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2011 2031 2051 Medizin an den Grenzen des Lebens

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0-99<br />

Aus Aus der der<br />

zukunft zukunft<br />

In die Zukunft: Acht<br />

Ärzte <strong>an</strong> <strong>den</strong> Schnittstellen<br />

zu Leben und Tod<br />

AusgAbe 02 | <strong>2011</strong><br />

<strong>Medizin</strong> <strong>an</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>Grenzen</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />

<strong>2011</strong> <strong>2031</strong> <strong>2051</strong><br />

In dIe In dIe<br />

zukunft zukunft<br />

Auf die Zukunft: Vier<br />

Frauen in erfolgreichen<br />

Gesundheitsberufen<br />

für für dIe dIe<br />

zukunft zukunft<br />

Aus der Zukunft: Ein<br />

90-jähriger Arzt und seine<br />

Enkelin im Gespräch


« Jung ist, wer mehr<br />

Freude <strong>an</strong> der<br />

Zukunft als <strong>an</strong><br />

der Verg<strong>an</strong>genheit<br />

hat. »


Was ist ein<br />

blaubuch?<br />

edItorIAl<br />

die reaktionen auf unsere erste Ausgabe waren sehr<br />

positiv. Egal ob sie die journalistische Aufbereitung<br />

oder grafische Gestaltung betrafen. das heft ist<br />

<strong>an</strong>gekommen. Was gleichzeitig Ansporn ist.<br />

Viele Leser haben uns gefragt, was eigentlich<br />

der tiefere Sinn <strong>des</strong> Begriffes « Blaubuch » ist.<br />

Was ist <strong>den</strong>n so blau <strong>an</strong> einem Blaubuch?<br />

Eine interess<strong>an</strong>te Frage. Beginnen wir zunächst<br />

mit dem Volksmund, bei dem Grün die hoffnung<br />

ist und Blau für Vernunft steht. Pustekuchen,<br />

sagen zwei Forscher der university of British<br />

columbia. Blau rege vielmehr die Kreativität <strong>an</strong><br />

und fördere so neue Lösungsstrategien und<br />

mutige Innovationen. « Blau ermutigt uns, außerhalb<br />

<strong>des</strong> gewohnten rahmens zu <strong>den</strong>ken und<br />

kreativ zu sein », sagt Juliet Zhu, eine der bei<strong>den</strong><br />

Forscher.<br />

das Blaubuch ist <strong>des</strong>halb ständig auf der Suche<br />

nach neuen Konzepten für die Zukunft unseres<br />

Gesundheitswesens. das ist weiter Anspruch und<br />

Programm. In dieser Ausgabe berichten wir über<br />

Ärzte, Patienten und Gesundheitsberufe, die <strong>an</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> medizinisch beh<strong>an</strong>deln<br />

und beh<strong>an</strong>delt wer<strong>den</strong>.<br />

Immer jünger — Immer älter. die moderne <strong>Medizin</strong><br />

ist besser <strong>den</strong>n je in der Lage, die <strong>Grenzen</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> zu erweitern. Wir wollen <strong>des</strong>halb mit<br />

Achtsamkeit eine <strong>Medizin</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> beschreiben.<br />

Wir haben Menschen und orte aufgesucht, wo<br />

der ras<strong>an</strong>te Fortschritt diese <strong>Grenzen</strong> hinausschiebt,<br />

wo aber auch mit respekt und Würde vor <strong>den</strong><br />

<strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> geh<strong>an</strong>delt wird. Keine Frage:<br />

Es geht um Qualität und Vertrauen, aber auch<br />

um die Sorge der Menschen, dass die <strong>Medizin</strong> für<br />

<strong>den</strong> Menschen da ist und nicht umgekehrt der<br />

Mensch für die <strong>Medizin</strong>. diese Grenze darf nie<br />

überschritten wer<strong>den</strong>.<br />

EdITorIAL BLAuBuch 03<br />

« Viele Leser haben uns gefragt,<br />

was eigentlich der tiefere<br />

Sinn <strong>des</strong> Begriffes Blaubuch ist.<br />

Was ist <strong>den</strong>n so blau<br />

<strong>an</strong> einem Blaubuch? »<br />

Wir suchen Antworten auf die Frage: Was braucht<br />

der Mensch <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>? Egal<br />

ob hochbetagt oder als frühgeborener Mensch.<br />

Welche Zukunftskonzepte nutzen diesen Patienten<br />

und wie verbin<strong>den</strong> sie sich zu einer <strong>Medizin</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>? Im Mittelpunkt stehen <strong>des</strong>halb innovative<br />

Therapiekonzepte sowie medizinische<br />

Möglichkeitsräume der Gegenwart. Für ein Gesundheitssystem<br />

mit Zukunft. Für eine Zukunft<br />

<strong>des</strong> Gesundheitssystems.<br />

das blaubuch schreibt<br />

über die zukunft.<br />

Mutig und innovativ<br />

will es über die gegenwart<br />

hinaus<strong>den</strong>ken. Mit der<br />

farbe blau als kreative<br />

brücke in die Welt der<br />

<strong>Medizin</strong> von morgen.<br />

WIr Wünschen vIel spAss MIt unsereM<br />

zWeIten blIck In dIe zukunft der gesundheIt.


04 BLAuBuch InhALT<br />

<strong>2051</strong><br />

<strong>Medizin</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> grenzen <strong>des</strong> lebens<br />

Menschen und themen 02 | <strong>2011</strong><br />

MobIlItätstrAIner<br />

teloMere<br />

MArkus MüschenIch<br />

pädIAtrIe<br />

superMArket-bAsed MedIcIne<br />

1.000-tonnen-spIel<br />

kInder.heIl.kunde.<br />

eIn gespräch<br />

neue kInderkrAnkheIten<br />

schlAfApnoe<br />

volker stephAn<br />

verhAltensstörung<br />

Axel feldkAMp<br />

vIerlInge<br />

kAngArooIng<br />

klInIkuM duIsburg<br />

thorsten rosenbAuM<br />

Work-lIfe-bAlAnce<br />

gesundheItsversIcherer<br />

frühgeburt<br />

MultIMorbIdItät<br />

rAIner neubArt<br />

dIe neuen Alten<br />

klInIkuM lIchtenberg<br />

<strong>2011</strong><br />

pränAtAltherApIe<br />

erzIeherIn<br />

kInderrAdIo<br />

rehAbIlItAtIon<br />

dAs sozIAle Wesen<br />

MArkus schMIdt<br />

kArMen zAbel<br />

MotIvIeren<br />

op MIt 80<br />

utz kAppert<br />

ruth strAsser<br />

gerIAtrIe<br />

dorIAn grAY<br />

nAsenjoseph<br />

schönheIt IM Alter<br />

beWegen<br />

rAdIkAle<br />

dIe oMA-evolutIon<br />

sIxtus Allert<br />

psYchoonkologIn<br />

ergotherApeutIn<br />

begleIten<br />

herzzentruM dres<strong>den</strong><br />

hebAMMe<br />

herzklAppe<br />

lebensquAlItät<br />

lebensglück<br />

krAnkenhAus hAMeln<br />

MArke eIgenbAu<br />

loslAssen<br />

<strong>2031</strong><br />

gene<br />

sAbIne petrI<br />

festhAlten<br />

körper geIst<br />

sAMAnthA gIMbel<br />

sAndrA geltl


Inhalt<br />

EdITorIAL WAS IST EIn BLAuBuch? SEITE 03<br />

IMPrESSuM SEITE 55<br />

06 <strong>2051</strong><br />

08 Mit 90 ist noch l<strong>an</strong>ge nicht schluss<br />

Backcasting: ein Gespräch aus der Zukunft<br />

über die Gesundheit der Zukunft.<br />

16 <strong>2011</strong><br />

18 nahaufnahme<br />

die <strong>Medizin</strong> rund um zu früh geborene Babys wird<br />

immer besser. Eine duisburger Klinik legt aber nicht<br />

nur Wert auf allerbeste Intensivmedizin, sondern<br />

sorgt auch für größtmögliche nähe zwischen Eltern<br />

und Kind.<br />

24 herzens<strong>an</strong>gelegenheit<br />

Bei über 80-Jährigen wird oft altersbedingt auf eine<br />

herzoperation verzichtet. In dres<strong>den</strong> sieht m<strong>an</strong><br />

das <strong>an</strong>ders. die devise: Es gibt keine Altersgrenze,<br />

hochbetagten mit modernster oP-Technik das Leben<br />

zu verlängern.<br />

30 schwer bela<strong>den</strong><br />

Früher hatten Kinder Mumps, röteln, Masern.<br />

heute heißen die Kinderkr<strong>an</strong>kheiten Übergewicht,<br />

Allergien und Verhaltensstörungen. Eine Klinik in<br />

Berlin-Lichtenberg hat sich auf <strong>den</strong> W<strong>an</strong>del eingerichtet<br />

und berät überforderte Eltern und Kids.<br />

34 zurück nach vorne<br />

InhALT BLAuBuch 05<br />

Ältere Menschen haben oft große Angst vor einem<br />

Klinikaufenthalt. In einer Berliner Klinik geht m<strong>an</strong><br />

neue Wege. Ziel ist die höchstmögliche Autonomie<br />

und <strong>Lebens</strong>qualität der Patienten.<br />

38 Altersschön<br />

Schönheitsoperationen auch im höheren Alter? Kein<br />

Problem, sagen Klinikärzte in hameln. Sie wollen<br />

das Grundrecht auf gutes Aussehen und <strong>Lebens</strong>glück<br />

in jedem Alter gar<strong>an</strong>tieren.<br />

44 <strong>2031</strong><br />

46 das leben lieben<br />

Sabine Petri begleitet schwerstkr<strong>an</strong>ke Patienten auf<br />

ihrer letzten <strong>Lebens</strong>etappe. Ihre <strong>Medizin</strong> ist das<br />

Zuhören, der respekt und die psychische Stärkung<br />

der Patienten.<br />

48 das leben begrüßen<br />

S<strong>an</strong>dra Geltl ist hebamme aus Lei<strong>den</strong>schaft.<br />

Täglich fährt sie viele Kilometer, um im entschei<strong>den</strong><strong>den</strong><br />

Augenblick vor ort zu sein. d<strong>an</strong>n sind<br />

Einfühlungsvermögen und durchsetzungskraft<br />

gleichermaßen nötig.<br />

50 das leben hören<br />

Karmen Zabel macht radiosendungen mit kr<strong>an</strong>ken<br />

Kindern. das hilft, deren Ängste zu lindern. und<br />

macht ihnen Mut, <strong>den</strong> Aufenthalt im Kr<strong>an</strong>kenhaus mit<br />

positiven Aktivitäten zu verbin<strong>den</strong>.<br />

52 das leben erleichtern<br />

Sam<strong>an</strong>tha Gimbel sorgt dafür, dass Patienten<br />

beweglich bleiben. Körperlich und geistig. Ziel ist<br />

so viel rundum-<strong>Lebens</strong>qualität wie möglich.


06 BLAuBuch <strong>2051</strong><br />

<strong>2051</strong><br />

deutschl<strong>an</strong>d ist ein Viel-Generationen-L<strong>an</strong>d, in dem mehr Ältere<br />

und hochbetagte <strong>den</strong>n je mit Jüngeren und Jungen zusammenleben.<br />

Wir haben ein Gespräch aus der Zukunft aufgezeichnet. Ein fiktives<br />

Gespräch, das Brücken zwischen <strong>den</strong> Generationen schlägt.


<strong>2051</strong> BLAuBuch 07


08 ESSAY MArKuS MÜSchEnIch <strong>2051</strong><br />

blIck In dIe zukunft<br />

Mit 90 ist noch l<strong>an</strong>ge<br />

nicht schluss<br />

Backcasting: ein Gespräch aus der Zukunft<br />

über die Gesundheit der Zukunft.


9. Juni <strong>2051</strong>. Ein warmer Freitagnachmittag in<br />

Berlin. Mein name ist Markus Müschenich. Ich<br />

bin Kinderarzt und habe viele Jahre als Zukunftsforscher<br />

und Topm<strong>an</strong>ager im Gesundheitswesen<br />

gearbeitet. heute feiere ich meinen 90. Geburtstag.<br />

Ich gehöre jetzt offiziell zu <strong>den</strong> hochbetagten. Mit<br />

mir sind das über zwei Millionen in diesem L<strong>an</strong>d.<br />

Zum Vergleich: Im Jahr 2010 gab es gerade einmal<br />

400.000 Menschen in der Generation 90 plus. Wir<br />

sind jetzt viele.<br />

Im Gegensatz zu früher ist der Freitag nicht mehr<br />

der letzte Tag vor dem Wochenende. Trotz der<br />

Proteste von Gewerkschaften und Kirchen hat m<strong>an</strong><br />

ab 2025 die feste Einteilung von Wochenarbeitstagen<br />

und Wochenende abgeschafft. Stichwort:<br />

Work-Life-Bal<strong>an</strong>ce. Begonnen hatten damit Firmen,<br />

die schon früh das Thema Familienfreundlichkeit<br />

auf ihre Fahnen schrieben und für die Mitarbeiter<br />

Möglichkeiten schufen, die Arbeitszeiten mit ihrem<br />

Familienleben zu harmonisieren. Berücksichtigt<br />

wurde dabei nicht nur die Versorgung der Kinder,<br />

sondern — die demografie ließ bereits grüßen — auch<br />

die zunehmende Pflege von Angehörigen. 2025<br />

zog eine der großen Volksparteien d<strong>an</strong>n in <strong>den</strong><br />

Bun<strong>des</strong>tagswahlkampf mit der Aussicht auf ein<br />

Familienarbeitsgesetz.<br />

Was auf <strong>den</strong> ersten Blick schien wie reine Wahlkampftaktik,<br />

hatte tatsächlich einen gesundheitswissenschaftlichen<br />

hintergrund. die Wissenschaft hatte<br />

sich längst auf <strong>den</strong> Weg gemacht, die Mech<strong>an</strong>ismen<br />

<strong>des</strong> Alterns zu erforschen. dabei war m<strong>an</strong> auf die<br />

sogen<strong>an</strong>nten Telomere gestoßen. diese bestehen<br />

aus Proteinen und dnA, sitzen wie Kappen auf <strong>den</strong><br />

En<strong>den</strong> unserer chromosomen und schützen so das<br />

Erbgut jeder einzelnen Zelle vor der Zerstörung<br />

durch äußere Einflüsse. Mit dem Alter wer<strong>den</strong> diese<br />

Telomere immer kürzer. die Geschwindigkeit, mit<br />

der sich die Telomere verkürzen, ist von Person<br />

zu Person unterschiedlich. Forscher f<strong>an</strong><strong>den</strong> heraus,<br />

dass die Länge der Telomere mit der Anzahl<br />

der noch bei guter Gesundheit zu verbringen<strong>den</strong><br />

<strong>Lebens</strong>jahre korreliert. L<strong>an</strong>ge Telomere im mittleren<br />

<strong>Lebens</strong>alter bedeuteten ein von Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

wie diabetes und herz-Kreislauf-Erkr<strong>an</strong>kungen<br />

weitgehend freies Leben. nun — so stellte sich bei<br />

weiteren Forschungen heraus — ist die Verkürzung<br />

der Telomere keineswegs nur schicksalshaft und<br />

arithmetisch auf die gelebten Jahre gleich verteilt.<br />

Als erste ursache für eine Verkürzung der Telomere<br />

wurde chronischer Stress i<strong>den</strong>tifiziert. Stress, wie<br />

er <strong>an</strong> <strong>den</strong> Arbeitsplätzen der republik und damit<br />

auch projiziert auf die Familien zu hause von Jahr<br />

zu Jahr zugenommen hatte. diese Entdeckung<br />

war damals eine Sensation, hatte m<strong>an</strong> doch einen<br />

ersten Schlüssel zur <strong>Lebens</strong>verlängerung bei<br />

gleichzeitig guter Gesundheit gefun<strong>den</strong>. und mit<br />

eben dieser Information ausgestattet ging es in<br />

<strong>den</strong> Wahlkampf. nach dem wenig überraschen<strong>den</strong><br />

Wahlsieg wurde das Wahlversprechen tatsächlich<br />

eingelöst. Es kam zur Einführung von Wunscharbeitszeitmodellen.<br />

Praktiziert habe ich meinen Beruf bis 81. und<br />

wie es der Zufall will, hat meine Enkelin Joh<strong>an</strong>ne,<br />

selber Kinderärztin, vor 14 Tagen einen Sohn<br />

geboren. Paulinus heißt er. Wir sind per iView<br />

verabredet. dazu schalte ich mein neo-h<strong>an</strong>dy<br />

ein und aktiviere die iView-Funktion meiner Brille.<br />

Statt ein display oder einen Bildschirm vor sich<br />

zu haben, schaut m<strong>an</strong> heute einfach durch seine<br />

Brille und sieht seinen Gesprächspartner scharf<br />

und <strong>an</strong>genehm großformatig. Joh<strong>an</strong>ne wohnt in<br />

<strong>2051</strong> MArKuS MÜSchEnIch ESSAY 09<br />

« Mit mir gibt es über zwei<br />

Millionen hochbetagte in<br />

diesem L<strong>an</strong>d. Zum Vergleich:<br />

Im Jahr 2010 gab es gerade<br />

einmal 400.000 Menschen<br />

in der Generation 90 plus.<br />

Wir sind jetzt viele. »<br />

dr. Markus Müschenich<br />

ist seit 2009 <strong>Medizin</strong>ischer<br />

Vorst<strong>an</strong>d der<br />

S<strong>an</strong>a Kliniken AG.<br />

der 50-jährige Kinderarzt<br />

und Gesundheitswissenschaftler<br />

ist<br />

Mitbegründer von<br />

«concepthospital»,<br />

das sich mit Szenarien<br />

der Kr<strong>an</strong>kenhäuser<br />

von morgen beschäftigt.


10 ESSAY MArKuS MÜSchEnIch <strong>2051</strong><br />

« das große um<strong>den</strong>ken in der<br />

<strong>Medizin</strong> beg<strong>an</strong>n eigentlich<br />

Ende der 2010er-Jahre.<br />

damals war klar, dass infolge<br />

ungesunder <strong>Lebens</strong>führung<br />

einige Kr<strong>an</strong>kheiten zu stark<br />

überh<strong>an</strong>dnahmen. Es musste<br />

etwas passieren. »<br />

München — also keine Zeitverschiebung — , ein<br />

kleiner Segen in unserer globalisierten Welt. und<br />

so k<strong>an</strong>n es losgehen.<br />

hebammen wissen oft mehr<br />

Hallo, Großvater, das ist schön, dass du <strong>an</strong>rufst.<br />

Meine allerherzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag.<br />

Schade, dass du noch in Berlin bleiben<br />

musst, aber wir feiern hier groß nach!<br />

Joh<strong>an</strong>ne, wie freue ich mich, dich zu sehen und<br />

zu hören. Gut siehst du aus. und wie geht’s dem<br />

neuen Er<strong>den</strong>bürger?<br />

Paulinus ist ein fröhliches Bürschchen. Obwohl<br />

wir ja bei der Geburt ein paar b<strong>an</strong>ge Minuten<br />

überstehen mussten. Gott sei D<strong>an</strong>k hat sich<br />

die Hebamme durchgesetzt. Der Arzt wollte ja<br />

schon <strong>den</strong> guten alten Kaiserschnitt <strong>an</strong>setzen,<br />

aber die Hebamme meinte, das Baby würde sich<br />

noch drehen. So kam es d<strong>an</strong>n auch.<br />

Ja, ein Glück, dass hebammen heute viel mehr<br />

Mitspracherecht als früher haben. Ihr Erfahrungswissen<br />

ist genauso viel wert wie das medizinische<br />

Apparatewissen. heute gibt es zwar das Wissen<br />

von 1.000 Arztjahren per download, aber die ei-<br />

gene Erfahrung ist d<strong>an</strong>n doch etwas, was einen<br />

wirklichen Experten ausmacht. und da sind die<br />

hebammen, die mehr Geburten begleitet haben als<br />

so m<strong>an</strong>cher Arzt, ein gutes Beispiel. Ich erinnere<br />

mich nur zu gut: Wie oft wurde ich als Kinderintensivarzt<br />

zu einem notfall-Kaiserschnitt in <strong>den</strong><br />

Kreißsaal gerufen. Wir konnten bereits am Schritt<br />

der hebamme erkennen, in welcher Gefahr das<br />

Baby war. Wenn sie r<strong>an</strong>nte und das Baby, das in<br />

ein oP-Tuch gewickelt war, nicht schrie, war Gefahr<br />

im Verzug. Wenn m<strong>an</strong> aber in dem oP-Tuch<br />

das Kind gar nicht richtig sehen konnte, weil es<br />

so winzig war, d<strong>an</strong>n wussten alle, dass die Lage<br />

extrem ernst war. Aufgeatmet haben wir, wenn die<br />

hebamme normalen Schrittes unterwegs war und<br />

das Baby ein kräftiges Schreien hören ließ — d<strong>an</strong>n<br />

waren wir Kinderärzte eigentlich überflüssig.<br />

Du, Großvater, wie war das eigentlich früher?<br />

Wenn m<strong>an</strong> heute die Frühchenmedizin <strong>an</strong>schaut,<br />

können die schon 200 Gramm schwere Menschlein<br />

in <strong>den</strong> neuen Inkubatoren aufpäppeln.<br />

na ja, hier hat sich der medizinische Fortschritt extrem<br />

weiterentwickelt. So um die Jahrhundertwende<br />

galt die Faustregel: ab der 26. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche.<br />

heute ist es ab der 20. Woche. Apropos<br />

medizinischer Fortschritt. Wenn wir uns das mal<br />

allgemein <strong>an</strong>schauen: das große um<strong>den</strong>ken in der<br />

