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Carlfriedrich Claus - Strunz! Enterprises

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<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong><br />

Basale Sprech-Operationsräume<br />

intermedium rec. 041<br />

ISBN 978-3-939444-69-5<br />

VÖ: 03.07.2009<br />

<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> 1930 –1998<br />

1930 am 4. August als einziges Kind des Schreibwaren- und Bürobedarfhändlers Friedrich <strong>Claus</strong><br />

(1887 – 1944) und dessen Frau Johanna <strong>Claus</strong> (1893 – 1969) in Annaberg/Erzgebirge geboren.<br />

1937 Einschulung, durch die Eltern Kenntnis der unter der Nationalsozialistischen Diktatur als<br />

„entartet“ verfemten Kunst, Literatur und Philosophie, im Selbststudium Aneignung des hebräischen<br />

und des kyrillischen Alphabets.<br />

1944 Tod des Vaters.<br />

1945 – 1948 Lehre als Einzelhandelskaufmann, Arbeit im Geschäft der Eltern.<br />

Im Laufe der 1950er Jahre aufgrund der noch offenen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin<br />

regelmäßige Fahrten in die geteilte Stadt, Kontakt zu dem Kunsthistoriker Will Grohmann in West-<br />

Berlin, Brieffreundschaften mit Hans Arp, Fritz Winter sowie Bernard Schultze.<br />

Seit 1951 Gedichte („Klang-Gebilde“), intensive Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie der<br />

Moderne, mit Paracelsus, jüdischer Religionsphilosophie und dem Werk Ernst Blochs (seit 1960<br />

bis zu Blochs Tod mit ihm im Briefwechsel).<br />

1956 ästhetische Texte zur zeitgenössischen Kunst und Musik.<br />

1957/1958 Arbeit an gestischen Notationen („Automatisches Tagebuch“), Papiercollagen.<br />

1959 Auflösung des Geschäfts, Kauf eines Spulentonbandgerätes samt Mikrofon, akustische Arbeiten<br />

(Sprechexerzitien: „konstellative Artikulationen“ und „dynamische Koartikulationen“), Buchstabenkonstellationen<br />

mit der Schreibmaschine („Letternfelder“, „Phasenmodelle“) sowie schreibgestische<br />

Blätter („Kreisungen“, „Vibrationstexte“), Beginn der lebenslangen Freundschaft mit<br />

dem Autor Franz Mon aus Frankfurt a. M., erste Veröffentlichung des Beitrages Klang-Texte<br />

Schrift-Bilder sowie ausgewählter „Klang-Gebilde“ und „Phasenmodelle“ in der Zeitschrift nota<br />

(München 1959).<br />

1960 Intensiver Briefwechsel mit Raoul Hausmann, aufgrund weiterer Veröffentlichungen in den<br />

Folgejahren stetig anwachsende Korrespondenz u.a. mit Ilse und Pierre Garnier, Alain Arias-<br />

Misson, Hans und Ursula Grüß, Werner Schmidt.<br />

1961 Verschärfung der persönlichen Situation durch zunehmende Isolation nach dem Bau der<br />

Berliner Mauer, Kontrolle und Beschlagnahmung der Post, Erster versuchender doppelseitiger


Schreibakt, ein beidseitig beschriftetes, bezeichnetes transparentes „Sprachblatt“, fortan zahlreiche<br />

Arbeiten auf Transparentpapier.<br />

Seit 1962 erste Ausstellungserfolge in Westeuropa (1962 Skripturale Malerei, Berlin-West, 1963<br />

Schrift und Bild, Stedelijk Museum Amsterdam und Kunsthalle Baden-Baden).<br />

1963 Zyklus Geschichtsphilosophisches Kombinat (21 Blätter) unter Einbeziehung weniger früherer<br />

Arbeiten.<br />

1964 Veröffentlichung des grundlegenden theoretischen Textes Notizen zwischen der experimentellen<br />

Arbeit – zu ihr in Frankfurt a. M., Kontakt zu Dr. Otto Muneles, wissenschaftlicher Beirat des<br />

