Life
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Deutschlands hochveranlagte Generation<br />
vergoldete sich mit dem Triumph in Brasilien:<br />
Heroisch, im Stile eines Anführers, etabliert sich Schweinsteiger als Gesicht eben dieser.<br />
Er dreht sich zurück, schlägt die Hände zusammen. Eine vertrauliche<br />
Geste nach rechts, nach links, ehe der Blick nach vorne schweift. Er ruft<br />
den Feingeistern zu. Anpfiff. Immer und immer wieder das gleiche. Es<br />
ist sein Ritual, seine Art, sich selbst, das ganze Team zu pushen, einzuschwören.<br />
So tat das Bastian Schweinsteiger auch im WM-Finale. Nur<br />
etwas lauter, noch entschlossener.<br />
In solchen Begegnungen werden Legenden geboren - und es wird<br />
Fußball-Geschichte geschrieben. Besonders im Maracana, dem einst<br />
altehrwürdigen Tempel, der für die Endrunde einen zeitgemäßen,<br />
aalglatten Anstrich verpasst bekam. In Brasilien, einem Land, in dem<br />
Fußball nicht nur die schönste Nebensache der Welt ist, sondern in<br />
dem seine Helden vergöttert werden. Schweinsteiger war sich all dessen<br />
bewusst und legte eine würdige, eine epische Vorstellung hin. Es<br />
war das Spiel seines Lebens.<br />
„Das Team“, schwärmte Joachim Löw, „wurde von einem überragenden<br />
Schweinsteiger und einem überragenden Philipp Lahm angeführt.<br />
Was sie gelaufen sind - unglaublich.“ Gemeinsam trug das Bayern-Duo<br />
seine Kollegen durch 120 nervenaufreibende Minuten. Es grätschte,<br />
biss, es schrie. Die Eindrücke einer unsäglichen Debatte verblassten.<br />
„GEILSTE WM SEIT ‚54!“<br />
Rund einen Monat ist es her, da wurden fehlende Typen moniert.<br />
Deutschland vermisse die Oliver Kahns, die Stefan Effenbergs, positiv<br />
Verrückte, die schonungslos Missstände aufdecken. Wenn nötig lautstark<br />
vor laufenden Kameras. Löw vertraut einer anderen Generation.<br />
Einer, die stets loyal ist, ihm und der Mannschaft gegenüber. Eine, die<br />
im schlagzeilenlüsternen Medienzeitalter mal Worthülsen verbreitet,<br />
um die Idylle nicht zu gefährden.<br />
Die Rolle neu interpretiert<br />
„In einer öffentlichen Welt, in der alles registriert wird“, sagte Lahm<br />
einst der Süddeutschen Zeitung, „muss ich auf meine Wortwahl achten<br />
und darauf, wie ich mich verhalte“. Über die Jahre wuchsen er und<br />
sein Freund Schweinsteiger. Sie reiften zu Persönlichkeiten, haben ihre<br />
Rollen gefunden und neu interpretiert. Ersterer ist Kapitän wie mediales<br />
Sprachrohr. Er stellt sich Journalisten, im Erfolg sowie Misserfolg,<br />
spricht unangenehme Themen an. Ende 2012 mahnte er nach einem<br />
6:1 (!) über Irland etwa, die Grundtugenden nicht zu vergessen. Spanien<br />
sei „nicht besser, aber cleverer“.<br />
Löw schraubte gemeinsam mit seinen Führungsakteuren, dem Betreuerstab<br />
fortan an der taktischen Feinjustierung. Unentwegt predigte er,<br />
zunächst Stabilität zu wahren, die perfekte Mischung finden zu müssen.<br />
Zauber allein gewinnt keine Titel. Leidvoll erfuhr er dies bei der<br />
EURO 2012, wo der als unaufhaltsam gepriesene Euphorie-Kick von<br />
italienischer Rationalität gestoppt wurde.<br />
„Wir müssen zum Ursprung zurück“, so Lahm damals, „kontrolliert<br />
spielen, das Zentrum schließen. In die Köpfe muss rein, was wir als<br />
allererstes wollen: kompakt sein, geordnet stehen.“ Es war genau<br />
das, was später, in den wichtigsten Momenten, in Rio de Janeiro, in<br />
Erinnerung gerufen wurde.<br />
Vom „Chefchen“ zum Boss<br />
Umringt von den Stars, unmittelbar vor der Verlängerung, hielt der<br />
Bundestrainer seine wohl wichtigste Ansprache. Noch einmal die<br />
Erschöpften aufbauen, noch einmal letzte Anweisungen geben. Löw<br />
wurde flankiert von Lahm und Schweinsteiger, seinen Vertrauenspersonen.<br />
Flache Hierarchie? Weit gefehlt. Emotional forderten sie, sich<br />
auf deutsche Elemente zu besinnen. Nachdrücklich, bemerkenswert,<br />
wie sich das für Anführer eben gehört. Den Willen, diese Leidenschaft<br />
lebten sie vor. Zur unbeugsamen Symbolfigur einer unvergesslichen<br />
Nacht avancierte Schweinsteiger.<br />
Vom „Chefchen“, wie die Sport Bild dazumal spottete, zum über jeden<br />
Zweifel erhabenen Boss. Zum Vorbild einer Generation, zum Gesicht<br />
einer goldenen Ära. Er rannte, am Ende waren es über 15 Kilometer, und<br />
quetschte den oft störrischen Körper aus. Der 29-Jährige wurde getreten,<br />
sogar geschlagen, von Krämpfen gefoltert, doch er stand auf. Ohne<br />
zu lamentieren, ohne aufzustecken. Selbst, als ihm Blut über das Gesicht<br />
lief und Kevin Großkreutz an der Seitenlinie zum Wechsel bereit stand.<br />
TITEL-RAUSCH! SO LIEF DIE NACHT<br />
Vollgepumpt mit Adrenalin ließ er sich die Wunde unter dem Auge<br />
nähen. Ein schmerzhafter Anblick: Teamarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt<br />
hing über ihm, nur Schweinsteigers Beine sah man zucken.<br />
„Das gehört dazu, da muss man sich einfach reinhauen. So ein<br />
Spiel absolviert man nicht so oft in seinem Leben.“ Für gewöhnlich lässt<br />
er andere für sich sprechen, diesmal stand er entspannt Rede und Antwort.<br />
Immerhin war er angekommen am Ziel seiner Kindheitsträume.<br />
„Ich bin jetzt leer“<br />
2008 im EM-Finale zwangen ihn die Spanier inmitten ihrer Blütezeit<br />
in die Knie. 2012 scheiterte er mit Bayern auf tragischste Art und<br />
Weise an Chelsea. Statt der Krönung dahoam, dem Champions-League-Triumph,<br />
versagte er im Elfmeterschießen. Es waren bittere<br />
Stunden, die ihn zu dem Typen, dem Kämpfer machten, der er heute<br />
ist. Den Schweini vom Sommermärchen gibt es nicht mehr. Er und<br />
sein kongenialer Partner Podolski tragen Verantwortung, der eine<br />
mehr, der andere weniger. Wenngleich sie ihre jugendlichen Flausen<br />
weiterhin liebend gerne im Netz ausleben.<br />
Lukas Podolski verriet danach: „Ich habe auf dem Platz gesagt, vor zehn<br />
Jahren sind wir mit dem Auto von der U21 zur Nationalmannschaft gefahren,<br />
jetzt stehen wir hier und haben das Ding.“ Zusammen feierten<br />
sie 2006 auf der Fanmeile in Berlin den dritten Platz, diesmal kamen sie<br />
als Helden zurück, empfangen von Hunderttausenden. Schweinsteiger<br />
arbeitete „mit aller Gewalt“ darauf hin. Obwohl ihm die Fitness beinahe<br />
ein Schnippchen geschlagen hätte. Anfangs in der Gluthitze geschont,<br />
reichte es für das Viertelfinale gegen Frankreich „gerade so“.<br />
Erst der Spaziergang gegen Brasilien ermöglichte seine Gala. „Ich bin<br />
jetzt leer.“ Beim Feiern möchte er anderen den Vortritt lassen, gab er an.<br />
Trotzdem war ihm der Pokal schwer zu entreißen. Schon am nächsten<br />
Morgen posierte Schweinsteiger mit Freundin Sarah Brandner damit<br />
am Strand. Stunden zuvor, im Maracana, begründete er höchstselbst<br />
seinen Mythos. Jenen vom Dirigenten, vom deutschen Fußball-Gott.<br />
14 <strong>Life</strong> September <strong>Life</strong> September 15<br />
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