen und miteinander<br />

kombinieren zu können (zugegebenermaßen freilich zu<br />

dem Preis, kein monistisches Prinzip anbieten zu können).<br />

<br />

Sonderproblem: 39 „dolus alternativus“, also Fälle, in denen dem Täter<br />

der Eintritt eines von zwei möglichen Erfolgen in ähnlicher Weise<br />

„recht“ ist.<br />

Standardbeispiel: Wilderer W schießt auf der Flucht vor dem Förster F seine<br />

letzte Kugel hinter sich. Er hofft dabei, entweder F oder wenigstens dessen<br />

Dackel zu treffen.<br />

• Sehr str., unter welchen Voraussetzungen neben evtl. Erfolg auch<br />

noch wegen Versuchs am anderen Objekt zu bestrafen ist. 40<br />

• M.E. vorzugswürdig: Vorsatz auf Objekt beziehen, das mit höchster<br />

Strafandrohung geschützt ist (hier also Förster, nicht Dackel)<br />

und damit anderes Objekt – selbst wenn es tatsächlich getroffen<br />

ist – hinsichtlich Vorsatzes als mit „abgegolten“ zu betrachten<br />

38 Vgl. dazu etwa Herzberg, JuS 1986, 249 ff.; ders., JZ 1988, 573 ff. und 635 ff.; Schlehofer,<br />

NJW 1989, 2017 ff. Diese Theorie verschiebt das Problem im Grunde teilweise bereits in den<br />

objektiven Tatbestand.<br />

39 Das Problem wird hier erörtert, da es eng mit den unterschiedlichen Vorsatzstufen und<br />

insbesondere der Möglichkeit des bedingten Vorsatzes zusammen hängt.<br />

40 Vgl. näher Wessels/Beulke, Rn. 231 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 32


5. Der Tatbestandsirrtum<br />

<br />

Überblick zum Regelungsgehalt des § 16 StGB<br />

§ 16 I 1 StGB Irrtum über Umstände, die den gesetzlichen Tatbestand<br />

erfüllen, schließen den Vorsatz aus (keine Vorsatzstrafe<br />

bei Tatbestandsirrtum)<br />

§ 16 I 2 StGB Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bleibt unberührt<br />

§ 16 II StGB Irrtum über privilegierende Umstände ( nur Vorsatzstrafe<br />

aus dem privilegierenden Delikt)<br />

<br />

<br />

Anwendungsbereich des § 16 I 1 StGB: Täter hat<br />

• keine Vorstellung von dem Tatumstand (Unkenntnis)<br />

Bsp.: Sprengmeister S sprengt ein altes Gebäude. Er hat keine Ahnung,<br />

dass eine Reihe junger politischer Aktivisten zum Protest gegen die<br />

Sprengung in das Gebäude „gezogen“ ist<br />

kein Vorsatz hinsichtlich § 212 StGB<br />

• oder falsche Vorstellung (Fehlvorstellung)<br />

Bsp.: Förster F möchte ein Wildschwein erlegen. Erst als er das vermeintlich<br />

tote Tier abtransportieren möchte, stellt er fest, dass es sich in<br />

Wahrheit um Pilzsammler P gehandelt hatte.<br />

kein Vorsatz hinsichtlich § 212 StGB<br />

Rechtsfolge des § 16 I 1 StGB:<br />

• Ausschluss der Vorsatzstrafbarkeit<br />

• Irrtum über das Tatobjekt (error in persona vel obiecto), d.h. Fälle<br />

der Identitätsverwechslung<br />

unbeachtlich bei „tatbestandlicher Gleichwertigkeit“, beachtlich<br />

bei ungleichwertigen Objekten.<br />

Bsp.: Schießt A auf einem Feld auf den O, obwohl er in der Dunkelheit<br />

gedacht hatte, es sei der P, ist sein Vorsatz nicht ausgeschlossen. (Da<br />

sich sein Vorsatz auf das getroffene Objekt konkretisiert hat, besteht<br />

daneben keine Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des vorgestellten Objekts.)<br />

Hatte er dagegen gedacht, es handle sich um eine Vogelscheuche, handelt<br />

A nicht vorsätzlich hinsichtlich § 212 StGB, da ihm die Kenntnis vom<br />

Umstand „Mensch“ fehlte. Bei Beachtlichkeit des Irrtums kommt ein<br />

Fahrlässigkeitsdelikt hinsichtlich des getroffenen Objekts sowie ein (untauglicher)<br />

Versuch hinsichtlich des getroffenen Objekts in Betracht.<br />

• Fehlgehen des Angriffs (aberratio ictus) in Fällen, in denen Vorsatz<br />

auf ein schon fest anvisiertes Objekt gerichtet ist, aber ein anderes<br />

Objekt getroffen wird.<br />

nach h.M. kein Vorsatz hinsichtlich des getroffenen Objekts (aber<br />

evt. Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des anvisierten und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />

hinsichtlich des getroffenen Objekts); nach<br />

M.M. bei Gleichwertigkeit auch hier Unbeachtlichkeit.<br />

• Irrtum über den Kausalverlauf: Vom Täter anvisierter Erfolg tritt<br />

ein, aber auf anderem Wege als von ihm geplant.<br />

nach h.M. Irrtum unerheblich, wenn sich Abweichungen „noch<br />

innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren<br />

halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen”<br />

<br />

• aber Möglichkeit einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach<br />

§ 16 I 2 StGB<br />

Unterscheide folgende Fallgruppen im thematischen Zusammenhang<br />

des § 16 I 1 StGB:<br />

• Unkenntnis eines Tatumstands (vgl. o.)<br />

Klausurhinweis:<br />

Irrtümer über den Kausalverlauf können – wenn man dieser Lehre<br />

folgt – oft auch bereits unter dem Stichwort der objektiven Zurechnung<br />

zu diskutieren sein. Wie dort schon erwähnt, wird die<br />

Wertung, ob ein Kausalverlauf unzurechenbar atypisch bzw. ein<br />

Irrtum über den Kausalverlauf wesentlich ist, zumeist parallel laufen.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 33


• Sonderproblem des Irrtums über den Kausalverlauf: „dolus generalis“-<br />

Fälle, in denen Erfolg nicht wie beabsichtigt durch die Erst-<br />

, sondern erst unbeabsichtigt durch eine nachfolgende Zweithandlung<br />

herbeigeführt wird.<br />

Bsp.: 41 A hatte O mit bedingtem Tötungsvorsatz gewürgt und ihr Sand in<br />

den Mund gestopft. Als O regungslos liegen blieb, war A von ihrem Tod<br />

überzeugt und versenkte die vermeintliche Leiche in einer Jauchegrube.<br />

Tatsächlich erstickte die nur bewusstlose O erst in der Jauchegrube.<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

kein Vorsatz mehr bei unmittelbarer Tötungshandlung, aber<br />

kein unmittelbarer Taterfolg durch vom Vorsatz getragene<br />

Handlung<br />

früher z.T. Annahme eines fortwirkenden „dolus generalis“;<br />

letztlich aber bloße Fiktion<br />

a.A.: Versuch hinsichtlich ersten Aktes, allenfalls Fahrlässigkeit<br />

hinsichtlich zweiten Aktes<br />

wohl h.M.: Prüfung im Einzelfall, ob wesentliche Abweichung<br />

vom vorgestellten Kausalverlauf vorliegt, was insbesondere<br />

bei dolus directus I. Grades zu verneinen sein kann<br />

Vertiefende Hinweise:<br />

a) Lesenswerte Entscheidungen<br />

− BGHSt 14, 193 (Jauchegrubenfall – dolus generalis)<br />

− BGHSt 36, 1 (dolus eventualis bei Infektion mit HI-Virus)<br />

b) Aufsätze<br />

− Hermanns/Hülsmann, Die Feststellung des Vorsatzes bei Tötungsdelikten,<br />

JA 2002, 140 ff.<br />

− Lesch, Dolus directus, indirectus und evenutalis, JA 1997, 802 ff.<br />

− Otto, Der Vorsatz, Jura 1996, 468 ff.<br />

− Toepel, Grundlagen zu error in persona vel objecto und aberratio ictus,<br />

JA 1997, 556 ff.<br />

c) Übungsfälle<br />

− Schramm, Die Reise nach Bangkok, JuS 1994, 405 ff.<br />

<br />

Sonderfall des § 16 II StGB (seltene Konstellation!):<br />

• irrtümliche Vorstellung des Vorliegens (tatsächlicher) privilegierender<br />

Umstände<br />

Bsp.: Vorstellung eines ernsthaften Tötungsverlangens i.S.d. § 216 StGB,<br />

das aber tatsächlich nie ausgesprochen wurde<br />

• Bestrafung nicht wegen vorsätzlicher vollendeter Begehung des<br />

objektiv verwirklichten (nicht privilegierten) Delikts, sondern nur<br />

wegen privilegierten Delikts (sowie ggf. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />

wegen des schwereren Delikts).<br />

41 Nach BGHSt 14, 193.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 34


IV.<br />

Die RechtswidrigkeitLiteratur: Kühl: §§ 6 - 9; W/B:<br />

Rn. 268 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 68 – 125.<br />

1. Einführung und allgemeine Lehren<br />

<br />

<br />

Bedeutung der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

• h.M.: Feststellung des endgültigen Unwerturteils über die Tat<br />

ist tatbestandsmäßiges (und damit „typischerweise rechtswidriges“)<br />

Verhalten in konkreter Situation ausnahmsweise von Rechtsordnung<br />

gebilligt?<br />

• a.A.: „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“<br />

gesamte Rechtswidrigkeitsprüfung als eine Wertungsstufe<br />

Herkunft der Rechtfertigungsgründe: nicht nur StGB, sondern auch<br />

viele andere Gesetze („Einheit der Rechtsordnung“), also<br />

• materielles Strafrecht (z.B. §§ 32, 34 StGB, vgl. näher unten)<br />

• Strafprozessrecht (z.B. § 127 StPO, vgl. näher unten, aber auch<br />

§§ 81a, 102 StPO)<br />

• Zivilrecht (z.B. §§ 228, 904 BGB, vgl. näher unten)<br />

• Öffentliches Recht (z.B. Polizeigesetze der Länder)<br />

• Gewohnheitsrecht (z.B. die Einwilligung; elterliches Züchtigungsrecht<br />

[str., wohl in dieser Konstruktion nach Gesetzesänderungen<br />

der letzten Jahre nur schwer vertretbar, vgl. näher unten)<br />

Exkurs: Unterscheide noch einmal: Auf Grund des fragmentarischen Charakters<br />

des Strafrechts können Verhaltensweisen straflos sein, die<br />

in anderen Gesetzen „Sanktionen“ nach sich ziehen (lies z.B. zur<br />

fahrlässigen Sachbeschädigung noch einmal §§ 303, 15 StGB einer-,<br />

§ 823 I BGB andererseits). Das heißt aber natürlich nicht,<br />

dass solche Verhaltensweisen im Strafrecht gebilligt würden – insoweit<br />

besteht kein Widerspruch zum Grundsatz der Einheit der<br />

Rechtsordnung. In den o.g. Beispielsfällen strafprozessualer Eingriffsbefugnisse<br />

dagegen ist es so, dass das Verhalten in der StPO<br />

explizit erlaubt wird.<br />

Gedanken zur Vertiefung:<br />

(1) Eine – in ihren Argumenten m.E. beachtliche – M.M. geht demgegenüber<br />

von der Figur einer eigenständigen „Strafrechtswidrigkeit“<br />

aus. Allerdings hat auch dies zumeist nicht zur Folge, dass<br />

ein nach anderen Gesetzen erlaubtes Verhalten strafrechtswidrig<br />

wäre (sondern eher umgekehrt).<br />

(2) Es ist auch denkbar, dass im Einzelfall mit Blick auf die Einheit<br />

der Rechtsordnung insbesondere bei näher ausfüllungsbedürftigen<br />

Begriffen die Wertungen anderer „inhaltsreicherer“ Regelungen<br />

bereits für die Auslegung herangezogen werden und daher den<br />

Tatbestand (und nicht erst die Rechtswidrigkeit) ausschließen. So<br />

ist bei der Frage, wann eine Strafvereitelung nach § 258 StGB (und<br />

nicht nur ein zulässiges Verteidigerhandeln) vorliegt, nach überzeugender<br />

h.M. u.a. darauf abzustellen, welche Rechte die StPO<br />

einem Verteidiger zubilligt. Solange man sich innerhalb dieser bewegt,<br />

begeht man bereits keine tatbestandliche Vereitelungshandlung<br />

(und ist nicht „erst“ gerechtfertigt).<br />

<br />

Begründung und Systematisierung der Rechtfertigungsgründe:<br />

• einheitliche Begründung schwierig und str.; m.E. aber stets Folge<br />

einer Interessenabwägung, nach der ausnahmsweise Interesse an<br />

Durchführung der Handlung gegenüber ihrem Unterlassen überwiegt,<br />

obwohl es an sich ein unerlaubtes wäre 42<br />

• Übersicht über die Interessenabwägung bei verschiedenen Rechtfertigungsgründen<br />

42 Natürlich beruht auch die Tatbestandsbildung durch den Gesetzgeber zumeist auf Interessenabwägungen.<br />

Dennoch lässt die Unterscheidung zwischen „genereller Interessenlage“ und<br />

„besonderer Interessenabwägung“ im Einzelfall eine (zumindest theoretisch) halbwegs klare<br />

Abgrenzung zu, ob ein bestimmter Sachgesichtspunkt bereits tatbestandsausschließend oder<br />

erst rechtfertigend wirkt.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 35


Vorrangverhältnis<br />

und Begründung<br />

Beispiele<br />

§ 228 BGB mutmaßliche Einwilligung<br />

maßgebliches<br />

Subjekt<br />

der<br />

Abwägung<br />

Genereller Vorrang des<br />

angegriffenen Interesses vor<br />

dem Interesse des Angreifers<br />

(Verteidigung der<br />

Rechtsordnung; „Zuständigkeit<br />

des Angreifers für<br />

den Konflikt“)<br />

§ 32 StGB<br />

§ 227 BGB<br />

“Abwägung durch Gesetzgeber”<br />

Abwägung<br />

im Einzelfall,<br />

wenn von<br />

keiner Seite<br />

ein “Angriff”<br />

vorliegt<br />

§ 34 StGB<br />

§ 904 BGB<br />

Generelles Zurückstehen<br />

des Rechtsguts,<br />

das sein Inhaber<br />

aufgegeben<br />

hat (volenti non fit<br />

iniuria)<br />

Einwilligung<br />

“Abwägung<br />

durch Richter”<br />

“Abwägung durch<br />

Opfer”<br />

Erfordernis eines subjektiven RechtfertigungselementesBsp. zur Veranschaulichung<br />

des Problems: T trifft auf der Straße seinen Feind O und schlägt ihn nieder. Hat<br />

sich T strafbar gemacht, wenn O – von T unerkannt – gerade ein Messer ziehen wollte, um auf<br />

T einzustechen?<br />

• nach h.M. grds. Erfordernis eines auch subjektiven Rechtfertigungselements;<br />

arg.:<br />

∗<br />

∗<br />

explizite Voraussetzung in einzelnen gesetzlichen Rechtfertigungsgründen<br />

(vgl. § 32 StGB: „um ... abzuwehren“;<br />

§ 34 StGB: „um die Gefahr ... abzuwenden“)<br />

Kompensation nicht nur des tatbestandlichen Erfolgsunrechts,<br />

sondern auch des Handlungsunrechts (das sich aus dem vorsätzlichen,<br />

auf eine Rechtsgutsverletzung gerichteten Handeln<br />

ergibt) erforderlich<br />

Klausurhinweis:<br />

Bei (zumindest unbewussten) Fahrlässigkeitsdelikten dürfte das<br />

anders sein: Wer nicht weiß, dass er einen anderen verletzt, kann<br />

kaum wissen, dass er dabei gerechtfertigt ist. Das erscheint mir<br />

auch stringent (wobei auf die Frage vielfach nicht explizit eingegangen<br />

wird, so dass es schwer ist, von einer h.M. zu sprechen):<br />

Da das Unrecht (zwar auch durch ein Handlungsunrecht, aber e-<br />

ben) nicht durch ein subjektives Element geprägt ist, braucht man<br />

auch zur „Unrechtsaufhebung“ ein solches nicht.<br />

In der Klausur könnte man dies auch schon vor der Rechtswidrigkeitsebene<br />

bei der Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung ansprechen<br />

und feststellen, dass etwas, was objektiv gerechtfertigt ist,<br />

nicht pflichtwidrig sein kann.<br />

• Strafbarkeit bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements<br />

∗<br />

∗<br />

e.A.: Strafbarkeit wegen des tatsächlich begangenen (auch<br />

vollendeten) Delikts annimmt<br />

a.A.: jedenfalls nur Strafbarkeit wegen Versuchs der Tat;<br />

arg.:<br />

Täter, bei dem zwar Erfolgsunrecht kompensiert ist, aber<br />

Handlungsunrecht (unkompensiert) bestehen bleibt, ist<br />

dem Versuchstäter vergleichbar, bei dem ebenfalls nur<br />

Handlungs-, nicht aber Erfolgsunrecht vorliegt. 43<br />

Vollendetes Delikt<br />

Versuchtes<br />

Delikt<br />

Täter ohne subjektives<br />

Rechtfertigungselement<br />

Erfolgsunrecht (+) (-) (-), da kompensiert<br />

Handlungsunrecht (+) (+) (+), da nicht kompensiert<br />

43 Vertreter eines zweistufigen Verbrechensaufbaus kommen ohnehin zwanglos zur Versuchsstrafbarkeit,<br />

da sich mangels subjektiven Rechtfertigungselements der Tatentschluss<br />

nach dieser Konzeption auf ein Merkmal des (Gesamtunrechts-) Tatbestands bezieht.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 36


2. Die Notwehr gem. § 32 StGB<br />

a) Die Begründung des Notwehrrechts<br />

<br />

„Schneidiges“ Recht, das nach h.M. auf zwei Säulen ruht (dualistische<br />

Notwehrbegründung der h.M.):<br />

• Selbstschutzgedanke,<br />

d.h. Vorstellung, dass „Urrecht” auf Selbstverteidigung trotz staatlichen<br />

Gewaltmonopols in speziellen Fallgestaltungen erhalten<br />

bleibt<br />

• Rechtsbewährungsprinzip,<br />

d.h. Grundsatz, dass Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht<br />

Klausurhinweis:<br />

Man kann gegen das dualistische Notwehrmodell sicher kritisch<br />

einwenden, dass es letztlich nicht aus bestimmten Prämissen abgeleitet<br />

wird, sondern mal die eine, mal die andere Grundlage mehr<br />

oder weniger dann heranzieht, wenn diese gerade gebraucht wird.<br />

Das Verhältnis zwischen beiden Ansätzen bleibt zumeist im Dunkeln.<br />

Das ändert aber nichts daran, dass man das Schlagwort von<br />

der dualistischen Notwehrbegründung kennen sollte und in einer<br />

Klausur (in der das Strafrecht nicht jedes Mal neu erfunden, sondern<br />

auf der Grundlage konsentierter Vorstellungen angewandt<br />

werden soll!) ruhig selektiv auf jeweils auf einen der beiden Gedanken<br />

zurückgreifen kann, wenn er in die Argumentation passt.<br />

b) Die Voraussetzungen der Notwehr<br />

<br />

<br />

Überblick:<br />

• Notwehrlage: gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff<br />

• Notwehrhandlung: erforderliche, gebotene Abwehrhandlung<br />

Notwehrlage:<br />

• Angriff:<br />

∗<br />

∗<br />

Definition: jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung<br />

rechtlich geschützter Interessen<br />

Angriff muss nach h.M. tatsächlich vorliegen, d.h. Beurteilung<br />

erfolgt objektiv<br />

∗ nur menschliche Angriffe erfasst, nicht solche durch Tiere 44<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

nur willkürliches Handeln (d.h. grob: eine Handlung im strafrechtlichen<br />

Sinne)<br />

Gegenbeispiel.: Fällt jemand von einem Baugerüst und droht<br />

einen Passanten zu „erschlagen“, so ist ein den Fallenden<br />

verletzendes Aufhalten oder Ablenken des Sturzes nur nach<br />

den Grundsätzen des § 34 StGB, nicht nach dem ohne jede<br />

Abwägung erfolgenden Notwehrrecht zulässig.<br />

kein Angriff bei sozialüblichem oder ganz bagatellhaftem<br />

Verhalten (z.B. Vordrängeln am Skilift)<br />

Möglicher Gegenstand eines notwehrfähigen Angriffs: alle<br />

Individualrechtsgüter des Angegriffenen oder eines Dritten<br />

<br />

Alternative Begründung (m.E. kein echter Gegensatz): Verantwortung<br />

bzw. „Zuständigkeit“ des Angreifers für den „Konflikt“ führt dazu,<br />

dass dieser auch Einbußen an seinen Rechtsgütern hinnehmen muss.<br />

44 Bei Angriffen von Tieren kommt nur ein rechtfertigender Notstand nach § 228 BGB in<br />

Betracht. Allerdings kann auch Notwehr nach § 32 StGB geübt werden, wenn entweder das<br />

Tier als „Angriffsmittel“ genutzt wird oder zumindest ein vorwerfbares Unterlassen des Tierhalters<br />

vorliegt. Allerdings richtet sich dann genau formuliert die Notwehr nicht „gegen das<br />

Tier“, sondern gegen den menschlichen Angreifer und erfolgt eben dadurch, dass eine ihm<br />

gehörende Sache beschädigt wird.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 37


(sog. Nothilfe); dagegen Verteidigung von Allgemeininteressen<br />

grundsätzlich Aufgabe der staatlichen Organe<br />

• Gegenwärtigkeit<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

unmittelbar bevorstehend (ohne weitere Zwischenschritte);<br />

auch antizipierte Selbstschutzmaßnahmen (z.B. Selbstschussanlagen)<br />

im Rahmen der Erforderlichkeit möglich<br />

gerade ablaufend<br />

noch Fortdauern (besonders bei Dauerdelikten wichtig)<br />

• Rechtswidrigkeit<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

läuft Bewertungsnormen des Rechts zuwiderläuft<br />

kein Verstoß gegen Strafgesetze erforderlich<br />

nicht rechtswidrig, wenn seinerseits durch Rechtfertigungsgründe<br />

gedeckt<br />

str., ob Handlungs- oder Erfolgsunrecht entscheidend<br />

nach h.M. muss Angriff nicht schuldhaft sein<br />

Klausurhinweis:<br />

Fehlt es an den Voraussetzungen einer Notwehrlage (insbesondere<br />

bereits an einem Angriff), ist als Folgeproblem an den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum<br />

zu denken (dazu näher später in Vorlesung<br />

und <strong>Skript</strong>), wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der<br />