Staatlichen Jüdischen Museums Prag.<br />

1969 Am 27. Mai Tod der Mutter, mit der <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> in einem außergewöhnlich engen<br />

geistigen Verhältnis gestanden hat.<br />

1972 Bekanntschaft und Freundschaft mit den Schriftstellern Christa und Gerhard Wolf.<br />

1975 Erste Einzelausstellung des Künstlers in der DDR in der Galerie Arkade, Berlin.<br />

1977 bis 1982 Mitarbeit in der nonkonformistischen Künstlergruppe und Produzentengalerie Clara<br />

Mosch in Karl-Marx-Stadt/Adelsberg.<br />

1977 Radiermappe Aurora im Verlag der Kunst Dresden.<br />

Um 1980 erneut Hinwendung zu akustischen Arbeiten, 1981 Bewußtseinstätigkeit im Schlaf, zunehmende<br />

Öffentlichkeit, Beschäftigung mit dem russischen Futurismus (Chlebnikow, Kručenych)<br />

sowie mit Schamanismus.<br />

1988 Grafikmappe Aggregat K im Verlag der Kunst Dresden.<br />

Ab 1989 nach der politischen Wende zunehmende öffentliche Resonanz und Anerkennung.<br />

1990 anlässlich des 60. Geburtstages Retrospektive Erwachen am Augenblick in den Städtischen<br />

Museen Karl-Marx-Stadt (heute: Kunstsammlungen Chemnitz) und im Westfälischen Landesmuseum<br />

für Kunst und Kulturgeschichte Münster mit zahlreichen weiteren Stationen.<br />

1991 Mitglied der Akademie der Künste Berlin, Ehrenprofessur des Freistaates Sachsen.<br />

1993 Umzug nach Chemnitz, weiterhin Nutzung der Annaberger Wohnung – nun speziell als<br />

Tonstudio für akustische Arbeiten.<br />

Rundfunkproduktionen (1993 Lautaggregat im Westdeutschen Rundfunk, 1996 Basale Sprech-<br />

Operationsräume für den Bayerischen Rundfunk).<br />

1995 Ausstellungen und Buchproduktionen, Lautprozess-Raum in den Kunstsammlungen Chemnitz,<br />

Aufführung Aggregat. Ton-Film während der Donaueschinger Musiktage, Verschlechterung<br />

des Gesundheitszustandes.<br />

1997 Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.<br />

1998 Auftrag zur Ausgestaltung der Wandelhalle im Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude<br />

Berlin, trotz Krankheit unerwartet am 22. Mai 1998 verstorben.


Auswahlbibliographie<br />

Literatur von <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>:<br />

Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr. Hrsg. v. d. Staatlichen Kunsthalle<br />

Baden-Baden. Frankfurt a. M.: Typos 1964.<br />

Sprachblätter. Spenge: Klaus Ramm 1987.<br />

Aggregat K. Hrsg. v. Rudolf Mayer. Dresden: Eikon Grafik-Presse im Verlag der Kunst<br />

1988.<br />

Erwachen am Augenblick. Sprachblätter mit den theoretischen Texten von <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong> und einem kommentierten Werkverzeichnis. Bearb. von Klaus Werner, hrsg. v. d.<br />

Städtischen Museen Karl-Marx-Stadt und dem Westfälischen Landesmuseum für Kunst<br />

und Kulturgeschichte Münster (Landschaftsverband Westfalen-Lippe). Münster: Westfälisches<br />

Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1990.<br />

Work-Box 1955-1990. Hrsg. v. Klaus Werner. Gemeinschaftsedition <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>,<br />

galerie oben (Karl-Marx-Stadt), Trottelpresse Gohlis (Leipzig), Edition Staeck (Heidelberg)<br />

1990.<br />

Zwischen dem Einst und dem Einst. Sprachblätter. Texte. Aggregat K. Versuchsgebiet K.<br />

Bearb. v. Gerhard Wolf. Berlin: Janus Press 1993.<br />

Aurora. Sprachblätter. Experimentalraum Aurora. Briefe. Bearb. v. Gerhard Wolf. Berlin:<br />

Janus Press 1995.<br />

Lautprozess-Raum. Hrsg. v. Susanne Anna. Chemnitz: Städtische Kunstsammlungen<br />