<strong>Medizin</strong> beg<strong>an</strong>n eigentlich Ende der 2010er-Jahre.<br />

damals war klar, dass infolge ungesunder <strong>Lebens</strong>führung<br />

Kr<strong>an</strong>kheiten wie Übergewicht, diabetes<br />

mit <strong>den</strong> schlimmsten Folgeerkr<strong>an</strong>kungen, demenz,<br />

herzinfarkte und Schlag<strong>an</strong>fälle, altersassoziierte<br />

Krebsarten und gefährliche Infektionen zu stark<br />

überh<strong>an</strong>dnahmen. Es musste etwas passieren.<br />

Der Staat nahm die Dinge in die H<strong>an</strong>d?<br />

Ja, er reagierte in zwei richtungen. Zum einen<br />

wurde die Erforschung altersassoziierter Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

mit großen Summen gefördert. die Exzellenzcluster<br />

der universitäten wur<strong>den</strong> verpflichtet, sich


mit dem Alter zu beschäftigen. und in der Logik<br />

der Forschungsergebnisse beg<strong>an</strong>n das Alter mit<br />

dem Zeitpunkt der Geburt. Also wur<strong>den</strong> sowohl die<br />

Babys als auch die hochbetagten zum Schwer-<br />

punkt der lebenswissenschaftlichen Forschung.<br />

und d<strong>an</strong>n rasselten die Ergebnisse nur so durch<br />

die Forschungsl<strong>an</strong>dschaft. Großartig war die Entdeckung<br />

der Pathomech<strong>an</strong>ismen der demenz im<br />

Jahr 2022. Als m<strong>an</strong> diese kennengelernt hatte,<br />

waren es vergleichsweise kleine Schritte zur Therapie<br />

<strong>des</strong> geistigen Verfalls. Gleichzeitig bestätigte<br />

sich die Erkenntnis, dass die <strong>Lebens</strong>umstände der<br />

ersten zwei <strong>Lebens</strong>jahre bereits deutliche Auswirkungen<br />

auf <strong>den</strong> Zust<strong>an</strong>d der Gesundheit im hohen<br />

<strong>Lebens</strong>alter und damit auf die <strong>Lebens</strong>erwartung<br />

haben. Bereits vor Jahrzehnten war einem Forscher<br />

in Afrika aufgefallen, dass Kinder, die in<br />

Perio<strong>den</strong> der dürre geboren wor<strong>den</strong> waren, auch<br />

wenn sie diese unbeschadet und für Jahrzehnte<br />

überlebten, früher starben als ihre Geschwister,<br />

die in Zeiten bestmöglicher Säuglingsernährung<br />

auf die Welt gekommen waren. die hypothese der<br />

sogen<strong>an</strong>nten Programmierung war geboren und<br />

besagte, dass bereits die Qualität der Ernährung<br />

vor der Geburt im Mutterleib Auswirkungen auf die<br />

Gesundheit im späteren <strong>Lebens</strong>alter und auf die<br />

<strong>Lebens</strong>erwartung hat. Ernährung und Bewegung<br />

ebenso wie die Förderung kindgerechter Bildung<br />

scheinen der Schlüssel für ein l<strong>an</strong>ges und gesun<strong>des</strong><br />

Leben zu sein.<br />

babys, bildung, business<br />

Ich glaube, da hat unser Paulinus einen guten Start<br />

gehabt. Dahinter aber steht der Ged<strong>an</strong>ke, dass<br />

wir g<strong>an</strong>zheitlicher im wahrsten Sinne <strong>des</strong> Wortes<br />

vorgehen müssen. Mir fällt da B3+ ein.<br />

Genau. B3+ war ein großes Gesundheitsprogramm,<br />

das 2020 startete. Es st<strong>an</strong>d für Babys + Bildung +<br />

Business und sollte sicherstellen, dass sowohl<br />

das demografische Problem bei seinen Wurzeln<br />

<strong>an</strong>gepackt als auch über die Steigerung <strong>des</strong> Bildungsniveaus<br />

die Prävention von Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

<strong>2051</strong> MArKuS MÜSchEnIch ESSAY 11<br />

auf die Agenda genommen wurde. die Gesundheitswirtschaft — und dazu<br />

gehörte d<strong>an</strong>n das B für Business — sollte als Treiber <strong>des</strong> Programms geworben<br />

wer<strong>den</strong> und sicherstellen, dass quasi im nebenschluss die Gesundheit<br />

auf ein exportfähiges Topniveau gebracht würde. nach einer großzügigen<br />

Kabinettsumbildung und der Androhung der K<strong>an</strong>zlerin (es war bereits die<br />

zweite K<strong>an</strong>zlerin in der Geschichte deutschl<strong>an</strong>ds, aber die erste mit Zwillingen),<br />

ein Superministerium für Gesundheit, Bildung und demografie zu<br />

schaffen, entwickelte m<strong>an</strong> <strong>den</strong> B3+-Masterpl<strong>an</strong>. Alle machten mit.<br />

Ich habe kürzlich gelesen, wie schnell sich B3+ entwickeln konnte.<br />

Stimmt. die Modellregion für das B3+-Programm war Berlin. dort war alles<br />

vorh<strong>an</strong><strong>den</strong>, was ein Gesundheitswirtschaftssystem, das einen solchen<br />

namen tatsächlich verdienen würde, benötigte. Eine flächendeckende Versorgung<br />

mit Ärzten in Praxen und Kr<strong>an</strong>kenhäusern (heute im Jahr <strong>2051</strong><br />

unterschei<strong>den</strong> wir nicht mehr zwischen stationärer und ambul<strong>an</strong>ter <strong>Medizin</strong><br />

und sprechen statt<strong>des</strong>sen von Versorgungs-Areas). Außerdem gab es eine<br />

universitätsklinik, die sich ohnehin das Thema Life Sciences auf die Fahnen<br />

geschrieben und sich bereits seit Jahren intensiv auf die Suche nach dem<br />

nächsten nobelpreisträger aus <strong>den</strong> eigenen reihen gemacht hatte. dazu<br />

kamen eine aktive Pharma- und <strong>Medizin</strong>technikindustrie, diverse Gesundheitsversicherer<br />

(die m<strong>an</strong> früher Kr<strong>an</strong>kenkassen n<strong>an</strong>nte) und natürlich die<br />

St<strong>an</strong><strong>des</strong>- und Verb<strong>an</strong>dsvertretungen. Außerdem waren die Berliner zu 99,5<br />

Prozent aktive onliner und damit in der Tat prä<strong>des</strong>tiniert für das bisl<strong>an</strong>g<br />

größte Experiment in Sachen Gesundheit.<br />

Und da war es nur noch ein kleiner Schritt zu deinem Herzens thema,<br />

der <strong>Lebens</strong>gesundheitsakte?<br />

Es herrschte einfach eine enorme Aufbruchsstimmung. das technische<br />

« die Qualität der Ernährung<br />

vor der Geburt hat bereits<br />

Auswirkungen auf die Gesundheit<br />

im späteren <strong>Lebens</strong>alter<br />

und auf die <strong>Lebens</strong>erwartung.<br />

Ernährung und Bewegung<br />

ebenso wie die Förderung kindgerechter<br />

Bildung scheinen<br />

der Schlüssel für ein l<strong>an</strong>ges<br />

und gesun<strong>des</strong> Leben zu sein. »


12 ESSAY MArKuS MÜSchEnIch <strong>2051</strong><br />

herzstück bildete ein Serversystem, auf dem alle<br />

Berliner ihre Gesundheitsinformationen in ihrem<br />

Personal data depot — kurz Pdd — speichern<br />

konnten. das Pdd war gewissermaßen eine <strong>Lebens</strong>gesundheitsakte<br />

und sollte seinen Besitzer<br />

ein g<strong>an</strong>zes Leben l<strong>an</strong>g begleiten und dafür sorgen,<br />

dass alle relev<strong>an</strong>ten Gesundheitsinformationen<br />

stets <strong>an</strong> der Stelle vorh<strong>an</strong><strong>den</strong> waren, wo sie gerade<br />

benötigt wur<strong>den</strong>. Äußerst praktisch bei jedem<br />

Arztbesuch und nachvollziehbar lebensrettend im<br />

notfall. Je<strong>des</strong> in der Stadt geborene Baby sollte<br />

sein Leben mit einem Pdd beginnen, und nach<br />

dem Tod konnte jeder seine Informationen der<br />

Wissenschaft spen<strong>den</strong>, die so außerhalb von<br />

Studien der pharmazeutischen Industrie wichtige<br />

Informationen zu Gesundheit und Kr<strong>an</strong>kheit zur<br />

Auswertung erhielten. Gespeichert wurde in der<br />

cloud. und die Technik st<strong>an</strong>d auf dem ehemaligen<br />

Gelände <strong>des</strong> Gefängnisses in Berlin Moabit. die<br />

Berliner nennen ihr Pdd übrigens seitdem Köpi,<br />

ben<strong>an</strong>nt nach dem hauptm<strong>an</strong>n von Köpenick, der<br />

im Moabiter Gefängnis inhaftiert war. »<br />

berlin wird eine Million kilo leichter<br />

Heute ist alles auf Gesundheit ausgerichtet.<br />

Überall trifft m<strong>an</strong> auf Gesundheitsförderung.<br />

M<strong>an</strong> könnte fast sagen: G<strong>an</strong>z Deutschl<strong>an</strong>d hat<br />

« G<strong>an</strong>z deutschl<strong>an</strong>d hat die<br />

Gesundheit entdeckt.<br />

Kinderärzte agieren als Paten<br />

von Kindergärten und Schulen.<br />

Köche zeigen je<strong>den</strong> Samstag<br />

auf öffentlichen Plätzen, wie<br />

m<strong>an</strong> gesund kochen k<strong>an</strong>n. und<br />

in <strong>den</strong> Schulen ist Gesundheit<br />

längst hauptfach gewor<strong>den</strong>. »<br />

die Gesundheit entdeckt. Kinderärzte agieren als<br />

Paten von Kindergärten und Schulen. Münchner<br />

Physiotherapeuten trainieren Lehrer und Erzieher<br />

in Sachen gesunder Bewegung. Die Köche der<br />

großen Münchner Hotels zeigen je<strong>den</strong> Samstag<br />

auf dem Odeonsplatz, wie m<strong>an</strong> gesund kochen<br />

k<strong>an</strong>n. Und in <strong>den</strong> Schulen ist Gesundheit längst<br />

Hauptfach gewor<strong>den</strong>.<br />

Kennst du die Geschichte, wie Berlin eine Million<br />

Kilo leichter wurde? Ein Berliner unternehmer<br />

spendete damals eine Million Euro für das<br />

1.000-Tonnen-Spiel. dabei ging es darum, dass die<br />

Berliner in einem Jahr 1.000 Tonnen <strong>an</strong> Gewicht<br />

abnehmen sollten, und der Gewinner war der, der<br />

das letzte Kilo zur 1.000. Tonne beisteuerte. das<br />

G<strong>an</strong>ze passierte online und die Waagen st<strong>an</strong><strong>den</strong><br />

über die g<strong>an</strong>ze Stadt verteilt. Am Ende <strong>des</strong> Jahres<br />

war Berlin tatsächlich um eine Million Kilogramm<br />

leichter gewor<strong>den</strong>. Eine enorme Menge — auch<br />

wenn es nur durchschnittlich 300 Gramm je Einwohner<br />

gewesen waren.<br />

Ach, Großvater, ich höre dir so gerne zu, wenn<br />

du über die Gesundheitswirtschaft der letzten<br />

Jahrzehnte sprichst. Aber sag, wie geht’s dir<br />

<strong>den</strong>n g<strong>an</strong>z persönlich?<br />

Zurzeit wieder g<strong>an</strong>z gut. Eigentlich sogar noch<br />

besser, weil ich jetzt als 90-Jähriger völlig von<br />

allen Steuern befreit bin. Erinnerst du dich <strong>an</strong><br />

meinen VW Golf, <strong>den</strong> ich mir <strong>2011</strong> gekauft habe?<br />

der ist als oldtimer schon seit <strong>2031</strong> steuerbefreit,<br />

ich erst jetzt.<br />

Das wusste ich gar nicht. Du scherzt?<br />

nein, unsere neue Gesundheitsministerin hat sogar<br />

einen neuen Slog<strong>an</strong>: Alte Menschen total mobil<br />

machen, nicht total gesund! da hat sie recht, <strong>den</strong>n<br />

meine Kr<strong>an</strong>kheits- und Störungsbegleiter werde<br />

ich nicht mehr los, doch meine soziale Mobilität zu<br />

verlieren, würde mir schweren Scha<strong>den</strong> zufügen.<br />

Glaube mir, ich bin so froh, dass mein Longlife-coach<br />

dreimal die Woche alle <strong>an</strong>stehen<strong>den</strong> dinge mit mir


durchspricht. dazu kommt noch der halbjährliche<br />

check für Körper, Geist und Seele. Interdisziplinär<br />

und vor allem, interprofessionell. neben der<br />

Schulmedizin kommen dabei auch alternative heilmetho<strong>den</strong><br />

zum Einsatz. der wichtigste Experte<br />

für mich ist mein Mobilitätstrainer. <strong>den</strong>n eines ist<br />

mir heute klar: Mobilität ist das Wichtigste im Alter.<br />

und heute weiß m<strong>an</strong> ja, dass die meisten alten<br />

Menschen nicht <strong>an</strong> klar abgrenzbaren Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

sterben, sondern infolge zu geringer Mobilität. und<br />

wenn m<strong>an</strong> sich so umschaut, stehen wir Alten gar<br />

nicht so schlecht da. der durchschnittliche Gesundheitszust<strong>an</strong>d<br />

bessert sich von Jahr zu Jahr.<br />

Sogar die Selbstmordrate in meiner Altersgruppe<br />

konnte deutlich gesenkt wer<strong>den</strong>.<br />

das Alter simulieren<br />

Dein Wort in Gottes Ohr, Großvater. Übrigens:<br />

Ich bereite mich jetzt schon auf mein Alter vor.<br />

Dabei nutze ich einen der neuen Alterssimulatoren.<br />

Da erfährt m<strong>an</strong> ziemlich genau, wie<br />

m<strong>an</strong> sich mit 90 fühlt. Inklusive Mobilitäts- und<br />

Schmerzsimulation, Hör- und Sehfähigkeit und<br />

der geistigen Aktivität. Dazu verbindet m<strong>an</strong> sich<br />

mit seiner <strong>Lebens</strong>gesundheitsakte und macht<br />

einige Angaben zum aktuellen <strong>Lebens</strong>stil. Also:<br />

sportliche Aktivitäten, Ernährungsgewohnheiten,<br />

Stressfaktoren und was m<strong>an</strong> macht, um sich<br />

geistig fit zu halten. Wenn m<strong>an</strong> will, k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong><br />

eine aktuelle Telomer-Analyse hinzufügen. D<strong>an</strong>n<br />

bekommt m<strong>an</strong> mitgeteilt, wie hoch die <strong>Lebens</strong>erwartung<br />

bei welcher <strong>Lebens</strong>qualität ist. Ich<br />

habe mal zum Spaß eingegeben: 20 Zigaretten<br />

täglich, fünf Bier und kein Sport. Das Ergebnis<br />

war beeindruckend. Ich werde gar nicht erst 90.<br />

D<strong>an</strong>n habe ich meine tatsächlichen Lifestyle-<br />

Daten eingegeben. Damit k<strong>an</strong>n ich zwar 90<br />

wer<strong>den</strong>, meine Mobilität wird d<strong>an</strong>n allerdings<br />

sehr eingeschränkt sein. Um mit 90 so fit zu sein<br />

wie du, werde ich noch einiges tun müssen. Das<br />

Programm dafür steht, aber mein Leben muss<br />

sich doch ein gutes Stück ändern, um auch im<br />

Alter noch mobil zu sein.<br />

« Mobilität ist das Wichtigste<br />

im Alter. die meisten<br />

alten Menschen sterben<br />

nicht <strong>an</strong> klar abgrenzbaren<br />

Kr<strong>an</strong>kheiten, sondern<br />

infolge zu geringer Mobilität.<br />

hier fängt die <strong>Medizin</strong><br />

<strong>des</strong> Bewegens und Bewegtwer<strong>den</strong>s<br />

<strong>an</strong>. »<br />

Wenn du rechtzeitig <strong>an</strong>fängst, wird es klappen.<br />

und außerdem gibt es ja noch hilfsmittel. Ich habe<br />

mein E-Bike. Auch so eine Antiquität, Baujahr 2016.<br />

Wenn ich aus der Wohnung gehe, schwenke ich<br />

in Alt-Moabit in die E-Bike-Spur ein. Ein E-B<strong>an</strong>d<br />

am r<strong>an</strong>de der Straße versorgt <strong>den</strong> Elektromotor<br />

mit Strom, eine chipkennung rechnet <strong>den</strong> verbrauchten<br />

Strom in Echtzeit ab. Eine Fahrt von<br />

Alt-Moabit nach Tegel kostet 40 cent. das nenne<br />

ich Mobilität im Alter.<br />

Aber m<strong>an</strong> liest immer wieder von Unfällen,<br />

Großvater!<br />

Keine Sorge, ihr wisst doch: der körperliche Zust<strong>an</strong>d<br />

eines alten Menschen ist immer das Ergebnis <strong>des</strong>sen,<br />

was er seinem Körper früher zugemutet hat.<br />

und mein Motto im Alter ist: Lieber fit für <strong>den</strong> Alltag<br />

als perfekt gesund. Letzteres schaffe ich eh nicht,<br />

das Erste hingegen ist und bleibt mein Ziel.<br />

<strong>2051</strong> MArKuS MÜSchEnIch ESSAY 13


14 ESSAY MArKuS MÜSchEnIch <strong>2051</strong><br />

Deine <strong>Lebens</strong>klugheit hätte ich gerne. Oje,<br />

da meldet sich unser kleiner Paulinus, er hat<br />

Hunger. Ich fürchte, Großvater, wir müssen un-<br />

ser interess<strong>an</strong>tes Gespräch vertagen. Aber du<br />

kommst ja in zwei Wochen nach München. Es<br />

bleibt doch dabei?<br />

Klar, ich freue mich schon. und lass unser neues<br />

Familienmitglied nicht zu l<strong>an</strong>ge warten. <strong>den</strong>n hungernde<br />

Kinder leben kürzer, lass dir das von einem<br />

alten Kinderarzt sagen. Tschüss, ihr Lieben!<br />

Tschüss, Großvater!<br />

Wie alt wer<strong>den</strong> wir morgen?<br />

Ich schalte mein neo-h<strong>an</strong>dy aus und hänge noch<br />

einem Ged<strong>an</strong>ken nach. Was ist Gesundheit für<br />

mich? heute ist mir klar, nicht mehr die Abwesenheit<br />

von Kr<strong>an</strong>kheit. Es ist die persönliche Übernahme<br />

der Ver<strong>an</strong>twortung für die bestmögliche<br />

eigene Gesundheit. Es geht also primär um eine<br />

vorausschauende Versorgung rund um die Gesundheit.<br />

und vorausschauend heißt eben nicht<br />

nur die Versorgung im Kr<strong>an</strong>kheitsfall, sondern<br />

auch die unterstützung, gar nicht erst kr<strong>an</strong>k zu<br />

wer<strong>den</strong>. Ich erinnere mich noch gut <strong>an</strong> <strong>den</strong> Slog<strong>an</strong><br />

« der körperliche Zust<strong>an</strong>d eines<br />

alten Menschen ist immer das<br />

Ergebnis <strong>des</strong>sen, was er seinem<br />

Körper früher zugemutet<br />

hat. Mein Motto im Alter ist:<br />

Lieber fit für <strong>den</strong> Alltag als<br />

perfekt gesund. Letzteres<br />

schaffe ich eh nicht, das Erste<br />

hingegen ist mein Ziel. »<br />

« Gesundheit passiert im Supermarkt ». Wer einen<br />

Supermarkt betrat, wurde freundlich gefragt, ob<br />

er eine Verkaufsberatung unter Berücksichtigung<br />

seiner aktuellen Laborwerte und gesundheitlichen<br />

risikoparameter wünschte, und <strong>an</strong> der Kasse gab<br />

es nicht mehr die Frage nach Payback-Karten<br />

oder Treuepunkten, sondern nach credit Points<br />

der Gesundheitsversicherer. Vorausgesetzt, m<strong>an</strong><br />

hatte die richtigen Produkte in <strong>den</strong> Einkaufswagen<br />

gelegt. die Gesundheitsversicherer schlossen integrierte<br />

Versorgungsverträge mit Warenhäusern,<br />

damit ihre Versicherten einen besseren Zug<strong>an</strong>g zu<br />

gesun<strong>den</strong> <strong>Lebens</strong>mitteln erhielten. der Begriff der<br />

Supermarket-Based Medicine machte mit einem<br />

Augenzwinkern die runde. noch einfacher war die<br />

Auswahl gesunder Produkte für die, die ohnehin<br />

online ihre <strong>Lebens</strong>mittel bestellten. die onlinekataloge,<br />

die auf dem Bildschirm erschienen,<br />

blendeten individuell und direkt solche Produkte<br />

aus, die der Gesundheit <strong>des</strong> eingeloggten Kun<strong>den</strong><br />

abträglich sein konnten.<br />

Im Jahr <strong>2051</strong> haben wir viel erreicht in Sachen Gesundheit,<br />

leider gibt es auch einen Wermutstropfen.<br />

der Wunsch nach einer gesun<strong>den</strong> Bevölkerung<br />

wurde nur zum Teil erfüllt. <strong>den</strong>n ein Trend, der sich<br />

bereits am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Jahrhunderts abgezeichnet<br />

hatte, schlägt nun voll durch. Gemeint ist der<br />

gewaltige Anstieg der psychischen Erkr<strong>an</strong>kungen.<br />

die Arbeitswelt, die über Jahrzehnte <strong>den</strong> flexiblen<br />

Mitarbeiter gefordert und weidlich genutzt hatte, sah<br />

sich heerscharen von ausgebr<strong>an</strong>nten Menschen<br />

gegenüber. Längst waren es aber nicht mehr nur<br />

die Topm<strong>an</strong>ager. Es waren Arbeiter und Angestellte,<br />

hausfrauen und solche, die m<strong>an</strong> l<strong>an</strong>ge wegen<br />

ihres Gleichmuts als <strong>Lebens</strong>künstler bezeichnet<br />

hatte. doch das war — nach <strong>den</strong> ausgebr<strong>an</strong>nten<br />