Täter irrtümlich die tatsächlichen Voraussetzungen einer solchen<br />

Lage angenommen hat.<br />

<br />

Notwehrhandlung<br />

• muss Abwehr eines Angriffs dienen<br />

∗<br />

Schutz- und Trutzwehr zulässig<br />

∗<br />

nur gegen den Angreifer bzw. seine Rechtsgüter zulässig (aber<br />

z.T. Ausnahme angenommen, wenn sich Angreifer fremder<br />

Sachen bedient<br />

• Erforderlichkeit<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

zur Abwehr geeignet (allerdings eine weite „Einschätzungsprärogative“,<br />

auch etwa bei Verteidigung gegen Übermacht)<br />

mildestes Mittel zur sofortiger und sicherer Abwendung des<br />

Angriffs<br />

beachte aber: keine „Güterproportionalität” vorausgesetzt<br />

Beurteilung der Erforderlichkeit nach objektivem Urteil ex<br />

ante<br />

erforderliche Abwehrhandlungen decken auch ungewollte<br />

Auswirkungen (Gedanke der erlaubten Risikoschaffung).<br />

Klausurhinweis:<br />

Werden die Grenzen der Erforderlichkeit überschritten, ist zu prüfen,<br />

ob ein entschuldigender Notwehrexzess nach § 33 StGB in<br />

Betracht kommt.<br />

• Gebotenheit<br />

∗<br />

∗<br />

grds. ist erforderliche Abwehr auch geboten ( kein generelles<br />

Abwägungsgebot)<br />

„Gebotenheit“ nach h.M. als Anknüpfungspunkt „sozialethischer<br />

Einschränkungen des Notwehrrechts“ bei<br />

völlig geringfügigen Eingriffen an der Grenze zum Angriff<br />

extremem Missverhältnis von angegriffenem und verletztem<br />

Gut („Kirschendiebfälle“)<br />

Angriffen von Kindern oder anderen schuldlos Handelnden<br />

Angriffe von nahestehenden Personen<br />

Provokationsfällen<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 38


– Absichtsprovokation schließt Notwehrrecht aus<br />

(h.M.)<br />

– bei sonstiger schuldhafter Provokation dagegen nur<br />

(wie bei anderen Einschränkungsfällen) Einschränkung<br />

i.S. einer „Drei-Stufen-Theorie“ (erst ausweichen,<br />

dann Schutzwehr, zuletzt Trutzwehr<br />

Exkurs: Die sozialethischen Einschränkungen erscheinen zwar teilweise<br />

mehr oder weniger evident „billig“, werfen aber in ihrer Begründung<br />

Probleme auf:<br />

(1) Formell sind sie mit Blick auf Art. 103 II GG zumindest nicht<br />

unproblematisch, da die Anknüpfung an das Merkmal der Gebotenheit<br />

an sich sehr vage ist.<br />

(2) Materiell wäre zu legitimieren, warum man das in seiner<br />

grundsätzlichen Geltung nie in Frage gestellte Notwehrrecht überhaupt<br />

einschränken möchte, wozu etwa auf eine Abschwächung<br />

der Notwehrbegründungen des Rechtsbewährungsprinzips, des<br />

Schutzprinzips sowie des Verantwortlichkeits- bzw. Zuständigkeitsprinzip<br />

hingewiesen werden kann.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 39


3. Rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB<br />

a) Einordnung der Regelung<br />

<br />

<br />

zweiter wichtiger Rechtfertigungsgrund im StGB; Ergänzung durch<br />

zivilrechtliche Notstände der §§ 228, 904 BGB; vergleichbare Regelung<br />

in § 16 OWiG<br />

Legitimation der Regelung schwieriger als bei Notwehr, da nicht gegen<br />

Angreifer gerichtet:<br />

• Prinzip der Güteroptimierung<br />

• Auferlegung einer Solidaritätspflicht als Sonderopfer (im StGB<br />

sonst nur selten, vgl. etwa auch § 323c StGB)<br />

b) Voraussetzungen des § 34 StGB<br />

<br />

Überblick<br />

Notstandslage<br />

– Notstandsfähiges Rechtsgut<br />

– Gefahr für das Rechtsgut<br />

– Gegenwärtigkeit der Gefahr<br />

Notstandshandlung<br />

– Erforderlichkeit der Rettungshandlung<br />

(fehlende andere Abwendbarkeit)<br />

– Wesentliches Überwiegen des<br />

geretteten Rechtsguts<br />

– Angemessenheit<br />

– subjektiv: Handeln mit Rettungswillen<br />

Klausurhinweis:<br />

Rechtsphilosophisch ist das Notstandsrecht daher wesentlich<br />

schwieriger zu begründen als das Notwehrrecht. Da es aber in<br />

§ 34 StGB eine positive Festschreibung im StGB gefunden hat,<br />

muss es in der Klausur auch angewendet werden, ohne theoretisch<br />

in Frage gestellt zu werden. Freilich kann man solche Zweifel „im<br />

Hinterkopf behalten“, wenn es um die Frage geht, ob es in einem<br />

Grenzfall eher extensiv oder eher restriktiv anzuwenden ist.<br />

<br />

Abgrenzung zum entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB (trotz des<br />

Fehlens eines wesentlichen Überwiegens der Interessen kann Täter<br />

rechtswidriges Handeln nicht persönlich vorgeworfen werden)<br />

Klassisches Beispiel für die Anwendung des § 35 StGB ist das „Brett des Karneades“:<br />

Wenn sich zwei Schiffsbrüchige auf eine Planke retten, die nur einen<br />

Menschen tragen kann und einer den anderen hinunterstößt, so überwiegt das<br />

damit gerettete Leben nicht wesentlich das geopferte. Dennoch kann man dem<br />

Täter in dieser Extremsituation sein Handeln nicht persönlich vorwerfen.<br />

<br />

Notstandslage: (gegenwärtigen nicht anders abwendbare 45 ) Gefahr für<br />

ein notstandsfähiges Rechtsgut:<br />

• Notstandsfähiges Rechtsgut:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

jedes von der Rechtsordnung anerkannte (auch strafrechtlich<br />

ungeschützte) Rechtsgut<br />

Aufzählung in § 34 StGB nicht abschließend<br />

nach h.M. – anders als bei § 32 StGB – auch staatliche<br />

Rechtsgüter grds. notstandsfähig; fraglich aber, ob dadurch<br />

auch Handeln von Staatsorganen gedeckt<br />

auch Rechtsgüter Dritter möglich (Notstandshilfe)<br />

45 Die „Nicht-anders-Abwendbarkeit“ wird zumeist als „Erforderlichkeit“ als Bestandteil der<br />

Notstandshandlung geprüft; mir erscheint dies nicht zwingend, aber in der Sache durchaus<br />

vernünftig, auch wenn damit scheinbar etwas von der verunglückten Gesetzesformulierung<br />

abgewichen wird. Vgl. etwa Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 34 Rn. 18; ganz explizit<br />

auch Kindhäuser, LPK/StGB, § 34 Rn. 29.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 40


• Gefahr:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Zustand, in dem nicht ganz entfernte Wahrscheinlichkeit des<br />

Eintritts eines Schadens für Rechtsgut besteht<br />

nicht notwendig „menschliches Verhalten“ gefordert, sondern<br />

z.B. auch Gefahren durch Tiere oder Naturereignisse<br />

Bspe.:<br />

(1) Der wild gewordene Stier S ist von der Weide ausgebrochen und<br />

droht einen Spaziergänger aufzuspießen.<br />

(2) Bei einem plötzlichen Wetterumsturz im Gebirge droht ein Bergsteiger<br />

zu erfrieren.<br />

nach h.M. nach objektivem ex-ante-Urteil zu beurteilen (im<br />

Detail str.).<br />

• Gegenwärtigkeit<br />

∗<br />

∗<br />

bevorstehend, akut oder noch nicht abgeschlossen<br />

für „Bevorstehen“ großzügigerer Maßstab als bei § 32 StGB<br />

auch Dauergefahren, bei denen Schaden jederzeit eintreten<br />

kann<br />

auch ausreichend, wenn Schadenseintritt erst in Zukunft zu<br />

erwarten ist, aber nur durch sofortiges Handeln abgewendet<br />

werden kann (str.)<br />

Klausurhinweise:<br />

Zumindest sollte man bei Dauergefahren und vor allem bei zukünftigen<br />

Gefahren besonders genau prüfen, ob sie nicht anders abwendbar<br />

sind als durch die Notstandshandlung (also etwa durch<br />

Einschalten der Behörden o.ä.).<br />

Wie bei der Notwehr gilt auch hier: Fehlt es an den Voraussetzungen<br />

einer Notstandslage ist als Folgeproblem an den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum<br />

zu denken.<br />

<br />

Notstandshandlung:<br />

• Abwendung der Gefahr, wozu beliebig in fremde Güter eingegriffen<br />

werden darf<br />

In dem o.g. Stierbeispiel wäre also – zunächst einmal nur § 34 StGB betrachtet<br />

– sowohl die Verletzung des Stieres als auch das Aufbrechen der<br />

Tür des Hauses eines Dritten (um sich darin zu verstecken) gerechtfertigt.<br />

Beachte in diesem Zusammenhang aber auch §§ 228, 904 BGB (dazu unten),<br />

die für die Situation des Eingriffs in das bedrohliche, aber auch in<br />

ein anderes Gut noch speziellere Wertungen enthalten (und daher vorrangig<br />

zu prüfen sind).<br />

• Erforderlichkeit<br />

∗<br />

∗<br />

zur Rettung des Rechtsguts geeignet<br />

mildestes Mittel, wobei – anders als bei § 32 StGB – auch<br />

Möglichkeiten wie Ausweichen oder Flucht zu berücksichtigen<br />

sind<br />

Klausurhinweis:<br />

Da hier mehr alternative Rettungsmöglichkeiten in Betracht kommen<br />

als bei der Notwehr, muss beim Notstand um so genauer am<br />

Sachverhalt gearbeitet werden, um solche ausfindig zu machen<br />

(oder sie zumindest zu diskutieren, selbst wenn man sie mangels<br />

ausreichender Effizienz dann am Ende doch ablehnt).<br />

• wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses gegenüber<br />

dem beeinträchtigten<br />

∗<br />

wohl h.M.: „wesentlich“ nur „zweifelsfrei“, nicht „erheblicher<br />

Wertunterschied“ (str.)<br />

Klausurhinweis:<br />

In der Klausur muss man m.E. auf diesen Streit nicht unbedingt<br />

eingehen. Zumeist wird man, wenn man ein Überwiegen annimmt,<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 41


auch begründen können, dass dieses „wesentlich“ oder zumindest<br />

„wesentlich genug“ ist.<br />

∗<br />

nicht bloße Güterabwägung, sondern umfassende Interessenabwägung<br />

abstrakter Wert der betroffenen Rechtgüter (vgl. etwa Strafrahmen<br />

des BT) als Ausgangspunkt; weitere Aspekte a-<br />

ber z.B. 46<br />

Grad der drohenden Gefahr<br />

Ausmaß des drohenden Schadens<br />

Verantwortlichkeit eines Beteiligten für die Entstehung der<br />

Gefahr<br />

spezielle Gefahrtragungspflichten<br />

Entstehen der Gefahr als einkalkulierte Folge einer gesetzlichen<br />

Regelung<br />

Bestehen spezieller rechtlicher Verfahren<br />

Klausurhinweis:<br />

Zumindest als „interne Plausibilitätskontrolle“, m.E. aber durchaus<br />

auch als (zusätzliches, nicht alleiniges!) Kriterium kann auch auf<br />

die sog. „Notwehrprobe“ abgestellt werden. Dies ist die Frage, ob<br />

es angemessen erscheint, wenn derjenige, in dessen Interessen<br />

durch die Notstandshandlung eingegriffen wird, dagegen Notwehr<br />

üben kann (dann nicht § 34 StGB, da dies die Notwehr ausschließen<br />

würde) oder nicht (dann § 34 StGB zu bejahen, weil damit die<br />

Notwehr mangels rechtswidrigen Angriffs des im Notstand Handelnden<br />

ausgeschlossen wird).<br />

• keine „Unangemessenheit“<br />

∗<br />

∗<br />

geringe Bedeutung neben umfassender Interessenabwägung<br />

mögliche Anwendungsfälle<br />

Verstoß gegen gesetzlich geregelte Verfahren<br />

Bsp.: A sprengt das offensichtlich bauordnungswidrig errichtete<br />

Haus seines Nachbarn N in die Luft, das dem A jegliche Luft<br />

und Sonne nimmt.<br />

Achtung der Menschenwürde<br />

Bsp.: A besucht im Krankenhaus seinen Freund F. Als das Unfallopfer<br />

O eingeliefert wird, das eine sehr seltene Blutgruppe<br />

hat, soll bei A, der ebenfalls diese Gruppe hat, zwangsweise<br />

Blut für die lebensrettende Blutspende abgenommen werden.<br />

Zwar überwiegt das Leben des O sicher die körperliche Unversehrtheit<br />

des A; allerdings ist niemandem zuzumuten, als „lebende<br />

Blutbank missbraucht“ zu werden (nicht unumstritten).<br />

Handeln auf der Seite des Unrechts<br />

Bsp.: A wird von T bedroht, dass er sofort erschossen werde,<br />

wenn er nicht die Schaufensterscheibe des O einwirft. A tut,<br />

wie ihm geheißen.<br />

Zwar überwiegt das Leben des A sicher das Sacheigentum des<br />

O, allerdings macht sich A (wenngleich unfreiwillig) zu einem<br />

Diener der schlechten Sache. Ihm ist ausreichend geholfen,<br />

wenn er nach § 35 StGB entschuldigt wird; andererseits erscheint<br />

es durchaus angemessen, dem O, der an seinem Laden<br />

vorbeikommt, ein Notwehrrecht zuzugestehen (Notwehrprobe;<br />

nicht unumstritten; Problem des sog. Nötigungsnotstandes).<br />

• Handeln mit Rettungswillen (subjektives Rechtfertigungselement)<br />

4. Die zivilrechtlichen Notstände<br />

<br />

Einordnung<br />

• wegen „Einheit der Rechtsordnung” auch im Strafrecht zu beachten<br />

46 Umfassende Darstellung von abwägungsrelevanten Gesichtspunkten etwa bei Schönke/Schröder-Lenckner/Perron,<br />

§ 34 Rn. 23 ff.; Roxin, <strong>AT</strong> I, § 16 Rn. 22 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 42


• spezielle Regelungen des Notstandes in §§ 228 und 904 BGB, je<br />

nachdem, ob Gefahr von im Notstand beeinträchtigter Sache ausging<br />

(Defensivnotstand) oder nicht (Aggressivnotstand).<br />

Bsp: In dem o.g. Stierfall würde eine Handlung gegenüber dem Stier im<br />

Defensiv-, gegenüber der Tür eines Unbeteiligten im Aggressivnotstand<br />

erfolgen.<br />

Defensivnotstand, § 228 BGB<br />

§ 228 BGB<br />

Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr<br />

von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die<br />

Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und<br />

der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. Hat der Handelnde die Gefahr<br />

verschuldet, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet.<br />

<br />

• Spezialregelung für Handlungen gegenüber Sachen, von denen Gefahr<br />

ausgeht<br />

• wichtigstes Beispiel: Tierangriffe<br />

• da „Sache für Konflikt zuständig“ ist, ist Eingriff grundsätzlich gerechtfertigt,<br />

wenn nicht Wert der verletzten Sache zu Gefahr außer<br />

Verhältnis steht<br />

Aggressivnotstand, § 904 BGB<br />

§ 904 BGB<br />

Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf<br />

die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen<br />

Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung<br />

dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer<br />

kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen.<br />

<br />

• nur gerechtfertigt, wenn gerettetes Rechtsgut beeinträchtigtes wesentlich<br />

überwiegt<br />

Allgemeine Fragen<br />

• Bestimmung der „Wertigkeit“ nach<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Sachwert<br />

ideellen Interessen (Tiere mehr als leblose Sachen)<br />

str. reine Affektionsinteressen<br />

• Verhältnis zu § 34 StGB<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

§§ 228, 904 BGB unstreitig vor § 34 StGB zu prüfen<br />

str. aber, ob abschließende leges speziales; selbst bei Anwendung<br />

aber meist auf Grund der auch bei § 34 StGB durchschlagenden<br />

Regelungen meistens kein anderes Ergebnis<br />

von § 34 StGB her bekannte Einschränkungen der Rechtfertigung<br />

(etwa „nicht auf die Seite des Unrechts schlagen“ o.ä.)<br />

auch bei §§ 228, 904 BGB zu berücksichtigen<br />

• nicht „angreifende” Sache (d.h. Sache, von der Gefahr nicht unmittelbar<br />

droht) wird beschädigt<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 43


5. Weitere zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Selbsthilferecht nach §§ 229, 230 BGB:<br />

Wegnahme einer Sache, „wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu<br />

erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht“, dass<br />

Durchsetzung eines Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert wird<br />

Gast G möchte das Lokal des L verlassen, ohne zu bezahlen. L, der O nicht<br />

kennt, nimmt G dessen Mantel weg, um ihn „als Pfand zu behalten“.<br />

Besitzkehr nach § 859 BGB:<br />

sofortige Wegnahme einer Sache vom unrechtmäßigen Besitzer, wenn<br />

dieser sie an sich gebracht hat; zeitlich begrenzter Spezialfall des zivilrechtlichen<br />

Selbsthilferechts für Besitzer beweglicher Sachen<br />

Selbsthilferecht des Vermieters nach § 562b BGB:<br />

gestattet Vermieter, „die Entfernung der seinem Pfandrecht unterliegenden<br />

Sachen, soweit er ihr zu widersprechen berechtigt ist, auch ohne<br />

Anrufen des Gerichts verhindern und, wenn der Mieter auszieht, die<br />

Sachen in seinen Besitz nehmen“; Schutz vor Entwertung des gesetzlichen<br />

Vermieterpfandrechts<br />

§ 910 BGB:<br />

erlaubt „Eigentümer eines Grundstücks (...) Wurzeln eines Baumes o-<br />

der eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen<br />

sind, ab(zu)schneiden und (zu)behalten.“<br />

§ 241a BGB:<br />

• vergleichsweise jung ins BGH eingefügte Vorschrift, nach der<br />

Verbraucher keine Verpflichtungen für unbestellt zugesandte Waren<br />

trifft<br />

• strafrechtliche Konsequenzen noch nicht endgültig geklärt; aber<br />

wohl möglicher Rechtfertigungsgrund für Delikte an diesen unbestellten<br />

Gegenständen<br />

6. Einwilligung und Einverständnis<br />

<br />

Ungeschriebenes, aber in grundsätzlicher Existenz unbestrittenes Institut,<br />

das<br />

• nach h.M. rechtfertigend wirkt (näher unten)<br />

• von mutmaßlicher Einwilligung und von tatbestandsausschließendem<br />

Einverständnis zu unterscheiden ist<br />

a) (Tatsächliche) Einwilligung<br />

<br />

<br />

Einordnung<br />

• gewohnheitsrechtlich anerkannt<br />

• Grundlage: Prinzip des „volenti non fit iniuria“ bzw. verfassungsrechtliches<br />

Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 I GG<br />

Wirkung:<br />

• (noch) h.M.: (bloße) rechtfertigende Wirkung an<br />

arg.:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

trotz Einwilligung bleibt Rechtsgut verletzt (also z.B. zerstörte<br />

Sache kaputt, verletzter Mensch verwundet, etc.)<br />

Einwilligung betrifft erst zweite Wertungsstufe<br />

Wortlaut des § 228 StGB (“nur dann rechtswidrig, wenn die<br />

Tat trotz der Einwilligung ... “)<br />

• a.A.: grundsätzlich tatbestandsausschließende Wirkung jeder Einwilligung<br />

an;<br />

arg:<br />

∗<br />

Verletzung mit Einwilligung ist kein Eingriff in Rechtsgut,<br />

sondern eine Unterstützung des Rechtsgutsinhabers bei Verwirklichung<br />

seiner Handlungsfähigkeit sei<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 44


∗<br />

Objekte nicht „um ihrer selbst Willen “ geschützt, sondern nur<br />

als Objekt der Dispositionsbefugnis des Berechtigten<br />

Klausurhinweis:<br />

Unterschiedliche Ergebnisse resultieren „am Ende“ aus dem Meinungsstreit<br />

nicht. Der Täter wird so oder so nicht bestraft. Auch<br />

ein Irrtum wird über die Figur des „Erlaubnistatbestandsirrtums“<br />

nach h.M. in beiden Fällen nach § 16 I 1 StGB behandelt.<br />

M.E. muss man in der Klausur deshalb auch nicht breit auf den<br />

Streit eingehen, sondern kann – evt. unter Nennung eines Arguments<br />

– der h.M. folgen, die auch hier im Folgenden zu Grunde<br />

gelegt wird (obwohl sich für die Gegenauffassung durchaus gute<br />

Gründe benennen lassen).<br />

Zuletzt kann auch bei solchen Tatbeständen nicht eingewilligt werden, bei<br />

denen der Gesetzgeber gerade vom Schutzbedürfnis des mitwirkenden<br />

Opfers ausgeht, so z.B. bei §§ 174 – 176a, 291 StGB.<br />

∗<br />

Einwilligender als Inhaber des Rechtsguts<br />

• Einwilligungssachverhalt (Einwilligung i.e.S.)<br />

∗<br />

h.M.: Erklärungstheorie, d.h. Kundgabe der Einwilligung<br />

nach außen (aber nicht notwendig als Willenserklärung gegenüber<br />

Täter)<br />

ausdrücklich oder auch konkludent<br />

vor der Tat erklärt werden, d.h. eine spätere Genehmigung ist<br />

unbeachtlich<br />

jederzeit widerruflich<br />

<br />

Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung:<br />

• Dispositionsbefugnis des Einwilligenden<br />

∗ grds. Disponibilität des geschützten Rechtsgutes [i.d.R. bei<br />

Individualrechtsgütern (+)]<br />

Bspe.: Das Sacheigentum ist Individualrechtsgut, daher kann in die Zerstörung<br />

einer Sache grundsätzlich durch den Eigentümer eingewilligt<br />

werden.<br />

Dagegen kann in eine Verletzung der Verkehrssicherheit nicht eingewilligt<br />

werden, d.h. es ist für eine Strafbarkeit nach § 316 StGB (lesen!)<br />

gleichgültig, ob der Mitfahrer damit einverstanden ist, dass der Fahrer<br />

alkoholisiert ist. Werden aber neben der Verkehrssicherheit auch Individualinteressen<br />

geschützt, wie etwa bei § 315c I Nr. 1a StGB (lesen! konkrete<br />

Gefährdung einer fremden Sache oder einer anderen Person) ist<br />

wiederum streitig, ob nicht doch eingewilligt werden kann, weil zumindest<br />

das Unrecht dieses „Teils“ entfällt, so dass dann „nur“ noch<br />

§ 316 StGB „übrig bleiben würde“.<br />

Dass selbst bei klaren Individualrechtsgüter nicht uneingeschränkt in die<br />

Verletzung eingewilligt werden kann, zeigen §§ 216 (Strafbarkeit der Tötung<br />

auf Verlangen) und 228 StGB (Strafbarkeit, wenn Tat trotz Einwilligung<br />

gegen gute Sitten verstößt).<br />

Klausurhinweis:<br />

Im Zusammenhang mit der Erklärung der Einwilligung lassen sich<br />

– insbesondere auch wegen der Rücknehmbarkeit sowie wegen der<br />

nach h.M. nicht gegenüber dem Täter erforderlichen Erklärung –<br />

diverse „Irrtumsprobleme“ bilden: Das Fehlen eines subjektiven<br />

Rechtfertigungselements (vgl. dazu allgemein oben) ebenso wie<br />

ein Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. dazu später im <strong>Skript</strong> bei der<br />