1995 (CD und Booklet).<br />

<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> 1930-1998. Hrsg. v. Annaberger Kunst- und Kulturverein e.V. Annaberg-Buchholz<br />

2000.<br />

Schrift. Zeichen. Geste. <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> im Kontext von Klee bis Pollock. Hrsg. von<br />

Ingrid Mössinger und Brigitta Milde. Köln: Wienand 2005.<br />

Klanggebilde und Lautprozesse 1959-1996 (CD). In: Michael Grote: Exerzitien. Experimente.<br />

Zur Akustischen Literatur von <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. Bielefeld: Aisthesis 2009.<br />

Sonstige Literatur:<br />

Augen Blicke Wort Erinnern. Begegnungen mit <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. Red.: Gerhard Wolf.<br />

Berlin: Janus press 1999.


Frisius, Rudolf: Musiksprache – Sprachmusik. Grenzüberschreitungen im Œ uvre von<br />

<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. Produktion: SWR 1999. Erstsendung: 26. 4. 1999, SWR 2.<br />

Gilbert, Annette: Tanz der Artikulationsorgane. Erkundungen des Elementaren im<br />

Sprechvorgang in der akustischen Kunst nach 1945. In: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen.<br />

Heft 4 (2005): Werkzeug, S. 123-154.<br />

Grote, Michael: Exerzitien. Experimente. Zur Akustischen Literatur von <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong>. Bielefeld: Aisthesis 2009.<br />

Jugel, Bernhard / Scholz, Christian: ?bist Jandl – Lautpoesie der DDR. Eine akustische<br />

Anthologie in 2 Teilen und 10 Kapiteln. Produktion: Bayerischer Rundfunk 1990. Erstsendung:<br />

Teil 1: 20. 7. 1990, Bayern 2. Teil 2: 27. 7. 1990, Bayern 2.<br />

Herbert Kapfer: „Etwa 50 cm vertikal über dem Scheitel des Hörers“. Zur Entstehung der<br />

Basalen Sprechoperationsräume von <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. In: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Schrift.<br />

Zeichen. Geste. <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> im Kontext von Klee bis Pollock. Hrsg. von Ingrid<br />

Mössinger und Brigitta Milde. Köln: Wienand 2005, S. 166-169.<br />

Lentz, Michael: Lautpoesie /-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme.<br />

Wien: Edition Selene 2000.<br />

Milde, Brigitta: Die Emanzipation des Rezipienten zum aktiven Mitschöpfer als eine „utopische<br />

Funktion“ (E. Bloch). In: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Lautprozess-Raum. Hrsg. v. Susanne<br />

Anna. Chemnitz: Städtische Kunstsammlungen 1995 (Booklet zur CD), S. 7-21.<br />

Neuner, Florian: „Wortlärm zerreißt die Stille“. Die Lautexperimente des <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong>. Produktion: Deutschlandradio Kultur 2006. Erstsendung: 29. 8. 2006, Deutschlandradio<br />

Kultur. (Neue Musik)<br />

Raab, Hans Heinrich: Phonetisch-instrumentale Poesie. Reihe Musik des 20. Jahrhunderts.<br />

Produktion: Radio DDR. Erstsendung: 31. 10. 1985, Radio DDR 2.<br />

Ramm, Klaus: Die Stimme ist ganz Ohr. Ein Radioessay zu den Lautprozessen von <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong>. Produktion: Bayrischer Rundfunk 1993. Erstsendung: 17. 9. 1993, Bayern<br />

2.<br />

Ramm, Klaus: Kehlwelten, Schreiblandschaften. Zur Poetik des Akustischen und des Visuellen<br />

bei <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. In: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Denklandschaften. Bearb. v. Henry<br />

Schumann. Berlin: ifa 1993, S. 25-31.<br />

Scherstjanoi, Valeri: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> und die russischen Futuristen. In: <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong>: Schrift. Zeichen. Geste. <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> im Kontext von Klee bis Pollock. Hrsg.<br />

von Ingrid Mössinger und Brigitta Milde. Köln: Wienand 2005, S. 146-151.<br />

Scholz, Christian: Untersuchungen zur Geschichte und Typologie der Lautpoesie. Obermichelbach:<br />

