A1 - Ethnologisches Seminar
A1 - Ethnologisches Seminar
A1 - Ethnologisches Seminar
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Ethnologisches</strong> <strong>Seminar</strong> der Universität Basel WS 2003/04<br />
Proseminar Wirtschaft 14. Januar 2004<br />
Dr. des. Gregor Dobler<br />
Monica Asgeirsson und Mirella Mahlstein<br />
Exchange and Reciprocity – C.A. Gregory 1<br />
Die meisten anthropologischen Theorien über Austausch wurden eingeschränkt auf Austausch von<br />
Reichtum. Was ist Reichtum?<br />
1. Ware als Reichtum (Waren-Theorie) politische Wirtschaftstheorie, Ökonomen des 19. Jh.<br />
Ware hat einen Gebrauchswert (objektive Nützlichkeit des Gegenstandes) und einen Tauschwert<br />
(Verkaufspreis, nicht notwendig in Geldform).<br />
Marx weist darauf hin, dass auch Arbeit einen Gebrauchs- und eine Tauschwert besitzt.<br />
Marx unterscheidet ausserdem mehrere verschiedene historische Formen der Ware:<br />
‣ Tauschhandel (W-W), wo Menschen Geschäfte mit Fremden begannen.<br />
‣ Entstehung von Bauernmärkten und Bedürfnis nach verallgemeinertem Tauschmedium (Geld) um<br />
Handel zu vereinfachen Verkauf / Kauf (W-G-W).<br />
‣ Entwicklung des kaufmännischer Kapitalismus: Kauf (G-W) um teurer weiterzuverkaufen (W-G’),<br />
Geldleihe mit Zins (G-G’) Profit<br />
‣ Entstehung einer neuen Klasse von besitzlosen Lohnarbeitern („Arbeitskraft“ wird Ware mit<br />
Tauschwert wie jede andere.)<br />
Reproduktion: Austausch wurde nicht isoliert, sondern als Phase in einem reproduktiven Kreislauf von<br />
Produktion, Austausch und Verteilung betrachtet.<br />
Klassenbeziehungen: Problem der Verteilung des Überschusses unter konkurrenzierenden Klassen.<br />
Austausch wurde als Ausdruck von Machtverhältnissen betrachtet.<br />
2. Güter als Reichtum (Güter-Theorie) neoklassische Wirtschaftstheorie, Ökonomen des 20. Jh.<br />
Ein Gut wird gemessen am ihm subjektiv zugeschriebenen Nutzen. Wichtig sind individuelle Gefühle<br />
des einzelnen Konsumenten über knappe Güter. Nutzen (subjektiv) ≠ Gebrauchswert (objektiv).<br />
Für die neoklassische Ökonomie wird das Verhältnis zw. geringem Nutzen/ hohem Tauschwert<br />
(Diamanten) und hohem Nutzen/geringem Tauschwert (Wasser) zur Basis einer neuen Preistheorie.<br />
Alle Tauschformen und folglich die Preise sind also Ausdruck relativer Knappheit.<br />
3. Gabe/Geschenk als Reichtum (Theorie der Anthropologen)<br />
- Kupferplatten / Decken der Kwakiutl (Nordamerikanische Indiander) Potlatch<br />
- Muschel-Armreifen / Halsketten der Trobiander Kula<br />
Diese Gegenstände werden nach Qualitätsstandard, nicht nach Quantitätsstandard gewertet (Bsp.:<br />
Einteilung der Armreifen/Halsketten der Trobriander nach deren Qualität in fünf Kategorien). Solche<br />
Rangordnungen von Gütern nach Qualitätsstandard sind weit verbreitet und in der Ethnologie unter<br />
dem Begriff ‚spheres of exchange’ bekannt. Es wird jeweils nur innerhalb einer Sphäre getauscht.<br />
Mauss (Soziologe) (1996: Die Gabe)<br />
„Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den rückständigen,<br />
archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird? Was liegt in der<br />
gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?“ 2 S. Handout v.<br />
Sandra Ruf zu diesem Werk.<br />
Polanyi (Wirtschaftshistoriker) (1944: The Great Transformation)<br />
Die vergleichende Wirtschaftsgeschichte charakterisiert eine grosse Spaltung:<br />
Marktwirtschaft = System selbstregulierender Märkte; die Preise der Waren organisieren das ganze<br />
ökonomische Leben. Basis: Profitmotiv, Existenz von Waren in Form von Land, Arbeit und Geld<br />
industrieller, kapitalistischer Tausch<br />