Schuld).<br />

∗<br />

• Wirksamkeit:<br />

∗<br />

a.A.: Willensrichtungstheorie<br />

Einwilligungsfähigkeit des Einwilligenden<br />

keine Geschäftsfähigkeit im zivilrechtlichen Sinne erforderlich,<br />

sondern es konkrete Einsichts- und Urteilsfähigkeit<br />

(umgekehrt mehr als allgemeine Willensbildungsfähigkeit)<br />

für Vermögensdelikte von M.M. auch zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit<br />

gefordert<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 45


∗<br />

∗<br />

∗<br />

Freiheit von wesentlichen Willensmängeln<br />

bei Drohung unwirksam, str. ist allein erforderlicher Grad (bereits<br />

bei Erfüllung des § 240 StGB [h.M.] oder erst bei<br />

mit §§ 34, 35 StGB vergleichbarer Druckausübung?)<br />

bei Täuschung<br />

– heute wohl h.M.: nicht jede Täuschung erheblich,<br />

sondern nur bei rechtsgutsbezogenem Irrtum<br />

– a.A. (früher h.M.): bei jeder Täuschung Unwirksamkeit<br />

Bsp.: Wird bei einem Blutspendenaufruf darüber getäuscht,<br />

dass es anschließend „Schlachtplatte“ gibt, da<br />

tatsächlich nur ein paar sparsam belegte Brote gereicht<br />

werden, ist dies nicht rechtsgutsbezogen, d.h. die Täuschung<br />

nach heute wohl h.M. führt nicht dazu, dass die<br />

Blutentnahme nach § 223 StGB rechtswidrig würde.<br />

Täuscht dagegen der aufklärende Operateur bewusst ü-<br />

ber naheliegende und erhebliche Risiken eines Eingriffs<br />

hinweg, wird die Einwilligung unwirksam sein, so dass<br />

die spätere Operation eine rechtswidrige Körperverletzung<br />

wird.<br />

sonstige (nicht vom Täter bewirkte) Irrtümer<br />

– e.A.: unbeachtlich<br />

– m.E. vorzugswürdig: wie bei Täuschung (aber u.U.<br />

keine Kenntnis des Täters von Unwirksamkeit)<br />

Verfügungsberechtigung (grds. Rechtsgutsinhaber)<br />

kein Verbot der Einwilligung, insbesondere kein Verstoß gegen<br />

die guten Sitten §§ 228, 216<br />

• Handeln in Kenntnis der Einwilligung<br />

b) Mutmaßliche Einwilligung<br />

<br />

Zwei Konstellationen, in denen auch ohne Äußerung der Einwilligung<br />

für Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass Rechtsgutsträger<br />

mit formal rechtsgutsberührender Handlung einverstanden ist:<br />

Handeln im fremden Interesse<br />

z.B.: Lebensrettende Operation bei<br />

einem Bewusstlosen<br />

Vorauss.: Handlung entspricht dem<br />

mutmaßlichen Willen, wobei (bekannter)<br />

entgegenstehender Wille<br />

nicht durch objektive Vernünftigkeit<br />

ersetzt werden kann. Wenn aber keine<br />

anderen Anhaltspunkte für mutmaßlichen<br />

Willen vorliegen, kann<br />

dieser aus dem objektiven Interesse<br />

abgeleitet werden.<br />

Handeln bei mangelndem Interesse<br />

z.B.: „Geldwechseln“ aus der offenen<br />

Kasse eines guten Freundes<br />

Vorauss.: Nur geringfügige oder<br />

ganz kurzzeitige Beeinträchtigungen<br />

geschützter Güter, so dass davon<br />

auszugehen ist, dass Berechtigter<br />

keine Einwände gegen die Handlung<br />

hätte.<br />

Aber: Auch zu erwartende “unvernünftige”<br />

Einwände sind beachtlich.<br />

Sonstige Grenzen wie bei der tatsächlichen Einwilligung: Dispositionsbefugnis,<br />

Einwilligungsfähigkeit, Grenze der §§216, 228 StGB.<br />

Für beide Fälle gilt: Die mutmaßliche Einwilligung ist subsidiär, d.h.<br />

– nicht erforderlich, wo tatsächlich eingewilligt wurde<br />

– unanwendbar, wenn entgegenstehender Wille bekannt ist<br />

– unwendbar, wo Einwilligung eingeholt werden könnte (zw. für<br />

Fälle mangelnden Interesses)<br />

Rechtsfolge: Rechtfertigung (wobei Fälle des mangelnden Interesse u.U.<br />

auch schon durch restriktive Auslegung des Tatbestandes ausgeschieden<br />

werden können)<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 46


c) Tatbestandsausschließendes Einverständnis<br />

<br />

<br />

Von rechtfertigender Einwilligung nach h.M. zu unterscheiden<br />

tatbestandsausschließende Wirkung bei Delikten, bei denen Tatbestand<br />

bereits begrifflich zwingend voraussetzt, dass gegen oder ohne<br />

Willen des Berechtigten gehandelt wird<br />

Bsp.: Auch eine Sachbeschädigung wird regelmäßig gegen den Willen des Betroffenen<br />

erfolgen – wenn er aber ausnahmsweise einmal damit „einverstanden“<br />

ist, ändert dies nichts daran, dass die Sache „kaputt“ und damit der objektive<br />

Tatbestand erfüllt ist.<br />

Dagegen setzen Tathandlungen wie das „Eindringen“ (beim Hausfriedensbruch,<br />

§ 123 StGB), das „Nötigen“ (vgl. § 240 StGB) oder die Wegnehmen<br />

(das als Gewahrsamsbruch definiert wird, vgl. § 242 StGB) begrifflich voraus,<br />

dass der Rechtsgutsträger nicht einverstanden ist.<br />

Von Einwilligung abweichende Voraussetzungen:<br />

• nach h.M. keine Erklärung des Einverständnisses erforderlich, sondern<br />

tatsächliches Vorliegen ausreichend<br />

• natürliche Willensfähigkeit ausreichend (keine Einsichtsfähigkeit/Verstandesreife<br />

erforderlich)<br />

Bsp.: D.h. es liegt auch keine Wegnahme i.S.d. § 242 StGB vor, wenn ein<br />

6-jähriges Kind gebeten wird, ob es dem Täter seinen Ball gibt, und dies<br />

gerne tut.<br />

• Willensmängel grundsätzlich unbeachtlich<br />

Bsp.: Auch wenn der Täter nur auf Grund der Täuschung, der Kaminkehrer<br />

zu sein, in die Wohnung gebeten wird, begeht er keinen Hausfriedensbruch.<br />

Beachte aber als Gegenbeispiel: Wenn (auch in Fällen der Täuschung)<br />

das Opfer nicht irrtumsbedingt „einverstanden“ ist, sondern sich nur<br />

„der sonst drohenden Gewalt widerwillig beugt“, liegt kein Einverständnis<br />

vor. So etwa, wenn der Täter unter Vortäuschung, als Polizist eine<br />

Haudurchsuchung durchzuführen, in die Wohnung drängt und das Opfer<br />

ihn nur gewähren lässt, ohne deswegen mit dem Vorgehen „einverstanden“<br />

zu sein.<br />

Klausurhinweise:<br />

Aufbaumäßig sollte das Problem des Einverständnisses immer bei<br />

dem Tatbestandsmerkmal geprüft werden, das ein Handeln gegen<br />

den Willen des Opfers voraussetzt.<br />

Nimmt der Täter irrig ein Einverständnis an, so führt dies zu einem<br />

vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum nach § 16 I 1 StGB<br />

(und nicht „nur“ zu einem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum, vgl.<br />

dazu näher später).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 47


7. Festnahmerecht nach § 127 I StPO<br />

§ 127 I StPO: 47 Vorläufige Festnahme<br />

(1) Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der<br />

Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden<br />

kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig<br />

festzunehmen.<br />

<br />

<br />

Betroffenwerden auf frischer Tat<br />

• e.A.: dringender Tatverdacht genügt;<br />

arg.:<br />

∗<br />

∗<br />

auch sonst im Prozessrecht oft ausreichend<br />

Schutz des „Helfers“ vor Strafbarkeitsrisiko<br />

• a.A.: Tat muss tatsächlich begangen worden sein<br />

arg.:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Wortlaut<br />

keine unzumutbare Freiheitsbeeinträchtigung für „Nicht-<br />

Täter“<br />

„Risikoverteilung“ für Festhaltenden noch zumutbar, da Fehlvorstellung,<br />

eine Tat liege vor, über Irrtumsregeln (vgl. dazu<br />

später im <strong>Skript</strong>) angemessen berücksichtigt werden kann<br />

Rechtsfolge des § 127 I StPO: Festnahmerecht<br />

• Recht zum Festhalten ( Nötigung oder Freiheitsberaubung gerechtfertigt)<br />

• grds. kein Recht zu weitergehenden körperlichen Eingriffen<br />

• aber weitergehende Eingriffe u.U. nach § 32 StGB gerechtfertigt,<br />

wenn Festgehaltener sich wehrt und dabei (wegen § 127 StPO sei-<br />

nerseits nicht Notwehr üben kann und daher) rechtswidrig handelt<br />

[ Erfordernis einer „Schachtelprüfung“ der Rechtfertigungsgründe]<br />

8. Das Züchtigungsrecht<br />

<br />

<br />

Nach früher verbreiteter Ansicht auf Grundlage von Art. 6 II GG,<br />

§§ 1626 I, 1626a I, 1631 BGB a.F. elterliches Erziehungs- und Züchtigungsrecht<br />

angenommen, wenn<br />

• objektiv hinreichender Züchtigungsanlass vorliegt,<br />

• Züchtigung maßvoll ist,<br />

• angemessenes Verhältnis von Art und Maß der Züchtigung zu Verfehlung<br />

und Lebensalter des Kindes besteht, und<br />

• Handlung subjektiv von Erziehungswillen getragen ist.<br />

Zwei wichtige Gesetzesänderungen:<br />

• 1998: Änderung des § 1631 II BGB dahingehend, dass jede körperliche<br />

Misshandlung verboten wurde<br />

was zivilrechtlich ausdrücklich verboten ist, kann kaum gerechtfertigt<br />

sein; allerdings z.T. ähnliches Ergebnis über einschränkende<br />

Auslegung des Merkmals der „Misshandlung“ in §§ 223 I StGB,<br />

1631 II BGB<br />

• Ende 2000: Verbot jeder „körperlichen Bestrafung“:<br />

§ 1631 II BGB i.d.F. vom 2. November 2000<br />

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung,<br />

seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.<br />

∗<br />

Konsequenzen noch nicht wirklich absehbar<br />

47 § 127 II StPO enthält dagegen eine Befugnisnorm für die Polizei.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 48


∗<br />

∗<br />

möglicherweise trotz § 1631 II BGB einschränkende Auslegung<br />

des § 223 StGB unter Gesichtspunkten der sozialen Adäquanz<br />

und der Geringfügigkeit<br />

außerdem natürlich „nicht-körperliche“ Strafen (Einsperren<br />

im Kinderzimmer [§ 239 StGB?] davon unberührt<br />

Züchtigungsrecht des Lehrers von heute h.M. abgelehnt.<br />

− Zacharias, Jura 1994, 207 ff.<br />

Vertiefende Hinweise:<br />

a) Lesenswerte Entscheidungen<br />

− BGH NJW 1979, 2053 (Dauergefahr als gegenwärtige Gefahr)<br />

− BGHSt 42, 97 (sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts)<br />

b) Aufsätze und Entscheidungsbesprechungen<br />

− Alwart, Zum Begriff der Notwehr, JuS 1996, 953 ff.<br />

− Duttge, Der Streit um die Gänsebrust – Selbsthilfe im Strafrecht, Jura<br />

1993, 416 ff.<br />

− Kühl, Notwehr und Nothilfe, JuS 1993, 177 ff.<br />

− Kühl, Sozialethische Einschränkungen der Notwehr, Jura 1990, 244 ff.;<br />

1991, 57 ff.; 157 ff.<br />

− Mitsch, Festnahme mit Todesfolge JuS 2000, 848 ff. (zu § 127 StPO)<br />

− Pawlik, Der Defensivnotstand, Jura 2002, 26 ff.<br />

− Rönnau, Die Einwilligung als Instrument der Freiheitsbetätigung -Zum<br />

Grundgedanken und Wirkung der Einwilligung im Strafrecht, Jura 2002,<br />

595 ff.<br />

− ders., Voraussetzungen und Grenzen der Einwilligung im Strafrecht,<br />

Jura 2002, 665 ff.<br />

c) Übungsfälle<br />

− Britz/Brück, JuS 1996, 229 ff.<br />

− Britz, JuS 2002, 465 ff.<br />

− Kudlich, JuS 1999, L 85 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 49


1. Einführung und Überblick<br />

<br />

<br />

V. Die Schuld<br />

Schuld nach Verbrechensaufbau der h.M. als dritte Wertungsstufe nach<br />

Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit<br />

Unwerturteil über den Täter, d.h. rechtswidrige Tat wird ihm auch persönlich<br />

vorgeworfen.<br />

Inhalt des Schuldbegriffs Gegenstand erheblicher Wandlungen war der<br />

Geschichte<br />

19. Jahrhundert: Schuld als psychologischer Begriff bezeichnet subjektive<br />

Elemente (d.h. beim Vorsatzdelikt insbesondere den Vorsatz),<br />

während Unrecht rein objektiv bestimmt wird<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts: Entwicklung des komplexen Schuldbegriffs<br />

(Vorsatz und Vorwerfbarkeit)<br />

Wegbereiter zum heute herrschenden normativen Schuldbegriff: (Frage<br />

nach „persönlicher Vorwerfbarkeit“)<br />

Moderne Ansätze: noch stärkere Anlehnung an präventive Funktion des<br />

Strafrechts<br />

schuldausschließend wirkt, was präventive Bestrafungsnotwendigkeit<br />

entfallen lässt<br />

• Bsp.: Der Entschuldigungsgrund des § 35 StGB (vgl. näher unten)<br />

greift ein, wenn der Täter einen anderen Menschen tötet, um sein Leben<br />

zu retten, auch ohne dass dieser den Täter angegriffen hat. Beispiel wäre<br />

der bekannte Fall des „Brett des Karneades“. Hier könnte man nun mit<br />

dem herrschenden, normativen Schuldbegriff darauf abstellen, dass in<br />

dieser extremen Situation das rechtswidrige Handeln dem Täter nicht<br />

persönlich zum Vorwurf gemacht werden soll. Ein auf den Präventionszweck<br />

abstellender Schuldbegriff würde argumentieren, dass zum einen<br />

ein Täter in einer solchen Extremposition durch strafrechtliche Verbote<br />

ohnehin kaum „ansprechbar“ ist;, zum anderen brauche er aber auch für<br />

die Zukunft gar nicht angesprochen werden, da aus der Bereitschaft zum<br />

rechtswidrigen Handeln in dieser Extremposition noch nicht der Schluss<br />

gezogen werden kann, dass dieser Täter auch in anderen Situationen so<br />

handeln würde.<br />

Vielzahl von (mehr oder weniger heterogenen) Gründen, aus denen die<br />

Schuld ausgeschlossen sein kann; grob unterteilbar in Fälle 48<br />

fehlender Schuldfähigkeit (vgl. §§ 19, 20 StGB; 3 StGB)<br />

v.a. alter- oder krankheitsbedingt: Täter ist nicht in der Lage sein<br />

Verhalten so zu steuern, dass es ihm persönlich vorgeworfen werden<br />

könnte<br />

fehlenden Unrechtsbewusstseins (vgl. insb. § 17 StGB)<br />

Irrtum, der dazu führt, dass Täter das Unrecht seines Handelns nicht<br />

erkennt<br />

der Entschuldigungsgründe (vgl. insb. §§ 33, 35 StGB)<br />

Fälle, in denen wegen Unrechtsminderung und außergewöhnlichen<br />

Motivationsdrucks dem Täter rechtswidriges Handeln nicht vorgeworfen<br />

werden kann<br />

•<br />

• Klausurhinweis:<br />

• Machen Sie sich insbesondere zu den Entschuldigungsgründen<br />

zwei weitere Konsequenzen bewusst, die davon abhängen,<br />

ob der Täter in einer bestimmten Situation (erst) entschuldigt oder<br />

(schon) gerechtfertigt ist:<br />

Gegen den gerechtfertigt handelnden Täter ist keine Notwehr<br />

möglich, weil er keinen rechtswidrigen Angriff verübt; gegen<br />

den nur entschuldigten Täter ist nach h.M. zumindest grds.<br />

Notwehr zulässig (wenngleich evt. nur abgestuft).<br />

An der nur entschuldigten Tat ist eine Teilnahme nach §§ 26,<br />

27 StGB möglich (lesen!), da diese nur eine vorsätzliche<br />

rechtswidrige, nicht aber eine schuldhafte Tat verlangen (vgl.<br />

auch § 29 StGB, sog. „limitierte Akzessorietät der Teilnahme“).<br />

Die Beteiligung an einer gerechtfertigten Tat ist straflos,<br />

wenn nicht eine mittelbare Täterschaft begründet werden kann.<br />

48 Dabei werden die beiden ersten Gruppen (fehlende Schuldfähigkeit und fehlendes Unrechtsbewusstsein)<br />

im Unterschied zu den Entschuldigungsgründen auch als Schuldausschließungsgründe<br />

bezeichnet.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 50


•<br />

<br />

Ohne Vorliegen von Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründen<br />

grds. „schuldhaftes Handeln“ unterstellt<br />

Rechtssystem arbeitet mit (der Lebenserfahrung entsprechender und<br />

für das Funktionieren des Rechts unabdingbarer) Prämisse des zumindest<br />

partiellen Indeterminismus<br />

2. Die Schuldfähigkeit<br />

a) Schuldunfähigkeit auf Grund mangelnder Reife<br />

„Unterstellung“ der Schuldfähigkeit (vgl. o.) erst ab einem Alter von 18<br />

Jahren<br />

drei verschiedene Altersstufen: 49<br />

Kinder, § 19 StGB: schuldunfähig, wer „bei Begehung der Tat noch nicht<br />

vierzehn Jahre alt ist.“<br />

Jugendliche, § 3 S.1 Jugendgerichtsgesetz (JGG): Jugendliche (d.h. nach<br />

§ 1 II JGG Personen zwischen 14 und 18 Jahren) nur strafrechtlich<br />

verantwortlich, wenn Täter „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen<br />

und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen<br />

und nach dieser Einsicht zu handeln.“<br />

Schuldfähigkeit also nicht grds. unterstellt, sondern in jedem Fall<br />

positiv festzustellen<br />

Heranwachsende (vgl. § 1 II JGG 50 ) und Erwachsene: Schuldfähigkeit unterstellt,<br />

wenn kein Schuldausschließungsgrund nach § 20 StGB vorliegt<br />

b) Psychische Störungen (§§ 20, 21 StGB)<br />

<br />

Ausschluss der Schuldfähigkeit auf Grund von psychischen Störungen,<br />

§ 20 StGB<br />

verschiedene exogene und endogene (d.h. von außen herrührende – z.B.<br />

Folgen eines Unfalles mit Schädel-Hrin-Trauma – oder von innen<br />

herrührende) Ursachen genannt<br />

Fallgruppen: krankhafte seelische Störungen, tiefgreifende Bewusstseinsstörungen,<br />

Schwachsinn und schwere seelische Abartigkeiten<br />

Abgrenzung im Einzelnen praktisch schwierig<br />

Schuldausschluss setzt voraus, dass Täter entweder das Unrecht seiner<br />

Tat nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann (Unterscheidung<br />

zwischen mangelnder Einsichts- und mangelnder Steuerungsfähigkeit;<br />

gemischt biologisch-psychologische Methode)<br />

Detailkenntnisse für Ausbildung und Prüfung nicht erforderlich (und in<br />

Praxis regelmäßig von Sachverständigen beurteilt<br />

Rechtsfolge:<br />

wird in § 20 StGB gefordertes Maß erreicht, Schuldunfähigkeit des Täters<br />

keine Strafbarkeit (allerdings u.U. Maßregeln der Sicherung)<br />

bei Verminderung der Schuld unterhalb dieser Schwelle, Strafbarkeit, a-<br />

ber Strafmilderung nach § 21 StGB i.V.m. § 49 StGB möglich<br />

•<br />

49 Für sehr alte Menschen fehlt eine dem JGG vergleichbare Sonderregelung, obwohl auch<br />

hier altersbedingte Beeinträchtigungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit öfters auftreten<br />

dürften als bei Erwachsenen mittleren Alters. Allerdings ist dies ein rein praktisches bzw.<br />

rechtspolitisches Problem: In der Klausur wird man es kaum einmal mit einem Fall zu tun<br />

bekommen, in dem man über die Schuldfähigkeit eines alten Menschen ohne ganz klare<br />

Anhaltspunkte spekulieren müsste.<br />

50 Selbst soweit auf Heranwachsende nach § 105 JGG Jugendstrafrecht angewandt wird, wird<br />

nicht § 3 JGG herangezogen, der in § 105 JGG gerade nicht erwähnt ist. M.a.W.: bei einem<br />

Heranwachsenden ist die Reife nie nach § 3 JGG positiv festzustellen, sondern er wird insoweit<br />

stets einem Erwachsenen gleichgestellt.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 51


Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 46<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit<br />

bei psychischen Störungen<br />

Krankhafte<br />

seelische<br />

Störungen<br />

Tiefgreifende<br />

Bewusstseinsstörungen<br />

führt zu<br />

Schwachsinn<br />

o Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen<br />

oder<br />

o Unfähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln<br />

Schwere<br />

seelische<br />

Abartigkeit<br />

<br />

Dankbare Folgeprobleme in der Klausur<br />

Strafbarkeit i.V.m. den Grundsätzen über die actio libera in causa (a.l.i.c.,<br />

vgl. dazu sogleich c)<br />

• Bsp.: A möchte O erschießen, verspürt aber gewissen Hemmungen.<br />

Um diese zu überwinden, „trinkt er sich Mut an“, um dann im<br />

schuldunfähigen Zustand zur Tat zu schreiten<br />

Strafbarkeit nach § 323a StGB,<br />

d.h. für das Betrinken als solches, wenn als objektive Bedingung der<br />

Strafbarkeit hinzukommt, dass der Täter im schuldunfähigen Zustand<br />

eine Straftat begeht, deretwegen er nur auf Grund der mangelnden<br />

Schuldfähigkeit nicht bestraft werden kann<br />

Strafbarkeit eines Hintermannes wegen Begehung der Tat in mittelbarer<br />

Täterschaft (schuldunfähiges „Werkzeug“ als sog. Tatmittler)<br />

•<br />

Gemischt biologisch-psychologische Methode<br />

Faustregel: Steuerungsverminderungen müssen<br />

„Krankheitswert“ haben<br />

•<br />

Sonderproblem: Schuldunfähigkeit infolge Alkoholgenusses / anderer Drogen<br />

<br />

Rauschzustände (durch Alkohol oder andere Rauschmittel) als tiefgreifende<br />

Bewusstseinsstörungen bzw. krankhafte seelische Störungen i.S.v.<br />

§§ 20, 21 StGB möglich<br />

„Grenzwerte“ (nicht schematisch anzuwenden, sondern nur Anhaltspunkt<br />

für den Regelfall!):<br />

§ 20 StGB: ca. ab 3 ‰ (bei schweren Straftaten eher höher)<br />

§ 21 StGB: ca. ab 2,0 ‰ (bei schweren Straftaten 2,2 ‰)<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 52


c) Die sogenannte actio libera in causa<br />

• aa) Ausgangspunkt und Überblick<br />

<br />

<br />

Straflosigkeit des Schuldunfähigen zumindest dann als „unbefriedigend“<br />

empfunden, wenn Täter sich bewusst in schuldunfähigen Zustand versetzt<br />

hat, um in diesem eine Straftat zu begehen<br />

Vgl. nochmals das Beispiel oben, in dem A sich „Mut antrinkt“, um dann im schuldunfähigen<br />

Zustand O zu erschießen.<br />

Entwicklung der Figur der „actio libera in causa“ (a.l.i.c. = Handlung, die<br />

in ihrem eigentlichen Grund [d.h. hier dem vorangehenden Sichberauschen]<br />

frei [d.h. nicht durch die Schuldunfähigkeit beeinflusst] ist) entwickelt<br />

Voraussetzungen:<br />

Vorsatz sowohl hinsichtlich des Sichberauschens als auch hinsichtlich der<br />

späteren Tat vorsätzliche a.l.i.c., Strafbarkeit wegen Vorsatzdelikts<br />

Zumindest Fahrlässigkeit hinsichtlich des Sichberauschens und der späteren<br />

Tat (aber eben nicht hinsichtlich beider vorsätzlich) fahrlässige<br />

a.l.i.c., Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeitsdelikts<br />

• •<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 48<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

Die actio libera in causa<br />

- Überblick -<br />

Ausgangspunkt: Mehraktiges Geschehen, bei dem der schuldfähige Täter in<br />

der ersten Phase eine Ursache (z.B. sich Betrinken) für die eigentliche<br />

Tathandlung setzt, die er dann in der zweiten Phase im Zustand der<br />

Schuldunfähigkeit ausführt.<br />

1. HA<br />

2. HA<br />

Unterscheide<br />

•Vorsätzliche a.l.i.c.: Vorsatz hinsichtlich Berauschen und<br />

Rauschtat<br />

•Fahrlässige a.l.i.c.: Hinsichtlich Betrinken und/oder Rauschtat<br />

liegt nur Fahrlässigkeit vor<br />

•<br />

• bb) Modelle zur Begründung der vorsätzlichen a.l.i.c.<br />

Unbestritten gewisser „Gerechtigkeitsgehalt“ der Grundsätze zur a.l.i.c.,<br />

aber in Begründung problematisch, da unmittelbare Tatbestandsverwirklichung<br />

und Schuldfähigkeit auseinander fallen<br />

Durchbrechung des Koinzidenzprinzips<br />

•<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 53


Koinzidenzgrundsatz und Begründung der Ausnahme bei der a.l.i.c.<br />

•<br />

• Modell der grundsätzlich Problemsituation bei<br />

• erforderlichen Koinzidenz: der a.l.i.c.<br />

• Schuldfähigkeit<br />

•<br />

•<br />

•<br />

• Tatbegehung<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Ausnahmemodell: a.l.i.c. als ungeschriebene, gewohnheitsrechtlich anerkannte<br />