M<strong>an</strong>agementetagen — erst die zweite Welle der<br />

Erkr<strong>an</strong>kten. und dieser sollte noch eine dritte folgen,<br />

bis unsere Gesellschaft begriff, dass es nicht<br />

gereicht hatte, übermäßige Kalorien, nikotin, Teer<br />

und Alkohol in <strong>den</strong> Griff zu bekommen. Erst als die<br />

diagnosestatistiken zeigten, dass depressionen und


Burn-outs auch unsere Kinder und Jugendlichen<br />

erreicht hatten, wurde klar, dass gesunde Alte nicht<br />

ausreichten, eine Gesellschaft wirklich stabil zu<br />

halten, wenn gleichzeitig die Kinder immer kränker<br />

wur<strong>den</strong>. Kinder, die schon im Kindergarten auf<br />

<strong>den</strong> Weg zum Prädikatsexamen geschickt wur<strong>den</strong>.<br />

Kinder, die zwar perfekt das nächste Level <strong>des</strong><br />

Intelligenz fördern<strong>den</strong> onlinespiels bewältigten,<br />

aber beim rennen über eine Wiese aussahen, als<br />

wür<strong>den</strong> sie das erste Mal in ihrem Leben draußen<br />

spielen. Eltern waren keine Seltenheit, die ihren<br />

Sprösslingen nicht <strong>des</strong>halb nachhilfeunterricht<br />

geben ließen, weil die Klassenarbeiten schlecht<br />

benotet wor<strong>den</strong> waren, sondern um sie rechtzeitig<br />

auf <strong>den</strong> Lernstoff <strong>des</strong> nächsten Schuljahres<br />

vorzubereiten — eine Folge falsch verst<strong>an</strong><strong>den</strong>er<br />

Bildungspolitik. und wenn das nicht ausreichte,<br />

gab es ja noch die neuroenh<strong>an</strong>cer.<br />

diese Pharmazeutika steigerten die geistige Leistungsfähigkeit<br />

und waren seit Jahren bereits der<br />

tägliche Begleiter der Erwachsenenwelt. unsere<br />

Gesellschaft hatte es auch hier geschafft, aus<br />

Kindern kleine Erwachsene zu machen. und nun<br />

hatten diese kleinen Erwachsenen auch dieselben<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen wie ihre großen Vorbilder. und das<br />

ist das Problem, <strong>an</strong> dem wir im Jahr <strong>2051</strong> gerade<br />

arbeiten. Wir wer<strong>den</strong> sehen, ob wir auch das<br />

wer<strong>den</strong> lösen können. Besser wäre es gewesen,<br />

wenn m<strong>an</strong> vor 40 Jahren begonnen hätte, es zu<br />

verhindern.<br />

« Kinder sind am Anf<strong>an</strong>g hilflos,<br />

wer<strong>den</strong> umsorgt und betreut.<br />

Sie lernen gehen, wer<strong>den</strong> mobil<br />

und streben hinaus in die Welt.<br />

Am Ende sind die Menschen<br />

wieder hilflos und oft einfach<br />

nur kr<strong>an</strong>k, weil sie zu wenig<br />

mobil sind. »<br />

Gerade schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen<br />

vorbei. Ich <strong>den</strong>ke mir: Kinder sind auch<br />

heute keine kleinen Erwachsenen. Sie sind am<br />

Anf<strong>an</strong>g hilflos, wer<strong>den</strong> umsorgt und betreut. Sie<br />

lernen gehen, wer<strong>den</strong> mobil und streben hinaus<br />

in die Welt. Am Ende sind die Menschen wieder<br />

hilflos und oft einfach nur kr<strong>an</strong>k, weil sie zu wenig<br />

mobil sind. Ich <strong>den</strong>ke <strong>an</strong> meinen roboter zu hause<br />

und lächle. Er nimmt mir im haushalt wahnsinnig<br />

viel Arbeit ab. oje, in einer halben Stunde findet<br />

in der charité ein Vortrag statt. Thema: Wie alt<br />

wer<strong>den</strong> wir morgen? da möchte ich mit 90 auf<br />

je<strong>den</strong> Fall dabei sein.<br />

<strong>2051</strong> MArKuS MÜSchEnIch ESSAY 15


16 BLAuBuch <strong>2011</strong><br />

<strong>2011</strong><br />

Am Anf<strong>an</strong>g und am Ende <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> brauchen Menschen<br />

medizinische Versorgung am dringendsten. Wir haben Kliniken<br />

besucht, in <strong>den</strong>en Altersmedizin nicht nur die Gegenwart<br />

repariert, sondern auch mehr und neue Zukunft schafft. Egal<br />

für welches Alter.


<strong>2011</strong> BLAuBuch 17


18 <strong>2011</strong> AxEL FELdKAMP / ThorSTEn roSEnBAuM / MArKuS SchMIdT<br />

je<strong>des</strong> zehnte kInd koMMt zu früh zur Welt<br />

nahaufnahme<br />

Frühchen sind die verletzlichsten Patienten. Eine duisburger Klinik<br />

sorgt dafür, dass der Frühstart ins Leben für Kind und Eltern gelingt.<br />

Mit Intensivmedizin und größtmöglicher Eltern-Kind-nähe.<br />

Von oben nach<br />

unten —<br />

Prof. dr. Thorsten<br />

rosenbaum,<br />

dr. Axel Feldkamp<br />

Klinik für Kinderheilkunde<br />

und<br />

Jugendmedizin<br />

Prof. dr. Markus<br />

Schmidt<br />

Klinik für Frauenheilkunde<br />

und<br />

Geburtshilfe<br />

Klinikum duisburg<br />

nur 620 gramm wiegt das frühchen, das<br />

heute im perinatalzentrum <strong>des</strong> klinikum<br />

duisburg geboren wurde. Wie hoch sind<br />

seine überlebensch<strong>an</strong>cen?<br />

Feldkamp: das Gewicht spielt zwar eine rolle für<br />

die Überlebensfähigkeit, entschei<strong>den</strong>der aber ist<br />

die reife, also die dauer der Schw<strong>an</strong>gerschaft zum<br />

Zeitpunkt der Geburt. nach unserem Ermessen fängt<br />

die <strong>Lebens</strong>fähigkeit in der 24. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche<br />

<strong>an</strong>. das Frühchen in unserer Station wurde<br />

in der 26. Schw<strong>an</strong>gerschaftswoche geboren, ab<br />

der 25. Woche rechnen wir mit Überlebensch<strong>an</strong>cen<br />

von 50 Prozent. Bei sehr kleinen Frühgeborenen<br />

ist allerdings das risiko hoch, dass sie wegen der<br />

extremen unreife ihrer org<strong>an</strong>systeme schwere<br />

Behinderungen entwickeln.<br />

Mit welchen medizinischen Maßnahmen<br />

lassen sich die überlebensch<strong>an</strong>cen von<br />

frühchen verbessern?<br />

Warum zu früh?<br />

Etwa die hälfte<br />

der frühgeborenen<br />

Kinder kommt aufgrund<br />

von uroge-<br />

nitalen Infektionen<br />

der Mutter zur<br />

Welt. Wenn Keime<br />

aus der Scheide<br />

in die Fruchtblase<br />

gel<strong>an</strong>gen, produzieren<br />

sie Prostagl<strong>an</strong>dine,<br />

die Wehen<br />

auslösen. Ein<br />

zwei ter Grund für<br />

Früh geburten sind<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen oder<br />

Funktionsstörungen<br />

der Plazenta,<br />

die zur m<strong>an</strong>geln<strong>den</strong><br />

Versorgung der Föten<br />

mit nährstoffen<br />

führen. die dritte<br />

große Gruppe der<br />

Frühgeburtsrisiken<br />

sind Mehrlings-<br />

schw<strong>an</strong>gerschaf-<br />

ten. die meisten<br />

Zwillinge kommen<br />

ein paar Wochen<br />

zu früh, drillinge<br />

oder Vierlinge<br />

kommen immer<br />

zu früh. Grund für<br />

die Zunahme der<br />

Mehrlingsschw<strong>an</strong>gerschaften<br />

ist eine<br />

Schmidt: Zunächst versuchen wir Zeit zu gewinnen<br />

— wenn möglich min<strong>des</strong>tens zwei Tage, um<br />

eine Lungenbeh<strong>an</strong>dlung durchzuführen. diese<br />

zweimaligen cortisongaben <strong>an</strong> die Mutter verbessern<br />

die Prognose <strong>des</strong> neugeborenen erheblich.<br />

Während dieser Zeit führen wir intensive Gespräche<br />

mit <strong>den</strong> beteiligten Ärzten und helfen <strong>den</strong><br />

Eltern, die für sie völlig neue und beängstigende<br />

Situation besser zu verstehen. Entbun<strong>den</strong> wird<br />

üblicherweise mit Kaiserschnitt, das ist für das<br />

Kind weniger risk<strong>an</strong>t.<br />

Feldkamp: Bei der Erstversorgung nach der Geburt<br />

sorgen wir dafür, dass das Kind keine Temperatur<br />

verliert, und prüfen sehr behutsam Vitalparameter<br />

wie Atmung und herz-Kreislauf-Funktionen.<br />

Wenn nötig stimulieren oder unterstützen wir die<br />

Atmung. d<strong>an</strong>n legen wir Infusionen für die Flüssigkeitsversorgung.<br />

Ist die Lunge noch unreif,<br />

bekommen die Frühgeborenen Surfact<strong>an</strong>t — ein<br />

Präparat, das aus Schweine- oder rinderlungen<br />

vermehrte nutzung<br />

reproduktionsmedizinischerAktivitäten.<br />

In Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

damit steht<br />

auch das steigen-<br />

de Alter der Frau-<br />

en bei ihrer ersten<br />

Schw<strong>an</strong>gerschaft,<br />

das heute um zehn<br />

Jahre höher liegt<br />

als noch vor zwei<br />

Jahrzehnten. Ab<br />

etwa 35 Jahren<br />

steigt statistisch<br />

gesehen das Frühgeburtsrisiko.Weitere<br />

ursachen für<br />

Frühgeburten sind<br />

chronischer Stress.<br />

Auch rauchen vor<br />

und während der<br />

Schw<strong>an</strong>gerschaft<br />

erhöht das risiko.


K<strong>an</strong>garooing<br />

MArKuS SchMIdT / ThorSTEn roSEnBAuM / AxEL FELdKAMP <strong>2011</strong> 19<br />

« G<strong>an</strong>z wichtig ist, dass wir sie regelmäßig und<br />

sehr früh aus dem Inkubator nehmen und ihren<br />

Eltern auf die Brust legen. diese sogen<strong>an</strong>nte<br />

Känguru-Methode wirkt stark beruhigend auf die<br />

Frühchen und hat sehr positiven Einfluss auf ihre<br />

reifung und Gesundung. »<br />

dr. Axel Feldkamp


20 <strong>2011</strong> AxEL FELdKAMP / ThorSTEn roSEnBAuM / MArKuS SchMIdT<br />

« Wenn das Kind zu früh kommt,<br />

zerbricht nicht nur die Illusion vom<br />

Wunsch kind, sondern der g<strong>an</strong>ze<br />

<strong>Lebens</strong>entwurf der Familie. »<br />

Prof. dr. Thorsten rosenbaum<br />

gewonnen wird und die Stabilität der Lungen-<br />

bläschen erhöht. diese relativ neue Therapie hat<br />

die Sterblichkeit von Frühgeborenen signifik<strong>an</strong>t<br />

vermindert. recht neu ist auch die Erkenntnis,<br />

dass ruhe, nähe und Geborgenheit für Frühchen<br />

extrem wichtig sind. <strong>des</strong>halb beachten wir das<br />

Prinzip <strong>des</strong> « minimal h<strong>an</strong>dling », das heißt, wir<br />

vermei<strong>den</strong> unnötige Beh<strong>an</strong>dlungen und <strong>an</strong>dere<br />

Stresssituationen für das Kind. dazu gehört auch,<br />

dass wir die Frühgeborenen regelmäßig und sehr<br />

früh aus dem Inkubator nehmen und ihren Eltern<br />

auf die Brust legen. diese sogen<strong>an</strong>nte Känguru-<br />

Methode wirkt stark beruhigend auf die Frühchen<br />

und hat sehr positiven Einfluss auf ihre reifung<br />

und Gesundung.<br />

Was unterscheidet ein perinatalzentrum<br />

von <strong>an</strong>deren einrichtungen der neugeborenenmedizin?<br />

rosenbaum: d<strong>an</strong>k der engen Zusammenarbeit<br />

vieler interner und externer Spezialisten können<br />

wir Schw<strong>an</strong>gerschaften und Frühgeborene mit<br />

höchstrisiko beh<strong>an</strong>deln. <strong>den</strong> Kern <strong>des</strong> Zentrums<br />

bil<strong>den</strong> Geburtshilfe und neonatologie, die je nach<br />

Fall von neuropädiatern, Kinderkardiologen oder<br />

-chirurgen und weiteren spezialisierten Fachärzten,<br />

Pflegern oder Kr<strong>an</strong>kenschwestern unterstützt<br />

wer<strong>den</strong>. nach der Geburt bleiben die Kinder oft<br />

bis zu vier Monaten zur Beh<strong>an</strong>dlung bei uns, und<br />

auch zu späteren Zeitpunkten kontrollieren wir<br />

ihren Entwicklungsst<strong>an</strong>d, damit Störungen wie<br />

Krampf<strong>an</strong>fälle oder Bewegungsprobleme rechtzeitig<br />

erk<strong>an</strong>nt und therapiert wer<strong>den</strong> können. Außerdem<br />

entwickeln und koordinieren wir zur unterstützung<br />

der Familien individuelle frühkindliche Förderkonzepte<br />

für die Zeit nach der Entlassung.<br />

Feldkamp: Wir helfen <strong>den</strong> Eltern von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>,<br />

sicher und souverän mit ihrem Frühgeborenen<br />

umzugehen. Gemeinsam mit dem Pflegepersonal<br />

lernen sie, Körperkontakt zu ihren Kindern


« die Zukunft der<br />

Geburtshilfe ist die<br />

Beh<strong>an</strong>dlung von<br />

Kr<strong>an</strong>kheiten am<br />

ungeborenen Fötus. »<br />

Prof. dr. Markus Schmidt<br />

aufzubauen und sie als Individuum zu begreifen.<br />

Außerdem gibt es auf der Intensivstation einige<br />

Zimmer, in <strong>den</strong>en die Mütter kurz vor der Entlassung<br />

<strong>den</strong> Alltag zu hause üben können. Sie<br />

versorgen und pflegen ihre Kinder selbständig,<br />

können aber bei Bedarf jederzeit auf professionelle<br />

hilfe zurückgreifen.<br />

Mit welchen großen themen wird<br />

sich die perinatalmedizin in zukunft zu<br />

beschäftigen haben?<br />

Schmidt: Für die Geburtshilfe ist das die intrauterine<br />

Therapie, also die Beh<strong>an</strong>dlung von Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

am ungeborenen Fötus, damit er bis zum optimalen<br />

Zeitpunkt der Geburt in der Gebärmutter<br />

bleiben k<strong>an</strong>n. Einiges ist auf diesem Gebiet bereits<br />

möglich, etwa Bluttr<strong>an</strong>sfusionen oder die<br />

Stabilisierung der herzleistung, und es gibt auch<br />

erste Möglichkeiten, gewisse Fehlbildungen <strong>des</strong><br />

Fötus in der Gebärmutter zu operieren.<br />

Feldkamp: der größte medizinische Erfolg wäre,<br />

Frühgeburten g<strong>an</strong>z zu vermei<strong>den</strong> — doch das bleibt<br />

vorerst utopie. Konkrete Fortschritte in der neonatologie<br />

ließen sich aber erzielen, wenn durch<br />

bauliche Maßnahmen ermöglicht würde, dass<br />

Eltern auch auf der Intensivstation jederzeit bei<br />

ihren Frühgeborenen bleiben und sich dort in<br />

eigene räume zurückziehen können. In Schwe<strong>den</strong><br />

wer<strong>den</strong> solche Konzepte bereits vorbildlich<br />

umgesetzt.<br />

rosenbaum: Ich erlebe bei Frühgeburten oft, dass<br />

der Kinderwunsch perfekt in die <strong>Lebens</strong>situation<br />

eingepl<strong>an</strong>t war. Wenn das Kind d<strong>an</strong>n zu früh kommt,<br />

zerbricht nicht nur die Illusion vom Wunschkind,<br />

sondern der g<strong>an</strong>ze <strong>Lebens</strong>entwurf der Familie.<br />

die Gesellschaft wird sich künftig mehr mit ihren<br />

Idealvorstellungen von Leben ausein<strong>an</strong>dersetzen<br />

müssen, und damit, was in der Schw<strong>an</strong>gerschaftsund<br />

Geburtsmedizin vertretbar ist.<br />

MArKuS SchMIdT / ThorSTEn roSEnBAuM / AxEL FELdKAMP <strong>2011</strong> 21<br />

<strong>Lebens</strong>rettende Pränataltherapie<br />

der Fötus als Patient<br />

noch vor wenigen<br />

Jahrzehnten war die<br />

<strong>Medizin</strong> machtlos,<br />

wenn bei ungeborenen<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen und<br />

Fehlbildungen diagnostiziert<br />

wur<strong>den</strong>. heute<br />

gibt es viele Möglichkeiten,<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen <strong>des</strong><br />

Fötus in der Gebärmutter<br />

zu therapieren.<br />

Am häufigsten wer<strong>den</strong><br />

Medikamente eingesetzt,<br />

etwa zur Beh<strong>an</strong>dlung<br />

von herzrhyth-<br />

musstörungen oder<br />

bei Toxoplasmose, einer<br />

Infektionskr<strong>an</strong>kheit<br />

der Mutter, die für das<br />

ungeborene lebensbedrohlich<br />

sein k<strong>an</strong>n.<br />

Anämie oder Blutunverträglichkeiten<br />

lassen<br />

sich mit Bluttr<strong>an</strong>s-<br />

rückenmark<br />

Zerebrospinal-<br />

flüssigkeit<br />

fusionen über die<br />

nabelschnur erfolg-<br />

reich therapieren.<br />

Auch chirurgische Eingriffe<br />

sind zunehmend<br />

möglich, meistens ohne<br />

großen Bauchschnitt,<br />

sondern mit minimalinvasiveroperationstechnik.<br />

dabei operieren<br />

spezialisierte Ärzte mit<br />

winzigen Geräten durch<br />

wenige Millimeter dünne<br />

röhrchen, die von<br />

außen in die Gebärmutter<br />

eingeführt wer<strong>den</strong>.<br />

Auch der « offene<br />

rücken » (siehe unten)<br />

lässt sich mit dieser<br />

operationstechnik<br />

erfolgreich beh<strong>an</strong>deln,<br />

ebenso das Zwillings-<br />

tr<strong>an</strong>sfusionssyndrom<br />

— eine Ernährungs-<br />

und durchblutungsstörung<br />

bei eineiigen<br />

Zwillingen, die unbeh<strong>an</strong>delt<br />

in vielen Fällen<br />

tödlich verläuft.<br />

die vorgeburtliche chirurgie<br />

ist noch sehr neu<br />

und fast immer auch<br />

mit risiken verbun<strong>den</strong>.<br />

<strong>des</strong>halb muss jede<br />

einzelne operation von<br />

einer Ethikkommission<br />

genehmigt wer<strong>den</strong>.<br />

fig.: der offene rücken<br />

(Spina bifida) ist eine der<br />

häufigsten Behinderungen<br />

bei neugeborenen und<br />

äußert sich in einer<br />

Vorwölbung, <strong>an</strong> der das<br />

rückenmark nach außen<br />

tritt. die Fehlbildung <strong>des</strong><br />

embryonalen neuralrohrs<br />

führt in schweren Fällen<br />

zu Querschnittslähmung,<br />

gestörten Blasen- und<br />

darmfunktionen, vielfach<br />

auch zum Wasserkopf.<br />

Mit einem fetalchirurgischen<br />

Eingriff k<strong>an</strong>n<br />

ein Fortschreiten der<br />

nervenschädigungen rechtzeitig<br />

vermie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>.<br />

Wirbelsäule


22 <strong>2011</strong> AxEL FELdKAMP / ThorSTEn roSEnBAuM / MArKuS SchMIdT<br />

MIt WenIger AnfAngen<br />

der Mensch, das unfertige Wesen<br />

Jeder Mensch wird eigentlich zu früh geboren. das ist gut so, <strong>den</strong>n das Angewiesensein<br />

und der soziale Austausch fördern seine körperliche und seelische Entwicklung.<br />

Selbst wenn die Geburt zum errechneten Zeitpunkt erfolgt, kommt das<br />

neugeborene sehr viel unfertiger auf die Welt als je<strong>des</strong> Tier. nicht einmal<br />

die embryonale Entwicklung ist bei der Geburt vollständig abgeschlossen,<br />

dazu wäre eine Schw<strong>an</strong>gerschaft von 21 Monaten nötig.<br />

das Gehirn zum Beispiel entwickelt sich größtenteils erst in <strong>den</strong> zwei<br />

Jahren nach der Geburt. die « vorzeitige » Geburt ist eine Art <strong>an</strong>thropologischer<br />

Kompromiss zwischen dem relativ großen Kopfumf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> neugeborenen<br />

und dem durch <strong>den</strong> aufrechten G<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Menschen bedingten<br />

relativ engen weiblichen Becken. der Schweizer Biologe und Anthropologe<br />

Adolf Portm<strong>an</strong>n hat in <strong>den</strong> 1930er-Jahren <strong>den</strong> Begriff <strong>des</strong> Menschen als<br />

physiologische Frühgeburt geprägt.<br />

neugeborene sind völlig hilflos und auf Totalversorgung <strong>an</strong>gewiesen.<br />

Seine typisch menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie aufrechter<br />