1 Gregory, C.A. (1998): Exchange and Reciprocity. In: Tim Ingold (ed.): Compnion Encyclopedia of Anthropology,<br />
London: Routledge, 911 - 939<br />
2 Mauss, Marcel (1996 [1925]) Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am<br />
Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 743
<strong>Ethnologisches</strong> <strong>Seminar</strong> der Universität Basel WS 2003/04<br />
Proseminar Wirtschaft 14. Januar 2004<br />
Dr. des. Gregor Dobler<br />
Monica Asgeirsson und Mirella Mahlstein<br />
Nicht-Marktwirtschaft („non-market economy“) = eher reguliert als selbstregulierend (sozial<br />
eingebettet); Profitmotiv fehlt, keine Lohnarbeit, keine wirtschaftlichen Einrichtungen Formen des<br />
Tausches nach Prinzipien der Reziprozität; Polanyi identifiziert drei Prinzipien ökonomischen<br />
Handelns:<br />
Prinzip ökonomischen<br />
Handelns<br />
Form der sozialen<br />
Organisation<br />
Institutionelles Muster<br />
1. Reziprozität Verwandtschaft symmetrisch<br />
2. Redistribution Politik zentralistisch<br />
3. Haushaltung<br />
(„householding“)<br />
Haushalt<br />
autark (selbstversorgend)<br />
Polanyis wichtigster Beitrag ist wohl die Gleichsetzung von Reziprozität mit Gabentausch. Nach<br />
Sahlins Überarbeitung sind jedoch verschiedene Reziprozitäten zu unterscheiden; lediglich ‚positive’<br />
Reziprozität sei Synonym von Gabentausch.<br />
Sahlins (1972: On the sociology of primitive exchange) / Ingold (1986)<br />
Sahlins meint, dass Reziprozität mit Verwandtschaftsdistanz in Wechselbeziehung steht. Er teilt die<br />
Reziprozität in drei Kategorien ein.<br />
‚Generalisierte’ (= positive)<br />
Reziprozität<br />
=> solidarisch:<br />
uneingeschränkte, selbstlose<br />
Bereitschaft zum Geben ohne<br />
Erwartung einer gleichwertigen<br />
Gegenleistung in absehbarer<br />
Zeit (z.B. Nahrungsteilung,<br />
Säugen der Babys, Hilfe,<br />
Gastfreundschaft)<br />
geben – erhalten<br />
v. a. gegenüber Personen<br />
der unmittelbaren verwandtschaftlichen<br />
und räumlichen<br />
Nähe des einzelnen<br />
Haushaltes.<br />
‚Balancierte’ oder ‚Ausgeglichene’<br />
Reziprozität<br />
=> ‚weniger persönlich‘ und ‚mehr<br />
wirtschaftlich’:<br />
klare Erwartung einer entsprechenden<br />
Gegenleistung in absehbarer<br />
Zeit; Verlangen, Feindseligkeit<br />
zu überwinden<br />
(z.B.: Allianzbestätigungen in Form<br />
von Festen, Friedenszeremonien,<br />
Hochzeiten)<br />
gegenüber der weiteren<br />
verwandtschaftlichen und räumlichen<br />
Umgebung innerhalb der<br />
eigenen und gegenüber Mitgliedern<br />
anderer sozialen Gruppen<br />
‚negative’ Reziprozität<br />
=> unsozial:<br />
Nehmen ohne zu geben<br />
(z.B. Gewalt, Raub,<br />
Glücksspiel, aber auch<br />
Feilschen, Handel)<br />
verlieren – nehmen<br />
Beziehungen zu sozial wie<br />
räumlich entfernten Gruppen,<br />
Beziehung zw. Fremden<br />
Lévi-Strauss (1969: The Elementary Structures of Kinship)<br />
Er leistet einen besonderen Beitrag zur Frage des Gabentausches mit seiner Theorie der Ehe als<br />
Gabentausch von Frauen (durch Männer). Die verschiedenen Formen dieses Frauentausches sind<br />
Ausdruck für das Inzesttabu. Es ist jedoch weniger ein Verbot der Ehe mit Mutter, Tochter oder<br />
Schwester als eine Verpflichtung, Mutter, Tochter oder Schwester anderen zu geben.<br />
4. Tauschhandel und andere Formen von geldlosem Warentausch<br />
Beim Tauschhandel werden die Waren/Gaben meist gleichzeitig ausgetauscht. Daneben gibt es<br />
andere nicht-gleichzeitige Formen von Warentausch; z.B. verzögerter Tausch.<br />
Sowohl für klassische als auch neoklassische Ökonomen ist der Tauschhandel Ursprung von jeder<br />