Ausnahme zu § 20 StGB<br />

Kritik: mit Art. 103 II GG kaum vereinbar<br />

•<br />

• Schuldfähigkeit<br />

•<br />

•<br />

•<br />

• Tatbegehung<br />

•<br />

Schuldfähigkeit<br />

Schuldfähigkeit<br />

Betrinken Tatbegehung<br />

Vorverlegungstheorie (= Ausdehnungsmodell): auch Vorbereitungshandlungen<br />

bereits als Teil der „Tatbegehung“ i.S. des § 20 StGB und damit<br />

auch Versetzen in den Rausch erfasst<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 54


Kritik: warum sollte „Begehung der Tat“ in § 20 StGB abweichend<br />

von §§ 8, 16, 17 StGB zu verstehen sein?<br />

• Schuldfähigkeit<br />

•<br />

•<br />

• Vorbereitungshandlung als Teil<br />

der Tatbegehung<br />

• Klausurhinweis:<br />

• Würde man trotz dieser Bedenken einem der beiden erstgenannten<br />

Modelle folgen, müsste man die a.l.i.c. im Aufbau jeweils<br />

als „Annex“ zur Schuld prüfen und begründen, weswegen<br />

man eine Ausnahme von § 20 StGB bzw. eine dort abweichende<br />

Auslegung des Terminus „bei Begehung der Tat“ für angemessen<br />

hält. Auch wenn man die a.l.i.c. (generell oder nach einem dieser<br />

beiden Modelle) ablehnt, ist der Annex zur Schuld der Ort, an dem<br />

die a.l.i.c. das erste Mal in der Klausur anzusprechen ist.<br />

•<br />

•<br />

a.l.i.c. als Sonderfall der mittelbaren Täterschaft. Sichberauschen als Einwirkung<br />

auf sich selbst als später schuldlos handelndes Tatwerkzeug.<br />

Kritik: Bedenken mit Blick auf Art. 103 II GG, da Wortlaut des<br />

§ 25 I Alt. 2 StGB („durch einen anderen“) Nichtidentität von Tatmittler<br />

und Werkzeug voraussetzt; konsequenterweise keine tragfähige<br />

Begründung für a.l.i.c. bei eigenhändigen Delikten<br />

• Schuldfähigkeit<br />

•<br />

•<br />

•<br />

• Sichberauschen =<br />

Tatbegehung<br />

• Einsatz eines Werkzeugs<br />

durch Werkzeug<br />

•<br />

•<br />

Tatbestandlösung: Sich-Berauschen als Ingangsetzen der Kausalkette, an<br />

deren Ende Erfolg steht, und damit als erster Teil der Tathandlung<br />

Kritik: zwar mit Gesetzeswortlaut vereinbar, aber gewisse Friktionen<br />

mit sonst geltenden Grundsätzen der Tatbestandslehre, wonach<br />

Tathandlung sonst i.d.R. unmittelbare Verletzungshandlung ist; ferner<br />

konsequenterweise auf schlichte Tätigkeitsdelikte nicht anwendbar<br />

Beachte: Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten Tatbestandslösung möglich,<br />

aber auch über allgemeine Grundsätze der Fahrlässigkeitsdogmatik<br />

begründbar, wonach dort jedes kausale und pflichtwidrige Handeln<br />

als Tathandlung genügt<br />

• Schuldfähigkeit<br />

•<br />

•<br />

•<br />

• Sichberauschen =<br />

„unmittelbare“<br />

• erster Akt einer Kausalkette<br />

Tatbegehung<br />

•<br />

• Klausurhinweis:<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 55


• Folgt man einem der beiden letztgenannten Modelle,<br />

müsste die Prüfung unter einer neuen Überschrift mit einem neuen<br />

Bezugspunkt (= das Sichbetrinken) nochmals neu begonnen werden<br />

(wobei man natürlich hinsichtlich all der Punkte, die oben<br />

dann schon behandelt wurden, vielfach verweisen kann).<br />

•<br />

•<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 52<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

• Eine wirklich saubere Diskussion des a.l.i.c.-Problems<br />

würde also grob beschrieben so aussehen (wobei als Bsp.<br />

§ 212 StGB gewählt und davon ausgegangen wird, dass – allenfalls<br />

– die Tatbestandslösung tragfähig ist):<br />

• 1. § 212 StGB durch den Schuss<br />

TB (+)<br />

RW (+)<br />

Schuld: § 20 an sich (-), aber evt. unbeachtlich, wenn über<br />

Figur der a.l.i.c.<br />

•<br />

•<br />

Ausdehnungsmodell<br />

straflose<br />

Vorbereitung<br />

- Zusammenfassung -<br />

Für die Schuldfähigkeit “ bei Begehung der Tat” gem.<br />

§ 20 StGB ist als Bezugspunkt ausreichend<br />

Tatbestandsmodell und<br />

Modell der mittelbaren.<br />

Täterschaft<br />

Versuch<br />

Vollendung<br />

Ausnahmemodell<br />

Beendigung<br />

Mit Blick auf Art. 103 II GG erscheint allein die Tatbestandslösung mit<br />

§ 20 StGB vereinbar. Auch Sie ist zwar nicht frei von Bedenken, kann<br />

aber bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten in der Klausur durchaus<br />

herangezogen werden<br />

Bei schlichten Tätigkeitsdelikten ist eine a.l.i.c. nicht begründbar<br />

Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten ist eine a.l.i.c. nicht erforderlich<br />

• * Ausnahme von § 20 StGB: (-), Art. 103 II GG<br />

• * Schuldfähigkeit z.Z. der Vorbereitung genügt: (-),<br />

einheitliche Auslegung in §§ 16, 17, 20 StGB<br />

•<br />

• 2. § 212 (i.V.m. § 25 I Alt. 2 StGB) durch das Sichbetrinken<br />

TB: Sichbetrinken als Tathandlung<br />

• * als Einwirken auf mittelbaren Täter: (-), § 25 I<br />

Alt. 2 StGB verlangt „anderen“<br />

• * als erster Akt in Kausalkette: möglich, wenn übrige<br />

Voraussetzungen vorliegen<br />

• Gerade weil als Tathandlung dann ein so weit „vorne“<br />

liegender Akt untersucht wird, sind im Folgenden die Punkte „objektive<br />

Zurechnung“ zu diesem 1. Akt und „Irrtum über den Kausalverlauf“<br />

besonders streng zu prüfen, wenn es zu Abweichungen<br />

vom vorgestellten Kausalverlauf kommt.<br />

•<br />

• Klausurhinweis:<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 56


• Vertiefende Hinweise:<br />

• a) Lesenswerte Entscheidungen<br />

− BGHSt 42, 235 (Leitentscheidung zur neueren Rechtsprechung zur<br />

a.l.i.c.)<br />

• b) Aufsätze<br />

− Jerouscheck, Die Rechtsfigur der actio libera in causa: Allgemeines Zurechnungsprinzip<br />

oder verfassungswidrige Strafbarkeitskonstruktion?<br />

JuS 1997, 385 ff. (Stand noch vor BGHSt 42, 235!)<br />

− Kudlich/Spielbauer, Alkohol, a.l.i.c. und andere kleine Sünden,<br />

L&L 1998, 52 ff.<br />

− Otto, BGHSt 42, 235 und die actio libera in causa, Jura 1999, 217 ff.<br />

− Rönnau, Grundstruktur und Erscheinungsformen der actio libera in causa,<br />

JA 1997, 599 ff.<br />

− ders.: Dogmatisch-konstruktive Lösungsmodelle zur actio libera in causa,<br />

JA 1997, 707 ff.<br />

• c) Fälle mit Schwerpunkten bei der a.l.i.c.<br />

− Bohnert, Jura 1996, 38 ff. (Stand noch vor BGHSt 42, 235!)<br />

Spezifische Probleme des Unrechtsbewusstseins, wenn Täter (zwar alle<br />

tatsächlichen Umstände erkennt, aber) auf Grund einer falschen rechtlichen Bewertung<br />

nicht weiß, dass er Unrecht tut<br />

fehlendes Unrechtsbewusstsein und Abgrenzungsfragen eng mit Irrtumslehre<br />

verbunden: vgl. Darstellung später / weiter unten in Vorlesung<br />

/<strong>Skript</strong><br />

•<br />

3. Das Unrechtsbewusstsein<br />

<br />

<br />

Möglicher Schuldausschließungsgrund bei fehlendem Unrechtsbewusstsein<br />

( Unrechtsbewusstsein nicht als notwendige Voraussetzung des<br />

[Tatbestands-] Vorsatzes<br />

Beachte: Natürlich fehlt die Schuld letztlich „auch“, wenn der Täter schon tatsächlich nicht vollständig<br />

erfasst, was er tut, und daher vorsatzlos handelt. Man denke an den Beispielsfall, in<br />

dem jemand Schießübungen auf eine Regentonne macht, ohne zu wissen, dass sich ein Kind darin<br />

versteckt. Natürlich hat er in diesem Moment – weil er nicht damit rechnet, jemanden zu verletzen<br />

– auch kein Unrechtsbewusstsein; aber in der Prüfung anhand des Schemas kommt man<br />

zu dieser Frage nicht, weil der Täter schon i.S.d. § 16 I 1 StGB Umstände nicht kennt, die<br />

zum Tatbestand gehören („Töten eines Menschen“) und somit nicht mit Tötungsvorsatz handelt.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 57


4. Der entschuldigende Notstand<br />

<br />

Anders als bei Schuldunfähigkeit oder fehlendem Unrechtsbewusstsein<br />

Grund für Schuldausschluss weniger in Person bzw. inneren Einstellung<br />

des Täters, sondern (ähnlich wie bei Rechtfertigungsgründen) in äußeren<br />

Umständen wurzelnd<br />

a) Einordnung und Abgrenzung<br />

<br />

„Sachgründe“ für Ausschluss der Schuld:<br />

Unrecht der Tat (zwar nicht ausgeschlossen, aber) gemindert, da hochrangiges<br />

Erhaltungsgut gerettet wird<br />

Schuld gemindert, weil Täter angesichts existentieller Bedrohung in besonderen<br />

Konfliktlage ist 51<br />

b) Notstandslage<br />

<br />

Notstandsfähige Rechtsgüter nach § 35 StGB:<br />

nur abschließend aufgezählte hochstehende Rechtsgüter<br />

Leben<br />

Leib (d.h. die körperliche Unversehrtheit, wobei gewisse Erheblichkeitsschwelle<br />

erreicht sein muss)<br />

Freiheit (nach h.M. nur körperliche Fortbewegungsfreiheit)<br />

nur Rechtsgüter des Täters selbst oder der in § 35 StGB genannten Sympathiepersonen<br />

(Angehörige [legaldefiniert in § 11 I Nr. 1a StGB – lesen!]<br />

und andere dem Täter nahestehende Personen)<br />

anders als bei § 34 StGB keine uneingeschränkte Notstandshilfe!<br />

• Bsp. für sonstige nahestehende Personen sind etwa der nichteheliche<br />

Lebenspartner52 oder ein sonstiger in häuslicher Gemeinschaft le-<br />

51 Auch für den Täter in der Situation des § 35 StGB fehlt es außerdem – wie einleitend zur<br />

Schuld bereits erläutert – an der „präventiven Bestrafungsnotwendigkeit“ (was entscheidend<br />

ist, wenn man mit modernen Ansätzen den Schuldbegriff in funktionaler Weise für die präventiven<br />

Strafzwecke versteht): Wer in einer unter § 35 StGB subsumierbaren Situation<br />

Unrecht tut, muss dies nicht zwangsläufig auch unter normalen Umständen tun. Seine Bestrafung<br />

zu Präventionszwecken ist daher nicht unverzichtbar.<br />

<br />

bender53 enger Bekannter; nicht ohne Weiteres alle “guten Freunde“;<br />

regelmäßig nicht einfache Arbeitskollegen.<br />

Gegenwärtige Gefahr<br />

Begriff ähnlich wie in § 34 StGB, d.h. objektives ex-ante-Urteil<br />

ebenso wie bei § 34 StGB auch Dauergefahr ausreichend<br />

c) Notstandshandlung<br />

<br />

<br />

Erforderlichkeit der Rettungshandlung („nicht anders abwendbar”)<br />

geeignetes und relativ mildestes Mittels<br />

gewisse Risiken beim Einsatz zumutbar, da immerhin in nicht notwendig<br />

„überwogene“ Güter eines nicht für die Gefahr Verantwortlichen<br />

eingegriffen werden darf<br />

das Fehlen von Gefahrtragungspflichten nach § 35 I 2 StGB, insbesondere aus<br />

Verursachung der Gefahr durch den Täter 54 (ohne zureichenden Grund)<br />

• Im „Brett des Karneades“-Fall hat der Schiffsbrüchige, der den<br />

anderen von der Planke stoßen möchte, das Kentern des Schiffes durch<br />

ein unnötiges und riskantes Manöver selbst herbeigeführt.<br />

(institutionelle) Gefahrtragungspflicht des Täters, z.B.<br />

beruflich (Polizisten, Feuerwehrleuten)<br />

gesetzliche Duldungspflichten (z.B. gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen<br />

nach der StPO, auch wenn man nicht tatsächlich<br />

schuldig, sondern nur verdächtig ist)<br />

Vorliegen einer Obhutsgarantenstellung (z.B. der eines Kindermädchens<br />

gegenüber dem betreuten Kind)<br />

52 Beachte: der eingetragene Lebenspartner einer homosexuellen Beziehung ist seit 2001<br />

bereits von der Legaldefinition des § 11 I Nr. 1a StGB erfasst.<br />

53 Darauf etwa abstellend Lackner/Kühl, § 35 Rn. 4.<br />

54 In den Fällen zulässiger Notstandshilfe ist umstritten, ob es auf die Gefahrschaffung durch<br />

den Täter oder durch den Nothilfebegünstigten ankommt. M.E. müssten beide Fälle zur Anwendung<br />

von § 35 I 2 StGB führen, wenn man voraussetzt, dass die Entschuldigung nur<br />

durch die Kombination aus Schutz des hochrangigen Gutes und der besonderen Motivationslage<br />

des Täters legitimiert wird. Denn im einen Fall ist das Gut des Nothilfebegünstigten, der<br />

die Gefahr verursacht hat, weniger schutzwürdig; im anderen Fall die Motivation des Notstandshelfers,<br />

der sie verursacht hat, weniger beachtlich.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 58


krasser Disproportionalität („Unangemessenheit“, v.a. vorstellbar, wenn<br />

„nur“ Freiheit oder körperliche Unversehrtheit in nicht zu schwerwiegendem<br />

Maße betroffen sind)<br />

„subjektives Entschuldigungselement“: Kenntnis von entschuldigenden Umständen<br />

(sowie – str. –Handeln zumindest auch in Rettungsabsicht, welches<br />

freilich bei dieser Kenntnis praktisch immer vorliegen wird)<br />

Zusammenfassender Überblick: Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei<br />

rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand<br />

•<br />

•<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 55<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

Notstandslage:<br />

Notstandshandlung:<br />

5. Der Notwehrexzess, § 33 StGB<br />

Voraussetzungen von § 34 StGB und § 35 StGB<br />

§34 §35<br />

Beliebiges Rechtsgut Abschließend aufgezählte<br />

hochrangige Rechtsgüter<br />

des Täters oder des Täters oder einer<br />

eines Dritten<br />

Sympathieperson<br />

Gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr<br />

Erforderlichkeit der Handlung (“nicht anders abwendbar”)<br />

wesentliches Überwiegen<br />

des geretteten Gutes<br />

Angemessenheit<br />

keine Unverhältnismäßigkeit,<br />

§35 I 2 StGB<br />

keine zumutbare Hinnahme der<br />

Gefahr<br />

Zur Abwehr der Gefahr (und mit Rettungswillen)<br />

<br />

<br />

Vorliegen einer Notwehrlage<br />

Unstreitig: bei Vorliegen einer wirklichen (vollständigen) Notwehrlage,<br />

in der nur Grenzen der Erforderlichkeit überschritten werden (sog. intensiver<br />

Notwehrexzess)<br />

str.: extensiver Notwehrexzess, d.h. Situation, in der „ein Angriff nicht,<br />

noch nicht oder nicht mehr vorliegt“ 55<br />

e.A.: generelle Anwendung des § 33 StGB auf auf evtensive Notwehrexzesse<br />

a.A. (wohl h.M.): grds. nur Anwendbarkeit bei intensiven Exzessen<br />

arg.: gerade keine Notwehr, deren Grenzen überschritten werden<br />

könnten; angemessene Lösung dieser Fälle über Regelungen<br />

des Erlaubnistatbestandsirrtums (vgl. u.)<br />

vermittelnde Ansicht: außer bei intensivem auch bei „nachzeitigextensiven<br />

Notwehrexzess“ anwendbar, also in Situation, in der<br />

vorher bestandene Notwehrlage beendet ist, Angegriffener dies<br />

aber aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken nicht zutreffend<br />

wahrnimmt;<br />

arg.: ähnliche Motivationslage; immerhin ursprünglich Notwehr<br />

vorhanden, die überschritten werden konnte<br />

• Bsp.: A wird von X mit einem Messer angegriffen und es gelingt ihm, X zu Boden<br />

zu stoßen; um X endgültig kampfunfähig zu machen, schlägt er ihm noch auf<br />

dem Boden einen Holzknüppel auf den Kopf, obwohl der an sich körperlich unterlegene<br />

X in dieser Lage den ohnehin nicht mehr hätte angreifen können, was A a-<br />

ber in seiner Panik nicht wahrnahm. Ob man hier ein Fortdauern eines abgeschwächten<br />

Angriffs und daher ein Überschreiten der Grenzen der Erforderlichkeit<br />

oder bereits die endgültige Abwehr des Angriffs und daher einen nachzeitigextensiven<br />

Notwehrexzess annehmen sollte, ist kaum trennscharf zu begründen. Jedenfalls<br />

aber liegen beide Situationen so eng beisammen, dass eine unterschiedliche<br />

Behandlung nur schwer zu rechtfertigen ist.<br />

•<br />

Überschreiten der Grenzen der Notwehr (im eben skizzierten Sinne) aus<br />

Verwirrung,<br />

Furcht oder<br />

<br />

Zweite wichtiger im StGB geregelter Entschuldigungsgrund<br />

55 Vgl. Lackner/Kühl, § 33 Rn. 2.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 59


Schrecken (sog. asthenische Affekte)<br />

Einschränkung des § 33 StGB in neuerer Rechtsprechung<br />

jedenfalls keine Anwendung, wenn Täter die Notwehrlage mit verursacht<br />

hat, weil er sich planmäßig und unter Umgehung möglicher polizeilicher<br />

Hilfe auf Auseinandersetzung eingelassen hat<br />

arg.: „eigentliche“ Ursache für Überschreitung liegt nicht in „asthenischen<br />

Affekten“ des § 33 StGB, sondern in „sthenischen Affekten“<br />

wie Wut und Kampfeslust 56<br />

Kritik: § 33 StGB kennt – anders als etwa ausdrückliche Regelung in<br />

§ 35 I 2 StGB – keinen Vorbehalt für verschuldete Notlagen kennt <br />

Begrenzungen mit Blick auf Art. 103 II GG nicht unbedenklich 57<br />

6. Der übergesetzliche Notstand<br />

<br />

<br />

Nach h.L. über §§ 33, 35 StGB hinaus übergesetzlicher entschuldigender<br />

Notstand möglich<br />

Voraussetzung: erhebliche, nicht anders behebbare Notlage sein ( insoweit<br />

wie §§ 34, 35 StGB), in der aber<br />

weder Täter oder Sympathieperson gerettet werden ( daher nicht<br />

§ 35 StGB)<br />

noch Überwiegen des geretteten Interesses angenommen werden kann<br />

( daher § 34 StGB, vgl. insbesondere generelles Verbot der Abwägung<br />

„Leben gegen Leben“)<br />

• Bspe.:<br />

• (1) Ein Taxi wird entführt und der Fahrer überwältigt. Der Entführer fährt<br />

mit 2 Fahrgästen im Auto auf eine Menschenmenge zu, die auf den Auftritt eines<br />

bekannten Politikers wartet. Bei einem Zusammenstoß drohen viele Menschen getötet<br />

und verletzt zu werden. Die einzige Möglichkeit einer Rettung kurz vor dem Zusammenstoß<br />

besteht für die Sicherheitskräfte darin, das Taxi wenige Meter vor der<br />

Menschenmenge mit einem gepanzerten Einsatzfahrzeug gegen eine Betonmauer zu<br />

56 Vgl. BGHSt 39, 133, 139.<br />

57 Krit. auch die überwiegende Ansicht in der Literatur, vgl. nur Lackner/Kühl, § 33 Rn. 4<br />

m.w.N.<br />

drängen. Dies wird gemacht, wodurch der Entführer und die zwei Fahrgäste zu<br />

Tode kommen, aber viele Personen in der Menschenmenge gerettet werden.<br />

• Da § 34 StGB weder die Abwägung „viele gegen wenige Leben“ zulässt<br />

noch entscheidend berücksichtigt, dass die geretteten Leben noch mit Sicherheit<br />

länger dauern werden, während die geopferten auch bei anderweitigem Verlauf in<br />

erheblicher Gefahr gewesen wären, scheidet eine Rechtfertigung aus. Wenn der<br />

Fahrer des Einsatzfahrzeuges in der Menschenmenge keine Angehörigen zu retten<br />

hat, kann er sich auch nicht auf § 35 StGB berufen. Dennoch kann ihm die Lebensverkürzung<br />

der Fahrgäste nicht vorgeworfen werden, wenn er sich in dieser Konfliktlage<br />

zu einer Rettung der Vielzahl anderer Personen entscheidet.<br />

•<br />

• Exkurs: Noch spektakulärere und vor allem hinsichtlich der<br />

Bedrohungslage realistischere Beispiele ließen sich mit entführten<br />

Flugzeugen bilden. Mit dem am 24.09.2004 beschlossenen Luftsicherheitsgesetz<br />

wird hierzu aber in § 14 III festgestellt, dass die „ unmittelbare<br />

Einwirkung mit Waffengewalt (…) zulässig“ ist, „wenn nach<br />

den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das<br />

Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel<br />

zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ Für den Spezialfall des<br />

Luftverkehrs wurde also ein – in die gängige Dogmatik nur schwer zu<br />

integrierender – Rechtfertigungsgrund geschaffen. 58<br />

•<br />

• (2) Wie Bsp. (1), nur dass das Taxi auf einen Bürgersteig abgedrängt werden<br />

kann, so dass zwar die Insassen schwer verletzt überleben, aber zwei alte Fußgänger<br />

überfahren werden.<br />

• Die Lösung sieht auf den ersten Blick ähnlich aus wie in Bsp. (1). Allerdings<br />

ist sie nicht ganz so eindeutig (m.E. aber im Ergebnis dennoch ebenso vertretbar),<br />

da immerhin die Gefahr auf bisher völlig unbeteiligte und auch nicht gefährdete<br />

Personen „umgeleitet“ wird.<br />

• (3) Bei einem Krankenhausbrand können von der Intensivstation entweder<br />

nur noch ein 82-jähriger, im Sterben liegender Patient oder zwei 8-jähige Zwillinge<br />

vom Personal gerettet werden, die nach aller Wahrscheinlichkeit nach einer Opera-<br />

58 Vgl. dazu Pawlik, JZ 2004, 1045 ff.; Sinn, NStZ 2004, 585 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 60


tion in wenigen Wochen völlig gesund sein werden und ein langes und glückliches<br />