G<strong>an</strong>g, Sprache, einsichtiges <strong>den</strong>ken und vernunftgeprägtes h<strong>an</strong>deln<br />

die wichtigsten Schritte der Kin<strong>des</strong>entwicklung<br />

das Leben beginnt<br />

3. Woche<br />

Bildung <strong>des</strong><br />

neuralrohrs und<br />

<strong>des</strong> herzens<br />

Entwick lung<br />

<strong>des</strong> Gehirns<br />

9. Woche<br />

Alle inneren<br />

org<strong>an</strong>e sind<br />

<strong>an</strong>gelegt<br />

12. Woche<br />

Arme, Beine und<br />

Finger sind sicht -<br />

bar, äußere Geschlechtsorg<strong>an</strong>e<br />

ausgebildet<br />

Bis Ende der 8. Woche<br />

sind Gehirn und rückenmark<br />

vollständig <strong>an</strong>gelegt, die Bildung der<br />

nervenzellen beginnt<br />

16. Woche<br />

Erste Bewegungen<br />

<strong>des</strong> Fötus<br />

sind bei der Geburt zwar <strong>an</strong>gelegt, aber noch nicht<br />

ausgebildet. Sie entwickeln sich erst im Lauf einer<br />

für Lebewesen einzigartig l<strong>an</strong>gen Zeit.<br />

Auch neugeborene Säugetiere wie Elef<strong>an</strong>ten<br />

oder Pferde sind relativ hilflos, doch ihr reifezust<strong>an</strong>d<br />

ist wesentlich weiter fortgeschritten als der<br />

<strong>des</strong> Menschen. Trotzdem betont Portm<strong>an</strong>n, dass<br />

der Mensch nicht als Mängelwesen zur Welt kommt,<br />

sondern als Lernwesen. Im Gegensatz zu <strong>an</strong>deren<br />

Lebewesen findet sein Entwicklungsprozess<br />

größtenteils nicht isoliert im Mutterleib statt, sondern<br />

ist von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> eingebettet in ein soziokulturelles<br />

umfeld. <strong>des</strong>halb ist der Mensch ein<br />

Leben l<strong>an</strong>g extrem offen für soziale Kontakte.<br />

18. Woche<br />

Verdauungssystem<br />

arbeitet,<br />

Fötus schluckt<br />

Fruchtwasser<br />

Bis zur 18. Woche<br />

entsteht das<br />

zentrale nervensystem<br />

21. Woche<br />

Iris der Augen<br />

entwickelt sich<br />

Bis zur 20. Woche<br />

entwickelt sich<br />

das Kleinhirn<br />

24. Woche<br />

Lungenbläschen<br />

haben sich<br />

entwickelt<br />

Bis zur 24. Woche<br />

wird die Großhirnrinde<br />

<strong>an</strong>gelegt


Zu früh? na und!<br />

« Wir sind Frühchen. »<br />

Sie kamen acht Wochen<br />

zu früh auf die Welt und<br />

wogen bei der Geburt<br />

zwischen 1.000 und<br />

1.400 Gramm. Vier Ärzteteams<br />

kümmerten sich<br />

um die neugeborenen,<br />

die im Abst<strong>an</strong>d von einer<br />

Minute das Licht der<br />

Welt erblickten.<br />

Ihre ersten Wochen<br />

verbrachten die Vierlinge<br />

im Brutkasten, ihr gesundheitlicher<br />

Zust<strong>an</strong>d<br />

war relativ stabil. nach<br />

drei Monaten intensiver<br />

Betreuung im Klinikum<br />

duisburg durften<br />

26. Woche<br />

Augenlider<br />

sind ausgebildet,<br />

Innen- und<br />

Mittelohr voll<br />

ausgereift<br />

28. Woche<br />

Geruchssinn ist<br />

ausgebildet<br />

Erika und Fr<strong>an</strong>z Pieler<br />

ihre Kinder nach hause<br />

holen. « Wir waren überglücklich,<br />

obwohl der Alltag<br />

mit vier Säuglingen<br />

ziemlich stressig war »,<br />

erzählen die Eltern.<br />

Mit zwei Jahren hatten<br />

die Vierlinge ihren <strong>an</strong>fänglichenEntwicklungsrückst<strong>an</strong>d<br />

aufgeholt. Seit<br />

ihrer Kindheit sind sie<br />

begeisterte Sportler. die<br />

bei<strong>den</strong> Jungen spielen<br />

Fußball, die Mädchen<br />

reiten. und alle vier spielen<br />

Tennis — m<strong>an</strong>chmal<br />

im gemischten doppel.<br />

MArKuS SchMIdT / ThorSTEn roSEnBAuM / AxEL FELdKAMP <strong>2011</strong> 23<br />

30. Woche<br />

Fötus ist vollständigentwickelt,<br />

bis zur<br />

Geburt wächst<br />

er und nimmt<br />

Gewicht zu<br />

Vor der Geburt<br />

differenzieren<br />

sich die nervenzellen<br />

sehr<br />

schnell und bil<strong>den</strong><br />

viele Synapsen<br />

Bei der Geburt<br />

hat das Gehirn etwa<br />

100 Milliar<strong>den</strong><br />

nervenzellen.<br />

diese Zahl<br />

verändert sich bis<br />

zum <strong>Lebens</strong>ende<br />

kaum.<br />

Mit 1 Monat<br />

die nervenzellen<br />

sind noch nicht<br />

voll ausgebildet<br />

und nur wenig<br />

ver netzt. das<br />

Gehirn ist eine Art<br />

rohling, der noch<br />

geformt wer<strong>den</strong><br />

muss.<br />

fig.: die Vierlinge Philipp, Angelina,<br />

Alex<strong>an</strong>der und Maiva beim Besuch<br />

der Frühgeborenenstation im Klinikum<br />

duisburg, wo sie im September 1989<br />

geboren wur<strong>den</strong>.<br />

Mit 3 Monaten<br />

In <strong>den</strong> Monaten<br />

nach der Geburt<br />

nehmen die<br />

Verbindungen<br />

zwischen <strong>den</strong><br />

nervenzellen<br />

deutlich zu.<br />

Mit 6 Monaten<br />

die Zahl der<br />

Synapsen steigt<br />

weiter. Zwei<br />

Jahre nach der<br />

Geburt hat sich<br />

das Gewicht <strong>des</strong><br />

Gehirns mit 900<br />

Gramm mehr als<br />

verdoppelt.


24 <strong>2011</strong> ruTh STrASSEr / uTZ KAPPErT<br />

sAnfte MedIzIn für hochbetAgte<br />

herzens<strong>an</strong>gelegenheit<br />

herzoperationen bei über 80-Jährigen galten l<strong>an</strong>ge als<br />

zu risk<strong>an</strong>t. In dres<strong>den</strong> sind sie heute klinischer Alltag: Eingriffe<br />

mit Fingerspitzengefühl, die Leben verlängern.


« Meine Entscheidung für die<br />

operation fiel sofort. die ständige<br />

Atemnot schränkte mich<br />

extrem ein. und d<strong>an</strong>n war<br />

mein Problem in kaum einer<br />

Stunde gelöst. das risiko war<br />

mir klar, aber die Verbes serung<br />

meiner Gesundheit war<br />

mir wichtiger. »<br />

die Kr<strong>an</strong>kheit verläuft schleichend und wird oft erst entdeckt, wenn sie schon<br />

weit fortgeschritten ist. Aortenklappenstenosen gehören zu <strong>den</strong> häufigsten<br />

herzkr<strong>an</strong>kheiten bei älteren Menschen. Wird diese Verkalkung der herzklappe<br />

nicht beh<strong>an</strong>delt, k<strong>an</strong>n sie zu lebensbedrohlichen Symptomen wie<br />

Atemnot, ohnmachts<strong>an</strong>fällen oder herzversagen führen.<br />

noch vor wenigen Jahren war es un<strong>den</strong>kbar, hochbetagten und schwer<br />

kr<strong>an</strong>ken Patienten einen lebensretten<strong>den</strong> herzklappenersatz einzusetzen.<br />

Für sie war die klassische operation am offenen herzen unter mehrstündiger<br />

Vollnarkose und Einsatz der herz-Lungen-Maschine viel zu risk<strong>an</strong>t. « heute<br />

müssen wir niem<strong>an</strong><strong>den</strong> mehr allein wegen seines Alters ablehnen. d<strong>an</strong>k<br />

unserer schonen<strong>den</strong> Beh<strong>an</strong>dlungsmethode können wir <strong>den</strong> Eingriff selbst<br />

bei über 90-Jährigen vertreten », sagt univ.-Prof. dr. ruth Strasser, Ärztliche<br />

direktorin und direktorin der Klinik für Innere <strong>Medizin</strong> und Kardiologie am<br />

herzzentrum dres<strong>den</strong>.<br />

uTZ KAPPErT / ruTh STrASSEr <strong>2011</strong> 25<br />

die ältesten Menschen der Welt<br />

Je<strong>an</strong>ne calment<br />

geboren am 21. Februar 1875 in Fr<strong>an</strong>kreich,<br />

wurde 122 Jahre und 184 Tage alt.<br />

Je<strong>an</strong>ne calment, (im Bild 20 Jahre alt)<br />

lebte in vermögen<strong>den</strong> Verhältnissen<br />

und brauchte nie zu arbeiten. Ihre Zeit<br />

widmete sie gerne sportlichen Aktivitäten.<br />

Mit 85 Jahren fing sie das Fechten <strong>an</strong><br />

und fuhr noch mit 100 Jahren Fahrrad.<br />

Als 90-Jährige verkaufte sie ihre Wohnung<br />

gegen lebensl<strong>an</strong>ge Leibrente, der<br />

Käufer verstarb jedoch zwei<br />

Jahre vor ihr und hatte<br />

ihr <strong>den</strong> dreifachen<br />

Wohnungswert<br />

zahlen müssen.<br />

obwohl sie früh<br />

ihren M<strong>an</strong>n, ihre<br />

Tochter und ihren<br />

Enkel verlor, sah<br />

sie das Leben<br />

immer positiv und<br />

bezeichnete sich selbst<br />

als überdurchschnittlich<br />

glücklich. Ihr gesun<strong>des</strong> Altern führte calment<br />

auf <strong>den</strong> regelmäßigen Genuss von<br />

olivenöl, Knoblauch und Gemüse zurück.<br />

Allerdings tr<strong>an</strong>k sie auch gerne Portwein<br />

und war moderate raucherin. Ihre letzten<br />

Jahre verbrachte sie im Altersheim, blind,<br />

taub und auf <strong>den</strong> rollstuhl <strong>an</strong>gewiesen,<br />

aber geistig fit und stets gut gelaunt.<br />

Izumi Shigechiyo, geboren auf der<br />

jap<strong>an</strong>ischen Insel Kyushu, gilt als<br />

ältester M<strong>an</strong>n der Welt. Er wurde<br />

120 Jahre, sieben Monate und 23 Tage<br />

alt. der Zuckerrohrbauer ging erst mit<br />

105 Jahren in <strong>den</strong> ruhest<strong>an</strong>d. nur einer<br />

der zehn ältesten Menschen der Welt ist<br />

übrigens ein M<strong>an</strong>n.<br />

die jüngst noch älteste, die<br />

Brasili<strong>an</strong>erin Maria Gomes Valentim,<br />

ist im Juni <strong>2011</strong> kurz vor ihrem<br />

115. Geburtstag gestorben.<br />

nachfolgerin ist die 114-jährige<br />

Amerik<strong>an</strong>erin Besse cooper.<br />

die ältesten noch leben<strong>den</strong> Menschen<br />

in deutschl<strong>an</strong>d sind die 110-jährige<br />

charlotte Bauch aus hof in Bayern<br />

und der 108-jährige Paul Veit aus neuruppin.


26 <strong>2011</strong> ruTh STrASSEr / uTZ KAPPErT<br />

herzklappenersatz durchs Schlüsselloch<br />

So funktioniert der Eingriff<br />

fig.: das durch<br />

die Aorta geführte<br />

Impl<strong>an</strong>tat wird<br />

exakt platziert … fig.: … sp<strong>an</strong>nt<br />

Einführungskatheter<br />

rechte herzkammer<br />

« Wir vertreten <strong>den</strong><br />

Eingriff nur, wenn<br />

der Patient hoch<br />

motiviert ist.<br />

der <strong>Lebens</strong>wille<br />

muss deutlich<br />

ausge prägt sein. »<br />

Pd dr. med. utz Kappert<br />

Leitender oberarzt der Klinik für<br />

herzchirurgie herzzentrum dres<strong>den</strong><br />

universitätsklinik <strong>an</strong> der Technischen<br />

universität dres<strong>den</strong><br />

Aorta<br />

linke herzkammer<br />

Aortenklappenimpl<strong>an</strong>tat<br />

(geschlossen)<br />

Ersatz für die verkalkte<br />

Aortenklappe<br />

sich auf und<br />

ersetzt sofort<br />

die verkalkte<br />

Klappe.<br />

die sogen<strong>an</strong>nte Tr<strong>an</strong>skatheter-Aortenklappenimpl<strong>an</strong>tation dauert im Gegensatz<br />

zu herkömmlichen Verfahren kaum eine Stunde. die Patienten<br />

sind meistens nur lokal betäubt und leicht sediert.<br />

Millimetergenau<br />

Über einen wenige Zentimeter großen Schnitt in der Leiste führt die Kardiologin<br />

univ.-Prof. dr. ruth Strasser einen l<strong>an</strong>gen hohlschlauch durch<br />

die oberschenkelarterie in die Aorta ein, durch <strong>den</strong> ein Katheter bis in die<br />

linke herzkammer geschoben wird. An <strong>des</strong>sen Spitze sitzt ein Ballon, der<br />

sich in der Aortenklappe aufdehnt und die Verengung öffnet. nun k<strong>an</strong>n das<br />

operationsteam mit der Impl<strong>an</strong>tation <strong>des</strong> Klappenersatzes beginnen.<br />

das Impl<strong>an</strong>tat besteht aus herzbeutelgewebe von Schweinen, das in<br />

einem Metallgerüst fixiert ist. raffiniert ist der Mech<strong>an</strong>ismus, mit dem die<br />

zwischen 2,6 und 2,9 Zentimeter große Bioklappe in <strong>den</strong> nur sechs Millimeter<br />

großen Einführungskatheter gel<strong>an</strong>gt. das spezielle Material <strong>des</strong> Metallgerüsts<br />

ist unter Kälte so flexibel, dass es wie ein regenschirm zusammengeklappt<br />

und in <strong>den</strong> Katheter eingebracht wer<strong>den</strong> k<strong>an</strong>n. unter röntgenkontrolle<br />

platziert die Kardiologin das Aortenklappenimpl<strong>an</strong>tat millimetergenau<br />

über die erkr<strong>an</strong>kte Aortenklappe. dort sp<strong>an</strong>nt es sich von selbst auf, drückt<br />

die verkalkte Klappe <strong>an</strong> die Gefäßw<strong>an</strong>d und nimmt seine Arbeit als druckventil<br />

sofort auf. nun muss nur noch der Katheter entfernt und der Einschnitt<br />

geschlossen wer<strong>den</strong>.<br />

verjüngungskur<br />

Aortenklappen-<br />

impl<strong>an</strong>tat (offen)<br />

Schon nach ein bis zwei Tagen ist der Patient wieder auf <strong>den</strong> Beinen — für<br />

hochbetagte besonders wichtig, <strong>den</strong>n längere Bettlägerigkeit führt bei ihnen<br />

rasch zu Folgeerkr<strong>an</strong>kungen. nach spätestens fünf Tagen können sie die<br />

Klinik verlassen, mit neuem <strong>Lebens</strong>mut und einer deutlich gesteigerten<br />

körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, betont univ.-Prof. dr. ruth<br />

Strasser: « Einige meiner Patienten waren vor dem Eingriff so matt, dass<br />

sie nicht mehr aus dem Bett kamen und kaum mehr essen konnten. nun


Kraftakt fürs herz<br />

die Verkalkung der herzklappe<br />

die Aortenklappenstenose<br />

ist der häufigste<br />

herzklappenfehler bei<br />

Älteren.<br />

durch die Verkalkung<br />

<strong>des</strong> Klappen gewebes<br />

verliert die Aortenklappe<br />

<strong>an</strong> Elasti zität. das<br />

Blut staut sich in der<br />

linken herzkammer,<br />

die verstärkt arbeiten<br />

muss, um das Blut in<br />

<strong>den</strong> Körperkreislauf zu<br />

1994<br />

pumpen. Allmählich wird<br />

dadurch der herzmuskel<br />

stark geschwächt<br />

und der allgemeine<br />

Gesundheitszust<strong>an</strong>d<br />

verschlechtert sich.<br />

Aortenklappenstenosen<br />

entstehen altersbedingt<br />

durch Kalziumablagerungen<br />

oder als Folge von<br />

Strahlenbeh<strong>an</strong>dlungen,<br />

rheumatischem Fieber<br />

und erhöhten cholesterinwerten.<br />

2000<br />

fig.: Verkalkung (unten)<br />

bewirkt eine perm<strong>an</strong>ente<br />

durchlässigkeit zur<br />

herzkammer.<br />

gehen sie je<strong>den</strong> Tag spazieren und berichten, dass sie sich 20 Jahre jünger<br />

fühlen. » Für je<strong>den</strong> Patienten ist das minimalinvasive Verfahren allerdings<br />

nicht geeignet. <strong>des</strong>halb berät sich die Kardiologin nach intensiven Voruntersuchungen<br />

und Patientengesprächen in jedem Einzelfall mit ihren Kollegen<br />

aus der herzchirurgie. Wenn etwa auch der Aortenbogen stark verkalkt ist,<br />

empfiehlt sich eher ein Eingriff, bei dem der Katheter nicht über die Körperschlagader,<br />

sondern über eine kleine Öffnung <strong>an</strong> der linken Brustseite von<br />

der herzspitze aus zur Aortenklappe geführt wird. diese operation führen<br />

herzchirurgen und Kardiologen gemeinsam durch.<br />

« Sensibilität und Fingerspitzengefühl sind bei der operation unverzichtbar<br />

», unterstreicht Prof. dr. Klaus Matschke, direktor der Klinik für herzchirurgie<br />

am herzzentrum dres<strong>den</strong>. « und der heilungserfolg hängt maßgeblich<br />

davon ab, dass die Entscheidung für die operation sorgfältig abgewogen<br />

wird », ergänzt Pd dr. med. utz Kappert, Leitender oberarzt der<br />

Klinik für herzchirurgie. « Wir vertreten <strong>den</strong> Eingriff nur, wenn der Patient<br />

hoch motiviert ist. der <strong>Lebens</strong>wille muss deutlich ausgeprägt sein. »<br />

« herzoperationen bei betagten Patienten »<br />

fig.: die Zahl der Eingriffe<br />

am herzen bei über<br />

70-Jährigen hat sich seit<br />

1994 verdoppelt und<br />

bei über 80-Jährigen<br />

sogar verfünffacht.<br />

24,9 %<br />

2,3 %<br />

38,2 %<br />

4,5 %<br />

45,2 %<br />

2005<br />

8,4 %<br />

52,2 %<br />

2010<br />

11,9 %<br />

uTZ KAPPErT / ruTh STrASSEr <strong>2011</strong> 27<br />

« Einige meiner<br />

Patienten waren<br />

vor dem Eingriff<br />

so matt, dass sie<br />

nicht mehr aus<br />

dem Bett kamen<br />

und kaum mehr<br />

essen konnten. »<br />

univ.-Prof. dr. ruth Strasser<br />

Ärztliche direktorin und direktorin der<br />

Klinik für Innere <strong>Medizin</strong> und Kardiologie<br />

herzzentrum dres<strong>den</strong> universitätsklinik<br />

<strong>an</strong> der Technischen universität dres<strong>den</strong><br />

herzoperationen bei 70-Jährigen und älter<br />

herzoperationen bei 80-Jährigen und älter


28 <strong>2011</strong> ruTh STrASSEr / uTZ KAPPErT<br />

fig.: Telomere sind die<br />

molekularen Zeituhren der<br />

Körperzellen. Bei jeder<br />

Zellteilung wer<strong>den</strong> diese<br />

« Schutzkappen » der<br />

chromosomen kürzer und<br />

die Zellen <strong>an</strong>fälliger für<br />

Angriffe der freien radikale.<br />

Telomere sind auch bei<br />

Progerie beteiligt, einer<br />

seltenen Erkr<strong>an</strong>kung, die<br />

Kinder im Zeitraffer altern<br />

lässt.<br />

WAruM WIr Altern<br />

der radikale Auftritt<br />

der gene und telomere<br />

L<strong>an</strong>gsam verstehen wir, warum m<strong>an</strong>che Menschen länger leben. Ver<strong>an</strong>t -<br />

wortlich sind Erb<strong>an</strong>lagen, körperliche Aktivität und der stetige Kampf gegen<br />

freie radikale. doch der Weg zur Lösung <strong>des</strong> Altersrätsels ist noch weit.<br />

noch ist das rätsel <strong>des</strong> Alterns nicht vollständig<br />

entschlüsselt. Aber Wissenschaftler haben einige<br />

Mech<strong>an</strong>ismen i<strong>den</strong>tifiziert, die das Altern unserer<br />