Gertraud Scholz 1989.<br />

Wittig, Heinz: Menschliche Existenz als Experiment. Ein Film von Heinz Wittig. Nürnberg:<br />

Verlag für moderne Kunst 1997. (VHS-Cassette)


Brigitta Milde<br />

Zur Produktion der Basalen Sprech-Operationsräume<br />

1993 zog <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> von Annaberg-Buchholz nach Chemnitz. In der Annaberger<br />

Souterrainwohnung im Kino Gloria-Palast hatte er nahezu sein ganzes Leben verbracht,<br />

sie war mehr gewesen als nur Küche, Schlaf- und Wohnzimmer. Für <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong><br />

war sie „Produktionsmittel“, ein „System aus ineinandergeschalteten Systemen“ und „Operationsbasis“<br />

i für seine Experimente. Die neue Wohnung in Chemnitz war zweckmäßiger<br />

und geräumiger, aber auch hellhörig. Deshalb gab <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> sein Annaberger<br />

Domizil selbst nach dem Umzug nicht auf, sondern nutzte es weiter als Tonstudio.<br />

Schon 1959 hatte der Künstler zum ersten Mal seine frühen Gedichte, die „Klang-<br />

Gebilde“, auf Band gesprochen – teilweise durch Betätigen einer Tricktaste in mehrfacher<br />

Überlagerung. Die „Konstellativen Artikulationen“ und die „Dynamischen Koartikulationen“<br />

hatte er im selben Jahr – und parallel zu maschinenschriftlichen „Phasengedichten“ –<br />

durch die Isolation von Lauten und durch die Überlagerung von Lauten erzeugt. Seit 1980<br />

hatte er „Sprechoperationen“ aufgezeichnet, die 1982 als Bewußtseinstätigkeit im Schlaf<br />

in einer Simultanaufführung von vier Spulentonbändern ihre Premiere erlebten. Daneben<br />

arbeitete der Künstler an „Sprachblättern“, dicht beschriebenen und bezeichneten Papieren,<br />

auf denen sich das Schriftbild auflöst, verselbstständigt in Kritzelketten und affekthaften<br />

Gesten und schließlich umschlägt in bildliche und grafische Strukturen. Gerade zum<br />

Thema Bewußtseinstätigkeit im Schlaf hatte <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> seit den 1960er Jahren<br />

mehr als 10 solcher „Sprachblätter“ erstellt. Insgesamt umfasste sein visuelles Werk, als<br />

er nach Chemnitz übersiedelte, rund eintausend Blätter.<br />

In den Jahren der DDR (besonders massiv bis in die Mitte der 1970er Jahre) war <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong> in seiner künstlerischen Tätigkeit gezielt behindert worden. Zweifellos<br />

passte sein Werkverständnis nicht in das offizielle ästhetische Programm dieses Staates.<br />

Er bildete nichts ab und erzählte oder beschrieb nichts. Während er schrieb, zeichnete<br />

und artikulierte, ließ er die gängigen Kriterien literarischen oder künstlerischen Schaffens<br />

hinter sich und erschloss stattdessen die „Nahtstellen“ und „Zwischenräume“ ii . Er<br />

verstand seine Experimente als offenen Prozess und arbeitete intermedial. Seine künstlerische<br />

Tätigkeit basierte auf Zufall und Intuition, gleichzeitig war sie mit Theorie untersetzt.<br />

Statt diese jedoch äußerlich zu verhandeln, prüfte <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> sie auf ihre<br />

Innenwirkung, um schreibgestisch oder artikulatorisch hervortreten zu lassen, wie Bewusstseinsinhalte<br />

sich unterschwellig niederschlagen oder umgekehrt durch Unterbewusstes<br />

beeinflusst werden. Eine solche Kunstauffassung galt in der DDR wie im ganzen<br />

sozialistischen Lager als Formalismus und seine Arbeiten wurden als „antisozialistisch“<br />

und „antihumanistisch“ iii disqualifiziert. Dass ihm der Status eines Berufskünstlers vorenthalten<br />

wurde, kam nicht nur einer künstlerischen, sondern auch einer sozialen und politischen<br />

Ausgrenzung gleich. <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> reagierte zur Wahrung seiner Autonomie<br />

lange mit vollständigem Rückzug aus dem öffentlichen und kulturellen Leben. Einerseits<br />

verstärkte sich dadurch nochmals das Misstrauen der Kulturbürokratie ihm gegenüber.<br />

Andererseits führte der Rückzug zu meditativen Kunstformen, die ihrerseits verstärkend<br />

auf seine selbstisolierende Lebensweise zurückwirkten.