Leben vor sich haben. Das Personal entscheidet sich für die Kinder.<br />

• Auch hier greift zwar § 34 StGB nicht ein (keine Abwägung zwei gegen<br />

eines / altes gegen krankes / junges gegen altes Leben). Dennoch muss man hier<br />

nicht auf den übergesetzlichen Notstand zurückgreifen, da den Tätern „nur“ ein<br />

Unterlassen (nämlich die Nichtrettung des alten Patienten) vorgeworfen werden<br />

kann. Hierbei anerkennt die h.M. eine rechtfertigende Pflichtenkollision, wenn der<br />

Unterlassungstäter physisch-real nur eine von zwei Rettungspflichten erfüllen kann<br />

(vgl. dazu näher später bei den Unterlassungsdelikten).<br />

7. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />

<br />

<br />

Als allgemeines Prinzip – mit Blick auf den hinter § 35 StGB und dem<br />

übergesetzlichen entschuldigenden Notstand stehenden Gedanken – diskutiert,<br />

wenn Täter rechtstreues Verhalten nicht zumutbar ist und deswegen<br />

auch nicht vorgeworfen werden kann<br />

Von h.M. aber zu Recht als zu vage für das vorsätzliche Begehungsdelikt<br />

grds. abgelehnt<br />

•<br />

• Vertiefende Hinweise:<br />

• a) Lesenswerte Entscheidungen<br />

− BGHSt 39, 133 (zu § 33 StGB)<br />

• b) Aufsätze<br />

− Koriath, Zum entschuldigenden Notstand, JA 1998, 250 ff.<br />

− Müller-Christmann, Überschreiten der Notwehr, JuS 1994, 649 ff.<br />

− Timpe, Grundfälle zum entschuldigenden Notstand (§ 35 I StGB) und<br />

zum Notwehrexzeß (§ 33 StGB), JuS 1985, 117 ff.<br />

8. Die Irrtumslehre<br />

a) Begriff und Einordnung<br />

<br />

Begriff des „Irrtums“: Fehlvorstellung des Täters, d.h. Abweichen seiner<br />

Einschätzung von „der Realität“ (i.w.S.)<br />

Unterscheidung möglicher „Fehlvorstellungen“ nach verschiedenen Kriterien:<br />

„Wirk-Richtung“ des Irrtums<br />

„zu Gunsten“ des Täters (d.h. Vorstellung strafrechtlich günstiger als<br />

Realität)<br />

Irrtumslehre, vgl. im Folgenden<br />

„zu Ungunsten“ des Täters (d.h. Vorstellung strafrechtlich ungünstiger<br />

als Realität)<br />

u.U. Bedeutung für Versuchsstrafbarkeit, vgl. später in Vorlesung<br />

/ unten im <strong>Skript</strong><br />

Gegenstand der Fehlvorstellung<br />

„tatsächlicher Bereich“ (Täter nimmt bestimmten Sachverhalt abweichend<br />

von Realität wahr)<br />

meist vorsatzrelevant, vgl. im Einzelnen unten<br />

„rechtlicher Bereich“ / falsche rechtliche Wertung (Täter beurteilt Situation<br />

strafrechtlich anders, als sie nach der Rechtsordnung ist)<br />

meist nicht vorsatzrelevant<br />

Ansiedlung der vom Irrtum betroffenen Stufe im Deliktsaufbau (tatbestands-,<br />

rechtswidrigkeits- oder schuldrelevante Irrtümer)<br />

•<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 61


Dr. Hans Kudlich Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe) p. 6<br />

B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />

strafloser „Gebrauchsdiebstahl“ sei, da das Erfordernis der Zueignungsabsicht<br />

in solchen Fällen nicht erfüllt sei.<br />

Tatbestand<br />

Rechtswidrigkeit<br />

- Überblick zu den Irrtumsarten -<br />

Irrtümer über Tatsachen<br />

1 Tatumstandsirrtum 2<br />

(Tatbestandsirrtum)<br />

4<br />

Erlaubnissachverhaltsirrtum<br />

(Erlaubnistatbestandsirrtum)<br />

3<br />

I rrtüm er über N orm en<br />

Direkter<br />

Verbotsirrtum<br />

Erlaubnisirrtum<br />

(Erlaubnisgrund- und<br />

Erlaubnisnormirrtum<br />

oder indirekter<br />

Verbotsirrtum)<br />

<br />

Anforderungen an ausreichendes Unrechtsbewusstsein: Täter muss<br />

wissen, dass es sich um rechtliches Verbot handelt (und nicht nur um Moralwidrigkeit<br />

oder wie im Bsp. oben „ökologische Sünde“)<br />

nicht wissen, dass es sich um strafrechtliches Verbot handelt<br />

• Im Bsp. des Flussverschmutzers würde also kein Verbotsirrtum<br />

vorliegen, wenn der Täter irrtümlich denkt, sein Handeln sei „nur“ eine<br />

Ordnungswidrigkeit.<br />

•<br />

Schuld<br />

5<br />

Entschuldigungsnormirrtum<br />

Entschuldigungssachverhaltsirrtum<br />

6<br />

<br />

Rechtsfolge des Verbotsirrtums:<br />

bei Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums (strenge Anforderungen, im<br />

Bereich des Kernstrafrechts selten): Handeln ohne Schuld,<br />

§ 17 S. 1 StGB<br />

bei Vermeidbarkeit: Möglichkeit der Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB<br />

•<br />

<br />

Irrtum im tatsächlichen Bereich auf Ebene des Tatbestandes (Variante [1]): es<br />

ist dies der Tatbestands- oder Tatumstandsirrtum nach § 16 I 1 StGB, vgl.<br />

näher bereits oben<br />

b) Der (direkte) Verbotsirrtum, § 17 StGB [2]<br />

<br />

Irrtum im rechtlichen Bereich auf Ebene des Tatbestandes: Täter fehlt Einsicht,<br />

Unrecht zu tun, weil er rechtliches Verbot<br />

nicht kennt<br />

• Bsp.: Der Täter kann sich nicht vorstellen, dass die Verschmutzung<br />

eines Flusses (vgl. § 324 StGB) tatsächlich nicht nur ökologisch bedenklich,<br />

sondern rechtlich verboten ist.<br />

fälschlich für unwirksam hält<br />

in seinen Grenzen verkennt<br />

• Bsp.: Der Täter geht davon aus, dass das Entwenden eines Sparbuchs,<br />

um dieses nach dem „Abräumen“ wieder zurückzugeben, nur ein<br />

c) Der „indirekte Verbotsirrtum“ oder Erlaubnisirrtum [3]<br />

<br />

Irrtum im rechtlichen Bereich auf Ebene der Rechtswidrigkeit: Täter fehlt<br />

Einsicht, Unrecht zu tun, weil er (in Kenntnis des grundsätzlichen rechtlichen<br />

Verbots der tatbestandsmäßigen Handlung)<br />

irrig Existenz eines von der Rechtsordnung nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes<br />

annimmt<br />

• Bsp.: Hausmeister H ist der Ansicht, die Kinder würden zu laut<br />

spielen. Er geht fest davon aus, dass er – ähnlich wie Eltern und Lehrer 59<br />

- ein „hausmeisterliches Züchtigungsrecht“ habe und den Kindern ungestraft<br />

ein paar saftige Ohrfeigen verpassen dürfe.<br />

der rechtlichen Grenzen eines an sich anerkannten Rechtfertigungsgrundes<br />

zu seinen Gunsten überdehnt<br />

• Bsp.: Rentner R geht davon aus, dass das Notwehrrecht in jeder<br />

Hinsicht unbeschränkte Eingriffe in die Rechtsgüter des Angreifers zulasse<br />

und schießt mit seiner Schrotflinte zwei 8-jährige Jungen aus seinem<br />

59 Dazu, dass zweiteres heute überwiegend abgelehnt wird und auch ersteres inzwischen<br />

problematisch ist, vgl. nochmals oben im <strong>Skript</strong> bei den Rechtfertigungsgründen.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 62


Kirschbaum, obwohl es völlig genügt hätte, wenn er zu dem Baum gegangen<br />

und einige erste Worte gesprochen hätte.<br />

Rechtsfolge des Erlaubnisirrtums: wie beim Verbotsirrtum abhängig von<br />

Vermeidbarkeit (unmittelbare Anwendung des nach seinem Wortlaut auch<br />

den Erlaubnisirrtum erfassenden § 17 StGB)<br />

d) Der Erlaubnistatbestandsirrtum [4]<br />

<br />

<br />

<br />

Wohl meist diskutierter und heftigst umstrittener (mittlerweile im Ergebnis<br />

aber dennoch weitgehend einheitlich behandelter) Irrtumsfall<br />

Irrtum im tatsächlichen Bereich auf Ebene der Rechtswidrigkeit: Täter fehlt<br />

Einsicht, Unrecht zu tun, weil er sich irrtümlich (tatsächliche) Umstände<br />

vorstellt, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre<br />

Bspe.:<br />

(1) A geht durch den Wald und sieht dort, wie die F von dem kräftigen M brutal hinter sich<br />

her gezerrt wird. A denkt, durch beherztes Eingreifen in Form einer Nothilfe eine Entführung<br />

oder Schlimmeres verhindern zu können und schlägt M mit einem Knüppel nieder – dies sehr<br />

zum Unwillen von Regisseur R und dem gesamten Filmteam, das mit den Schauspielern M und<br />

F gerade einen Krimi dreht.<br />

(2) A und N stehen schon lange im Gespräch, ob ein auf N’s Grundstück stehender Baum gefällt<br />

werden darf, der A das Licht nimmt. Als N im Urlaub ist, kommt N’s Sohn S, der seinem<br />

„spießigen Vater und dem dämlichen Nachbarn eins auswischen will“, zu A und berichtet<br />

wahrheitswidrig, N habe es sich überlegt und A dürfe den Baum fällen. Er solle nur allen<br />

Schmutz beseitigt haben, bis N aus dem Urlaub zurück komme. A glaubt an eine Einwilligung<br />

des N und fällt den Baum.<br />

Lösungsgesichtspunkte und (historische) Extrempositionen zur Behandlung<br />

einerseits § 16 I 1 StGB, der sich auf den Tatbestand bezieht, nicht unmittelbar<br />

einschlägig, weil Rechtfertigungsebene betroffen;<br />

anders aber die alte Vorsatztheorie, die im Unrechtsbewusstsein Bestandteil<br />

des Vorsatzes sah (konsequent wohl auch für Anhänger eines<br />

zweistufigen Deliktsaufbaus mit „Gesamtunrechtstatbestand“)<br />

<br />

andererseits auch § 17 StGB nicht wirklich passend, da dieser falsche rechtliche<br />

Bewertungen, nicht Irrtümer im tatsächlichen Bereich vor Augen hat; 60<br />

anders aber die strenge Schuldtheorie, die fehlende Unrechtseinsicht generell<br />

dem Bereich der Schuld zuordnet<br />

Konsequenz und Lösung nach h.M.<br />

Täter im Erlaubnistatbestandsirrtum steht – genau wie der im Tatumstandsirrtum<br />

und anders der im (direkten oder indirekten) Verbotsirrtum<br />

– mit rechtlichen Bewertungen in Übereinstimmung mit und ist<br />

daher „an sich rechtstreu“<br />

[Oder plastischer (aber nicht zitierfähig in der Klausur!): Der Täter im<br />

Erlaubnistatbestandsirrtum ist kein „Schwein“, sondern nur ein „Schussel“ (dagegen<br />

der Täter im Erlaubnisirrtum kein „Schussel“, sondern ein „Schwein“).]<br />

nach heute h.M.– mit Unterschieden im Detail und in der Begründung,<br />

aber im Ergebnis weitgehend übereinstimmend – daher Strafbarkeit<br />

unter Rückgriff auf § 16 I 1 StGB abzulehnen (Spielarten der eingeschränkten<br />

Schuldtheorie) 61<br />

z.T.: analog § 16 I 1 StGB Entfallen des Vorsatzes<br />

z.T. analog § 16 I 1 StGB Entfallen der „Vorsatzschuld“<br />

zumindest wenn keine Teilnahmeprobleme bestehen, 62 m.E. möglich,<br />

nur festzustellen, dass „in entsprechender Anwendung von<br />

§ 16 I 1 StGB Vorsatz oder jedenfalls Vorsatzschuld“ entfallen 63<br />

60 Das legt zugegebenermaßen der Wortlaut nicht zwingend fest: Die dort genannte Einsicht,<br />

Unrecht zu tun, fehlt gerade auch dem Täter im Erlaubnistatbestandsirrtum. Das System der<br />

§§ 16, 17 StGB legt aber die Deutung nahe, dass sich § 16StGB auf tatsächliche Umstände,<br />

§ 17 StGB auf rechtliche Bewertungen bezieht.<br />

61 Vgl. zur Vertiefung etwa die Darstellung bei Roxin, <strong>AT</strong> I, § 14 Rn. 62 ff., 72, 75, der –<br />

selbst der eingeschränkten Schuldtheorie folgend und in analoger Anwendung von<br />

§ 16 I 1 StGB den Tatbestands verneinend – darlegt, dass nicht einmal in der Teilnahmefrage<br />

zwingend ein Unterschied bestehen muss: Zwar setzen §§ 26, 27 StGB eine rechtswidrige Tat<br />

voraus, so dass diejenigen, die nur die Vorsatzschuld entfallen lassen, „ungezwungener“<br />

begründen können, dass ein bösgläubiger Teilnehmer an einer solchen Tat strafbar ist. Allerdings<br />

könnte man, wenn die entstehenden Strafbarkeitslücken wirklich unerträglich erschienen,<br />

den „Vorsatz“-Begriff in der Teilnahmelehre dahingehend auslegen, dass nur der Vorsatz<br />

hinsichtlich der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale (und nicht des gesamten Unrechtstatbestandes)<br />

erforderlich ist.<br />

62 Vgl. nochmals Fn. 61.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 63


Prüfungsort 64<br />

verbreitete Empfehlung: im Schema auf Ebene der Schuld (da Problem<br />

erst verständlich ist, nachdem Rechtfertigungsstufe geprüft wurde)<br />

Alternativvorschlag: „Nachklapp“ zur Rechtswidrigkeitsstufe 65 – was zugegebenermaßen<br />

im Interesse einer „eleganten“ Darstellung dazu<br />

verleiten könnte, auch die Lösung dogmatisch an dieser Stelle zu suchen.<br />

•<br />

• Klausurhinweis:<br />

• Das heißt von der Anknüpfung her ganz konkret:<br />

Entweder man prüft die Rechtswidrigkeit; und nachdem man<br />

diese mangels Vorliegen einer objektiv rechtfertigenden Situation<br />

bejaht hat, fährt man etwa fort: „Fraglich ist jedoch, wie es<br />

sich auswirkt, dass A bei der Tat dachte, die F sei von M angegriffen<br />

worden ...“<br />

Oder man beendet die Rechtswidrigkeit und schreibt in der<br />

Schuld: „Fraglich ist jedoch, ob A mit Unrechtsbewusstsein<br />

gehandelt hat. Dieses könnte ausgeschlossen sein, da er bei der<br />

Tat dachte, die F sei von M angegriffen worden ...“<br />

• Nachdem man so oder so ähnlich eingeleitet hat, kann man<br />

– egal an welcher Stelle – kurz darlegen, dass überhaupt ein Er-<br />

63 Ob man dafür – wie gelegentlich empfohlen – bei der Prüfung des Tatbestandsvorsatzes<br />

einen Vorbehalt wie „Damit ist der Tatbestandsvorsatz jedenfalls hinsichtlich der in § xy<br />

genannten Tatbestandsmerkmale gegeben“ aufnehmen muss, erscheint mir fraglich. Er kann<br />

beim Korrektor auch die Frage „Und welchen Tatbestandsvorsatz gibt es noch?“ provozieren.<br />

Die schwierige, in ihrem Meinungsstand das gesamte Aufbauschema durchziehende Frage<br />

des Erlaubnistatbestandsirrtums lässt sich eben nicht unproblematisch an einer Stelle diskutieren;<br />

das ist aber nicht die Schuld des jeweiligen Klausurverfassers, deshalb muss man sich<br />

dafür auch nicht „entschuldigen“ bzw. „absichern“.<br />

64 Dass vorliegend die Darstellung des Problems im Rahmen der „Schuld“ erfolgt, soll kein<br />

Hinweis darauf sein, dass diese rechtsfolgenverweisende Variante zwingend die überzeugendste<br />

Lösung ist. Vielmehr wird hier auch um des Gesamtzusammenhanges mit der Irrtumslehre<br />

und der besseren Gegenüberstellung zu § 17 StGB wegen dieser Ort gewählt.<br />

65 Vgl. etwa Kühl, <strong>AT</strong>, § 13 Rn. 77.<br />

laubnistatbestandsirrtum vorliegt (d.h. dass der Täter gerechtfertigt<br />

wäre, wenn seine tatsächlichen Vorstellungen richtig wären) und<br />

dann das Problem entwickeln.<br />

Sonderproblem (im thematischen Umfeld des Erlaubnistatbestandes):<br />

„Doppelirrtum“ im Bereich der Erlaubnissätze<br />

(zumindest scheinbare) Kombination aus Erlaubnis- und Erlaubnistatbestandsirrtum<br />

Täter stellt sich Umstände vor, die tatsächlich nicht vorliegen, die<br />

aber selbst bei ihrem Vorliegen zu keiner Rechtfertigung führen würden.<br />

• Bsp.: Im o.g. Fall des „hausmeisterlichen Züchtigungsrechts“<br />

ohrfeigt H zu allem Überfluss auch noch ein Kind, das ganz still in der<br />

Ecke gesessen war. Also: Irrtum im tatsächlichen Bereich (Züchtigung<br />

richtet sich gegen Kind, das keinen Züchtigungsanlass geliefert hat) und<br />

in der rechtlichen Bewertung (denn selbst wenn es laut gewesen wäre,<br />

hätte H es nicht schlagen dürfen).<br />

Behandlung im Ergebnis unstreitig allein nach § 17 StGB (d.h. Täter<br />

handelt vorsätzlich und allenfalls Schuld kann bei Unvermeidbarkeit<br />

entfallen);<br />

arg.:<br />

gar kein „wirklicher“ Erlaubnistatbestandsirrtum, da auch auf Grundlage<br />

der Tätervorstellung keine Rechtfertigung<br />

zusätzlicher Irrtum über Sachverhalt kann im Erlaubnisirrtum handelnden<br />

Täter nicht entlasten / besser stellen, bei dem sogar<br />

dann allenfalls Schuld entfallen würde, wenn vorgestellte Situation<br />

vorgelegen hätte<br />

•<br />

• Klausurhinweis:<br />

• Auf der tatbestandlichen Ebene wird sich ein solcher Doppelirrtum<br />

kaum einmal stellen: Wer gar nicht die Umstände kennt,<br />

aus denen sich die Straftat ergibt (wer also z.B. Schießübungen auf<br />

eine Regentonne macht ohne zu wissen, dass ein Kind darin ist),<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 64


hat auch keinen Anlass, sich über die Verbotenheit dieses Handelns<br />

Gedanken zu machen.<br />

•<br />

e) Irrtümer im Bereich der Schuld<br />

Entschuldigungssachverhaltsirrtum [5]<br />

Täter stellt sich Umstände vor, bei deren tatsächlichem Vorliegen Entschuldigungsgrund<br />

66 vorliegen würde<br />

Rechtsfolge: nach § 35 II 1 StGB direkt oder analog Ausschluss der<br />

Schuld, wenn der (tatsächliche 67 ) Irrtum unvermeidbar war<br />

Entschuldigungsnormirrtum [6]<br />

Täter stellt sich rechtlich nicht existierenden Entschuldigungsgrund vor<br />

Rechtsfolge: nach h.M. unbeachtlich, da es allein Sache des Gesetzgebers<br />

sei, schwierige und enge Grenzen dessen zu definieren, was noch<br />

persönlich vorwerfbar ist; bei derart diffizilen Wertungen darf sich<br />

Täter, den Normappell grds. erreicht hat, nicht „allein auf sein<br />

Rechtsgefühl“ verlassen;<br />

[ Denkanstoß: Soll es für rechtliche Bewertung damit wirklich relevant<br />

sein, ob Täter bei (unterstellt) unvermeidbarem Irrtum behauptet,<br />

er habe sich für gerechtfertigt oder nur für entschuldigt gehalten?<br />

Welcher Täter macht sich über diese – für rechtliche Laien kaum verständliche<br />

und in ausländischen Rechtsordnungen teilweise nicht<br />

einmal bekannte – Unterscheidung Gedanken?]<br />

•<br />

•<br />

• Vertiefende Hinweise:<br />

• Aufsätze<br />

− Herzberg, Erlaubnistatbestandsirrtum und Deliktsaufbau (Teil 1 und 2),<br />

JA 1984, 243 ff.; 294 ff.<br />

− Herzberg/Hardtung, Grundfälle zur Abgrenzung von Tatumstandsirrtum<br />

und Verbotsirrtum, JuS 1999, 1073 ff.<br />

− Herzberg/Scheinfeld, Der Erlaubnistatbestandirrtum – dargestellt in Form<br />

eines Seminarvortrags, JuS 2002, 649 ff.<br />

− Neumann, Der Verbotsirrtum (§ 17 StGB), JuS 1993, 793 ff.<br />

− Plaschke, Ein Nagetier schreibt Rechtsgeschichte – Der Doppelirrtum im<br />

Strafrecht, Jura 2001, 235 ff.<br />

− Rath, Arbeitsschritte zur Behandlung strafrechtlicher Irrtumsfälle, Jura<br />

1998, 539 ff.<br />

− Schmelz, Der Erlaubnistatbestandsirrtum im Gutachten -Eine klausurorientierte<br />

„Regieanweisung“, Jura 2002, 391 ff.<br />

•<br />

66 Keine Relevanz hat dagegen, wenn der Täter sich vorstellt, z.B. schuldunfähig zu sein, weil<br />

er doch schon so viel getrunken habe. Hier kann es nur auf seine tatsächliche Verfassung<br />

ankommen.<br />

67 Obwohl die gesetzliche Formulierung die gleiche ist, handelt es sich also um einen anderen<br />

Prüfungsmaßstab als oben bei § 17 StGB, die nicht die Vermeidbarkeit eines rechtlichen,<br />

sondern eines tatsächlichen Irrtums in Frage steht!<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 65


C. Besondere Verbrechensformen<br />

<br />

teilweise auch Kombinierbarkeit dieser drei Sonderformen untereinander<br />

<br />

Einordnung und Abgrenzung:<br />

• vorsätzliches, vollendetes Begehungsdelikt als „Grundfall“<br />

• jeweils korrespondierende „besondere Verbrechensformen“<br />

∗<br />

∗<br />

Fahrlässigkeitsdelikt ( Vorsatz)<br />

Unterlassen ( Begehungsdelikt)<br />

∗ Versuch ( vollendetes Delikt) 68<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 68<br />

C. Besondere Verbrechensformen<br />

C. Besondere Verbrechensformen<br />

Der Grundfall und seine Abweichungen<br />

Vorsätzliches vollendetes Begehungsdelikt<br />

Besondere<br />

Verbrechensformen<br />

I. Das Fahrlässigkeitsdelikt<br />

Literatur: Kühl: § 17; W/B: Rn. 655 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 161 – 178.<br />

1. Einordnung und Prüfungsschema<br />

a) Verhältnis zum Vorsatzdelikt<br />

<br />

<br />

Ausgangspunkt: § 15 StGB:<br />

• grds. nur Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns, wenn nicht Fahrlässigkeitexplizit<br />

angeordnet ist<br />

• wichtige Beispiele: §§ 222, 229 StGB, aber etwa auch § 163 StGB sowie<br />

verschiedene Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen<br />

Dogmatische Einordnung:<br />

• nach früher h.M. Vorsatz und Fahrlässigkeit nur als zwei mögliche<br />

Schuldformen<br />

auch äußerlich in jeder Hinsicht korrektes Verhalten könnte Tatbestand<br />

eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllen<br />

Bsp.: A verabredet sich mit seiner Freundin F um 16.00 Uhr zu einem Rendezvous am<br />