Zellen bestimmen. der biologische Alterungspro-<br />

zess wird erst d<strong>an</strong>n hinreichend zu erklären sein,<br />

wenn es gelingt, die einzelnen Theorien zusammenzubringen.<br />

noch ist die Wissenschaft aber<br />

weit davon entfernt, zu verstehen, wie die einzelnen<br />

Mech<strong>an</strong>ismen zusammenwirken und welche<br />

Wechselwirkungen zwischen ihnen bestehen.<br />

theorien <strong>des</strong> Alterns<br />

die Bedeutung der Gene für die L<strong>an</strong>glebigkeit<br />

bei Menschen ist heute eindeutig belegt. Studien<br />

mit Zwillingen zeigen, dass der unterschied in der<br />

<strong>Lebens</strong>dauer zwischen zweieiigen Zwillingen etwa<br />

doppelt so groß ist wie bei eineiigen Zwillingen.<br />

Bek<strong>an</strong>nt ist auch, dass die nachfahren von hochbetagten<br />

durchschnittlich ein höheres Alter erreichen<br />

als die von Menschen, die früh verstorben sind.<br />

Bei Forschungen <strong>an</strong> über 100-Jährigen konnten<br />

inzwischen mehrere solcher L<strong>an</strong>glebigkeitsgene<br />

i<strong>den</strong>tifiziert wer<strong>den</strong>, doch was sie genau bewirken,<br />

ist noch unklar.<br />

fig.: Bei Menschen<br />

bildet die Sequenz<br />

TTAGGG einen Teil<br />

der Telomere — eine<br />

Art « Andockhilfe » zur<br />

Zellteilung.<br />

Telomere sind dnA-Stücke, die <strong>an</strong> <strong>den</strong> En<strong>den</strong><br />

von chromosomen sitzen und keine Erbinfor-<br />

mation enthalten. Sie bewahren die im Zellkern<br />

liegen<strong>den</strong> chromosomen vor Veränderungen und<br />

Zerstörung. Allerdings verkürzen sich die Telomere<br />

durch biochemische reaktionen bei jeder<br />

Zellteilung, sodass die Zelle schadhaft wird und<br />

abstirbt. dieser Prozess der Zellalterung wird<br />

durch das Enzym Telomerase verl<strong>an</strong>gsamt. Als<br />

Schlüssel zur unsterblichkeit ist dieses Enzym<br />

allerdings nicht geeignet, <strong>den</strong>n es ist auch mit im<br />

Spiel, wenn das Zellwachstum bei Tumoren außer<br />

Kontrolle gerät. Aus verschie<strong>den</strong>en Studien ist<br />

in<strong>des</strong> bek<strong>an</strong>nt, dass verstärkte körperliche Aktivität<br />

zu längeren Telomeren führt. Auch gesunde<br />

Ernährung k<strong>an</strong>n die Telomerverkürzung zumin<strong>des</strong>t<br />

teilweise kompensieren.<br />

fig.: Freie radikale greifen eine Zelle <strong>an</strong>.<br />

dabei schädigen sie durch ihr fehlen<strong>des</strong> Elektron die<br />

Zellmembr<strong>an</strong> so nachhaltig, dass die Zelle abstirbt.


fig.: die Evolution lässt<br />

Mütter länger leben. das<br />

hat gute Gründe. Vor allem<br />

ist es deren Kompetenz in<br />

der <strong>Lebens</strong>begleitung der<br />

Enkel.<br />

Freie radikale sind Moleküle mit min<strong>des</strong>tens<br />

einem ungepaarten Elektron, die <strong>des</strong>halb leicht<br />

Verbindungen mit <strong>an</strong>deren Molekülen eingehen.<br />

Sie entstehen bei normalen Stoffwechselvorgän-<br />

gen wie Atmungs- und Verbrennungsprozessen<br />

ebenso wie durch äußere Einflüsse wie uV-Licht<br />

oder rauchen. Schätzungsweise verursachen<br />

freie radikale beim Menschen pro Tag und Zel-<br />

le etwa 10.000 dnA-Schädigungen. Zunächst<br />

können sie durch das zelleigene reparaturpro-<br />

gramm behoben wer<strong>den</strong>, doch irgendw<strong>an</strong>n ist die<br />

Zelle so geschädigt, dass sie nicht mehr richtig<br />

funktioniert. der Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen der<br />

übermäßigen Produktion von freien radikalen und<br />

dem Alterungsprozess oder dem Auftreten von<br />

degenerativen Erkr<strong>an</strong>kungen wie Arteriosklerose<br />

oder Krebs ist wissenschaftlich bewiesen.<br />

Ab 30 geht’s bergab<br />

Mit Überschreiten dieser<br />

Altersgrenze beginnt<br />

im org<strong>an</strong>ismus ein<br />

l<strong>an</strong>gsam fortschreitender<br />

physiologischer<br />

Abbauprozess, der mit<br />

einer zunehmen<strong>den</strong><br />

Anfälligkeit für Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

verbun<strong>den</strong> ist. Bei<br />

gesun<strong>den</strong> Menschen<br />

über 60 Jahren<br />

> hat die herzleistung<br />

um 50 % abgenommen,<br />

> das herzschlagvolumen<br />

um 30 %,<br />

> die Vitalkapazität<br />

der Lunge um 50 %,<br />

> die maximale<br />

Sauerstoffaufnahme<br />

der Lunge<br />

um ca. 65 %,<br />

> die Gehirndurchblutung<br />

um 20 %,<br />

> das nierengewicht<br />

um 30 %,<br />

> die Filtrationsrate<br />

der niere um 40 %,<br />

> die Muskelmasse<br />

um 30 %,<br />

> die maximale<br />

dauerleistung der<br />

Muskulatur um 60 %.<br />

unverändert bleiben<br />

dagegen das Gehirnvolumen<br />

und die totale<br />

Lungenkapazität.<br />

Altern Als bIologIscher vorteIl<br />

die oma-evolution<br />

Evolutionstheoretisch scheint es sinnlos, dass der<br />

Mensch weit über sein gebärfähiges Alter hinaus lebt.<br />

Ein Irrtum, wie die Forschung zeigt.<br />

Macht es aus evolutionärer Sicht Sinn, dass der Mensch im Gegensatz<br />

zu <strong>den</strong> meisten <strong>an</strong>deren Lebewesen weit über jene Phase hinaus lebt,<br />

in der er fähig ist, nachwuchs zu erzeugen? Für Männer stellt sich diese<br />

Frage weniger, <strong>den</strong>n sie behalten ihre Zeugungsfähigkeit bis ins hohe<br />

Alter. Warum aber gibt es für Frauen ein l<strong>an</strong>ges Leben jenseits der reproduktionsfähigkeit?<br />

erfahrener, klüger, gelassener<br />

uTZ KAPPErT / ruTh STrASSEr <strong>2011</strong> 29<br />

Laut Großmutterthese spielen Großmütter für die Enkel auch evolutionär<br />

eine einzigartige rolle. Sie haben meist viel mehr Zeit als die jüngeren<br />

Eltern, sind emotional positiver gestimmt und ausgeglichener. Außerdem<br />

verfügen sie über ein hohes Erfahrungswissen. diese altersspezifischen<br />

Kompetenzen sind ein evolutionärer Vorteil, weil sie sehr effizient zum<br />

Aufwachsen der übernächsten Generation beitragen. da nur die fitten<br />

Großmütter so l<strong>an</strong>ge aktiv sind, erhöht sich damit auch die ch<strong>an</strong>ce, diese<br />

genetische Ver<strong>an</strong>lagung für ein hohes Alter zu vererben.<br />

Tatsächlich konnten Anthropologen bei Forschungen in traditionellen<br />

Gesellschaften zeigen, dass Frauen, die von ihren Müttern unterstützt<br />

wer<strong>den</strong>, mehr Kinder zur Welt bringen und sie auch besser ernähren<br />

können. Auffällig bei diesen untersuchungen war auch, dass die <strong>Lebens</strong>erwartung<br />

der Großmütter von dem Zeitpunkt <strong>an</strong> stark zurückging, <strong>an</strong><br />

dem die eigenen Kinder das Ende ihrer fruchtbaren Jahre erreichten.<br />

dies gilt als weiterer hinweis auf das evolutionär sinnvolle Investment in<br />

die L<strong>an</strong>glebigkeit <strong>des</strong> Menschen.


30 <strong>2011</strong> VoLKEr STEPhAn<br />

gesun<strong>des</strong> leben lernen<br />

schwer bela<strong>den</strong><br />

die neuen Kinderkr<strong>an</strong>kheiten sind nicht <strong>an</strong>steckend,<br />

trotzdem ver breiten sie sich rasch: Übergewicht,<br />

Verhaltensstörungen, Allergien. Eine Berliner Klinik verhilft<br />

Betroffenen zu besserem Gesundheitswissen.<br />

Früher waren Kinder aus armen Familien oft untergewichtig.<br />

heute hat sich das Blatt gewendet: 15<br />

Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig,<br />

sechs Prozent lei<strong>den</strong> <strong>an</strong> chronischer<br />

Adipositas und mehrheitlich leben sie in benachteiligten<br />

Verhältnissen. diese Kinder sind nicht<br />

nur körperlich und seelisch beeinträchtigt, viele<br />

haben auch Begleiterkr<strong>an</strong>kungen wie Bluthochdruck<br />

oder diabetes. Mit der Bewältigung dieser<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen sind Familien oft überfordert.<br />

hilfe fin<strong>den</strong> sie bei « Mops fidel », einem Therapieprogramm<br />

<strong>des</strong> Sozialpädiatrischen Zentrums<br />

am Klinikum Lichtenberg. unter Anleitung von<br />

Ärz ten, Psychologen, Ernährungsberatern, Bewegungstherapeuten<br />

und Sozialpädagogen lernen<br />

jährlich etwa 400 Familien, die ursachen und Folgen<br />

von Übergewicht zu verstehen und ihr Verhalten<br />

zu verändern: bei der Ernährungsschulung,<br />

Geschichte der Pädiatrie<br />

Kinder. heil. Kunde.<br />

Schon von hippokrates<br />

sind fast 200 kinderheilkundliche<br />

Bemerkungen<br />

überliefert, etwa exakte<br />

Angaben zu Fieberkrämpfen,<br />

Epilepsie<br />

oder Mumps.<br />

Als Vater der Kinderheilkunde<br />

gilt Sor<strong>an</strong>us von<br />

Ephesus (98–117), der<br />

ausführlich über hygiene<br />

der neugeborenen,<br />

Säuglingsernährung<br />

und Säuglingskr<strong>an</strong>kheiten<br />

schreibt.<br />

dem gemeinsamen Kochen und Einkaufen und<br />

dem Bewegungstraining in Kleingruppen. dazu<br />

gehört auch ein Intensivtraining für die betroffenen<br />

Kinder und Jugendlichen, das ihre soziale Kompetenz<br />

und ihr Selbstvertrauen stärkt und ihnen<br />

hilft, Ver<strong>an</strong>twortung für sich selbst zu übernehmen.<br />

Erfolgreich ist die Therapie aber nur, wenn die<br />

Eltern engagiert und motiviert mitmachen.<br />

zusammen mehr erreichen<br />

« Wir beobachten in der Kinderheilkunde eine zunehmende<br />

unsicherheit und Überforderung der<br />

Eltern im umg<strong>an</strong>g mit ihren Kindern — sowohl<br />

in Erziehungs- als auch in Gesundheitsfragen.<br />

<strong>des</strong>halb ist die Familienberatung bei uns ein<br />

großes Thema gewor<strong>den</strong> », sagt Prof. dr. Volker<br />

Steph<strong>an</strong>, chefarzt der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendmedizin. dem generellen Trend folgend,<br />

Im 17. Jahrhundert<br />

wer<strong>den</strong> Kinderkr<strong>an</strong>kheiten<br />

wie diphtherie,<br />

Scharlach, röteln<br />

und Windpocken als<br />

eigenständige Kr<strong>an</strong>kheitsbilder<br />

vonein<strong>an</strong>der<br />

abgegrenzt.<br />

Ende <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />

legt Edward<br />

Jenner mit der Pockenimpfung<br />

<strong>den</strong> Grundstein<br />

für eine vorbeugende<br />

<strong>Medizin</strong>. Trotzdem<br />

liegt die Sterblichkeit<br />

von Kindern unter zwei<br />

Jahren noch bei 40<br />

Prozent.<br />

fig.: Edward Jenner,<br />

der Erfinder der<br />

Pockenschutzimpfung<br />

Erst mit Beginn <strong>des</strong> 19.<br />

Jahrhunderts erkennt<br />

die <strong>Medizin</strong>, dass<br />

Kinder keine kleinen<br />

Erwachsenen sind,<br />

und richtet zunehmend<br />

eigene Kinderstationen<br />

ein. das erste Kinderkr<strong>an</strong>kenhaus<br />

entsteht<br />

1802 in Paris.


fig.: das Leben wieder ins Lot bringen. In Berlin-Lichtenberg trifft <strong>Medizin</strong> auf gefährdete <strong>Lebens</strong>welten von Kindern und Jugendlichen.<br />

Im 19. Jahrhundert bildet<br />

sich die Pädiatrie als<br />

eigenes Fach heraus.<br />

die erste deutsche<br />

universitäts-Kinderklinik<br />

wird 1830 <strong>an</strong> der Berliner<br />

charité eingerichtet.<br />

nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg steht die<br />

Bewältigung von Infektionskr<strong>an</strong>kheiten<br />

und<br />

ernährungsbedingten<br />

Problemen im Vordergrund.<br />

fig.: otto heubner, erster<br />

or<strong>den</strong>tlicher Professor für<br />

Kinderheilkunde<br />

Vor dem hintergrund<br />

der hohen Säuglingssterblichkeit<br />

entsteht<br />

die soziale Pädiatrie,<br />

die sich hauptsächlich<br />

um <strong>den</strong> Schutz<br />

von Säuglingen und<br />

Kleinkindern kümmert,<br />

Aufklärungsarbeit leistet<br />

und politisch aktiv ist.<br />

das erste Sozialpädiatrische<br />

Zentrum wird 1967<br />

in München gegründet.<br />

dort wer<strong>den</strong> Kinder mit<br />

schweren neurologischen<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen<br />

sowie körperlichen und<br />

geistigen Behinderungen<br />

diagnostisch und<br />

therapeutisch betreut.<br />

VoLKEr STEPhAn <strong>2011</strong> 31<br />

Mit wachsendem Wohl-<br />

st<strong>an</strong>d entwickeln sich<br />

viele pädiatrische<br />

Spezialdisziplinen. Ihre<br />

Fortschritte bewirken,<br />

dass immer mehr Kinder<br />

mit schweren chronischen<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen<br />

das Erwachsenenalter<br />

erreichen.


32 <strong>2011</strong> VoLKEr STEPhAn<br />

müssen auch in Lichtenberg immer mehr Kinder<br />

und Jugendliche mit psychischen Problemen, Ent-<br />

wicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten<br />

versorgt wer<strong>den</strong>, von Säuglingen mit Schrei- oder<br />

Schlafproblemen über Kinder mit Aufmerksam-<br />

keits- und Aktivitätsstörungen bis hin zu Jugend-<br />

lichen mit drogen- und Alkoholproblemen. Mit<br />

medizinisch-therapeutischer Beh<strong>an</strong>dlung oder<br />

« Wir beobachten in der<br />

Kinderheilkunde eine<br />

zu nehmende unsicherheit<br />

und Überforderung der<br />

Eltern im umg<strong>an</strong>g mit ihren<br />

Kindern — sowohl in<br />

Erziehungs- als auch in<br />

Gesundheitsfragen. »<br />

Prof. dr. med. Volker Steph<strong>an</strong> chefarzt der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendmedizin Lin<strong>den</strong>hof S<strong>an</strong>a Klinikum Lichtenberg<br />

Beratungsgesprächen alleine k<strong>an</strong>n <strong>den</strong> jungen<br />

Patienten und ihren Eltern meist nicht geholfen<br />

wer<strong>den</strong>. <strong>des</strong>halb arbeitet die Lichtenberger Kinder-<br />

und Jugendmedizin eng vernetzt mit lokalen<br />

hilfs- und Beratungsdiensten wie Jugend- und<br />

Sozialämtern, Wohlfahrtsorg<strong>an</strong>isationen und<br />

Suchtpräventionsinitiativen. Wenn alkoholisierte<br />

Jugendliche in die Klinik eingeliefert wer<strong>den</strong>, holt<br />

m<strong>an</strong> in vielen Fällen einen Streetworker, der mit<br />

ihnen spricht und sie später in der Familie besucht.<br />

Wenn junge Familien mit ihrem nachwuchs<br />

überlastet sind, knüpft die Klinik einen Kontakt<br />

mit dem Malteser hilfsdienst, der zur Entlastung<br />

eine Leihoma vermittelt. « Je früher die Familien<br />

rat und hilfe bekommen, <strong>des</strong>to besser für die<br />

Gesundheit <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> », so Steph<strong>an</strong>.<br />

Im schlaf gesund<br />

Gesundheitskompetenz k<strong>an</strong>n lebensrettend sein,<br />

wenn Kinder unter chronischen Kr<strong>an</strong>kheiten wie<br />

diabetes oder Allergien lei<strong>den</strong>. Früher starben sie<br />

oft, weil die Kr<strong>an</strong>kheit unentdeckt blieb. heute<br />

erhalten betroffene Familien neben der medizinischen<br />

Betreuung auch intensive Schulungen.<br />

Im diabeteszentrum der Kinder- und Jugendklinik<br />

etwa lernen junge Patienten und ihre Eltern, die<br />

Kr<strong>an</strong>kheit besser zu verstehen und sich im Alltag<br />

richtig zu verhalten. Ähnliche Angebote gibt es<br />

für Kinder mit Allergien, chronischen Lungenerkr<strong>an</strong>kungen<br />

und Mukoviszidose.<br />

Schlafstörungen bei Kindern, von <strong>den</strong>en<br />

20 bis 30 Prozent betroffen sind, wur<strong>den</strong> l<strong>an</strong>ge<br />

unterschätzt. Mittlerweile wer<strong>den</strong> sie klar in Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

mit Verhaltensstörungen, Konzentrationsschwäche<br />

und Wachstumsproblemen<br />

gebracht. Im Kinderschlaflabor <strong>des</strong> Lichtenberger<br />

Klinikums k<strong>an</strong>n die ursache der Schlafstörung<br />

mittels Polysomnografie genau diagnostiziert wer<strong>den</strong>.<br />

Eine nacht l<strong>an</strong>g zeichnen Messgeräte die<br />

daten verschie<strong>den</strong>er Körperfunktionen <strong>des</strong> schlafen<strong>den</strong><br />

Kin<strong>des</strong> auf. Aus <strong>den</strong> daten geht hervor,<br />

ob org<strong>an</strong>ische Erkr<strong>an</strong>kungen wie schlafbezogene<br />

Epilepsien oder Atemstörungen vorliegen. oft ist<br />

die Schlafstörung aber bedingt durch falsche Einschlafrituale,<br />

übermäßigen Medienkonsum oder<br />

Ängste. In solchen Fällen fin<strong>den</strong> die Betroffenen<br />

rat und hilfe bei der wöchentlichen Schlafsprechstunde<br />

— mit dem Ziel eines besseren Wissens<br />

um die körperlichen und seelischen Voraussetzungen<br />

für eine gesunde Kindheit.


dIe neuen kInderkrAnkheIten<br />

Mumps und<br />

Masern ade<br />

Zuerst die gute nachricht:<br />

die meisten Kinder in deutschl<strong>an</strong>d<br />

sind gesund.<br />

das hat die erste bun<strong>des</strong>weite Studie zur Gesundheit<br />

von Kindern und Jugendlichen <strong>des</strong> robert-<br />

Koch-Instituts festgestellt. 85 Prozent erfreuen<br />

sich guter oder sehr guter Gesundheit, nur 0,6<br />

Prozent bezeichnen ihren Gesundheitszust<strong>an</strong>d<br />

als schlecht. Aber es gibt auch weniger positive<br />

Ergebnisse. Immer mehr Kinder und Jugendliche<br />

lei<strong>den</strong> unter chronischen Erkr<strong>an</strong>kungen wie Allergien,<br />

Asthma oder neurodermitis. und 15 Prozent aller<br />

Jungen und Mädchen zeigen psychische sowie<br />

Verhaltensauffälligkeiten wie hyperaktivität oder<br />

gesteigerte Aggressivität, zehn Prozent lei<strong>den</strong> unter<br />

Ängsten und fünf Prozent unter depressionen.<br />

Etwa 1,9 Millionen der drei- bis 17-Jährigen sind<br />

übergewichtig.<br />

offenbar hat sich die gesundheitliche Situation<br />

von Kindern in <strong>den</strong> letzten Jahrzehnten gew<strong>an</strong>delt.<br />

Typische Kinderkr<strong>an</strong>kheiten wie Masern,<br />

Mumps oder Keuchhusten sind deutlich zurückgeg<strong>an</strong>gen.<br />

Statt<strong>des</strong>sen hat sich das Spektrum<br />

von akuten zu chronischen Erkr<strong>an</strong>kungen und von<br />

somatischen zu psychischen Auffälligkeiten verschoben.<br />

Wissenschaftler sprechen in diesem<br />

Zusammenh<strong>an</strong>g von « neuer Morbidität ». die<br />

ursachen: zu wenig Bewegung, zu viel Medienkonsum,<br />

ungesun<strong>des</strong> Essen, steigender Leistungsdruck<br />

in <strong>den</strong> Familien und mitunter auch Überbehütung.<br />

die neuen Kinderkr<strong>an</strong>kheiten<br />

Masern<br />

Mumps<br />

Adipositas<br />

Asthma<br />

2002: 6. 000 *<br />

1968: 152. 200 *<br />

1997: 612 *<br />

1990: 200. 000 *<br />

Schlaflos im Kinderbett<br />

Wieder durchschlafen<br />

Wenige Wochen nach<br />

Linas Geburt fällt<br />

Yvonne S<strong>an</strong>kowsky auf,<br />

dass ihre Tochter im<br />

Schlaf stark schnarcht<br />

und oft nach Luft<br />

schnappt. die gelernte<br />

Kinderkr<strong>an</strong>kenschwester<br />

weiß, dass kurze<br />

Atemaussetzer bei<br />

Säuglingen nicht ungewöhnlich<br />

sind.<br />

Aber Linas Atemprobleme<br />

beunruhigen sie:<br />

« oft dauerten die<br />

Aussetzer mehr als 15<br />

Sekun<strong>den</strong>. das ist nicht<br />

normal. » Als sich die<br />

Atemnot durch eine Erkältung<br />

verschlimmert,<br />

bringt die Mutter ihr Kind<br />

2010: 750. 000 *<br />

1941: 894. 000 *<br />

ins Kr<strong>an</strong>kenhaus.<br />

dort rät m<strong>an</strong> ihr zu<br />

einer untersuchung<br />

im Schlaflabor der Lichtenberger<br />

Pädiatrie.<br />

die nächtlichen<br />

Messungen von Linas<br />

Körperfunktionen<br />

ergeben eine klare<br />

diagnose: das Baby<br />

leidet <strong>an</strong> einer obst-<br />

ruktiven Schlafapnoe.<br />

ursache dieser<br />

schweren Atemstörung<br />

ist ein zu kleiner unterkiefer.<br />

dadurch fällt die<br />

Zunge beim Schlafen<br />

zurück und blockiert<br />

<strong>den</strong> rachen. <strong>des</strong>halb<br />

kommt Lina in bedrohliche<br />

Situationen.<br />

2002: 1,1 Mio. **<br />

VoLKEr STEPhAn <strong>2011</strong> 33<br />

Inzwischen trägt Lina<br />

nachts eine sogen<strong>an</strong>nte<br />

Zungenpelotte, mit<br />

der die Zunge nach vorn<br />

gedrückt und gleichzeitig<br />

das Kieferwachstum<br />

<strong>an</strong>geregt wird. Auch<br />

Yvonne S<strong>an</strong>kowsky<br />

k<strong>an</strong>n nun wieder ruhiger<br />

schlafen: « die Kleine<br />

schnarcht weniger, und<br />

wir hoffen, dass sich die<br />

Störung bald ausgewachsen<br />

hat. »<br />

fig.: der Wunsch aller<br />

Eltern: das Baby schläft<br />

tief und fest. das<br />

Schlaflabor hilft d<strong>an</strong>n,<br />

wenn gesundheitliche<br />

Schwächen <strong>den</strong> Schlaf<br />

rauben.<br />

* Fälle in Deutschl<strong>an</strong>d<br />

** Betroffene Kinder<br />

und Jugendliche in<br />

Deutschl<strong>an</strong>d<br />

2010 1,8 Mio. **


34 <strong>2011</strong> rAInEr nEuBArT<br />

fig.: In Schwung bleiben. In Berlin-Lichtenberg wer<strong>den</strong> ältere Patienten wieder mobil.<br />

IM Alter lernen beWeglIch zu bleIben<br />

zurück nach vorne<br />

Viele Ältere fürchten <strong>den</strong> Klinikaufenthalt als Anf<strong>an</strong>g vom<br />

nahen<strong>den</strong> Ende. Zu unrecht, wenn sie mit moderner Altersmedizin<br />

fit für das Leben nach der Entlassung gemacht wer<strong>den</strong>.