Die wenigen Jahre nach dem Ende der DDR bis zu seinem Tod 1998 boten <strong>Claus</strong> endlich<br />

die Bedingungen, im großen Rahmen umzusetzen, was bisher nur im kleinen Format und<br />

auf begrenztem Raum hatte erfolgen können. Lange intendierte Projekte, visuelle<br />

und/oder akustische Installationen und große Rundfunkproduktionen wurden möglich.<br />

Zudem erfuhr er viel öffentliche Anerkennung. 1991 zum Mitglied der Akademie der Künste<br />

Berlin-West gewählt, wurde ihm 1992 eine Ehrenprofessur des Freistaates Sachsen<br />

verliehen. 1996 ist <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> zum Ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie<br />

der Künste gewählt und 1997 in Würdigung seines Gesamtwerkes mit dem Bundesverdienstkreuz<br />

geehrt worden.<br />

Große Ausstellungsvorhaben im In- und Ausland lösten einander ab. 1995 präsentierte<br />

die Kunsthalle Rostock den Experimentalraum Aurora. Im selben Jahr stellte <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong> mit dem Lautprozess-Raum in den Kunstsammlungen Chemnitz zum ersten Mal<br />

eine interaktive akustische Installation der Öffentlichkeit vor, während Aggregat. Ton-Film<br />

bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde. Das Arbeitspensum war enorm.<br />

Allerdings war <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> nun aus gesundheitlichen Gründen zu Einschränkungen<br />

gezwungen; wiederholt musste er seine Projekte durch lange, ärztlich verordnete<br />

Schlafphasen unterbrechen.<br />

Als erste Arbeit speziell für den Rundfunk hatte <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> 1993 im Studio Akustische<br />

Kunst des WDR Köln das Lautaggregat produziert, ein 42minütiges Hörstück aus<br />

32 Einzeloperationen, das am 16. März 1993 im WDR 3 gesendet wurde. Für den Bayerischen<br />

Rundfunk, der die Senderechte übernahm, verfasste Klaus Ramm einführend den<br />

Radioessay Die Stimme ist ganz Ohr iv , an dessen Realisation <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> mitwirkte.<br />

Für das Frühjahr 1995 wurde daraufhin die Produktion einer nächsten Radiosendung,<br />

nun mit dem Bayerischen Rundfunk, geplant. Der Künstler beabsichtigte, 22 zwischen<br />

1990 und 1994 aufgenommene „Lautprozesse“ im Studio zu vernetzen. Wie es seinem<br />

Arbeitsstil entsprach, lagen nicht allein die entsprechenden Tonkassetten bereit, sondern<br />

auch eine im Vorfeld verfertigte Konzeption. v Da machte eine Erkrankung das Projekt zunächst<br />

unmöglich; drei Monate, bis Ende Juli 1995, war der Fünfundsechzigjährige arbeitsunfähig.<br />

Die Produktion der Basalen Sprech-Operationsräume für den Bayerischen Rundfunk<br />

musste deshalb in das Jahr 1996 verschoben werden und erfolgte schließlich nicht in<br />

München, sondern, noch immer krankheitsbedingt, vor Ort in Chemnitz. Hier hatte <strong>Carlfriedrich</strong><br />

<strong>Claus</strong> 1995 während der Realisierung des Lautprozess-Raumes mit dem Toningenieur<br />

Klaus Schirmer zusammengearbeitet. Auf dessen Vermittlung hin konnte das<br />

Tonstudio der Stadthalle Chemnitz genutzt werden, wo vom 13. bis 17. Mai 1996 die Basalen<br />

Sprech-Operationsräume realisiert wurden. Die Ko-Regie übernahm Bernhard Jugel,<br />

der <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> während der Arbeit an der zweiteiligen Sendung ?bist Jandl –<br />