Waldrand. F ist bereits um 15.57 Uhr da und wird um 15.59 Uhr von einem Meteoriten<br />

erschlagen.<br />

Fahrlässigkeitsdelikt<br />

Versuch des Delikts<br />

(Unechtes)<br />

Unterlassungsdelikt<br />

• heute h.M.: Fahrlässigkeitsdelikt als zweite, eigenständige Verbrechensform<br />

weitere Prüfungselemente über Erfolgsverursachung hinaus<br />

68 Das versuchte Delikt wird – ebenso wie die als Gegenstück zur bislang untersuchten Strafbarkeit<br />

des Alleintäters beschreibbare Strafbarkeit bei mehreren Beteiligten – im Rahmen der Veranstaltung<br />

<strong>AT</strong> II im Sommersemester behandelt.<br />

• gleichwohl Annahme eines Stufen- oder Auffangverhältnisses zwischen<br />

Vorsatz und Fahrlässigkeit<br />

Anwendung von in dubio pro reo und damit Verurteilung „jedenfalls“<br />

wegen Fahrlässigkeitsdeliktsmöglich<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 66


Drei verschiedene Stufen der Fahrlässigkeit (hinsichtlich ihrer Intensität.<br />

wobei für Tatbestand meist 69 unbeachtlich ist, welche Form vorliegt):<br />

• leichte Fahrlässigkeit<br />

• „normale Fahrlässigkeit“<br />

• Leichtfertigkeit (entspricht ungefähr „grober Fahrlässigkeit“ des Zivilrechts)<br />

Exkurs: Im Zusammenhang mit dem Fahrlässigkeitsdelikt bietet es sich an,<br />

das Stichwort des „erfolgsqualifizierten Delikts“ schon einmal zu erwähnen:<br />

Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Strafschärfung<br />

eintritt, wenn als Folge eines als solchen schon strafbaren Verhaltens (des<br />

sog. Grunddelikts) ein besonderer Erfolg verursacht wird (regelmäßig<br />

der Tod eines Menschen 70 oder eine schwere Gesundheitsschädigung<br />

71 ). § 18 StGB bestimmt für diese Delikte, dass die schwerere<br />

Strafe den Täter oder Teilnehmer nur trifft, „wenn ihm hinsichtlich<br />

dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt“. Die erfolgsqualifizierten<br />

Delikte stellen mithin eine Kombination aus dem vorsätzlich<br />

begangenen Grunddelikt und dem mindestens fahrlässig verursachten<br />

qualifizierenden Erfolg dar. Dabei ergibt sich schon aus dem<br />

Wortlaut des § 18 StGB, dass die Fahrlässigkeit nur die „Untergrenze“<br />

ist, dass also das erfolgsqualifizierte Delikt auch erfüllt ist, wenn<br />

dem Täter ein „Mehr“ zur Last fällt, er also (bedingt) vorsätzlich<br />

handelt.<br />

Um die erhöhte Strafdrohung der erfolgsqualifizierten Delikte gegenüber<br />

der Idealkonkurrenz zwischen dem vorsätzlichen Grunddelikt<br />

und der fahrlässig verursachten Folge zu rechtfertigen, 72 wird als ungeschriebenes<br />

Merkmal der erfolgsqualifizierten Delikte – mit unterschiedlichen<br />

Formulierungen und auch sachlichen Abweichungen im<br />

Einzelnen – gefordert, dass zwischen dem Grunddelikt und dem Eintritt<br />

des qualifizierenden Erfolges über die Kausalität hinaus ein zusätzlicher<br />

Zusammenhang besteht: 73 Dabei ist dem insbesondere in<br />

der Rechtsprechung teilweise verwandten Begriff der „Unmittelbarkeit“,<br />

der auf eine „engere Kausalbeziehung“ hindeutet, derjenige des<br />

„tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs“ vorzuziehen. Es<br />

geht nämlich weniger um eine enge oder weite bzw. vielgliedrige<br />

Kausalkette, sondern um den Schutzzweck der Norm unter Berücksichtigung<br />

der konkreten Verhaltensweise bei der Tatbestandsbegehung.<br />

74 Deshalb kann dieses Erfordernis auch als Unter- oder als Spezialfall<br />

der objektiven Zurechnung verstanden werden. 75 In der Sache<br />

wird also dem Umstand Rechnung getragen, dass ein dem erhöhten<br />

Strafmaß entsprechender erhöhter Unrechts- und Schuldgehalt nur<br />

besteht, wenn sich im Eintritt der schweren Folge gerade die Gefahr<br />

des Grunddelikts in seiner konkreten Durchführung realisiert.<br />

69 Etwas anderes gilt nur, wenn das Gesetz Leichtfertigkeit fordert, was insbesondere bei einer<br />

Reihe von erfolgsqualifizierten Delikten der Fall ist (vgl. z.B. § 251 StGB).<br />

70 So etwa in den §§ 176b, 178, 239a III, 251, 306c ua (wenigstens leichtfertige Verursachung des<br />

Todes) bzw. 221 III, 227, 235 V, 239 IV (fahrlässige Todesverursachung).<br />

71 So in § 226 StGB (wo einzelne schwere Körperverletzungen abschließend aufgezählt sind)<br />

bzw. §§ 221 II Nr. 2, 239 III Nr. 2, 306b I, 308 II, 315b III Nr. 2 StGB ua (wo der Begriff der<br />

schweren Gesundheitsschädigung verwendet wird, der durch das 6. StrRG in vielen Fällen der<br />

Erfolgsqualifikation eingefügt wurde und welcher neben den in § 226 StGB aufgezählten Verletzungen<br />

solche Folgen erfasst, die ihrer Intensität nach vergleichbar, dort aber nicht explizit<br />

genannt sind).<br />

72 Vgl etwa das Strafmaß des § 227 (Freiheitsstrafe von 3 bis 15 Jahren, vgl § 38 II) mit dem der<br />

§§ 223, 222, 52 (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren).<br />

73 Vgl nur Schönke/Schröder-Cramer, § 18 Rn 4; Tröndle/Fischer , § 227 Rn 2; ausführlicher zum<br />

erforderlichen Zusammenhang Sowada Jura 1994, 643 ff<br />

74 Deutlich Roxin <strong>AT</strong> I, § 10 Rn 114, 117<br />

75 Vgl Roxin <strong>AT</strong> I, § 10 Rn 114 ff.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 67


Für das erfolgsqualifizierte Delikt ist daher für den Einzeltäter folgendes Prüfungsschema<br />

denkbar:<br />

1. Tatbestand<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

3. Schuld<br />

4. Erfolgsqualifikation<br />

a) Eintritt der schweren Folge<br />

b) Tatbestandsspezfischer Gefahrzusammenhang<br />

c) Mindestens Fahrlässigkeit, § 18 StGB<br />

b) Das Prüfungsschema des Fahrlässigkeitsdelikts<br />

<br />

<br />

Vorbemerkung:<br />

• stärkere Unterscheidung der in unterschiedlichen Lehrbüchern genannten<br />

Schemata als beim Vorsatzdelikt<br />

• Unterschiede aber teilweise stärker terminologischer als wirklich inhaltlicher<br />

Natur<br />

Vorschlag eines Prüfungsschemas<br />

Tatbestand o Erfolgseintritt<br />

o Handlung und Kausalität<br />

o objektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />

o Voraussicht oder objektive Vorhersehbarkeit<br />

des Erfolges<br />

o Objektive Zurechnung<br />

Rechtswidrigkeit<br />

Schuld<br />

• Allg. Voraussetzungen (insb. Schuldfähigkeit)<br />

• Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />

• Subjektive Vorhersehbarkeit<br />

• Keine Unzumutbarkeit<br />

• Evtl. besondere Schuldmerkmale<br />

2. Insbesondere: Objektive Sorgfaltspflichtverletzung und objektive<br />

Zurechnung<br />

a) Sorgfaltspflichtverletzung<br />

<br />

<br />

Einordnung:<br />

• äußerst knappe gesetzliche Vorgaben, die nur verlangen, dass Täter<br />

„fahrlässig“ einen bestimmten Erfolg herbei- (fahrlässige Tötung oder<br />

Körperverletzung) bzw. eine bestimmte Handlung durchführt (fahrlässig<br />

betrunken fahren oder falsch schwören)<br />

• Begründung des Fahrlässigkeitsvorwurfs nach h.M. bei Vorliegen einer<br />

Sorgfaltspflichtverletzung<br />

Sorgfaltspflichtverletzung als zentrales Element des Fahrlässigkeitsdelikts<br />

Begründung von (potentiell verletzten) Sorgfaltspflichten:<br />

• jedenfalls nicht aus Fahrlässigkeitstatbeständen selbst<br />

Klausurhinweis:<br />

Falsch wäre in der Klausur insbesondere die Argumentation, aus<br />

einem bestimmten Fahrlässigkeitsdelikt ergebe sich die Sorgfaltspflicht,<br />

das darin genannte Rechtsgut nicht zu verletzten (also z.B. aus<br />

§ 222 StGB die Sorgfaltspflicht niemanden zu töten, so dass die Todesverursachung<br />

zeige, dass diese Pflicht verletzt worden sei). Denn dann wäre das verantwortungsbegrenzende<br />

und gerade das Fahrlässigkeitsdelikt kennzeichnende<br />

Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung immer dann erfüllt,<br />

wenn es zu einem Taterfolg i.S.d. Rechtsgutsverletzung kommt,<br />

und würde damit im Ergebnis leer laufen. M.a.W.: Der Täter handelt<br />

nicht fahrlässig, weil er einen Menschen getötet hat, sondern nur wenn er bei<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 68


dieser Todesverursachung gegen eine nicht unmittelbar aus § 222 StGB<br />

zu entnehmenden Sorgfaltspflicht verstoßen hat!<br />

gesetzlichen Sorgfaltsnorm gerade auch die eingetretenen Schäden<br />

verhindern soll.<br />

• einfachster Fall (nach h.M.): Bestimmung von Sorgfaltspflichten aus<br />

entsprechenden Vorgaben, die sich unmittel- oder mittelbar aus Gesetz<br />

ergeben<br />

Bspe.:<br />

(1) Wer etwa die gesetzlich in der StVO oder durch ein Verkehrsschild<br />

angeordneten Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr überschreitet,<br />

handelt sorgfaltswidrig. Ebenso, wer entgegen den gesetzlichen Regelungen<br />

die Vorfahrt missachtet.<br />

(2) Das Gleiche gilt für denjenigen, der bei der Produktion von Nahrungsmitteln<br />

die gesetzlich zulässigen Höchstwerte für bestimmte gesundheitlich<br />

bedenkliche Inhaltsstoffe oder beim Betrieb einer Anlage die<br />

durch die Genehmigung zugelassenen Emissionsgrenzen überschreitet.<br />

Klausurhinweis:<br />

Beachten Sie dreierlei:<br />

(1) Wenn in den genannten Fällen die gesetzlichen Vorgaben eingehalten<br />

werden, so spricht zwar viel, aber nicht immer alles für ein<br />

sorgfaltsgemäßes Verhalten.<br />

Bsp.: Wer in der Stadt mit 50 km/h fährt, kann u.U. sorgfaltswidrig handeln,<br />

wenn für ihn deutlich sichtbar eine Gruppe von Kindern auf dem Gehsteig Ball<br />

spielt.<br />

(2) Umgekehrt wird oft betont, dass die Verletzung entsprechender<br />

Sondernormen nur ein (wenngleich wichtiges) Indiz für das Vorliegen<br />

einer Sorgfaltspflichtverletzung sind. Wie intensiv man das betonen<br />

(und in welchem Maße man einen möglicherweise davon abweichenden<br />

Sorgfaltsmaßstab diskutieren muss), hängt davon ab, wie<br />

gravierend der Verstoß war (Bsp.: Ist der Täter in der Tempo-30-<br />

Zone gerade mal 31 km/h oder ab 65 km/h gefahren?).<br />

(3) Bei der Prüfung der objektiven Zurechnung (vgl. u.) kann im<br />

Einzelfall problematisch sein, ob der Schutzzweck der verletzten<br />

• Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise, die zwar nicht zu Gesetzen<br />

geworden sind, innerhalb bestimmter Lebensbereiche das<br />

Verhalten aber auch mehr oder weniger klar steuern sollen<br />

Bspe. hierfür wären etwa die von der FIS aufgestellten Regeln für das<br />

Verhalten auf Skipisten, die unter Jägern bekannten Grundsätze waidmännischen<br />

Verhaltens, die leges artis bzw. professionis eines bestimmten<br />

Berufsstandes (z.B. die Standards der ärztlichen Kunst im medizinischen<br />

Bereich) o.ä.<br />

Klausurhinweis:<br />

Sollte es erforderlich werden, mit solchen Standards zu argumentieren,<br />

müssten sie regelmäßig in der Klausur mitgeteilt werden – denn<br />

man kann nicht davon ausgehen, dass Sie all dieses Gepflogenheiten<br />

kennen. Und anders als die gesetzlichen Sorgfaltspflichten können<br />

Sie sie auch nicht im Gesetz finden.<br />

• „Auffangformel“: Verhalten eines sorgfältigen (d.h. nicht nachlässigen,<br />

aber auch nicht „krankhaft übervorsichtigen“), besonnenen<br />

Durchschnittsbürgers in konkreter Situation des Täters ( weniger<br />

empirische, als normative Bewertung!)<br />

Maßstab aus Interessenabwägung zwischen Maß und Wahrscheinlichkeit<br />

einer Gefahr einerseits und drohender Beeinträchtigung des<br />

sozialen Verkehrs andererseits<br />

Bspe.:<br />

(1) Zur Bedeutung von Gefahrwahrscheinlichkeit und Gefahrengröße:<br />

(a) Wie sorgfältig Materialien, die auf einem Baugerüst liegen, um eingebaut<br />

zu werden, gesichert werden müssen, hängt davon ab, ob es sich um<br />

eine „einsame“ Baustelle handelt, auf der sich normalerweise niemand<br />

unter dem Gerüst aufhält, oder ob es die Sanierung eines Geschäftshauses<br />

in der Innenstadt ist, wo auf dem Gehweg unter dem Gerüst ständig<br />

große Menschenmassen unterwegs sind.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 69


(b) Auch auf einem Baugerüst auf der zweitgenannten Baustelle, unter<br />

dem zahlreiche Passanten durchlaufen, wird es einen Unterschied machen,<br />

ob gerade mit kleinen zurechtgeschnittenen Schaumstoffstücken für<br />

Dämmzwecke hantiert wird, die –selbst wenn sie herunterfallen würden –<br />

niemanden verletzen würden, oder aber mit schweren Metallplatten für<br />

die Außenverkleidung, die einen getroffenen Passanten auf der Straße mit<br />

großer Wahrscheinlichkeit sofort töten würden.<br />

(2) Zur Abwägung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit: Wenn ein<br />

Mann im Bäckerladen beiläufig erzählt, dass er seine Frau loswerden<br />

möchte und auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde, wird<br />

(zumindest) eine Sorgfaltspflichtverletzung nahe liegen, wenn dieser<br />

Mann den Bäcker am nächsten Tag – ohne nochmals seine Frau zu erwähnen<br />

– bittet, in die (dem Bäcker bekannte) Lieblingstorte seiner Frau<br />

doch das mitgebrachte Rattengift einzubacken. Dagegen ist es sicher<br />

nicht sorgfaltspflichtwidrig, wenn der Bäcker dem Mann nur ein paar<br />

Brötchen verkauft, obwohl der Mann diese natürlich auch selbst mit einem<br />

Gift versehen und dann seiner Frau servieren könnte. Sollte man a-<br />

ber jede Möglichkeit der deliktischen Verwendung seiner beruflichen<br />

Leistung mit berücksichtigen, würde der soziale Verkehr zum Erliegen<br />

kommen.<br />

Maß der anzuwendenden Sorgfalt:<br />

• Berücksichtigung von Sonderfertigkeiten:<br />

∗<br />

unterdurchschnittliche Fähigkeiten oder Kenntnisse für objektiven<br />

Sorgfaltsanforderungen unbeachtlich<br />

• arg.: objektivierte Beurteilung des Verhaltens durch die<br />

Rechtsordnung, noch nicht persönliche Vorwerfbarkeit;<br />

nicht individuell-herabgestufter Maßstab dient Rechtsgüterschutz,<br />

ohne soziales Leben wesentlich zu beeinträchtigen<br />

• möglicherweise aber Strafbarkeit auf Prüfungsstufe der<br />

Schuld (individuelle Sorgfaltspflichtverletzung) ausgeschlossen;<br />

dabei dann aber „Übernahmeverschulden“ zu berücksichtigen<br />

Bsp.: Ist eine Standardoperation durchzuführen, kann sich der diensthabende<br />

Facharzt für Chirurgie nicht darauf berufen, dass er ein besonders schlechter Operateur<br />

ist, kein Blut sehen kann und deswegen der Operation nicht gewachsen ist.<br />

Wäre der Chirurg aber besonders unerfahren, könnte er insoweit schuldlos handeln,<br />

∗<br />

∗<br />

wenn ihm die Einhaltung der objektiven Sorgfalt eines Operateur subjektiv nicht<br />

möglich war (keine subjektive Sorgfaltspflichtverletzung). Allerdings kann ihm<br />

u.U. vorgeworfen werden, dann überhaupt die Operation durchgeführt zu haben; also:<br />

Hat er sie allein übernommen, weil er „mal sehen wollte, wie es so ist, wenn<br />

man operiert“, ist dieses Verhalten objektiv und subjektiv pflichtwidrig; musste er<br />

dagegen auf freiem Feld eine Notoperation durchführen, damit überhaupt noch eine<br />

Rettungschance für das schwerverletzte Opfer besteht, wird man keinen objektiven<br />

Sorgfaltspflichtverstoß darin sehen, alles zu versuchen, was der Rettung dienen<br />

kann.<br />

überdurchschnittliche Kenntnisse in der konkreten Situation nach<br />

h.M. stets zu berücksichtigen; nach M.M. dagegen nur solche<br />

Kenntnisse, die zu erlangen der Täter verpflichtet gewesen wäre<br />

Bsp.: 76 Ein Biologiestudent arbeitet als Aushilfskellner und entdeckt in einem exotischen<br />

Salat eine seltene giftige Frucht, die ihm nur auf Grund seiner im Studium<br />

erworbenen besonderen Kenntnisse bekannt ist. Wenn er nun den Salat dennoch<br />

serviert, kommt eine Strafbarkeit nur in Betracht, wenn ihn auch in seiner Rolle<br />

als Kellner das davon völlig unabhängige (und hier sogar nur Experten zugängliche)<br />

Wissen aus seiner Rolle als Biologiestudent „belastet“. Denn man wird von einem<br />

Kellner, zumal von einem Aushilfskellner, nicht verlangen können, dass er ü-<br />

ber vertiefte Kenntnisse in der Botanik exotischer Pflanzen verfügt.<br />

überdurchschnittliche Fertigkeiten: nach h.M. im Interesse des<br />

Rechtsgüterschutzes ebenfalls zu berücksichtigen; nach M.M.<br />

soll dagegen besonders „tüchtiger“ Täter nicht „benachteiligt“<br />

werden<br />

Bsp.: Bei einer dringenden Notoperation in einem kleinen Krankenhaus kommt ein<br />

Opfer auf den Operationstisch, das an sich nur von drei Spezialisten an Universitätskliniken<br />

in Deutschland gerettet werden könnte, da die Operation so schwierig<br />

und die Lage so kritisch ist. Zufällig ist an dem Krankenhaus der junge, aber außergewöhnlich<br />

talentierte Oberarzt A, der sich noch dazu gerade für solche Fälle<br />

besonders interessiert und sich privat noch weitergebildet hat. Er hätte die Fähigkeiten,<br />

das Opfer zu retten, macht aber einen Fehler. Dieser war für ihn vermeidbar,<br />

wäre aber außer ihm und den drei o.g. Spezialisten jedem Klinikchef in Deutschland<br />

mit großer Sicherheit auch unterlaufen. Soll A nun dafür bestraft werden, dass<br />

er Außergewöhnliches leisten könnte? Und: wäre es vielleicht ein Unterschied, wenn<br />

76 Nach Jakobs, Kaufmann-GS, S. 271, 273.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 70


∗<br />

ein Patient in einem ebenso schweren, aber weniger dringenden Fall gerade einen der<br />

drei o.g. Spezialisten aufsucht, weil man ihm sagte, dass dieser ihn retten könnte? 77<br />

Zusammengefasst: „Es ist (…) nach ‚unten’ zu generalisieren,<br />

nach ‚oben’ zu individualisieren.“ 78<br />

Alternativ: formal sowohl „nach oben als auch nach unten“ zu<br />

generalisieren, allerdings mit differenzierender Maßstabsfigur<br />

(nicht „irgendein Autofahrer“, sondern „geübte Autofahrer“;<br />

nicht „irgendein Arzt“, sondern „ein guter Chirurg“ usw.)<br />

• Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Aspekt zur Begrenzung und Konturierung von Sorgfaltspflichten<br />

Inhalt: wer sich selbst grundsätzlich sorgfaltsgemäß verhält, darf<br />

darauf vertrauen darf, dass auch andere dies tun<br />

historische Wurzel: Straßenverkehr<br />

Bsp.: Wer mit vorschriftsgemäßer Geschwindigkeit eine Ortsstraße entlang fährt,<br />

darf darauf vertrauen, dass grundsätzlich kein Fußgänger ohne zu schauen auf die<br />

Straße stürmt – einem solchen (vorstellbaren, aber eben nicht einzubeziehenden)<br />

Verhalten muss man seinen Fahrstil grundsätzlich nicht anpassen.<br />

weitere Anwendungsbereich: Arbeitsteilung (z.B.: Chirurg darf sich<br />

grds. darauf verlassen, dass Anästhesist ordnungsgemäß narkotisiert) und<br />

nach Teilen der Lit. noch darüber hinaus immer, wenn „sich im<br />

sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren“<br />

79<br />

Anwendungsfall des (bzw. vielleicht besser: Sachgrund für das)<br />

erlaubte(n) Risiko(s)<br />

Grenze: „triftiger Anlass zum Nichtvertrauen“ ( „Reaktivierung<br />

der höheren Sorgfaltspflichten)<br />

77 In dieser letzten Abwandlung könnte man davon sprechen, dass für bestimmte Spezialisten<br />

„besondere Maßfiguren“ gelten müssen, vgl. Roxin, <strong>AT</strong> I, § 24 Rn. 49.<br />

78 Vgl. Roxin, <strong>AT</strong> I, § 24 Rn. 50; ähnlich etwa Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15<br />

Rn. 139 ff.<br />

79 Vgl. Stratenwerth, <strong>AT</strong>, § 15 Rn. 66 a.E.<br />

<br />

Bsp.: Wenn in dem o.g. Autofahrerfall Kinder mit einem Ball nahe der Straße<br />

spielen oder wenn an einer roten Fußgängerampel ein Junge kurz vor Schulbeginn<br />

hastig rennend und ohne aufzublicken auf die Fahrbahn zuläuft, besteht Anlass,<br />

sich darauf vorzubereiten, dass die Kinder bzw. der Junge entgegen den Verkehrsregeln<br />

die Straße unversehens und plötzlich betreten könnten.<br />

Kritik an Konzept / Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung in Teilen der<br />

Lit.:<br />

Klausurhinweis:<br />

Es geht im Folgenden weniger darum, diese Frage in einer Klausurlösung<br />

zu thematisieren: Sie können dort – und sogar in einer Hausarbeit<br />

– m.E. ohne vertiefte Diskussion auf das Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung<br />

zurückgreifen. Die folgenden Ausführungen sollen<br />

Ihnen zum einen etwas Hintergrundinformation liefern, helfen zum<br />

anderen aber vielleicht auch das Problem der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />

auf dem Boden der h.M. besser zu verstehen. Denn m.E. geht es<br />

vielfach eher um terminologische Unterschiede; außerdem werden<br />

bestimmte, durchaus auch für die h.M. wichtige Aspekte von abweichenden<br />

Ansätzen besonders klar herausgestellt.<br />

• Ansatzpunkte der Kritik (z.B. Jakobs / Roxin)<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Prüfungspunkt der Sorgfaltspflichtverletzung nicht erforderlich<br />