Geriatrie in Zahlen<br />

fig.: die häufigsten<br />

Alterskr<strong>an</strong>kheiten<br />

bei Männern (blau)<br />

und Frauen (rot)<br />

in <strong>den</strong> Altersgruppen<br />

65 - 79 und<br />

80 plus (hellblau<br />

und hellrot)<br />

33 %<br />

12 %<br />

herzinsuffizienz<br />

37 %<br />

15 %<br />

34 %<br />

31 %<br />

Bluthochdruck<br />

36 %<br />

34 %<br />

rAInEr nEuBArT <strong>2011</strong> 35<br />

Wie beh<strong>an</strong>delt m<strong>an</strong> Patienten, die gleichzeitig <strong>an</strong> zehn oder mehr Kr<strong>an</strong>k-<br />

heiten lei<strong>den</strong>? diese Frage müssen <strong>Medizin</strong>er immer häufiger be<strong>an</strong>twor-<br />

ten, <strong>den</strong>n heute haben mehr als die hälfte aller Kr<strong>an</strong>kenhauspatienten<br />

eine alterstypische Multimorbidität. die Geriatrie <strong>des</strong> S<strong>an</strong>a Klinikums<br />

Lichtenberg hat sich auf diese Entwicklung eingestellt. Wenn etwa ein<br />

älterer Patient mit oberschenkelhalsfraktur in die rettungsstelle kommt,<br />

prüft m<strong>an</strong> bereits dort, ob geriatrischer h<strong>an</strong>dlungsbedarf besteht. hat<br />

m<strong>an</strong> die Akutsituation unter Kontrolle, <strong>an</strong>alysieren der Geriater und sein<br />

Team die komplexe Gesundheitsproblematik <strong>des</strong> Patienten.<br />

Wie sind sein körperlicher, kognitiver und psychischer Zust<strong>an</strong>d, seine<br />

Ernährungssituation und sein soziales umfeld? Was war der Grund <strong>des</strong><br />

Sturzes? Eine herzrhythmusstörung oder ein leichter Schlag<strong>an</strong>fall? Ein<br />

Schwindel als Medikamentennebenwirkung oder eine Sehstörung? Falsches<br />

Schuhwerk oder eine Stolperfalle im haushalt? Bei diesem sogen<strong>an</strong>nten<br />

« multidimensionalen geriatrischen Assessment » entsteht ein g<strong>an</strong>zheitliches<br />

Bild <strong>des</strong> Patienten. Auf dieser Grundlage entwickeln die Ärzte, Physiotherapeuten,<br />

Ergotherapeuten, Pflegekräfte, Psychologen, Sprachtherapeuten<br />

und Sozialarbeiter ein individuelles Beh<strong>an</strong>dlungskonzept, bei dem auch<br />

die Wünsche <strong>des</strong> Patienten und der Angehörigen berücksichtigt wer<strong>den</strong>.<br />

eine kr<strong>an</strong>kheit hat viele helfer<br />

« Geriatrie ist immer Teamarbeit und folgt grundsätzlich einem g<strong>an</strong>zheitlichen<br />

Konzept », erklärt dr. rainer neubart, chefarzt der Akutgeriatrie.<br />

Priorität hat jene Gesundheitsstörung, welche die <strong>Lebens</strong>qualität <strong>des</strong><br />

multimorbi<strong>den</strong> Patienten am stärksten beeinträchtigt. die <strong>an</strong>deren Beschwer<strong>den</strong><br />

wer<strong>den</strong> nach jeweiliger relev<strong>an</strong>z in das Beh<strong>an</strong>dlungskonzept<br />

fig.: Multimorbidität<br />

in der Altersgruppe von<br />

60 bis 79 Jahren<br />

35 %<br />

herzkr<strong>an</strong>zgefäße<br />

27 % 29 %<br />

22 %<br />

20 % der Männer lei<strong>den</strong><br />

<strong>an</strong> drei, 11 % <strong>an</strong> vier und<br />

9 % <strong>an</strong> mehr als sechs<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen<br />

32 %<br />

24 %<br />

rückenlei<strong>den</strong><br />

31 %<br />

24 %<br />

24 %<br />

10 %<br />

Schlag<strong>an</strong>fall<br />

23 %<br />

9 %<br />

17 %<br />

15 %<br />

Arthrose/Arthritis<br />

23 %<br />

19 %<br />

21 % der Frauen lei<strong>den</strong><br />

<strong>an</strong> drei, 15 % <strong>an</strong> vier und<br />

17 % <strong>an</strong> mehr als sechs<br />

Erkr<strong>an</strong>kungen<br />

18 %<br />

8 %<br />

Stoffwechselstörungen<br />

18 %<br />

9 %


36 <strong>2011</strong> rAInEr nEuBArT<br />

« unser Ziel ist, dem Patienten<br />

trotz seiner chronischen<br />

Kr<strong>an</strong>kheit oder Behinderung<br />

ein größtmögliches Maß <strong>an</strong><br />

Autonomie und <strong>Lebens</strong>qualität<br />

mitzugeben. »<br />

dr. rainer neubart chefarzt der Geriatrie S<strong>an</strong>a Klinikum Lichtenberg<br />

und am horizont ...<br />

Jünger als alt<br />

die Auswirkungen der<br />

gestiegenen <strong>Lebens</strong>erwartung<br />

auf das Gesundheitssystem<br />

wer<strong>den</strong><br />

kontrovers diskutiert.<br />

Ist damit zu rechnen,<br />

dass die Ausgaben für<br />

Gesundheits- und Pflegeleistungen<br />

signifik<strong>an</strong>t<br />

steigen, weil viele Ältere<br />

ihre gewonnenen Jahre<br />

in schlechter Gesundheit<br />

verbringen? oder<br />

wer<strong>den</strong> die künftigen<br />

Älteren immer länger<br />

gesund bleiben und nur<br />

am <strong>Lebens</strong>ende eine<br />

kurze Kr<strong>an</strong>kheitsphase<br />

durchlaufen? Vieles<br />

spricht dafür, dass diese<br />

sogen<strong>an</strong>nte Kompression<br />

der Morbidität<br />

die wahrscheinlichere<br />

Entwicklung ist.<br />

die heute 70-Jährigen<br />

sind in ihrem Gesund-<br />

heits- und Allgemein-<br />

zust<strong>an</strong>d vergleichbar<br />

mit <strong>den</strong> vor 30 Jahren<br />

leben<strong>den</strong> 65-Jährigen,<br />

sie haben also fünf<br />

vitale Altersjahre<br />

gewonnen.<br />

dieser Trend dürfte sich<br />

fortsetzen. die Gründe:<br />

bessere Gesundheit,<br />

höheres Bildungsniveau<br />

und fin<strong>an</strong>zieller Wohlst<strong>an</strong>d.<br />

Wer sich überdies<br />

in frühem <strong>Lebens</strong>alter<br />

körperlich und geistig<br />

fit hält, verringert das<br />

risiko, im Alter kr<strong>an</strong>k<br />

zu wer<strong>den</strong>. und auch<br />

die Älteren können ihre<br />

physische und psychische<br />

Leistungsfähigkeit<br />

mit Verhaltens- und<br />

Trainings maßnahmen<br />

stärken.<br />

fig.: die neuen Alten halten sich fit und<br />

profitieren vom medizinischen Fortschritt — zum<br />

Beispiel bei der Beh<strong>an</strong>dlung von Bluthochdruck.<br />

integriert, das neben <strong>den</strong> kurativen Maßnahmen<br />

immer auch rehabilitation, Prävention und So-<br />

zialmedizin umfasst. Im nächsten Schritt legt<br />

das Therapeutenteam individuelle Ziele für die<br />

Patienten fest, im Fall eines oberschenkelhalsbruchs<br />

etwa das freie Gehen über eine längere<br />

Strecke mit Krücken. dazu ist neben der hilfe<br />

<strong>des</strong> Physiotherapeuten, der mit dem Patienten<br />

Kraft und Geschicklichkeit trainiert, auch die <strong>des</strong><br />

Ergotherapeuten nötig, mit dem er Alltagsaktivitäten<br />

wie Körperpflege oder Essenszubereitung übt.<br />

Auch der Psychologe ist gefragt, <strong>den</strong>n oft bricht<br />

mit dem Sturz nicht nur der Knochen, sondern<br />

auch das Zutrauen <strong>des</strong> Patienten in die eigene<br />

Mobilität. die Sozialarbeiter wiederum helfen bei<br />

der org<strong>an</strong>isation <strong>des</strong> nachklinischen Alltags, etwa<br />

bei der Beschaffung von behindertengerechten<br />

Wohnungseinrichtungen. Besonders wichtig ist<br />

die Arbeit der Pflegekräfte, <strong>den</strong>n sie verbringen<br />

die meiste Zeit mit <strong>den</strong> Patienten und motivieren<br />

sie schon beim Aufstehen und Anklei<strong>den</strong>, selbst<br />

aktiv zu wer<strong>den</strong>.<br />

das Ideal <strong>des</strong> autonomen patienten<br />

« Bed is bad » heißt es in der modernen Geriatrie.<br />

der Tagesablauf der Lichtenberger Geriatriepatienten<br />

orientiert sich am häuslichen Alltag,<br />

Selbst jenseits <strong>des</strong><br />

70. <strong>Lebens</strong>jahres ist<br />

es möglich, durch<br />

regelmäßigen Sport<br />

und Bewegung die<br />

Muskelkraft um 50<br />

Prozent zu steigern.<br />

Mit gezielten Strategien<br />

der Gesundheitsförderung<br />

und der rehabilitation<br />

könnte überdies<br />

die befürchtete Kostenexplosion<br />

im Gesundheits-<br />

und Pflegesystem<br />

entschärft wer<strong>den</strong>.


das Bett sollten sie möglichst nur zu ruhe- und<br />

Schlafzeiten aufsuchen. diese schrittweise Akti-<br />

vierung macht die Senioren fit für ihren künftigen<br />

Alltag zu hause. heilungserfolg, so neubart, hat<br />

in der Geriatrie eine <strong>an</strong>dere Bedeutung als in<br />

der org<strong>an</strong>zentrierten <strong>Medizin</strong>: « unser Ziel ist,<br />

dem Patienten trotz seiner chronischen Kr<strong>an</strong>kheit<br />

oder Behinderung ein größtmögliches Maß<br />

<strong>an</strong> Autonomie und <strong>Lebens</strong>qualität mitzugeben. »<br />

<strong>des</strong>halb ist auch die Entlassung der Patienten<br />

sorgfältig gepl<strong>an</strong>t, der Sozialarbeiter besichtigt<br />

mit ihm gemeinsam die Wohnung und i<strong>den</strong>tifiziert<br />

Problembereiche. Außerdem unterhält die Klinik<br />

enge Kontakte zu lokalen Pflegestützpunkten, der<br />

Altenselbsthilfe, <strong>den</strong> ambul<strong>an</strong>ten Pflegeteams und<br />

niedergelassenen Therapeuten vor ort.<br />

Ein besonders wichtiges Bindeglied zwischen<br />

stationärer und ambul<strong>an</strong>ter Beh<strong>an</strong>dlung ist die<br />

Geriatrische Tagesklinik im eigenen haus. Ein<br />

Fahrdienst holt die Patienten morgens zu hause<br />

ab und bringt sie nachmittags wieder zurück. dazwischen<br />

steht ihnen das gesamte medizinische<br />

Versorgungsspektrum zur Verfügung. das Lichtenberger<br />

Geriatriekonzept investiert in die Selbständigkeit<br />

der Älteren und vermeidet drehtürmedizin<br />

— ein Gewinn für die Patienten und das<br />

Gesundheitssystem.<br />

... geht's weiter!<br />

knochenbrüche IM hohen Alter<br />

Wieder auf <strong>den</strong> beinen<br />

rehabilitation bei alten Menschen basiert auf der<br />

einfachen Logik: Mobilität so schnell wie möglich.<br />

nach einem Sturz in seiner Wohnung wird dieter<br />

Ilse in das Klinikum Lichtenberg eingeliefert. die<br />

diagnose: hüftfraktur. Zwei Wochen später geht<br />

der 86-Jährige schon wieder im Innenhof der Klinik<br />

spazieren, gestützt auf einen Gehwagen, aber<br />

mit zunehmend sicheren Schritten.<br />

« Ich hätte nie gedacht, dass ich nach diesem<br />

schweren Knochenbruch wieder so schnell auf<br />

die Beine komme », sagt der Mathematikprofessor<br />

im ruhest<strong>an</strong>d. Zu verd<strong>an</strong>ken hat er die rasche<br />

Mobilisierung einem rehabilitationsprogramm,<br />

das bereits kurz nach der operation beginnt. unter<br />

Anleitung <strong>des</strong> Therapeutenteams lernt der<br />

Patient Schritt für Schritt, sein verletztes Bein wieder<br />

zu belasten. Schon nach wenigen Tagen k<strong>an</strong>n<br />

er das Bett ohne fremde hilfe verlassen. Inzwischen<br />

trainiert Ilse seine Geh- und Bal<strong>an</strong>cefähigkeit täglich<br />

mit verschie<strong>den</strong>en Geräten, absolviert Übungen<br />

zur Verbesserung der Körperwahrnehmung und<br />

erhält Tipps zur Sturzvermeidung. Vor seiner endgültigen<br />

Entlassung wird er seine rehabilitation<br />

in der geriatrischen Tagesklinik fortsetzen und nur<br />

über nacht zu hause sein.<br />

Eine gute Überg<strong>an</strong>gslösung, meint Ilse: « Auch<br />

meine Frau ist über 80 und k<strong>an</strong>n mir oft nicht<br />

helfen, also muss ich lernen, wieder alleine klarzukommen.<br />

»<br />

fig.: die hüftfraktur ist<br />

der häufigste sturzbedingte<br />

Knochenbruch<br />

im Alter. oft bleiben<br />

Mobilität und<br />

Selbständigkeit der<br />

Patienten dauerhaft<br />

eingeschränkt oder<br />

gehen sogar g<strong>an</strong>z<br />

verloren. dieter<br />

Ilse bleibt dieses<br />

Schicksal erspart<br />

d<strong>an</strong>k eines umfassen<strong>den</strong><br />

geriatrischen<br />

Therapieprogramms.<br />

Gesellschaft <strong>des</strong> l<strong>an</strong>gen <strong>Lebens</strong><br />

Für das Jahr 2030 hat<br />

das Statistische Bun<strong>des</strong>amtvorausberechnet,<br />

dass die Zahl der<br />

60-Jährigen und Älteren<br />

voraussichtlich um rund<br />

ein drittel steigen wird.<br />

die Zahl der über<br />

80-Jährigen soll<br />

sich sogar um über<br />

55 Prozent erhöhen<br />

— von heute 4,1 auf 6,4<br />

Millionen Menschen.<br />

und die Zahl der über<br />

90-Jährigen wird sich<br />

sogar verdreifachen.<br />

Im Jahr 2050 wird das<br />

durchschnittsalter der<br />

deutschen von heute 42<br />

Jahren voraussichtlich<br />

auf 50 Jahre gestiegen<br />

sein. Fast 40 Prozent<br />

der deutschen wer<strong>den</strong><br />

d<strong>an</strong>n 60 Jahre und älter<br />

sein, und die Zahl der<br />

über 80-Jährigen soll<br />

sich verdreifacht haben<br />

— von knapp vier auf<br />

zehn Millionen. Gleichzeitig<br />

sinkt die Zahl der<br />

Menschen im erwerbsfähigen<br />

Alter.<br />

rAInEr nEuBArT <strong>2011</strong> 37<br />

Im Jahr 2060 wird <strong>den</strong><br />

Berechnungen zufolge<br />

jeder siebte deutsche<br />

80 Jahre oder älter<br />

sein. Zu diesem Zeitpunkt<br />

leben nur noch<br />

70 Millionen Menschen<br />

in deutschl<strong>an</strong>d (heute<br />

noch etwa 82 Millionen).<br />

Allen Prognosen<br />

zufolge soll es in<br />

40 Jahren hierzul<strong>an</strong>de<br />

16 mal so viele 100-<br />

Jährige geben wie<br />

heute. Einzigartig in<br />

der Geschichte der<br />

Menschheit.


38 <strong>2011</strong> SIxTuS ALLErT<br />

plAstIsche AlterschIrurgIe<br />

Altersschön<br />

Schönheit ist keine Frage <strong>des</strong> Alters.<br />

die Ärzte in hameln ermöglichen Menschen in beinahe<br />

jedem Alter, sich in ihrem Körper wohlzufühlen.