Lautpoesie der DDR vi kennen gelernt hatte, Regieassistent war Holger Bück. Als Toningenieure<br />

wirkten Hans Scheck vom Bayerischen Rundfunk und Klaus Schirmer von der<br />

Stadthalle Chemnitz mit.<br />

Wie sein gesamtes Leben und Werk, so verstand <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> auch diese konkrete<br />

Produktion als Experiment. Er schätzte und forderte die Kompetenz und Kreativität seiner<br />

Partner im Studio und reizte die bestehenden technischen Möglichkeiten aus. Akribisch<br />

hatte er vorab die Verzahnung der „Lautprozesse“ konzipiert, wie sie zeitlich aufeinander<br />

folgen und/oder zeitgleich abgespielt werden sollten. Dadurch entstand im Verlauf des<br />

53-minütigen Hörstücks ein Wechsel transparenter Höreindrücke und verwirrend dichter


Überlagerungen. Zudem war die Lokalisierung der 17 (nicht mehr, wie 1994 geplant, 22)<br />

„Sprechprozesse“ genau definiert. „Wassergeräusche etwa 2 Meter über dem Kopf“<br />

(Band 1) oder „In Bauchhöhe, in etwa 50 cm Entfernung langsam kreisende Bewegung<br />

um den Körper, im Uhrzeigersinn. Schallrichtung: nach außen, vom Körper weg“ (Band<br />

2) vii lauteten die detaillierten Vorgaben des Künstlers. Um solche richtungsabhängigen<br />

Hörerlebnisse zu ermöglichen, erfolgte die Produktion in Kunstkopfstereophonie.<br />

Dieses Verfahren, in den 1990er Jahren eher unüblich geworden, erfolgt mit Hilfe einer<br />

Kopfnachbildung, in deren Hörgängen sich Mikrophone befinden. Dadurch werden die<br />

Tonsignale dort aufgenommen, wo sie beim Radiohörer (sofern er sich der Kopfhörer bedient)<br />

tatsächlich ankommen. Die Herausforderung bei der Arbeit im Tonstudio bestand in<br />

der unbedingten Umsetzung der Anweisungen des Künstlers. In einer Einführung vor der<br />

Erstsendung der Basalen Sprech-Operationsräume am 28. Juni 1996 beschrieb Bernhard<br />

Jugel anschaulich den Aufwand, wenn der Kunstkopf in eine Drehbewegung oder Lautsprecher<br />

in Pendelschwünge versetzt worden waren, um räumlich-dynamische Höreindrücke<br />

zu erzeugen. viii<br />

Was aber erwartet uns, mit Kopfhörern ausgestattet, am Rundfunkgerät oder CD-Player<br />

sitzend? Während in den ersten 14 Minuten des Hörstücks sehr transparente akustische<br />

Prozesse ablaufen, wirken sodann ganze Klangkomplexe allseitig auf den Hörenden ein.<br />

Sie umzingeln ihn, überlagern sich, bilden Cluster von suggestiver Wirkung und brechen<br />

wieder auf. Der zeitgleiche Einsatz mehrerer Prozesse gliedert dabei das akustische Geschehen.<br />

Geräusche eines Innenraums, eines Stadtraums draußen vor offenem Fenster und die<br />

durch die Körperresonanzräume verstärkten Laute eines artikulierenden Ichs sind nicht<br />

zu trennen. Draußen und drinnen, Mensch und Welt, Sprache des Menschen und Sprache<br />

der Natur nähern sich auf irritierende Weise an. Dabei entsteht der Eindruck, als entstünden<br />

die Laute in immer tieferen Tiefen, in unbekannten (Körper-)Höhlungen, deren<br />

Existenz wir kaum ahnen. Ein nächtliches Sommergewitter, wie es sich in der Nähe des<br />

Erzgebirgskamms besonders heftig entlädt, bildet den Hintergrund des Werkes. Grollender<br />

Donner, plätscherndes Wasser und knarrendes, krachendes Holz repräsentieren die<br />

Natur. Röchelnd, fauchend tritt der Künstler mit ihr ins Gespräch. Ähnlich schamanistischen<br />

Praktiken (die ihn seit den 1950-er Jahren interessierten und die ein wesentlicher<br />

inhaltlicher Aspekt des Mappenwerks Aggregat K sind) reagiert er mit hell zischenden S-<br />

Artikulationen auf das Zucken der Blitze, bevor der aufkommende Donner zu vernehmen<br />

ist. ix Ich hatte 1996 mehrfach Gelegenheit, <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> während der Produktion im<br />

Studio der Stadthalle zu besuchen; er machte mich auf die Passage aufmerksam und<br />

stellte überhaupt die Verbindung zwischen Gewitter und Hörstück her.<br />

Herausgelöst aus ihrer semantischen Funktion, werden die Lautbildungen selbst zu einer<br />

Gewitterlandschaft mit entsprechendem Geräuschpotential. Die Basalen Sprech-<br />

Operationsräume illustrieren jedoch keinen meteorologischen Vorgang, sondern akustische<br />

Unbilden brauen sich analog zusammen. Laute kumulieren zu Geräuschpegeln. Im<br />

Gegendruck konsonantischer Artikulationen lösen sich blitzartig Stauungen auf. Diese<br />

Erkundung im Innern ist eine Erkundung zurück, zu den anatomischen, neuronalen, unbewussten<br />

Anteilen der Kommunikation. Und es ist eine Erkundung voraus, auf das<br />

Sammeln neuer Erfahrungen gerichtet.


i <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> in einem Brief an Ilse Seyfert am 16. 11. 1977. Dieser wie alle folgenden Manuskripte:<br />

Kunstsammlungen Chemnitz, Stiftung <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>-Archiv.<br />

ii<br />

In Anlehnung an den Titel des Sprachblatts G 52. Verzeichnis der Druckgrafiken, in: Klaus Werner, Gabriele<br />

Juppe: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>. Das druckgraphische Werk. Altenburg: Lindenau-Museum 1998.<br />

iii<br />

<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Zwischen dem Einst und dem Einst. Sprachblätter. Texte. Aggregat K. Versuchsgebiet<br />

K. Bearb. v. Gerhard Wolf. Berlin: Janus Press 1993, S. 135.<br />

iv Klaus Ramm: Die Stimme ist ganz Ohr. Ein Radioessay zu den Lautprozessen von <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>.<br />

Erstsendung 17. 9. 1993, Bayern 2,.<br />

v <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Basale Sprech-Operationsräume, 1994. 1 Seite A 4 maschinenschriftlich. Ein zweites,<br />

undatiertes Manuskript definiert die angestrebte Klangräumlichkeit: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Basale Sprech-<br />

Operationsräume (Raum). 2 Seiten A 4 maschinenschriftlich. Hierbei handelt es sich um die (neuere) Fassung<br />

von nur 17 Einzelprozessen, nicht jedoch um die Endfassung.<br />

vi<br />

Bernhard Jugel, Christian Scholz: ? bist Jandl – Lautpoesie der DDR. Eine akustische Anthologie in 2<br />

Teilen und 10 Kapiteln. Erstsendung 20. 7. 1990 und 27. 7. 1990, Bayern 2.<br />

vii<br />

<strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong>: Basale Sprech-Operationsräume. (3D-Simulation), 2 Seiten A 4 maschinenschriftlich,<br />

handschriftlich datiert Mai 1996.<br />

viii<br />

Bernhard Jugel: <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> – Basale Sprech-Operationsräume, Sendemanuskript, Einführung zur<br />

Erstsendung, 28. 6. 1996, Bayern 2.<br />

ix Band 8 der Basalen Sprech-Operationsräume. Als räumlichen Höreindruck sah <strong>Carlfriedrich</strong> <strong>Claus</strong> vor:<br />

„Aus etwa 3 Meter Höhe auf den Scheitel gerichtet, dabei in gleicher Höhe langsame Kreisbewegung (Æ:<br />

30 cm), gegenläufig zum Uhrzeigersinn.“ Wie Anm. 7. Die Analogkassette trägt die Aufschrift: „Sommer<br />

1994“; auf ihr vermerkt sind unter Verwendung hebräischer Zeichen die Laute „ch“, „s“, „ß“, „k“ sowie<br />

„Gew[itter]“, „Reg[en]“, „Kreisg.“ und (hebräisch) Wasser.

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