Maßstab zu unscharf<br />

Bezeichnung „Sorgfaltspflichtverletzung“ normlogisch unrichtig,<br />

da „es bei der Fahrlässigkeit – wie beim Vorsatz – keine andere<br />

Pflicht als die sich aus der Norm ergebende Pflicht“ gebe<br />

„und nur gegen diese Pflicht (...) verstoßen“ werde 80<br />

• alternative Konzepte / Begrifflichkeiten (die allerdings m.E. keinen<br />

großen Fortschritt bringen):<br />

80 Vgl. Jakobs, <strong>AT</strong>, Abschn. 9 Rn. 6 (gemeint ist mit „der Norm“ wohl das jeweilige Fahrlässigkeitsdelikt).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 71


∗<br />

∗<br />

∗<br />

Überschreitung des erlaubten Risikos (Jakobs)<br />

Gleichsetzung mit objektive Zurechnung (Roxin)<br />

bloßes Abstellen auf Erkennbarkeit (Schroeder) oder „Anlass zur<br />

Vorsicht / zum Misstrauen“ (Duttge)<br />

b) Die objektive Zurechnung beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />

<br />

<br />

Zusätzliches Korrektiv über Kausalzusammenhang zwischen Handlung<br />

und Erfolg hinaus<br />

Bedeutung sogar größer als beim Vorsatzdelikt, da Vorsatz als zusätzliches<br />

Korrektiv (Stichwort: Irrtum über den Kausalverlauf) nicht zur Verfügung<br />

steht<br />

Eine ganze Reihe von Beispielen, die üblicherweise bei der objektiven Zurechnung genannt werden,<br />

spielen eigentlich bei Fahrlässigkeitsdelikten eine größere Rolle. So wird es etwa in den als<br />

„Retterfälle“ bezeichneten Konstellationen, in denen jemand ein Gebäude anzündet und ein Retter<br />

durch den Brand ums Leben kommt, zumeist um die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts<br />

(§ 222 oder § 306c StGB) gehen.<br />

Wichtige Fallgruppen beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />

• fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />

∗<br />

∗<br />

Ausschluss der objektiven Zurechnung, wenn Erfolg auch bei<br />

hypothetischem rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten<br />

wäre<br />

Bsp.: 81 Der Leiter einer Pinselfabrik gibt seinen Arbeitern chinesische Ziegenhaare<br />

zur Verarbeitung aus, ohne diese vorher vorschriftsgemäß desinfizieren zu lassen.<br />

Ein Arbeiter verstirbt im Anschluss an Milzbrand, der durch Bazillen auf den<br />

Ziegenhaaren hervorgerufen wurde. Stellt sich hier heraus, dass die vorgeschriebenen<br />

Desinfektionen den tödlichen Bazillus mit Sicherheit nicht abgetötet hätten, da es<br />

sich um eine in Europa noch unbekannte Sorte handelte, wäre der Erfolg auch bei<br />

rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten.<br />

str., wenn nicht sicher feststeht, ob Erfolg bei pflichtgemäßem<br />

Verhalten eingetreten wäre<br />

81 Nach RGSt 63, 211 (abgewandelt)<br />

nach in Lit. vertretener Risikoerhöhungslehre 82 gleichwohl<br />

Strafbarkeit;<br />

arg. der h.M.: drohende Aushöhlung des Grundsatzes in dubio<br />

pro reo; Verfremdung des Charakters als Verletzungsdelikt<br />

Bsp.: 83 Lkw-Fahrer T überholte den Radfahrer O, ohne den nach der StVO vorgeschriebenen<br />

Seitenabstand von 1 – 1,50 m einzuhalten. Während des Überholvorganges<br />

geriet der stark alkoholisierte O unter die Hinterreifen des Anhängers,<br />

weil er in Folge einer alkoholbedingten Kurzschlussreaktion des Fahrrad nach<br />

links zog. Es wurde festgestellt, dass wegen der Alkoholisierung des O der Unfall<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Ausgang auch eingetreten wäre,<br />

wenn T den Abstand eingehalten hätte. Nach Ansicht des BGH scheidet<br />

§ 222 StGB aus, da nicht feststellbar sein (in dubio pro reo!), dass nicht der gleiche<br />

Erfolg eingetreten wäre, wenn sich der Täter rechtlich einwandfrei verhalten hätte.<br />

Die Vertreter der Risikoerhöhungslehre würden dagegen zu einer Strafbarkeit<br />

kommen<br />

Klausurhinweis:<br />

Machen Sie sich zweierlei klar: Zum einen, dass der Streit um die<br />

Risikoerhöhungslehre dann von vorneherein keine Rolle spielt, wenn<br />

sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass der Erfolg auf jeden Fall auch bei<br />

ordnungsgemäßem Verhalten eingetreten wäre – in diesen Fällen<br />

müssen Sie das Problem also nicht vertiefen; zum anderen dass auf<br />

Grund der vorgebrachten Argumente und des Meinungsstandes in<br />

der Literatur in der Klausur beide Ansichten ohne Weiteres vertretbar<br />

sind – es kommt also darauf an, was Sie mehr überzeugt und was<br />

Sie meinen, besser begründen zu können.<br />

• fehlender Schutzzweckzusammenhang<br />

Bsp.: T fuhr mit seinem Wagen mit 120 km/h über eine Landstraße, auf<br />

der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h galt. In der nächsten Stadt<br />

bremste er auf die vorgeschriebenen 50 km/h ab; plötzlich lief die kleine<br />

O so rasch auf die Fahrbahn, dass T nicht mehr bremsen konnte. O ver-<br />

82 Grundlegend Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff.; zahlreiche Vertreter sind aufgezählt bei Roxin,<br />

<strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 78, dort Fußn. 144.<br />

83 Nach BGHSt 11, 1.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 72


starb. Staatsanwalt S meinte, wenn T auf der Landstraße langsamer gefahren<br />

wäre, hätte O die Straße schon längst überquert gehabt, bis T an<br />

die Unfallstelle gekommen wäre. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />

kann zwar tatsächlich bejaht werden; allerdings soll ein Tempolimit außerorts<br />

nicht die spätere Ankunftszeit an irgendeiner Stelle beeinflussen,<br />

sondern die Bremsmöglichkeit des Fahrers (und Ausweichmöglichkeiten<br />

der anderen Verkehrsteilnehmer bei Eintritt einer „kritischen Situation“)<br />

sicherstellen.<br />

3. Insbesondere: Rechtswidrigkeit und Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />

<br />

Grundsatz: Geltung der allgemeinen Regeln zu Rechtswidrigkeit und<br />

Schuld; aber einige zusätzliche Besonderheiten<br />

a) Rechtswidrigkeit<br />

<br />

<br />

Als Rechtfertigungs- (also z.B. Notwehr- oder Notstands-) Handlungen<br />

insbesondere solche Erfolge gerechtfertigt, die<br />

• auch vorsätzlich hätten herbeigeführt werden dürfen<br />

T wird von O, der ihn töten möchte, mit einem Messer angegriffen. Als er<br />

das Messer schon in seinen Hals eindringen fühlt, kann T kann gerade<br />

noch einen Stein greifen. Er möchte ihn O auf die Schulter schlagen, trifft<br />

ihn aber versehentlich am Kopf. O ist tot.<br />

• sich als Realisierung einer Gefahr darstellen, die vom Rechtfertigungsgrund<br />

gedeckt war.<br />

Bsp.: T wird vom körperlich unterlegenen O angegriffen. Um ihn nicht<br />

schwerer verletzen zu müssen, stößt er ihn heftig von sich. O stürzt mit<br />

dem Kopf unglücklich auf einen Stein und ist tot.<br />

Alternative Konstruktion: „was gerechtfertigt ist, kann schon nicht objektiv<br />

pflichtwidrig sein“<br />

bei Fahrlässigkeitsdelikten ist Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes<br />

unschädlich<br />

b) Schuld<br />

<br />

<br />

Modifikationen gegenüber den allgemeinen Grundsätzen:<br />

• allgemeine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als Entschuldigungsgrund<br />

ernsthaft diskutiert<br />

• insbesondere bei nur unbewusster Fahrlässigkeit potentielles Unrechtsbewusstsein<br />

ausreichend<br />

Zusätzliche Prüfungspunkte: subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolges<br />

und subjektive Pflichtwidrigkeit<br />

Klausurhinweis:<br />

Denken Sie aber beim Ausschluss der Schuld wegen des Fehlens<br />

einer subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung an den oben 84 bereits<br />

erwähnten Aspekt des „Übernahmeverschuldens“. Ein solches kann<br />

vorliegen, wenn der Täter sich erst gar nicht in eine Situation hätte<br />

begeben dürfen, der er auf Grund seiner unterdurchschnittlichen<br />

Fähigkeiten nicht gewachsen ist.<br />

84 Vgl. o. zur Frage nach Objektivierung oder Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 73


II. Das Unterlassungsdelikt<br />

Literatur: Kühl: § 18; W/B: Rn. 694 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>: Fälle 179 – 201.<br />

1. Abgrenzung und Einordnung<br />

a) Echte und unechte Unterlassungsdelikt<br />

<br />

<br />

Unechte Unterlassungsdelikte<br />

• Keine eigenen Tatbestände<br />

• Stattdessen kann Unterlassen das im Tatbestand eigentlich erforderliche<br />

aktive Tun unter bestimmten Umständen ersetzen<br />

„Spiegelbild“ der Norm wegen „Begehungsgleichheit“<br />

Echte Unterlassungsdelikte<br />

• Explizit normiert (wichtig: §§ 323c StGB und 138 StGB)<br />

• Selten, da grds. Handlungsverbote, aber manchmal wegen erforderlicher<br />

Solidarität der Bürger untereinander auch Handlungsgebote<br />

Bsp.: T fährt unachtsam den Passanten P an, der verletzt liegen bleibt. T<br />

schaut sich P kurz an, hat aber keine Lust, sich um ihn zu kümmern, und<br />

fährt weiter. Auch Spaziergänger S hat etwas Besseres zu tun und lässt P<br />

ebenfalls auf der kalten Straße liegen, obwohl sonst niemand in der Nähe<br />

ist. P verstirbt, hätte aber gerettet werden können, wenn T oder S einen<br />

Notarzt alarmiert hätten.<br />

Während T ein vorsätzliches Tötungsdelikt durch Unterlassen (§§ 212,<br />

evt. 211, 13 StGB) begangen hat, ist S nur wegen unterlassener Hilfsleistung<br />

(§ 323c StGB) strafbar: T hatte nach h.M. i.S.d. § 13 I StGB „rechtlich<br />

dafür einzustehen (...), dass der Erfolg nicht eintritt“, da er den P ü-<br />

berhaupt erst in die gefährliche Situation brachte (sog. Garantenstellung<br />

aus Ingerenz; dazu näher unten). Deswegen kann ihm ein Vorwurf gemacht<br />

werden, der mit dem des Begehungsdelikts weitgehend vergleichbar<br />

ist. Demgegenüber hat S „nur“ eine allgemeine zwischenmenschliche<br />

Solidaritätspflicht verletzt, die nur ausnahmsweise – wie hier in<br />

§ 323c StGB – strafrechtlich abgesichert ist. Der damit verbundene Vorwurf<br />

wiegt auch bedeutend geringer. Da § 323c StGB im Gesetz genuin<br />

als ein solches Unterlassen beschrieben ist, handelt es sich um ein echtes<br />

Unterlassungsdelikt.<br />

b) Abgrenzung von Tun und Unterlassen<br />

Aktives Tun: In Gang bringen eines Geschehens durch Einsatz von E-<br />

nergie, das bis dahin ungefährdetes Rechtsgut beeinträchtigt.<br />

Bspe.: T greift ins Regal eines Plattenladens und steckt eine CD in seine Manteltasche. T tötet<br />

mit einem gezielten Schuss den Passanten P, der harmlos des Weges kommt. T vernichtet eine<br />

Urkunde, aus der sich gegen ihn bestehende Ansprüche ergeben usw.<br />

<br />

Unstreitige Fälle des Unterlassens: „schlicht gar nichts tun“, d.h. passiv<br />

bleiben und nur einem unabhängig von eigenem Handeln ablaufenden<br />

Geschehen seinen Lauf lässt.<br />

Bspe.: 85 Krankenschwester K sitzt im Dienstzimmer, als aus einem Zimmer über die Rufanlage<br />

der Hilfsruf eines röchelnden Patienten kommt; sie sitzt in stoischer Ruhe auf ihrem Stuhl und<br />

wartet, bis die Rufe in einem leisten Gurgeln verstummen und gespenstische Ruhe einkehrt. H<br />

ist zuständig für die Sicherheitskontrollen im Atomkraftwerk von S; als ein Störfall gemeldet<br />

wird, beobachtet er fasziniert die vielen blinkenden Lichter, ohne etwas zu tun.<br />

Klausurhinweis:<br />

Einem aktiven Tun folgt oft ein Unterlassen nach: Immer, wenn der<br />

Mörder sein Opfer nicht sofort getötet hat, sondern dieses noch<br />

kurze Zeit mit dem Leben ringt, könnte man für diese Zeit ein Unterlassen<br />

von Rettungsmaßnahmen annehmen usw. Dieses nachfolgende<br />

Unterlassen ist grundsätzlich unbeachtlich und muss in der Klausur<br />

auch nicht angesprochen werden, wenn der Sachverhalt nicht<br />

ersichtlich darauf angelegt ist (z.B. indem dieser Zeitraum lange und<br />

85 In beiden Beispielen liegt nahe, dass K bzw. H als Garanten (K als sog. Beschützergarantin, die<br />

für das Rechtsgut „Leben der ihr anvertrauten Patienten“ zuständig ist; H als sog. Überwachergarant,<br />

der über die von einer von ihm überwachten Gefahrenquelle ausgehenden Gefahren zu<br />

wachen hat) dennoch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können; das ändert aber<br />

nichts daran, dass es klare Fälle eines Unterlassens sind. Stellt man sich vor, dass es sich um<br />

„Nicht-Garanten“ handelt, wird die Einordnung als Unterlassen besonders deutlich, weil dann<br />

keine Strafbarkeit wegen eines unechten (begehungsgleichen) Unterlassens besteht: Würde also<br />

im Beispiel oben nicht Krankenschwester K, sondern Besucherin B die Hilferufe geflissentlich<br />

überhören, könnte sie allenfalls nach § 323c StGB bestraft werden.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 74


ausführlich geschildert wird). Wenn vorangegangenes Tun und nachfolgendes<br />

Unterlassen im Übrigen gleichwertig sind, tritt das Unterlassen<br />

als schwächere Form des Rechtsgutsangriffs regelmäßig subsidiär<br />

zurück, 86 was aber – wie eben erwähnt – zumeist nicht einmal<br />

festgestellt werden muss. Insbesondere unterbricht auch ein pflichtwidriges<br />

Unterlassen nicht den Kausal- und Zurechnungszusammenhang,<br />

der vom aktiven Tun zum Erfolg führt. Eine eigenständige<br />

Bedeutung könnte man nur annehmen, wenn das nachfolgende Unterlassen<br />

aus irgendwelchen Gründen schwerer wiegt, insbesondere<br />

wenn das aktive Tun nur fahrlässig, das Unterlassen dagegen vorsätzlich<br />

erfolgte.<br />

<br />

Problemfälle: Verhaltensweisen sind mehrdeutig („Koinzidenz“ von Tun<br />

und Unterlassen)<br />

Abgrenzung erforderlich<br />

Entscheidung, nach der Relevanz der Verhaltensform.<br />

Klassische Beispiele:<br />

(1) Der behandelnde Arzt Dr. A stellt nach mehrtägigem verzweifeltem Kampf um das Leben<br />

des O die Herz-Lungenmaschine ab: Hier liegt im Abstellen („Hebel-Umlegen“) einerseits ein<br />

Element des Tuns, im „Nicht-mehr-weiter-Behandeln“ zugleich eines des Unterlassens.<br />

(2) T wirft dem ertrinkenden O von seinem Boot aus ein Seil zu. Als O das Seil fast erreicht<br />

hat, erkennt A in ihm den Mann, der ihm auf dem Parkplatz vor dem Badesee brutal eine<br />

Parklücke „vor der Nase weggeschnappt“ hat, und er zieht schnell das Seil zurück. Hier liegt<br />

im Zurückziehen einerseits ein Element des Tuns, im „Nicht-mehr-weiter-Retten“ zugleich eines<br />

des Unterlassens.<br />

(3) T hebt eine Grube für Kabelarbeiten am nächsten Tag aus. Als er nach Hause geht, verzichtet<br />

er darauf, ein Schild oder eine Absperrung aufzustellen. In der Dunkelheit fällt Spaziergänger<br />

O in die Grube und verletzt sich. Hier liegt im Ausheben der Grube und Fortgehen einerseits<br />

ein Element des Tuns, im Nichtabsichern zugleich eines des Unterlassens.<br />

86 Nach a.A. kann es schon am Tatbestand fehlen, da von demjenigen, der in einer bestimmten<br />

Verletzungsangriff ein Rechtsgut aktiv angegriffen hat, nicht erwartet werden könne, anschließend<br />

zu seiner Rettung tätig zu werden, so dass ein Garantenstellung aus sog. Ingerenz (vgl. u.<br />

S. 79) ausscheide. Mich überzeugt das weniger: entscheidend ist nicht, was man „tatsächlich<br />

erwartet“, sondern was man normativ „erwarten kann“; und da einer drohenden Doppelbestrafung<br />

leicht auf Konkurrenzebene begegnet werden kann, spricht insgesamt mehr dafür, in Fällen<br />

dieser Art tatbestandlich erst einmal eine Garantenstellung zu bejahen.<br />

Zwei wesentliche Meinungen zur Abgrenzung<br />

Kernaussage<br />

Die Abgrenzung muss<br />

wertend getroffen werden<br />

Abgrenzungskriterium<br />

Kritik<br />

Naturalistisch-ontologische<br />

Abgrenzung (wichtige Stimmen<br />

in Lit.)<br />

Die Abgrenzung lässt sich empirisch<br />

lösen<br />

Kausalität; Energieeinsatz; Kombination<br />

beider Kriterien<br />

Energieeinsatz an sich kann u.U.<br />

sozialadäquat sein und daher möglicherweise<br />

kein tauglicher Anknüpfungspunkt<br />

für strafrechtlichen<br />

Vorwurf;<br />

nicht jeder Energieeinsatz / jede<br />

Kausalität begründet Zuständigkeit<br />

für Rechtsgutsverletzung<br />

Normative Abgrenzung<br />

(Rspr. und Teile der Lit.)<br />

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit<br />

bei wertender<br />

Betrachtung<br />

Begründung eines Ergebnisses,<br />

das vorher nur<br />

intuitiv getroffen wurde;<br />

daher Gefahr von willkürlichen<br />

Entscheidungen<br />

und tautologischen<br />

Begründungen<br />

• Vorwurf an normative Abgrenzung: Vorwegnahme des Ergebnisses<br />

bedenklich, da oft Entscheidung über Strafbarkeit.<br />

• Vorwurf an naturalistisch-ontologische Abgrenzung: willkürliche<br />

Entscheidungen mit Energieeinsatz oder Kausalität, wertungsmäßig<br />

vertretbare Ergebnisse nur mit normativer Abgrenzung<br />

Bsp.: Das zeigt etwa die Behandlung von klassischen „Problemfällen“<br />

bei Otto 87 der selbst die Schwerpunktformel ablehnt. So löst er den Fall<br />

des „Abschaltens eines Beatmungsgerätes“ (bei dem man nur über den<br />

„Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ zu einem Unterlassen kommen kann)<br />

ohne Entscheidung in der Sache mit der Möglichkeit einer Straflosigkeit<br />

bei Realisierung „des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Behandlungsfreiheit<br />

des Kranken“. Dieser Gesichtspunkt ist sicher wichtig, umgeht<br />

aber das Problem.<br />

87 <strong>AT</strong>, § 9 Rn. 4 ff., hier nur exemplarisch für viele herausgegriffen.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 75


Noch deutlicher zeigt dies die Behandlung des sonstigen „Abbruchs von<br />

Rettungsmaßnahmen“: Durch die Beschränkung der Annahme eines Tuns<br />

auf Fälle, in denen „eine bereits existent gewordene – objektivierte – Rettungschance“<br />

besteht, darf mangels gegenteiliger Ausführungen unterstellt<br />

werden, dass im Ergebnis die Rücknahme von noch nicht konkretisierten<br />

Rettungshandlungen mit der h.M. als Unterlassen gedeutet werden<br />

soll. Aber auch das ist im Einzelfall (so beim Zurückziehen eines Rettungsringes,<br />

bevor das Opfer in dessen Nähe ist, den es aber sonst erreicht<br />

hätte) mit Kriterien wie dem Energieeinsatz und der Kausalität<br />

nicht ohne Weiteres zu begründen, wenn nicht auf Wertungsebene ein Zurechnungszusammenhang<br />

verneint wird.<br />

Lösung der o.g. „klassischen Problemfälle“ nach der „Schwerpunktformel“<br />

• Fall (3): An sich wünschenswertem Verhalten (Baumaßnahmen), nur<br />

Sicherungspflicht nicht nachgekommen. Dieses „Unterlassen“ ist nur<br />

notwendige Verhaltensmodalität des Fahrlässigkeitsvorwurfs („Außerachtlassen<br />

der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“)<br />

Schwerpunkt auf dem unsorgfältigen (aktiven) Tun 88<br />

• Fall (2): nach h.M zu differenzieren<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Abbrechen der Rettungsmaßnahme, die Opfer schon erreicht<br />

und realisierbare Rettungsmöglichkeit eröffnet hat<br />

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf aktivem Tun (z.B. Zurückziehen<br />

das Seiles) Begehung<br />

Abbrechen der Rettungsmaßnahme, die Opfer noch nicht erreicht<br />

hat<br />

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf Unterlassen des Fortfahrens<br />

mit der Rettung Unterlassen<br />

Eingriff in fremde Rettungshandlungen (also z.B.: T reißt X, der O<br />

retten will, das Seil aus der Hand): regelmäßig aktives Tun<br />

88 Ähnlich würde es liegen, wenn bei Dunkelheit ein ohne Licht fahrender Fahrradfahrer einen<br />

Fußgänger anfährt, der an den Folgen des Unfalls stirbt. Hier liegt der Schwerpunkt der vorwerfbaren<br />

Verhaltens wieder im aktiven Tun, während das Nichtanschalten des Lichts eine notwendige<br />

Verhaltensmodalität für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist.<br />

• Fall (1) (Abstellen von lebenserhaltenden Geräten): Übertragung der<br />

Grundsätze, d.h.<br />

∗<br />

∗<br />

Ausschalten durch „Dritten“ (in Klausuren z.B. oft: der missgünstige<br />

Geliebte der Ehefrau oder der ungeduldige Erbe) ist<br />

Eingreifen in den Rettungsvorgang von außen aktives Tun<br />

Abschalten durch den behandelnden Arzt: Schwerpunkt der<br />

Vorwerfbarkeit nicht auf geringfügigem Energieeinsatzes eines<br />

Hebelumlegens, sondern auf „Nicht-mehr-weiter-Behandeln“<br />

Unterlassen<br />

aber: grds. hat Arzt Garantenpflicht (vgl. näher unten), so dass er<br />

auch wegen Unterlassens strafbar sein kann 89<br />

89 Die Reichweite dieser Garantenpflicht kann wiederum durch vertragliche Regelungen oder<br />

Zumutbarkeitsgesichtspunkt begrenzt sein, so dass ein Arzt, der lebensverlängernde Maßnahme<br />

bei einem schwerstkranken und sterbewilligen Patienten auf dessen Anordnung unterlässt, nicht<br />

automatisch in eine Strafbarkeit „gedrängt“ wird. Insoweit hat die Einordnung als Unterlassen<br />

auch vom Ergebnis her betrachtet den Vorteil, dass die Ablehnung einer Strafbarkeit in „Konfliktsituationen“<br />

leichter begründet werden kann als bei Annahme eines aktiven Tuns, bei dem<br />

man auf mehr oder weniger unscharfe Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungslösungen angewiesen<br />

wäre.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 76


c) Prüfungsschema des vollendeten, vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich<br />

B. Das Unterlassungsdelikt<br />

Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe)<br />

Prüfungsschema des unechten Unterlassungsdelikts<br />

(vorsätzliches vollendetes Delikt)<br />

<br />

Im Einzelfall problematischere Punkte:<br />

• Quasikausalität beim Unterlassungsdelikt (sogleich a)<br />

• Objektive Zurechnung beim Unterlassungsdelikt (im Anschluss b)<br />

• Garantenstellung (im Anschluss c)<br />

Obj. Tatbestand<br />

Subj. Tatbestand<br />

Rechtswidrigkeit<br />

Schuld<br />

•Abgrenzung Tun / Unterlassen<br />

(auch als „Vorprüfung“ möglich)<br />

•Erfolgseintritt<br />

•Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz<br />

physisch-realer Handlungsmöglichkeit<br />

•Quasi-Kausalität<br />

•Objektive Zurechnung<br />

•Garantenstellung<br />

•Gleichwertigkeit des Unterlassens<br />

Insb. Vorsatz hinsichtlich der Garantenstellung<br />

Insb. rechtfertigende Pflichtenkollision<br />

Insb. Probleme der Zumutbarkeit normgemäßen<br />

Verhaltens<br />

• Gleichwertigkeitsklausel (zuletzt d)<br />

a) Die Quasikausalität beim unechten UnterlassungsdeliktKausalität eines Unterlassens<br />

i.e.S. nicht vorstellbar<br />

Modifikation der Äquivalenztheorie (h.M.): Unterlassen ist im Rechtssinne<br />

kausal, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden<br />

kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.<br />

<br />

A.A.: Risikoerhöhungslehre (vgl. bereits die Diskussion beim Fahrlässigkeitsdelikt)<br />

Unterlassen schon dann kausal, wenn dadurch das Risiko des Erfolgseintritts<br />

erhöht wurde<br />

2. Besonderheiten bei der Prüfung des UnterlassungstatbestandesOft<br />

unproblematische Punkte:<br />

• Unterlassen (und nicht Tun); zu Problemfällen vgl. auch oben<br />

• Physisch-reale Möglichkeit der gebotenen Rettungshandlung<br />

Bsp.: Diese Rettungsmöglichkeit fehlt etwa, wenn der Täter selbst ohnmächtig,<br />

gefesselt oder gelähmt ist. Ebenso bei mangelnder räumlicher<br />

Nähe zur Gefahrensituation (also etwa: der Täter ist in München, das<br />

Opfer in Hamburg) sowie bei individueller Unfähigkeit (also etwa beim<br />

Nichtschwimmer, der einen Ertrinkenden nicht aus dem Wasser holen<br />

kann). In diesen Fällen wird man teils gar keine Prüfung beginnen, teils<br />

aber auch überlegen, ob der Täter nicht wenigstens irgendetwas Sinnvolles<br />

tun konnte: Auch wer selbst nicht schwimmen kann, kann u.U. Hilfe<br />

herbeiholen.<br />

b) Die objektive Zurechnung beim unechten UnterlassungsdeliktAuch beim Unterlassungsdelikt<br />

über Kausalzusammenhang hinaus allgemeine Grundsätze<br />

der objektiven Zurechnung wie für das Begehungsdelikt<br />

Bsp.: Verhindert die garantenpflichtige Ärztin nicht die Verwechslung eines Medikaments mit<br />

einem Gift durch den Pflegepraktikanten, wirkt aber dieses Gift erst zusammen mit einer unabhängig<br />

davon und ohne Wissen des Praktikanten und der Ärztin von X verabreichten Gift<br />

tödlich (kumulative Kausalität), so ist die objektive Zurechnung zu verneinen, da sich nicht das<br />

typische Risiko der ersten Giftdosis realisiert, sondern ein völlig atypischer Kausalverlauf dazu<br />

kommt.<br />

<br />

Zusätzliche Forderung: „gebotene“ Handlung müsste nicht nur zur Abwendung<br />

des konkreten Erfolges, sondern zur Erhaltung oder wesentlich<br />

geringeren Verletzung des Rechtsguts überhaupt geführt haben<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 77


Prof. Dr. Hans Kudlich<br />

B. Das Unterlassungsdelikt<br />

Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe)<br />

Ausgangspunkt: Gleiche Grundsätze wie beim Begehungsdelikt<br />

Zusätzlich: Gebotene Handlung dürfte nicht nur zur Abänderung<br />

des konkreten Erfolges (Ersatz einer Ursache durch eine andere)<br />

geführt, sondern müsste (sicher oder mit größerer Wahrscheinlichkeit,<br />

str.) Rettung des Rechtsguts bewirkt haben.<br />

ohne gebotene<br />

Handlung:<br />

mit gebotener<br />

Handlung:<br />

fehlende<br />

Zurechnung:<br />

b) Die objektive Zurechnung<br />

beim unechten Unterlassungsdelikt<br />

Kausalverlauf<br />

Kausalverlauf unterbrochen<br />

Rechtsgutsverletzung auf<br />

etwas anderem Weg<br />

Erfolg<br />

Bsp.: 90 T war mit seinen zweijährigen Zwillingen X und Y in einem brennenden Hochhaus eingesperrt.<br />

Ein Entkommen durch das Treppenhaus war unmöglich. Die einzige Rettungschance<br />

für X und Y bestand darin, dass T sie aus dem 15 m hoch gelegenen Fenster geworfen hätte.<br />

Da allerdings die Feuerwehr nicht anwesend war, hätte nur die 75-jährige O unten versuchen<br />

können, X und Y zu fangen. Der verzweifelte T konnte sich nicht dazu durchringen, seine Kinder<br />

aus dem Fenster zu werfen und rettete sich selbst im letzten Moment mit einem Sprung aus<br />

dem Fenster, wobei er gerade noch Äste eines nahe am Haus stehenden Baumes erreichte, die<br />

zwar sofort abbrachen, aber den Sturz soweit abfedern konnte, dass T schwer verletzt überlebte.<br />

Seine Kinder verbrannten.<br />

Hier hätte T zwar ohne Zweifel der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Verbrennen)<br />

von X und Y abwenden können. Angesichts der verschwindend geringen<br />

Rettungschance im konkreten Fall kann T aber nicht vorgeworfen werden, dass er<br />

den Feuertod nicht durch den tödlichen Sturz abwandte. Man kann insoweit auch<br />

vom Erfordernis eines speziellen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zwischen Un-<br />

terlassen und Erfolg sprechen; 91 insoweit ist wenig verwunderlich, dass auch hier<br />

Vertreter der Risikoerhöhungslehre einen zurechenbaren Erfolg dann annehmen,<br />

wenn die unterlassene Handlung die Rettungschancen signifikant erhöht hätten,<br />

während die Gegenansicht auch hier in dubio pro reo anwendet und die Zurechnung<br />

schon verneint, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Erfolg auch bei<br />

Vornahme der Handlung eingetreten wäre.<br />

c) Die Garantenstellung<br />

<br />

Ausgangspunkt: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens setzt in<br />

§ 13 StGB besondere Position des Täters voraus“ „rechtlich dafür einzustehen<br />

hat, dass der Erfolg nicht eintritt, ...“<br />

sog. Garantenpflicht<br />

Klausurhinweis:<br />

Auch wenn es im Eifer des Gefechts gerne durcheinander geworfen<br />

wird: Bemühen Sie sich um die korrekte terminologische Unterscheidung<br />

zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht: Die Garantenstellung<br />

kennzeichnet die Umstände, die zu einer Garantenpflicht führen<br />

können. In vielen Fällen ist es zwar möglich, beide Begriffe zu<br />

verwenden, so wenn z.B. gefragt wird, „woraus sich denn eine Garantenstellung<br />

/ eine Garantenpflicht [m.E. genauer] ergeben könne“.<br />

In anderen Fällen (etwa bei Irrtumsfragen, vgl. dazu unten) ist aber<br />

das Verständnis von dieser Unterscheidung unverzichtbar und die<br />

korrekte Terminologie eine Möglichkeit, kurz und prägnant bestimmte<br />

Zusammenhänge unmissverständlich zu benennen.<br />

<br />

Begründung von Garantenpflichten:<br />

• ältere „Rechtsquellenlehre“ unterscheidet Quellen für Garantenpflichten:<br />

∗<br />

Gesetz (z.B. § 1626 BGB – Personensorge der Eltern für ihre<br />

Kinder; § 1353 BGB unter Ehegatte; § 2 I LPartG unter eingetragenen<br />

Lebenspartnern)<br />

90 Nach BGH JZ 1973, 173 (hinsichtlich der Rettungschancen abgewandelt!).<br />

91 So Wessels/Beulke, Rn. 731.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 78


∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Vertrag (z.B. die Zusage des Bankkunden, Fehlbuchungen zu offenbaren;<br />

ärztlicher Behandlungsvertrag)<br />

tatsächliche (auch freiwillige) Übernahme von Schutzpflichten (insbesondere<br />

auch bei einem unwirksamen Vertrag; wesentlich vor allem,<br />

dass Schutzbedürftiger im Vertrauen auf Übernahme andere<br />

Schutzmaßnahmen unterlassen hat)<br />

enges Gemeinschaftsverhältnis (auch über die gesetzlichen Vorschriften<br />

des Familienrechts hinaus; nicht dagegen bei bloßen Zufallsgemeinschaften<br />

wie „Zechkumpanen“ oder den zufälligen Opfern<br />

einer Schiffskatastrophe)<br />

Ingerenz (d.h. gefahrschaffendes Vorverhalten)<br />

• nach h.M. grundsätzlich nur pflichtwidriges Vorverhalten<br />

ausreichend<br />

• z.B. (-) für durch Notwehr Gerechtfertigten gegenüber dem<br />

verletzten Angreifer 92 oder für verkehrsgerecht fahrendem<br />

Autofahrer gegenüber Unfallsopfer (letzteres str., da z.T.<br />

angenommen wird, dass erlaubtes Risiko Ingerenz nach<br />

Eintritt einer konkreten Gefahr nicht notwendig ausschließt<br />

[„Fortbestehen von Rechtsgutsverletzungsvermeidepflichten“])<br />

Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle<br />

• z.B. der Halter eines gefährlichen Hundes; Aufsichtsführer<br />

in einem Atomkraftwerk<br />

• u.U. auch Aufsichtspflichtiger über gefährliche Personen<br />

(Wärter eines gewaltbereiten Geisteskranken), nicht aber<br />

automatisch Verantwortung eines Ehegatten zur Verhinderung<br />

von Straftaten des anderen Gatten<br />

• nicht ohne Weiteres der Inhaber einer „an sich“ ungefährlichen,<br />

aber „missbrauchbaren“ Sache<br />

• „Funktionenlehre“ unterscheidet zwei Arten von Garantenpflichten:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

sog. Beschützer- oder Obhutsgaranten: verantwortlich für ein<br />

Rechtsgut gegenüber allen möglichen Gefahren<br />

Beispiel wäre das Verhältnis von Eltern oder anderen Aufsichtspersonen (Kindermädchen)<br />

zu kleinen Kindern<br />

sog. Überwacher- oder Sicherungsgaranten: verantwortlich für<br />

die Überwachung einer Gefahrenquelle gegenüber allen möglichen<br />

Rechtsgütern<br />

Beispiele wären die Halter gefährlicher Tiere, Aufseher in einem Atomkraftwerk<br />

u.ä.<br />

Kritik: zwar anschauliche und leicht einprägsame Systematisierung;<br />

aber keine Erklärung, woher Garantenpflichten letztlich<br />

kommen<br />

92 Grundlegend BGHSt 23, 327 ff. Diese Einschränkung erscheint mir überzeugend: Denn zum<br />

einen würde das Notwehrrecht, das der Gesetzgeber bewusst als ein „schneidiges“ gestaltet hat,<br />

beeinträchtigt, wenn der Notwehr Übende damit rechnen müsste, dass ihm aus seinem Notwehrhandeln<br />

eine strafbewehrte Garantenstellung erwächst. Zum anderen ist nicht ersichtlich,<br />

weshalb der rechtswidrig Angreifende ausgerechnet von seinem (Notwehr übenden) Opfer ein<br />

Mehr an Hilfe erwarten können sollte als von jedermann sonst.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 79


Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 87<br />

C. Besondere Verbrechensformen<br />

Rechtsquellenlehre: Garantenstellung aus<br />

•Gesetz (z.B. § 1626 BGB)<br />

•Vertrag<br />

•Ingerenz (pflichtwidriges gefahrschaffendes Vorverhalten)<br />

•enges Gemeinschafts-/Vertrauensverhältnis<br />

•freiwillige Übernahme<br />

Funktionenlehre: Unterteilung der Garantenstellung in<br />

•Beschützergarant (= Obhutsgarant): Zuständigkeit für ein<br />

Rechtsgut gegen alle Arten von Gefahren<br />

Gefahr<br />

Rechtsgut<br />

Gefahr<br />

•Überwachergarant (= Sicherungsgarant): Zuständigkeit für eine<br />

Gefahrquelle hinsichtlich aller davon bedrohten Rechtsgüter<br />

Gefahr<br />

Rechtsgut<br />

• Soziologisch fundierte Garantenlehren: Ableitung von Handlungspflichten<br />

aus jeweiliger Rolle des Individuums innerhalb der Gesellschaft;<br />

Garantenpflichten als „gebündelte objektive Verhaltensanordnungen“<br />

innerhalb einer sozialen Rolle<br />

Bsp.: Gegenüber Eltern gibt es innerhalb unserer Gesellschaft die Erwartungshaltung,<br />

dass diese sich um ihre Kinder kümmern. Gerade auf<br />

Grund dieser Erwartung werden u.U. andere sich nicht um die Kinder<br />

kümmern, auch weil sie sich nicht „einmischen“ wollen. Weil die Gesellschaft<br />

also davon ausgeht, dass Eltern ihre Kinder versorgen, müssen<br />

diese das auch tun, weil die Gesellschaft grundsätzlich gar nicht darauf<br />

eingerichtet ist, dass Kinder generell unversorgt wären.<br />

• Zusammenfassung und Stellungnahme<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Unterschiedliche Garantenlehren schließen sich nicht aus, sondern<br />

ergänzen einander<br />

Begründung eher über Rechtsquellenlehre, materielle Erwägungen<br />

und soziologische Theorien<br />

Beschreibung und Systematisierung eher über Funktionenlehre<br />

• Zurückführung von Garantenpflichten auf ein oder auf mehrere<br />

Grundelemente (für sich genommen jeweils M.M., als zusätzlich begründendes<br />

Element oft plausibel), z.B.:<br />

∗<br />

∗<br />

∗<br />

Gefahrschaffung<br />

Vertrauensprinzip<br />

Unterscheidung von Garantenpflichten<br />

• kraft Organisation (d.h. kraft Zuständigkeit für Gefahrenquellen<br />

aus dem eigenen Organisationskreis)<br />

• kraft Institution (d.h. kraft besonderer Verantwortlichkeit für<br />

bestimmte Güter). 93<br />

93 Vgl. etwa Kindhäuser, LPK/StGB § 13 Rn. 34 ff.<br />

Klausurhinweis:<br />

In Klausuren erscheint es mir ratsam, grundsätzlich von der Rechtsquellenlehre<br />

auszugehen, die entsprechenden Obergruppen aber<br />

nicht von Anfang an zu eng zu fassen. Liegt ein Grenzfall vor, kann<br />

mit Erwägungen wie der Zuständigkeit, der gesellschaftlichen Erwartung,<br />

dem Vertrauensprinzip etc. weiter argumentiert werden. Die<br />

Einteilung nach der Funktionenlehre ist nur sinnvoll, um sich selbst<br />

zu verdeutlichen, um welche Art von Garantenstellung es geht, trägt<br />

aber zur Frage, ob eine solche vorliegt, wenig bei. (Bsp.: Wird festgestellt,<br />

dass Eltern eine Garantenstellung für ihre Kinder haben, dann<br />

ist das regelmäßig eine Beschützergarantenstellung; d.h. sie müssen<br />

Gefahren von den Kindern abwehren. Damit ist noch nicht gesagt, dass<br />

sie auch Überwachergaranten für das Verhalten ihrer Kinder in dem<br />

Sinne sind, dass sie von ihren Kindern ausgehende Gefahren überwachen<br />

müssten.).<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 80


Irrtum über Garantenstellung und Garantenpflicht<br />

• Vorsatz muss sich auf objektive Bestehen einer Garantenstellung beziehen<br />

(§ 15 StGB)<br />

• Bei diesbezüglichen Irrtümern zwei Fälle zu unterscheiden:<br />

∗<br />

Irrtum über die Garantenstellung: Täter kennt die tatsächlichen Umstände<br />

nicht, die seine Garantenstellung begründen<br />

nach § 16 I 1 StGB kein Vorsatz<br />

Bspe.:<br />

Die Mutter, die ihr 1-jähriges Kind auf der Straße liegen lässt, wo es nach einer<br />

Minute von einem Auto überfahren wird, hat nicht erkannt, dass es ihr Kind ist.<br />

Sie glaubt dieses zuhause bei der Oma des Kindes.<br />

Der Hundehalter, der nicht einschreitet, als sein Hund auf der Straße einen Menschen<br />

zerfleischt, erkennt nicht, dass es sich um seinen Hund handelt. Er glaubt<br />

diesen zuhause im Zwinger.<br />

Der Autofahrer, der einen Passanten auf der Straße liegen sieht, hat nicht gemerkt,<br />

dass gerade er ihn angefahren hat. Er kennt also nicht die seine Ingerenz begründenden<br />

Umstände.<br />

Klausurhinweis:<br />

In allen drei genannten Beispielen liegt die Annahme nahe, dass der<br />

jeweilige Garant seine Garantenstellung aber hätte erkennen können<br />

und das er bei dem Nichterkennen sorgfaltspflichtwidrig gehandelt<br />

hat (wofür freilich im Sachverhalt noch nähere Angaben stehen<br />

müssten). Insoweit käme – soweit strafbar, vgl. § 15 StGB – ein fahrlässiges<br />

Unterlassungsdelikt in Betracht.<br />

∗<br />

Irrtum über die Garantenpflicht: Täter erkennt die tatsächlichen Umstände,<br />

leitet aber aus diesen in Folge einer falschen rechtlichen<br />

Bewertung keine Garantenpflicht ab<br />

kein Irrtum nach § 16 I 1 StGB, sondern nur Verbotsirrtum<br />

nach § 17 StGB<br />

Bspe.:<br />

Die Mutter erkennt, dass ihr Kind auf der Straße liegt, denkt aber, das gehe sie<br />

nichts an, wenn gerade ihre Schwiegermutter „mit Aufpassen dran“ sei.<br />

Der Autofahrer hat gemerkt, dass er den Fußgänger angefahren hat, denkt aber, er<br />

müsse sich nicht um ihn kümmern, weil „doch dazu der ADAC da“ sei.<br />

d) Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen<br />

<br />

<br />

§ 13 I StGB: „das Unterlassen (muss) der Verwirklichung des gesetzlichen<br />

Tatbestandes durch ein Tun“ entsprechen<br />

Bedeutung der Gleichstellungsklausel<br />

• Bei reinen Erfolgsdelikten (z.B. §§ 212, 303 StGB) nach h.M. ohne<br />

Bedeutung<br />

• Bei verhaltensgebundenen Delikten (z.B.: § 263 StGB, Betrug: nicht nur<br />

Verursachung eines Vermögensschadens, sondern gerade Handeln<br />

durch Täuschung; § 211 II 2. Gruppe StGB: nicht nur Verursachung<br />

des Todes, sondern auf heimtückische, grausame oder gemeingefährliche<br />

Weise) durch Auslegung zu ermitteln sein, wann beim Unterlassen<br />

vergleichbarer Unrechtsgehalt vorliegt. 94 Aber auch hier zumeist<br />

keine zu hohen Anforderungen.<br />

3. Rechtswidrigkeit und Schuld beim unechten Unterlassungsdelikt<br />

<br />

<br />

Ausgangspunkt: Geltung der allgemeinen Grundsätze über Rechtswidrigkeit<br />

und Schuld; allerdings jeweils eine Besonderheit<br />

Rechtswidrigkeitsebene: nach h.M. Rechtfertigungsgrund der sog. Pflichtenkollision,<br />

wenn bei mehreren, nicht gleichzeitig erfüllbaren Handlungspflichten<br />

keine höherrangige Pflicht verletzt wird, d.h.<br />

• von unterschiedlichen wichtigen Pflichten muss die höherrangige erfüllt<br />

werden<br />

94 Vgl. Kindhäuser, LPK/StGB, § 13 Rn. 5.<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 81


• von zwei gleichrangigen Pflichten muss wenigstens eine erfüllt werden<br />

Bspe.:<br />

(1) A hat durch Unaufmerksamkeit sein Haus in Flammen gelegt. Er steht<br />

vor seinem brennenden Wohnhaus und kann nur noch entweder seinen<br />

Sohn S oder seine Tochter T retten. Wenn A eines der Kinder rettet, kann<br />

ihm das Unterlassen der Rettung des anderen nicht vorgeworfen werden<br />

(gleichrangige Pflichten).<br />

(2) A rettet weder S noch T und schon gar nicht seine Frau F, sondern<br />

seine heimliche Geliebte G, die sich wegen der unerwarteten Ankunft von<br />

F, S und T im Kleiderschrank versteckt hatte. Mit G möchte T ein neues<br />

Leben beginnen. Hier ist die Pflicht zur Rettung der Familienangehörigen<br />

jedenfalls höherrangig als die zur Rettung seiner Geliebten.<br />

Schuldebene: nach verbreiteter Auffassung Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />

als zusätzlicher Entschuldigungsgrund (a.A.: wie bei § 323c StGB<br />

sogar Tatbestandsausschließungsgrund)<br />

Bsp.: A sieht, wie sein Sohn S im Eis eingebrochen ist und zu ertrinken droht.<br />

(1) Ist A Nichtschwimmer und hat außerdem ein eingegipstes Bein, kann ihm die Rettung des S<br />

physisch-real bereits unmöglich sein (wenn im konkreten Fall keine Möglichkeit besteht, den S<br />

irgendwie von einem Boot aus mit einer Stange o.ä. zu retten).<br />

(2) Ist A dagegen an sich ein guter Schwimmer, aber auf Grund einer angeborenen Immunschwäche<br />

äußerst krankheitsanfällig und gerade dabei, eine Lungenentzündung auszuheilen, wäre<br />

ihm die Rettung des S physisch-real wohl noch möglich. Allerdings kann es ihm unzumutbar<br />

sein, in das eiskalte Wasser zu springen, wenn er ernsthaft damit rechnen muss, dabei so krank<br />

zu werden, dass er diese Erkrankung auf Grund seiner schwachen Konstitution wahrscheinlich<br />

nicht überlebt.<br />

<br />

nicht, dass ein Mensch, für den er garantenpflichtig ist, in Lebensgefahr<br />

geraten ist.<br />

Prüfungsschema:<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 91<br />

C. Besondere Verbrechensformen<br />

Tatbestand<br />

Schuld<br />

Pr üfungsschema des fahr lässigen Unterlassungsdelikts<br />

•Erfolgseintritt<br />

•Unterlassen (= kein<br />

Tun)<br />

• Nichtvornahme der<br />

gebotenen, tatsächlich<br />

möglichen Handlung<br />

•Quasi-Kausalität<br />

•Garantenstellung<br />

Unechte Unterlassungsdelikte auch bei Fahrlässigkeitsstraftaten vorstellbar<br />

Rechtswidrigkeit<br />

•Sorgfaltspflichtverletzung<br />

•Objektive Zurechnung<br />

•Gleichwertigkeitsklausel<br />

Insb. Probleme der Pflichtenkollision<br />

Insb. Probleme der Zumutbarkeit<br />

normgemäßen Verhaltens<br />

4. Das fahrlässige Unterlassungsdelikt<br />

<br />

<br />

Insbesondere einschlägig, wenn der Täter vorwerfbar<br />

• das Erfordernis einzugreifen oder<br />

• seine Garantenstellung übersieht<br />

Bsp.: Der Garant erkennt fahrlässig nicht, dass eine Gefahrenquelle, für<br />

die er verantwortlich ist, einen Menschen tötet. Oder: er kennt fahrlässig<br />

Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 82

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