fig.: Em<strong>an</strong>zipation auf<br />

selbstbewusste Art: Immer<br />

mehr alte Menschen<br />

unterziehen sich<br />

Schönheitsoperationen,<br />

um gut auszusehen.<br />

dr. Sixtus Allert, chefarzt der Fachabteilung für<br />

Plastische und Ästhetische chirurgie, und sein<br />

Team kümmern sich besonders um die Folgen<br />

der Adipositas. Wenn Menschen aufgrund einer<br />

Veränderung ihrer <strong>Lebens</strong>umstände oder als Folge<br />

eines operativen Eingriffs drastisch Gewicht<br />

verlieren, brauchen sie weitere medizinische hilfe.<br />

die haut, einmal überdehnt, bildet sich nicht mehr<br />

zurück. hautreizungen und Entzündungen können<br />

die Folge sein. dagegen helfen weder cremes<br />

noch diäten, Massagen oder Gymnastikübungen,<br />

sondern nur eine operative hautstraffung. « die<br />

klassische Fettschürze am Bauch und die Brustverkleinerung<br />

sind sicherlich die Eingriffe, die wir am<br />

häufigsten vornehmen », erklärt dr. Allert. « Aber<br />

es kommen zusätzlich alle <strong>an</strong>deren regionen<br />

hinzu — Beine, Gesäß und Arme. »<br />

Gründe für einen Gewichtsverlust gibt es in<br />

jeder <strong>Lebens</strong>phase: Tod <strong>des</strong> Partners, der Eltern,<br />

der Freunde. Möglicherweise eine neue umgebung.<br />

Vielleicht ein unfall. Plötzlich mehr Zeit für<br />

sich und seinen Körper, weil die Kinder aus dem<br />

haus sind. Eine neue Liebe, für die m<strong>an</strong> attraktiv<br />

sein möchte. oder einfach ein gesteigertes Interesse<br />

<strong>an</strong> gesunder Ernährung und sportlichen<br />

Aktivitäten.<br />

die sogen<strong>an</strong>nten Best Ager sind <strong>des</strong>halb eine<br />

begehrte Konsumentengruppe. Sie wissen: Alter<br />

ist relativ. Attraktivität und Alter schließen sich nicht<br />

aus. « Bei vielen Patienten steht die Idee im Vordergrund,<br />

sich einfach etwas zu gönnen. Sie sagen<br />

sich: Es ist viel zu früh, sich gehen zu lassen.<br />

»<br />

operation mit 89<br />

Viele Patienten suchen dr. Allert jedoch auch wegen<br />

h<strong>an</strong>dfester funktionaler Gründe auf. Sie wünschen<br />

sich beispielsweise, <strong>an</strong>ders als viele junge Patientinnen,<br />

eine Verkleinerung der Brust — und das<br />

nicht etwa aus ästhetischen Grün<strong>den</strong>. Sie haben<br />

es nach mehr als 30 oder 40 Jahren einfach satt,<br />

wegen ihrer schweren Brust körperlich eingeschränkt<br />

zu sein und sich mit rückenschmerzen zu plagen.<br />

häufig gibt ein Arztwechsel der Patientinnen <strong>den</strong><br />

Ausschlag. Gerade jüngere Gynäkologen wissen<br />

2,1 %<br />

hollywood<br />

lässt grüßen?<br />

fig.: die Top-Ten-Länder der<br />

plastischen Alterschirurgie<br />

(prozentualer Anteil aller<br />

chirurgischen Eingriffe).<br />

Schönheitsoperationen<br />

sind übrigens noch immer<br />

Frauensache: Weltweit<br />

fin<strong>den</strong> 84,7 Prozent aller<br />

Eingriffe bei Frauen statt,<br />

nur 15,3 Prozent entfallen<br />

auf Männer. Ausnahme<br />

ist die haartr<strong>an</strong>spl<strong>an</strong>tation<br />

(Anteil der Männer: 81,4<br />

Prozent).<br />

2,3 %<br />

2,8 %<br />

4,1 %<br />

4,7 %<br />

Sp<strong>an</strong>ien<br />

Türkei<br />

deutschl<strong>an</strong>d<br />

Südkorea<br />

Jap<strong>an</strong><br />

Mexiko<br />

Indien<br />

Brasilien<br />

SIxTuS ALLErT <strong>2011</strong> 39<br />

4,9 %<br />

6,5 %<br />

12,4 %<br />

china<br />

13,8 %<br />

uSA<br />

18,5 %


40 <strong>2011</strong> SIxTuS ALLErT<br />

« Wir haben hier Patienten, die<br />

sind 89, da wür<strong>den</strong> Sie sagen,<br />

die sind höchstens 65. »<br />

dr. Sixtus Allert chefarzt der Plastischen und Ästhetischen chirurgie<br />

S<strong>an</strong>a Klinikum hameln-Pyrmont<br />

57.761<br />

Fettabsaugung<br />

40.829<br />

Augenlidstraffung<br />

35.469<br />

Brustvergrößerung<br />

um die Möglichkeiten der Plastischen chirurgie<br />

und klären die Frauen darüber auf, dass sie solche<br />

Schmerzen und Einschränkungen im Alltag<br />

nicht aushalten müssen, nur weil es Mutter natur<br />

vermeintlich gut mit ihnen gemeint hat.<br />

dr. Allert hat jedoch die Erfahrung gemacht,<br />

dass eine Straffungsoperation vielen Patienten<br />

einen großen Motivationsschub verpasst — und<br />

das ist nicht immer positiv: « Sie sehen, was mit<br />

drei Stun<strong>den</strong> oP und vier Tagen stationärem Aufenthalt<br />

machbar ist. d<strong>an</strong>ach nehmen sie weiter<br />

ab und kommen d<strong>an</strong>n ein zweites und drittes Mal,<br />

weil die haut nach der nächsten Gewichtsreduktion<br />

wieder hängt. das wollen wir vermei<strong>den</strong>.<br />

<strong>des</strong>halb müssen übergewichtige Patienten vor<br />

einer Straffungsoperation immer erst Eigenin i tiative<br />

zeigen. » Weitere operationsrisiken neben Über-<br />

29.256<br />

nasenkorrektur<br />

Brustverkleinerung<br />

Schönheitsoperationen<br />

in deutschl<strong>an</strong>d (absolute<br />

Zahl <strong>an</strong> Eingriffen)<br />

19.970 fig.: Beliebteste<br />

gewicht sind übrigens keine Frage <strong>des</strong> Alters. « Wer<br />

gesund und stabil ist, k<strong>an</strong>n operiert wer<strong>den</strong>. Wir<br />

haben hier Patienten, die sind 89, da wür<strong>den</strong> Sie<br />

sagen, die sind höchstens 65. »<br />

Fast alle Erkenntnisse, auf die Plastische chirurgen<br />

heute zurückgreifen, haben ihren ursprung<br />

in dem Ansporn engagierter Ärzte, zerstörte Körperpartien<br />

wieder aufzubauen. Wie so oft in der<br />

Geschichte der <strong>Medizin</strong> waren Kriege ein treibender<br />

Faktor für die Entwicklung neuer Techniken. Vieles,<br />

was ursprünglich aus rekonstruktionsbemühungen<br />

heraus entwickelt wurde, f<strong>an</strong>d später Eing<strong>an</strong>g in<br />

die umsetzung rein ästhetischer Veränderungsbedürfnisse<br />

von Patienten. Aus diesem Grund<br />

nennt m<strong>an</strong> <strong>den</strong> Fachbereich auch die « plastische,<br />

rekonstruktive und ästhetische chirurgie ».<br />

Selbst heute ist der weitaus größere Teil der<br />

Eingriffe, die dr. Allert und sein Team vornehmen,<br />

rekonstruktiver natur: « Wir operieren hände, haben<br />

einen großen Schwerpunkt in der hautkrebschirurgie,<br />

Wiederherstellung der haut nach Wun<strong>den</strong><br />

<strong>an</strong> <strong>den</strong> Beinen, zum Beispiel nach unfällen,<br />

und natürlich die Brustkrebschirurgie als weiterer<br />

wichtiger Schwerpunkt. » Allein <strong>des</strong>halb ist der<br />

Anteil von älteren Patienten nicht gerade gering.<br />

früher: keine ch<strong>an</strong>ce. heute: kein problem.<br />

das, was Brustrekonstruktionen heute ausmacht,<br />

wurde erst in <strong>den</strong> 1970er- und 80er-Jahren entwickelt.<br />

Ergänzt um die technischen Möglichkeiten<br />

der Mikrochirurgie k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> heute sicher und<br />

zügig Gewebeblöcke von einer Körperstelle <strong>an</strong><br />

eine <strong>an</strong>dere operieren. « Wir schaffen heute eine<br />

Bauchdeckenplastik in <strong>an</strong>derthalb Stun<strong>den</strong>, die<br />

war in meiner Ausbildungszeit nicht unter drei<br />

Stun<strong>den</strong> zu machen. Wir schaffen Bodylifts in fünf<br />

Stun<strong>den</strong>. die Zeiten haben sich deutlich verkürzt »,<br />

sagt dr. Allert. All das ist heute verbun<strong>den</strong> mit einer<br />

wesentlich verträglicheren narkose, die notfalls<br />

auch l<strong>an</strong>ge oP-Zeiten über zehn Stun<strong>den</strong> möglich<br />

macht, ohne dass m<strong>an</strong> sich um <strong>den</strong> Patienten zu<br />

sorgen braucht. Technik und narkose. Bei<strong>des</strong><br />

wurde verfeinert. Aber was bringt die Zukunft?<br />

dr. Allert zögert nicht l<strong>an</strong>g: « Gewebezüchtung<br />

im Sinne von Gewebeersatz, ob das nun Knorpel,<br />

g<strong>an</strong>ze org<strong>an</strong>systeme oder haut sind. das war<br />

in <strong>den</strong> 90er-Jahren ein Thema, die sogen<strong>an</strong>nte<br />

haut aus der Tube bei Verbrennungen. das ist<br />

noch nicht das Ende. So schaffen wir es, künftig<br />

mit noch mehr Eigenmaterial zu arbeiten. das<br />

wäre die Anstrengungen in jedem Fall wert. »


est prActIce<br />

« nach <strong>den</strong> operationen<br />

ein neuer Mensch »<br />

die 61-jährige ruth Bruderek hat nach einer<br />

oP 80 Kilo abgenommen. d<strong>an</strong>n hat sie ihren Körper<br />

gestrafft und neues <strong>Lebens</strong>glück gefun<strong>den</strong>.<br />

Warum haben sie sich mit weit über 50 dazu entschlossen, zwei<br />

mehrstündige große schönheitsoperationen vornehmen zu lassen?<br />

nach einer Magenb<strong>an</strong>d-oP vor knapp fünf Jahren hatte ich 80 Kilo ab-<br />

genommen. das Problem: die haut, die zurückblieb, musste weg. Einerseits<br />

wegen der Entzündungsgefahr, <strong>an</strong>dererseits auch der optik wegen. Für<br />

mich war das sonnenklar.<br />

Warum kam dieser Wunsch nach einer radikalen veränderung<br />

erst so spät?<br />

Abnehmen wollte ich früher schon, es hat nur nie geklappt. Als meine Kinder<br />

schließlich aus dem haus waren, hatte ich Zeit, <strong>an</strong> mich selbst zu <strong>den</strong>ken.<br />

Früher habe ich nur funktioniert. und d<strong>an</strong>n konnte ich plötzlich sagen: Jetzt<br />

bin ich dr<strong>an</strong>, meine Familie kommt auch eine Weile ohne mich klar.<br />

Wie entschei<strong>den</strong>d waren diese eingriffe für Ihre lebensqualität?<br />

Vieles von dem, was ich heute mache, ging früher nicht — Sport, ärmellose<br />

oberteile, schöne Kleidung in gängigen Größen … Vor <strong>den</strong> operationen<br />

hatte ich ständig Kosmetiktücher bei mir, um die Feuchtigkeit zwischen <strong>den</strong><br />

hautfalten aufzuf<strong>an</strong>gen, damit sich nichts entzündet. und für Gruppenfotos<br />

habe ich mich immer in der hintersten reihe versteckt. heute trage ich<br />

nicht mehr nur unauffälliges Schwarz, sondern Knallrot oder Pink — und<br />

stehe auf <strong>den</strong> Bildern immer in der Mitte. Mein Selbstbewusstsein und mein<br />

Selbstwertgefühl haben zugenommen. und ich bin heute ein glücklicher<br />

Mensch.<br />

Ewig jung<br />

das Bildnis <strong>des</strong> dori<strong>an</strong> Gray<br />

Menschen, die unfähig<br />

sind, zu altern, psychisch<br />

zu reifen und<br />

sich weiterzuentwickeln,<br />

lei<strong>den</strong> am dori<strong>an</strong>-<br />

Gray-Syndrom — g<strong>an</strong>z<br />

so wie die hauptfigur<br />

dori<strong>an</strong> Gray im einzigen<br />

rom<strong>an</strong> <strong>des</strong> irischen<br />

Schriftstellers oscar<br />

Wilde (1854–1900).<br />

dori<strong>an</strong> Gray, ein junger<br />

und schöner M<strong>an</strong>n, ist<br />

von einem gemalten<br />

Porträt seines Gesichts<br />

so begeistert, dass er<br />

sich wünscht, das Bild<br />

möge <strong>an</strong> seiner statt<br />

altern.<br />

die Zahl der Menschen,<br />

die <strong>an</strong> diesem exzessiv<br />

ausgelebten Jugendwahn<br />

erkr<strong>an</strong>kt sind, ist<br />

unbek<strong>an</strong>nt, wird aber<br />

vorsichtig auf zwei bis<br />

drei Prozent der Bevölkerung<br />

geschätzt.<br />

« Ältere Patienten, die<br />

zu uns kommen, wissen<br />

g<strong>an</strong>z genau, was sie<br />

wollen », bestätigt<br />

dr. Allert, chefarzt<br />

der Plastischen und<br />

Ästhetischen chirurgie<br />

im S<strong>an</strong>a Klinikum<br />

hameln-Pyrmont.<br />

« Sie sind äußerst reflektiert.<br />

Sie setzen sich<br />

mit dem nutzen und <strong>den</strong><br />

risiken genau ausein<strong>an</strong>der.<br />

und sie wissen,<br />

dass durch einen<br />

chirurgischen Eingriff<br />

SIxTuS ALLErT <strong>2011</strong> 41<br />

fig.: 80 Kilo abgenommen, selbstbewusst im Leben zurück<br />

und wieder autonom. ruth Bruderek hat mit großer<br />

Selbstdisziplin geschafft, wovon viele Übergewichtige im<br />

Alter träumen: Sich selbst schön fin<strong>den</strong>.<br />

fig.: oscar Wil<strong>des</strong><br />

rom<strong>an</strong>figur dori<strong>an</strong> Gray<br />

bleibt als Spiegelbild<br />

immer jung und schön.<br />

nicht ihr g<strong>an</strong>zes Leben<br />

grundsätzlich verändert<br />

und ein Problem einfach<br />

so aus dem Weg<br />

geräumt wer<strong>den</strong> k<strong>an</strong>n.<br />

dafür haben sie eine<br />

viel zu große <strong>Lebens</strong>erfahrung.<br />

»


42 <strong>2011</strong> SIxTuS ALLErT<br />

Weg vom Ersatzteillager<br />

der nasenjoseph<br />

Im Berlin der 1920er-<br />

und 30er-Jahre gab es<br />

vier überaus bek<strong>an</strong>nte<br />

<strong>Medizin</strong>er — mit unterschiedlichenFachgebieten,<br />

aber ein und<br />

demselben nachnamen:<br />

Joseph. um diese ausein<strong>an</strong>derhalten<br />

zu können,<br />

erf<strong>an</strong><strong>den</strong> die Berliner<br />

treffende Beinamen:<br />

Aus dem dermatologen<br />

Max Joseph wurde der<br />

hautjoseph, Eugen<br />

Joseph n<strong>an</strong>nte m<strong>an</strong> in<br />

seiner Eigenschaft als<br />

urologe <strong>den</strong> Blasenjoseph<br />

und wer einen<br />

Magen-darm-Spezialisten<br />

brauchte, wurde<br />

zum Magenjoseph Gustav<br />

Joseph geschickt.<br />

voM sehnenersAtz bIs zuM bYpAss<br />

Marke eigenbau<br />

der vierte Joseph im<br />

Bunde war der nasenjoseph:<br />

Jacques Joseph<br />

(1865–1934), Begründer<br />

der modernen plastischen<br />

und rekonstruktiven<br />

Gesichtschirurgie.<br />

Seine erste Schönheitsoperation<br />

führte<br />

Joseph 1896 durch — <strong>an</strong><br />

einem Kind, das wegen<br />

der Mensch wird immer mehr zum chirurgischen<br />

Möglichkeitsraum und Ersatzteillager seiner selbst.<br />

Wo geht die Zukunft hin? Im Fachbereich der plastischen ästhetischen<br />

chirurgie ist Gewebezüchtung ein wichtiger Trend. die Erforschung von<br />

Möglichkeiten, Gewebeersatz herzustellen, ob Knorpel oder g<strong>an</strong>ze org<strong>an</strong>systeme<br />

wie beispielsweise haut, ist zukunftsweisend. Mikrochirurgische<br />

Techniken ermöglichen schon heute, Gewebetr<strong>an</strong>sfers durchzuführen. Eine<br />

Brust muss nicht mehr zwingend mit Impl<strong>an</strong>taten vergrößert wer<strong>den</strong>. Bereits<br />

sei einigen Jahren wird hierzu auch Fett aus dem Gesäß, aus dem Bauch<br />

oder aus dem oberschenkel aufgearbeitet und für eine Brustvergrößerung<br />

verwendet. In der h<strong>an</strong>dchirurgie setzt m<strong>an</strong> auf Sehnenersatz aus eigenem<br />

Gewebe.<br />

und bei Bypass-operationen sorgen eigene Venen aus <strong>den</strong> Armen oder<br />

Beinen dafür, dass das herz über eine umleitung <strong>an</strong> einer verstopften Ader<br />

vorbei wieder zuverlässig mit genügend Blut und Sauerstoff versorgt wird.<br />

<strong>den</strong>n der Körper nimmt seine eigenen Zellen auch <strong>an</strong> <strong>an</strong>derer Stelle besser<br />

<strong>an</strong> als Fremdmaterial.<br />

Künstliche Ersatzteile ermöglichen jedoch ebenso beeindruckende medizinische<br />

Erfolge: Gefäßprothesen aus Kunststoffen wie dacron oder Gore-<br />

Tex sind seit Mitte der 1960er-Jahre ein gängiges Instrument zur Beh<strong>an</strong>dlung<br />

von geschädigten Blutgefäßen und auch heute noch die richtige Wahl, wenn<br />

es einem Patienten <strong>an</strong> eigenem gesundem Gefäßmaterial m<strong>an</strong>gelt.<br />

fig.: Ein künstliches<br />

Kniegelenk ermöglicht<br />

schmerzfreie Fortbewegung<br />

aus eigener Kraft, wenn das<br />

Knie erkr<strong>an</strong>kt oder verletzt<br />

und irreperabel ist.<br />

seiner großen, abstehen<strong>den</strong><br />

ohren gehänselt<br />

wurde. Zwei Jahre<br />

später nahm er die erste<br />

nasenkorrektur vor. Bis<br />

1907 operierte er 200<br />

weitere nasen. Knochen<br />

und Knorpel ersetzte<br />

er durch Elfenbein,<br />

geeignete operationsinstrumente<br />

entwarf er<br />

fig.: Jacques Joseph<br />

war ab 1916 Leiter der<br />

Abteilung Gesichtsplastik<br />

<strong>an</strong> der Berliner charité.<br />

selbst. das raspatorium<br />

wird heute noch von<br />

plastischen chirurgen<br />

verwendet und trägt für<br />

die meisten <strong>den</strong> namen<br />

seines Erfinders. Sein<br />

Atlas und Lehrbuch zur<br />

nasenplastik ist noch<br />

heute ein St<strong>an</strong>dardwerk<br />

in der Gesichtschirurgie.<br />

Künstliche Gelenke bestehen heute oft aus Tit<strong>an</strong>,<br />

um allergischen reaktionen vorzubeugen. dauerhaft<br />

gehalten wird eine Endoprothese aber nicht<br />

nur durch künstlichen Knochenzement, sondern<br />

vor allem durch eine Knochensubst<strong>an</strong>z, die unser<br />

Körper selbst nachträglich bildet.


Ersatzteillager Mensch<br />

hilfe zur Selbsthilfe<br />

fig.: Ein künstliches herz<br />

ersetzt das herz <strong>des</strong><br />

Patienten vollständig oder<br />

unterstützt es, bis ein<br />

geeignetes Spenderherz<br />

gefun<strong>den</strong> ist.<br />

fig.: Eine künstliche Lunge<br />

reduziert das risiko von<br />

Lungenschä<strong>den</strong> nach maschineller<br />

Beatmung, weil<br />

weniger druck benötigt<br />

und Kohlendioxid besser<br />

abtr<strong>an</strong>sportiert wird.<br />

fig.: Ein Stent dehnt<br />

verstopfte Blutgefäße,<br />

Gallenwege, Luft- oder<br />

Speiseröhren, um einen<br />

erneuten Verschluss zu<br />

verhindern.<br />

SIxTuS ALLErT <strong>2011</strong> 43<br />

fig.: Eine Aortenklappe<br />

verhindert <strong>den</strong> rückfluss<br />

<strong>des</strong> Blutes und entlastet<br />

damit das herz, weil so<br />

weniger Pumparbeit nötig<br />

ist.<br />

fig.: Eine elektronische<br />

Innenohrprothese, das<br />

cochlear Impl<strong>an</strong>t, w<strong>an</strong>delt<br />

<strong>den</strong> Schall in elektrische<br />

Impulse um, die unmittelbar<br />

die hörnerven reizen.<br />

fig.: Ein Brustimpl<strong>an</strong>tat<br />

vergrößert die weibliche<br />

Brust oder wird zu ihrem<br />

Wiederaufbau nach<br />

einer Brustkrebstherapie<br />

eingesetzt.<br />

fig.: Eine Schulterprothese<br />

ersetzt das Schultergelenk,<br />

wenn dieses erkr<strong>an</strong>kt oder<br />

verletzt ist und sich der<br />

Patient nicht mehr schmerzfrei<br />

bewegen k<strong>an</strong>n.


44 BLAuBuch <strong>2031</strong>


<strong>2031</strong><br />

<strong>2031</strong> BLAuBuch 45<br />

Kr<strong>an</strong>ke und bedürftige Menschen brauchen nicht nur Schul- und<br />

Apparatemedizin. Zwischenmenschliche nähe, Pflege und hilfe<br />

sind mittlerweile unverzichtbar. Wir haben vier Frauen besucht,<br />

die mitten im Leben stehen.


46 <strong>2031</strong> SABInE PETrI<br />

spezIAlgebIet: psYchoonkologIe und pAllIAtIve cAre<br />

das leben lieben<br />

Beim Praktikum in der onkologie hat Sabine Petri ihre berufliche<br />

Passion entdeckt. heute hilft die 48-Jährige schwerstkr<strong>an</strong>ken<br />

Patienten, ihr Leben bis zuletzt als lebenswert zu empfin<strong>den</strong>.<br />

Sabine Petri<br />

MAS Palliative care<br />

S<strong>an</strong>a Klinikum hof<br />

<strong>Medizin</strong>ische Klinik<br />

Eppenreuther Straße 9<br />

95032 hof<br />

Telefon: 09281 98-3611<br />

www.s<strong>an</strong>a-klinikum-hof.de<br />

der unterschied zwischen meiner ehemaligen<br />

Arbeit als Juristin und meiner neuen Aufgabe als<br />

Psychoonkologin ist nicht so groß. In bei<strong>den</strong> Be-<br />

rufsrollen begleite ich Menschen in schwierigen<br />

Situationen, widme ihnen meine volle Aufmerksamkeit,<br />

und gemeinsam fin<strong>den</strong> wir heraus, welche<br />

Wünsche und Bedürfnisse sie haben, was unter<br />

<strong>den</strong> gegebenen umstän<strong>den</strong> erreichbar ist und wie<br />

sie mit dem unerreichbaren umgehen können.<br />

Beide Berufe erfordern hohen respekt vor dem<br />

<strong>an</strong>deren Menschen und große Sensibilität in der<br />

Kommunikation. Bei meiner Arbeit mit krebskr<strong>an</strong>ken<br />

und oft hochbetagten Patienten stehen deren<br />

ressourcen im Vordergrund. Ich versuche sie zu<br />

stabilisieren, indem wir gemeinsam ihre Stärken<br />

erkun<strong>den</strong>. Mit Biografiearbeit etwa erinnern sich<br />

die Patienten <strong>an</strong> verschie<strong>den</strong>e Stationen ihres<br />

<strong>Lebens</strong> und vergewissern sich ihrer Erfahrungen<br />

und Erlebnisse. damit wer<strong>den</strong> sie sich ihrer Möglichkeiten<br />

bewusster und können ihren Weg fin<strong>den</strong>.<br />

Zu meiner Arbeit mit <strong>den</strong> Patienten gehören auch<br />

Entsp<strong>an</strong>nungsübungen, außerdem unterstütze<br />

ich meist auch ihre Angehörigen. die meisten<br />

Schwerstkr<strong>an</strong>ken hängen am Leben, selbst wenn<br />

sie ein hohes Alter erreicht haben, und wenn es<br />

nur noch ein sehr eingeschränktes Leben ist. Jeder<br />

weiß, dass der Tod nah ist, aber niem<strong>an</strong>d weiß,<br />

was d<strong>an</strong>ach kommt.<br />

<strong>des</strong>halb schwingt die Stimmung der Patienten<br />

oft zwischen Loslassen und Festhalten. Für mich<br />

ist der tägliche umg<strong>an</strong>g mit Leid und Tod erträglich,<br />

weil ich die Fülle <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>, zu dem auch<br />

das Schöne gehört, g<strong>an</strong>z bewusst wahrnehme.<br />

In <strong>den</strong> Momenten <strong>des</strong> Verbun<strong>den</strong>seins mit <strong>den</strong><br />

Patienten, wenn sie mir das Gefühl geben, zur<br />

richtigen Zeit am richtigen ort zu sein, bekomme<br />

ich viel zurück.<br />

und in zukunft?<br />

Angesichts der altern<strong>den</strong> Bevölkerung, <strong>des</strong> Kostendrucks,<br />

<strong>des</strong> Ärzte- und Pflegekräftem<strong>an</strong>gels<br />

und der Technisierung der <strong>Medizin</strong> wer<strong>den</strong> Psychoonkologen<br />

verstärkt darauf zu achten haben,<br />

dass der Patient g<strong>an</strong>zheitlich gesehen wird, mit<br />

all seinen physischen, psychischen, spirituellen<br />

und sozialen Bedürfnissen. Vielleicht können wir<br />

der Gesellschaft künftig ein Stück weit vorleben,<br />

dass Sterben kein Tabu mehr ist, sondern eine<br />

wichtige Phase <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. diese veränderte<br />

haltung ist wichtig, <strong>den</strong>n je älter die Menschen<br />

wer<strong>den</strong>, <strong>des</strong>to öfter im Leben wer<strong>den</strong> sie mit<br />

Sterben konfrontiert.


SABInE PETrI <strong>2031</strong> 47<br />

Vision <strong>2031</strong><br />

« Psychoonkologen sind in 20 Jahren ein selbstverständlicher<br />

Teil der medizinischen Welt.<br />

Ihre <strong>Medizin</strong> ist das Zuhören, der respekt und die<br />

psychische Stärkung der Patienten auch <strong>an</strong> der<br />

letzten Grenze <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. »


48 <strong>2031</strong> SAndrA GELTL<br />

Vision <strong>2031</strong><br />

« Je weniger Kinder, <strong>des</strong>to höher die Erwartungshaltung<br />

der Frauen <strong>an</strong> ein gelingen<strong>des</strong><br />

Geburtserlebnis. <strong>des</strong>halb wird der uralte Beruf der<br />

hebamme in Zukunft <strong>an</strong> Bedeutung gewinnen. »


spezIAlgebIet: geburtshIlfe<br />

das leben begrüßen<br />

die erste Geburt erlebte ich mit 15 Jahren, als ich<br />

eine hebamme begleiten durfte. Von da <strong>an</strong> st<strong>an</strong>d<br />

mein Berufsziel fest: hebamme! doch erst nach<br />

einem sechsjährigen Bewerbungsmarathon bekam<br />

ich einen der begehrten, aber raren Ausbildungs-<br />

plätze. heute bin ich als selbständige hebamme<br />

täglich etwa zwölf Stun<strong>den</strong> im Einsatz — dienst<br />

im Kr<strong>an</strong>kenhaus, nachsorge bei <strong>den</strong> Familien zu<br />

hause, Geburtsvorbereitungskurse, Schw<strong>an</strong>gerenvorsorge.<br />

Am Abend sind oft zwischen 120<br />

und 200 Kilometer auf dem Tacho.<br />

ein beruf mit vielen facetten<br />

hebamme ist ein Beruf, der Berufung braucht. die<br />

Ver<strong>an</strong>twortung ist hoch und die Anforderungen<br />

sind <strong>an</strong>spruchsvoll. neben dem fundierten medizinischen<br />

Wissen rund um Schw<strong>an</strong>gerschaft,<br />

Geburt und Wochenbett braucht m<strong>an</strong> eine sehr<br />

gute Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis,<br />

einen ausgeprägten ordnungssinn, hohe soziale<br />

und kommunikative Kompetenzen und sehr viel<br />

Flexibilität.<br />

Keine Geburt läuft nach Schema F ab. <strong>des</strong>halb<br />

müssen hebammen mit jeder Situation rasch umgehen<br />

können. Sie müssen sehr einfühlsam sein,<br />

aber m<strong>an</strong>chmal auch durchgreifen. häufig bestimmen<br />

die Frauen <strong>den</strong> Verlauf der Geburt selbst.<br />

dafür brauchen sie allerdings eine gute Vorbereitung<br />

durch die hebamme.<br />

Im Kreißsaal versuche ich, so wenig wie nötig<br />

einzugreifen, gebe der wer<strong>den</strong><strong>den</strong> Mutter Tipps,<br />

das Gefühl, nicht allein zu sein, und mache ihr<br />

Mut zum durchhalten. die hebamme ist als fachliche<br />

und menschliche Expertin für die Phase der<br />

Geburt unverzichtbar. Sie kennt neuartige oder<br />

alternative Metho<strong>den</strong> der Geburtshilfe ebenso wie<br />

uralte hebammentricks. der Arzt schaut kurz nach,<br />

was im Kreißsaal geschieht, und widmet sich d<strong>an</strong>n<br />

<strong>an</strong>deren Aufgaben. die hebamme bleibt. Sie steht<br />

der Familie während <strong>des</strong> Wochenbetts mit rat<br />

und Tat zur Seite, selbst wenn die Frau eine Fehlgeburt<br />

hatte. Ich erlebe je<strong>den</strong> Tag viel Freude,<br />

aber auch Leid. doch der glückliche Moment — der<br />

erste Schrei <strong>des</strong> neugeborenen — überwiegt alles.<br />

In Zukunft wird es weniger Geburten geben, aber<br />

hebammen wer<strong>den</strong> trotzdem gebraucht. Kaum<br />

eine Frau wird auf ihre dienste verzichten wollen.<br />

Künftig wer<strong>den</strong> auch mehr Frauen ambul<strong>an</strong>t entbin<strong>den</strong><br />

und d<strong>an</strong>ach wieder nach hause gehen.<br />

d<strong>an</strong>n ist die Begleitung der hebamme erst recht<br />

unverzichtbar.<br />

SAndrA GELTL <strong>2031</strong> 49<br />

hebammen dürfen Kinder ohne ärztliches Zutun zur Welt bringen,<br />

eine Geburt ohne hebamme ist aber nur im notfall erlaubt. Zu recht,<br />

sagt die 27-jährige S<strong>an</strong>dra Geltl, die ihren Beruf lebt und liebt.<br />

S<strong>an</strong>dra Geltl<br />

Selbständige hebamme,<br />

Gesundheits-<br />

Kinderkr<strong>an</strong>kenpflege<br />

Klinik für Frauenheilkunde<br />

und Geburtshilfe<br />

caritas-Kr<strong>an</strong>kenhaus<br />

St. Josef<br />

L<strong>an</strong>dshuter Straße 65<br />

93053 regensburg<br />

Telefon: 0941 782-0<br />

www.caritasstjosef.de


50 <strong>2031</strong> KArMEn ZABEL<br />

Vision <strong>2031</strong><br />

« Kinder und Jugendliche wollen im Kr<strong>an</strong>kenhaus<br />

nicht herumliegen. Sie wollen aktiv und mobil<br />

sein. Etwas unternehmen. So wer<strong>den</strong> sie<br />

schneller gesund. Ich bin sicher: In der Kinder-<br />

und Jugendmedizin von morgen wird es mehr<br />

Aktionsräume für kr<strong>an</strong>ke Kids geben. »


spezIAlgebIet: kInder- und jugendpädAgogIk<br />

das leben hören<br />

Eines wollte ich schon immer: Mit Kindern arbeiten.<br />

Also absolvierte ich zunächst eine Ausbildung zur<br />

Erzieherin. nach einer ersten Berufsetappe in einem<br />

Kindererholungsheim ging ich als Erzieherin in<br />

die Türkei und lernte dort die Sprache. Vier Jahre<br />

später half mir diese Zweisprachigkeit bei einer<br />

Bewerbung in deutschl<strong>an</strong>d: Ich bekam d<strong>an</strong>n die<br />

Stelle hier im S<strong>an</strong>a Klinikum hameln-Pyrmont. In<br />

der Folge gingen wieder einige Jahre ins L<strong>an</strong>d,<br />

bevor unser Leiter für Öffentlichkeitsarbeit die<br />

Idee hatte, Kinderradio für junge Patienten ins<br />

Leben zu rufen.<br />

Wir wollen gehört wer<strong>den</strong><br />

Eines vorneweg: ohne unser Lokalradio « radioaktiv<br />

» wäre dies nicht zu realisieren gewesen.<br />

das gilt bis heute. unser Sen<strong>des</strong>chema ist klar:<br />

Alle vier bis fünf Wochen, immer samstags, gehen<br />

wir auf Sendung. Mit einer eigenen drei- bis<br />

sechsminütigen reportage. Produziert von <strong>den</strong><br />

Klira-Kids, allesamt junge Patienten, die auf unserer<br />

Station sind. Seit Anf<strong>an</strong>g 2010 sind wir « on air ».<br />

In der Sendung « Lollipop ». unsere Themen sind<br />

vielfältig — von der Blinddarmoperation bis zum<br />

umzug der Kinderklinik letztes Jahr. Immer wieder<br />

kommen natürlich neue radioreporter dazu. Kinder<br />

und Jugendliche, die in die Klinik aufgenommen<br />

wer<strong>den</strong>. nicht jeder, <strong>den</strong> ich <strong>an</strong>spreche, möchte<br />

allerdings sofort mitmachen. Aber wer einmal<br />

Feuer gef<strong>an</strong>gen hat, bleibt dabei.<br />

Für die Kinder und Jugendlichen ist das Kinderklinik-radio<br />

eine wichtige Stütze. Sie fin<strong>den</strong><br />

Ablenkung von ihrer Kr<strong>an</strong>kheit, bauen Ängste ab<br />

und verarbeiten unter umstän<strong>den</strong> negative Erlebnisse,<br />

die sie im Kr<strong>an</strong>kenhaus gemacht haben.<br />

Ihr Eifer und Engagement reißen mich wirklich mit.<br />

und einige chronische Patienten sind längst dauerredakteure<br />

bei uns. Alle lernen schnell von- und<br />

mitein<strong>an</strong>der.<br />

Ich hatte am Anf<strong>an</strong>g natürlich auch keine radioerfahrung.<br />

doch unser Lokalradio hat mich<br />

geduldig fortgebildet und mir technische und redaktionelle<br />

hilfestellung gegeben. und wir wer<strong>den</strong><br />

als redaktionsteam immer besser. Was wir auch<br />

<strong>an</strong> <strong>den</strong> hörerreaktionen merken. die Eltern sind<br />

stolz auf ihre Jungjournalisten, und die Profikollegen<br />

klopfen uns jetzt öfters auf die Schultern.<br />

Ich glaube, dass meine Arbeit zu einem besseren<br />

Klinikaufenthalt kr<strong>an</strong>ker Kinder und Jugendlicher<br />

beiträgt. das ist doch das Wichtigste: Wenn<br />

schon gezwungenermaßen hier, d<strong>an</strong>n auch möglichst<br />

wenig eintönig. radio machen ist so unmittelbar<br />

und direkt. Klare Fragen stellen, eindeutige<br />

Antworten bekommen. das gefällt <strong>den</strong> Kids.<br />

KArMEn ZABEL <strong>2031</strong> 51<br />

Karmen Zabel produziert radiosendungen mit jungen Patienten.<br />

die 43-jährige Erzieherin weiß, wie m<strong>an</strong> kr<strong>an</strong>ke Kinder motiviert, als<br />

reporter mitzumachen. dadurch lenkt sie auch von Ängsten ab.<br />

Karmen Zabel<br />

Erzieherin<br />

S<strong>an</strong>a Klinikum<br />

hameln-Pyrmont<br />

Saint-Maur-Platz 1<br />

31785 hameln<br />

Telefon 05151 97-0<br />

www.s<strong>an</strong>a-hm.de


52 <strong>2031</strong> SAMAnThA GIMBEL<br />

spezIAlgebIet: ergotherApIe<br />

das leben erleichtern<br />

die 24-jährige Sam<strong>an</strong>tha Gimbel sorgt als Ergotherapeutin dafür,<br />

dass die Menschen im Alltag beweglich bleiben. nicht nur körperlich,<br />

sondern auch geistig. Sie ist Teil einer neuen g<strong>an</strong>zheitlichen <strong>Medizin</strong>.<br />

Sam<strong>an</strong>tha Gimbel<br />

Ergotherapeutin<br />

Kr<strong>an</strong>kenhaus vom roten Kreuz<br />

Bad c<strong>an</strong>nstatt<br />

Badstraße 35–37<br />

70372 Stuttgart<br />

Telefon 0711 5533-0<br />

www.rkk-stuttgart.de<br />

Ich wollte schon immer im sozialen Bereich ar-<br />

beiten. nach dem Praktikum in einem Pflegeheim<br />

war ich sehr beeindruckt, wie m<strong>an</strong> schwer kr<strong>an</strong>ke<br />

Menschen wieder auf die Beine bringt, wie m<strong>an</strong><br />

sozusagen ihre ressourcen herauskitzelt. drei<br />

Jahre dauerte die Ausbildung zur Ergotherapeutin,<br />

d<strong>an</strong>n habe ich hier im Kr<strong>an</strong>kenhaus vom roten<br />

Kreuz in Stuttgart <strong>an</strong>gef<strong>an</strong>gen. Es ist ein he raus-<br />

fordern<strong>des</strong> Arbeitsumfeld und ein kreativer Beruf,<br />

der sich ständig verändert und in <strong>den</strong> neue Konzepte<br />

Einzug halten.<br />

das Motto der Ergotherapie lautet: <strong>den</strong> Patienten<br />

aus dem Bett bringen und ihn mobiler wer<strong>den</strong> lassen.<br />

das fängt damit <strong>an</strong>, dass er sich zuerst bis<br />

zur Bettk<strong>an</strong>te bewegen k<strong>an</strong>n, und endet mit alltäglicher<br />

Mobilität wie Treppensteigen zu hause.<br />

In jeder Phase geht es darum, mit dem Klienten<br />

zu üben und ihm Techniken beizubringen, damit<br />

er Schwierigkeiten im täglichen Leben leichter<br />

bewältigen k<strong>an</strong>n. das betrifft übrigens nicht nur<br />

<strong>den</strong> Körper, sondern auch <strong>den</strong> Geist. <strong>des</strong>halb<br />

trainieren wir genauso Muskelaufbau wie hirn -<br />

leis tung. Immer mit dem Ziel, möglichst im Alltag<br />

selbständiger zu wer<strong>den</strong>.<br />

Als Ergotherapeutin bin ich hier in Stuttgart in<br />

ein größeres, interdisziplinäres Team mit eingebun<strong>den</strong>.<br />

Einmal wöchentlich treffen wir uns zur<br />

gemeinsamen reha-Besprechung. Arzt trifft Physiotherapeut,<br />

Ernährungsberater trifft Ergotherapeut,<br />

Seelsorger trifft Pfleger. und alle zusammen arbeiten<br />

am Patienten und versuchen aus unter-<br />

schiedlichen Perspektiven, gezielt zu helfen. <strong>des</strong>halb<br />

formulieren wir jede Woche für je<strong>den</strong> Patienten<br />

ein individuelles Ziel — medizinisch, therapeutisch<br />

und pflegerisch. Auf einen nenner gebracht, wenn<br />

es um <strong>den</strong> Ergotherapeuten geht: Ich versuche,<br />

die körperlichen und kognitiven Einschränkungen<br />

der Patienten zu kompensieren, damit sie ihren<br />

Alltag selbständiger bewältigen und so viel <strong>Lebens</strong>qualität<br />

wie möglich erhalten. das ist mein<br />

Ziel, je<strong>den</strong> Tag.<br />

kreativität ist auch unser Metier<br />

um die Zukunft ist mir nicht b<strong>an</strong>ge. die Menschen<br />

wer<strong>den</strong> bek<strong>an</strong>ntermaßen immer älter und leider<br />

damit auch immobiler und multimorbider. demenz<br />

wird als Kr<strong>an</strong>kheitsbild stark zunehmen. der Ergotherapeut<br />

ist <strong>des</strong>halb noch stärker gefordert, mitzuhelfen,<br />

<strong>den</strong> Menschen körperlich, kognitiv und<br />

alltagspraktisch zu unterstützen. Kreativität im Job<br />

wird ebenso wichtig, um vor allem kognitive defizite<br />

ausgleichen zu helfen. Ich bin mir sicher, dass<br />

unser Beruf im hinblick auf die demografischen<br />

Veränderungen eine positive Zukunft hat.


Vision <strong>2031</strong><br />

« Ergotherapeuten sind ein wichtiger<br />

Best<strong>an</strong>dteil neuer, interdisziplinärer <strong>Medizin</strong>.<br />

Sie machen durch gezieltes Training dort<br />

mobil, wohin Medikamente nicht mehr reichen.<br />

Zusammen erreicht m<strong>an</strong> eben mehr! »<br />

SAMAnThA GIMBEL <strong>2031</strong> 53


54 BLAuBuch ÜBEr unS<br />

12 h<br />

« Seit 170 Jahren nimmt die<br />

<strong>Lebens</strong>erwartung pro Jahr um<br />

etwa drei Monate zu, das<br />

heißt, wir gewinnen pro Tag<br />

sechs Stun<strong>den</strong> <strong>Lebens</strong>zeit —<br />

und ein Ende <strong>des</strong> Anstiegs ist<br />

nicht in Sicht. »<br />

James W. Vaupel, Bevölkerungswissenschaftler und Gerontologe,<br />

direktor <strong>des</strong> rostocker Zentrums für demografischen W<strong>an</strong>del<br />

24 h<br />

30 h


Blaubuch im dialog<br />

Wie sehen Sie das<br />

Kr<strong>an</strong>kenhaus der Zukunft?<br />

diskutieren Sie mit!<br />

hier endet die zweite Ausgabe <strong>des</strong> Blaubuchs. doch die reise<br />

geht weiter.<br />

Wir freuen uns sehr auf Ihre Meinung.<br />

Leserbriefe, reaktionen, Lob und Kritik sowie Themenvorschläge<br />

richten Sie bitte <strong>an</strong> blaubuch@s<strong>an</strong>a.de<br />

www.pkv.de<br />

die S<strong>an</strong>a Kliniken wur<strong>den</strong> 1976 gegründet und wer<strong>den</strong> von 31 privaten<br />

Kr<strong>an</strong>kenversicherungen getragen. Wir beh<strong>an</strong>deln sowohl gesetzlich wie<br />

privat versicherte Patienten.<br />

Impressum<br />

herausgeber:<br />

S<strong>an</strong>a Kliniken AG<br />

oskar-Messter-<br />

Straße 24<br />

85737 Ism<strong>an</strong>ing<br />

Leitung<br />

(ver<strong>an</strong>twortlich):<br />

dr. Markus Müschenich<br />

Magazinentwicklung:<br />

Peter Felixberger,<br />

München/Erding<br />

redaktionsteam:<br />

Sus<strong>an</strong>ne heintzm<strong>an</strong>n<br />

Gundula Englisch<br />

Katharina Lotter<br />

Andrea roth<br />

Karin Seeger<br />

herstellung und<br />

Koordination:<br />

Amedick & Sommer,<br />

Stuttgart<br />

Art direction:<br />

christoph Schulz-<br />

hampari<strong>an</strong><br />

SEITE ruBrIK 055<br />

Foto/Illustration:<br />

darius ramaz<strong>an</strong>i,<br />

c. Schulz-hampari<strong>an</strong><br />

S.1, 20: corbis;<br />

S. 8-15, 55:<br />

Katrin St<strong>an</strong>gl;<br />

S. 9, 18, 26–27, 47, 48,<br />

50: S<strong>an</strong>a;<br />

S. 23: privat;<br />

S. 23: universität<br />

Fribourg, « Vorgeburtliche<br />

Entwicklung und Geburt »<br />

Werner Wicki 2007;<br />

S. 25, 30–31: Wikimedia;<br />

S. 29: Fotolia;<br />

S. 35, 39: iStockphoto;<br />

S. 42–43: Boston<br />

Scientific, cochlear,<br />

Informationsdienst<br />

Wis senschaft – idw,<br />

LMA deutschl<strong>an</strong>d Gmbh,<br />

Medtronic Gmbh,<br />

PoLYTEch health &<br />

Aesthetics Gmbh,<br />

Zimmer Germ<strong>an</strong>y Gmbh<br />

S. 53: xiaoling hu<strong>an</strong>g<br />

Internet:<br />

www.s<strong>an</strong>a.de


<strong>2011</strong><br />

« Abnehmen wollte<br />

ich früher schon, es<br />

hat nur nie geklappt.<br />

Als meine Kinder<br />

schließlich aus dem<br />

haus waren, hatte<br />

ich Zeit, <strong>an</strong> mich<br />

selbst zu <strong>den</strong>ken. »<br />

<strong>2031</strong><br />

« der glückliche<br />

Moment — der<br />

erste Schrei <strong>des</strong><br />

neugeborenen<br />

— überwiegt alles. »<br />

<strong>2051</strong><br />

« oje, in einer halben<br />

Stunde findet ein<br />

Vortrag statt. Thema:<br />

Wie alt wer<strong>den</strong> wir<br />

morgen? da möchte<br />

ich mit 90 auf je<strong>den</strong><br />

Fall dabei sein. »<br />

www.s<strong>an</strong>a.de

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