weiteren Form von Tausch. Anthropologen beweisen jedoch die gleichzeitige Existenz von<br />
verschiedenen Tauschformen statt deren zeitliche Abfolge.<br />
Mauss stellt eine 3-Stufen-These auf:<br />
- Zuerst eingeschränkter Tausch von Gaben (innerhalb eines Stammes)<br />
- darauf folgend allgemeiner Gabentausch<br />
- schliesslich Entstehung der Geldwirtschaft
<strong>Ethnologisches</strong> <strong>Seminar</strong> der Universität Basel WS 2003/04<br />
Proseminar Wirtschaft 14. Januar 2004<br />
Dr. des. Gregor Dobler<br />
Monica Asgeirsson und Mirella Mahlstein<br />
Beide Theorien (gleichzeitige Existenz einerseits und zeitliche Abfolge andererseits) sind gültig.<br />
Der Tauschwert wird in der klassischen politischen Oekonomie durch Wertvergleich zweier<br />
verschiedenartiger Güter bei übereinstimmender Arbeitszeit bestimmt – in der neoklassischen<br />
Oekonomie durch Knappheit und Nutzen von Gütern.<br />
Der Tauschwert muss sich auf den Wert der Güter beziehen; also vom Tauschpartner unabhängig<br />
sein.<br />
5. Marktplatz- Handel<br />
Marktplätze können nach folgenden Kriterien klassifiziert werden:<br />
a. Typen der gehandelten Ware<br />
Vertikaler Typ: Waren gelangen vom Produzenten durch eine Hierarchie von Grosshändlern, weiter<br />
an Einzelhändler und schliesslich an den Endkonsumenten in einem anderen Gebiet<br />
Horizontaler Typ: Horizontale Ware bewegt sich nur innerhalb limitierter lokaler Gebiete. Sie werden<br />
normalerweise vom Produzenten auf dem Marktplatz direkt an den Endkonsumenten verkauft.<br />
b. Formen des Handels<br />
Alle oben besprochenen Formen des Warenhandels – (W-W; W-G-W; G-W-G’; G-G’) – kommen in<br />
ländlichen Bauernmärkten vor. Meistens handelt es sich um W-G-W und G-W-G’.<br />
c. Rollen der Händler<br />
Mobile Händler:<br />
Hausierer: Verhökern ihre Ware unsystematisch, bei Gelegenheit.<br />
periodische Marktplatzhändler: Besuchen regelmässig lokale Märkte an verschiedenen Orten.<br />
Ladeninhaber: Gruppieren sich meistens um den zentralen Marktplatz.<br />
d. Typen der räumlich-zeitlichen Organisation bei periodischen Märkten<br />
Der ständige Wechsel des Marktortes verwandelt auch abgelegene Orte an den jeweiligen Tagen in<br />
kommerzielle Zentren. Die Organisation (wann der Markt wo stattfindet) ist überall verschieden.<br />
Wirtschaftliche und soziale Unterschiede sind bei periodischen Märkten allgegenwärtig.<br />
Schlussbemerkung<br />
Zu unterscheiden ist jeweils die Analyse von abstrakten Tauschprinzipien und die Analyse von<br />
Austausch in konkreten Situationen. Das heisst, jeder Versuch, die europäische Wirtschaft als<br />
‚Waren-Wirtschaft’ zu bezeichnen und die Melanesische Wirtschaft als ‚Geschenk-Wirtschaft’ wird<br />
scheitern, denn positive und negative Reziprozität wirken in beiden.<br />
6. Glossar<br />
Exchange = Tausch: Mit Tausch werden alle Formen gegenseitigen Gebens und Nehmens<br />
bezeichnet. Grundsätzlich kann zwischen marktwirtschaftlichem (ökonomischem) Tausch und allen<br />
anderen Arten von Tausch - die sich nicht nach dem Prinzip von Kauf und Verkauf richten -<br />
unterschieden werden (z.B. Opfer als Weihegaben, Geschenkaustausch usw.). Tausch wird als<br />
universelle Kategorie bezeichnet, da es keine Gesellschaft ohne Tausch gibt 3 .<br />
Reciprocity = Reziprozität: Ihr Grundmuster ist die Bereitschaft zum Geben, Annehmen und<br />
Erwidern.<br />
Wealth: Reichtum, Wohlstand<br />
Commodities: Waren (haben Tauschwert und werden auf dem Markt gehandelt).<br />
Goods: Güter (alles, was für einen Menschen Wert hat).<br />
3 Bernhard Streck (Hg.) (2000) Wörterbuch der Ethnologie, Kapitel Tausch; Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag