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<strong>Transmedia</strong>le Erweiterung der<br />

dokumentar-filmischen Erzählung<br />

Untersuchung der gestalterischen Verflechtung von Dokumentarfilm<br />

und Erweiterungsmöglichkeiten durch transmediale Narration<br />

Masterarbeit im Studiengang Elektronische Medien<br />

vorgelegt von Benjamin Wiedenbruch<br />

Martrikelnummer: 22352<br />

an der Hochschule der Medien Stuttgart<br />

am 17.12.12<br />

Erstprüfer: Prof. Stuart Marlow<br />

Zweitprüfer: Prof. Jörn Precht


Erklärung<br />

Hiermit versichere ich, Benjamin Wiedenbruch, an Eides Statt, dass ich die vorliegende<br />

Masterarbeit mit dem Titel: „<strong>Transmedia</strong>le Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung“<br />

selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die angegebenen<br />

Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen<br />

Werken entnommen wurden, sind in jedem Fall unter Angabe der Quelle kenntlich<br />

gemacht. Die Arbeit ist noch nicht veröffentlicht oder in anderer Form als Prüfungsleistung<br />

vorgelegt worden. Ich habe die Bedeutung der eidesstattlichen Versicherung und die prüfungsrechtlichen<br />

Folgen (§26 Abs. 2 Bachelor-SPO (6 Semester), § 23 Abs. 2 Bachelor-SPO (7<br />

Semester) bzw. § 19 Abs. 2 Master-SPO der HdM) sowie die strafrechtlichen Folgen (gem. §<br />

156 StGB) einer unrichtigen oder unvollständigen eidesstattlichen Versicherung zur Kenntnis<br />

genommen.<br />

Stuttgart, den 17.12.12<br />

Benjamin Wiedenbruch<br />

III


Abstract<br />

Es ist zu beobachten, dass sich in Deutschland dokumentar-filmische Produktionen häufen,<br />

in denen erzählerische Inhalte der Dokumentarfilme auf anderen Medien komplementiert<br />

werden. Der Dokumentarfilm steht so in der Mitte eines narrativen Reigens aus transmedialen<br />

Erweiterungen wie beispielsweise dem vertiefenden Buch oder der fortführenden<br />

Internet-Kampagne.<br />

Gegenstand dieser Arbeit ist die Untersuchung der gestalterischen Verflechtung eines<br />

Dokumentarfilms mit weiteren Medien, die inhaltliche Aspekte seiner Erzählung fortführend<br />

und ergänzend aufgreifen (<strong>Transmedia</strong>lität). Um dieser Fragestellung gerecht werden<br />

zu können, ist es in einem ersten Schritt notwendig, die Gestaltung eines Dokumentarfilms<br />

umfassend aufzuschlüsseln. Die hierbei herausgearbeiteten Gestaltungsebenen stellen<br />

die Voraussetzung für die Analyse dar, die in einem zweiten Schritt erfolgt. An die herausgestellten<br />

Ebenen wird angeknüpft, um die transmediale Erweiterung der dokumentarfilmischen<br />

Erzählung erarbeiten und aufzeigen zu können.<br />

English:<br />

In Germany, there has been an increase in documentary film productions in which the narrative<br />

content of the documentary is complemented with various other medias. For instance,<br />

the documentary film finds itself embedded in a transmedial environment consisting<br />

of complementing books or Internet campaigns.<br />

The purpose of this paper is to examine the creative interlacement of a documentary<br />

film with other various medias, which reflect different aspects of its narrative content in<br />

order to transcend its content (transmediality). For this purpose, it is necessary to break<br />

down the composition of a documentary film. Several different levels of composition will be<br />

disclosed which will then serve as a basis for the following analysis, where the transmedial<br />

expansion of the documentary’s narrative will be explored and illustrated.<br />

V


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einführung ....................................................................................................... 1<br />

1.1 Zeitgeist: Medienkonvergenz ................................................................... 1<br />

1.2 Unmut einer Branche ............................................................................... 2<br />

1.3 Mediale Unabhängigkeitsbestrebungen ................................................... 4<br />

1.4 Thematische Abgrenzung und Fragestellung ............................................ 6<br />

1.5 Zielsetzung und Vorgehensweise ............................................................. 8<br />

2 Das Wesen des Dokumentarfilms ................................................................... 11<br />

2.1 Repräsentanten der Wirklichkeit ............................................................ 11<br />

2.2 Authentizitätssignale ............................................................................. 13<br />

2.3 Der mündige Zuschauer ......................................................................... 14<br />

2.4 Dokumentar-filmische Gestaltung .......................................................... 15<br />

2.4.1 Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion .................................... 15<br />

2.4.2 Identifizierte Ebenen der dokumentar-filmischen Gestaltung............ 16<br />

3 Die Regie-Ebene ............................................................................................. 19<br />

3.1.1 Auftrag und Vision ............................................................................... 20<br />

3.1.2 Haltung ................................................................................................ 20<br />

3.1.3 Strategisch-redaktionelle Erfassung .................................................... 21<br />

3.1.4 Reflexion .............................................................................................. 22<br />

4 Die konzeptionell-narrative Ebene ................................................................. 23<br />

4.1 Erzählung im Dokumentarfilm ................................................................ 23<br />

4.1.1 Die Natur der filmischen Erzählweise.................................................. 23<br />

4.1.2 Konzeptionell-narrative Komponenten der filmischen Erzählweise ... 24<br />

4.2 Konstitution der Erzählung ..................................................................... 25<br />

4.2.1 Diegetische Erzählebenen ................................................................... 25<br />

4.2.2 Erzählinstanzen im Dokumentarfilm ................................................... 28<br />

4.2.1 Dramaturgie als rhetorisches Mittel der Erzählung ............................ 30<br />

4.3 Perspektivierung der Erzählung .............................................................. 33<br />

4.3.1 Fokalisierung und Point-of-View ......................................................... 33<br />

4.3.2 Distanz und Nähe als narratives Konzept ............................................ 34<br />

4.4 Strukturierung der Erzählung ................................................................. 35<br />

4.4.1 Ordnung ............................................................................................... 37<br />

4.4.2 Dauer ................................................................................................... 38<br />

VI


5 Die formal-kinematografische Ebene .............................................................. 40<br />

5.1 Intradiegetische kinematografische Erzählmittel .................................... 40<br />

5.1.1 Dokumentarisches Filmen als narratives Basiskonstrukt .................... 41<br />

5.1.1.1 Die Kamera-Arbeit ....................................................................................... 41<br />

5.1.1.2 Original-Ton-Aufnahmen ............................................................................. 42<br />

5.1.2 Verbalsprachliche Erzählung im „On“ ................................................. 43<br />

5.2 Extradiegetische kinematografische Erzählmittel ................................... 44<br />

5.2.1 Visuelle extradiegetische Erzählmittel ................................................ 45<br />

5.2.1.1 Fremd- und Archivmaterial .......................................................................... 45<br />

5.2.1.2 Grafische Elemente ...................................................................................... 46<br />

5.2.2 Off-Kommentare als extradiegetisches Erzählmittel .......................... 47<br />

5.2.3 Montage .............................................................................................. 48<br />

6 Im Netz der Medienkonvergenz ...................................................................... 49<br />

6.1 Definitorische Einordnung ...................................................................... 49<br />

6.2 Vorbedingungen für eine sinnvolle <strong>Transmedia</strong>lisierung ........................ 50<br />

6.3 <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Kontext ........................ 52<br />

7 Der Dokumentarist als Weltenbauer .............................................................. 55<br />

7.1 Die Thematik wird zum Franchise ........................................................... 55<br />

7.2 Vermessung geeigneter Ausschnitte der Welt ........................................ 59<br />

7.3 Narrative Lücken als transmediale Anknüpfungspunkte ......................... 63<br />

8 <strong>Transmedia</strong>le Extension dokumentar-filmischer Narration ............................. 67<br />

8.1 Funktionen transmedialer Erweiterungen .............................................. 67<br />

8.1.1 Erweiternde und Ergänzende Funktion ............................................... 69<br />

8.1.1.1 Funktionen auf inhaltlicher Ebene ............................................................... 69<br />

8.1.1.2 Zeitliche Evolution durch Erweiterung und Ergänzung ................................ 69<br />

8.1.2 Subjektivierung .................................................................................... 71<br />

8.2 Entstehungsmoment der transmedialen Erzählung ................................ 72<br />

8.2.1 Konstitution der transmedialen Erzählung ......................................... 72<br />

8.2.2 Theoretische Betrachtungen ............................................................... 74<br />

8.2.2.1 Die Formel für <strong>Transmedia</strong>lität .................................................................... 74<br />

8.2.2.2 Notwendige Eigenschaften narrativer Einheiten ......................................... 75<br />

8.2.3 Aufteilung und Segmentierung ........................................................... 76<br />

8.2.4 Mediale Verteilung .............................................................................. 77<br />

8.2.5 Beispiel einer transmedialen Erzählung .............................................. 79<br />

VII


8.3 Erzählerische Kohärenz .......................................................................... 81<br />

9 Erweiterung des Handlungsraumes des Rezipienten ....................................... 83<br />

9.1 Dimensionen der Rezeption ................................................................... 83<br />

9.1.1 Immersive Erfahrbarkeit ...................................................................... 83<br />

9.1.2 Extraktion diegetischer Elemente ....................................................... 84<br />

9.2 Miteinbeziehung des Rezipienten .......................................................... 86<br />

9.2.1 Der Rezipient wird zum Partizipant ..................................................... 86<br />

9.2.2 Bidirektionale Kommunikation ............................................................ 88<br />

9.2.3 Einbindung als Protagonist oder Produzent ........................................ 89<br />

9.2.3.1 Involvierung als Protagonist ........................................................................ 89<br />

9.2.3.2 Miteinbeziehung in den Produktionsprozess .............................................. 90<br />

10 Abschließende Betrachtungen ................................................................... 92<br />

10.1 Gewonnene Erkenntnisse .................................................................. 92<br />

10.2 Schlussfolgerungen ............................................................................ 95<br />

10.3 Ausblick ............................................................................................. 97<br />

10.4 Resümee ............................................................................................ 99<br />

Literaturverzeichnis ............................................................................................ 101<br />

Online-Ressourcen .............................................................................................. 102<br />

Filmografie ......................................................................................................... 104<br />

Sachregister ........................................................................................................ 105<br />

Danksagung ........................................................................................................ 106<br />

VIII


Abbildungsverzeichnis:<br />

Abbildung 1: Gestaltungsebenen des Dokumentarfilms ................................................................ 18<br />

Abbildung 2: Komponenten der abstrahierten Regie-Ebene .......................................................... 19<br />

Abbildung 3: Komponenten der konzeptionell-narrativen Ebene .................................................. 25<br />

Abbildung 4: Narrative Kommunikationsebenen im Dokumentarfilm ........................................... 27<br />

Abbildung 5: Intradiegetische Gestaltungskomponenten und ihre Elemente ............................... 40<br />

Abbildung 6: Kinematografische Erzählmittel auf der extradiegetischen Ebene ........................... 44<br />

Abbildung 7: Relationaler Zusammenhang in einer transmedialen Kampagne ............................. 54<br />

Abbildung 8: Aufbau einer transmedial erzählten diegetischen Welt ............................................ 66<br />

Abbildung 9: Erweiterung der diegetischen Welt auf mikro- und makro-diegetischer Ebene ....... 68<br />

Abbildung 10: Beispielhafte transmediale Kampagne .................................................................... 79<br />

Abbildung 11: Erweiterte Handlungsräume des Rezipienten ......................................................... 91<br />

Abbildung 12: Gestaltungsebenen einer transmedialen Erweiterung dokumentar-filmischer<br />

Erzählung ................................................................................................................... 97<br />

IX


Phantasie haben heißt nicht, sich etwas auszudenken,<br />

es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.<br />

Thomas Mann


1 Einführung<br />

1.1 Zeitgeist: Medienkonvergenz<br />

Die Zusammenführung von Darstellungsformen einzelner Mediengattungen, zur umfassenden<br />

Vermittlung von Inhalten, stellt kein exklusives Phänomen unserer Zeit dar. Es scheint<br />

in der Natur der Dinge zu liegen, dass Menschen seit jeher die gebotenen medialen Möglichkeiten<br />

nutzen und kombinieren, um neue Formen des Erzählens zu kreieren. 1 Man denke<br />

nur an die bereits frühzeitig eingesetzte Kombination von Text und Bild im Buch oder<br />

später in Zeitungen. Auch die Integration von visuellen und auditiven Inhalten im Film und<br />

Fernsehen stellt eine Konvergenz bereits bestehender medialer Darstellungsformen dar.<br />

So konstatierte zum Beispiel Richard Wagner (1813 – 1883) mit seiner Idee des „Gesamtkunstwerkes“<br />

einen umfassenden Zusammenschluss der vorherrschenden Künste seiner<br />

Epoche:<br />

„Das große Gesammtkunstwerk [!], das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede<br />

einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu<br />

Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes [!] aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren<br />

Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk<br />

[!] erkennt er [der menschliche Geist] nicht als die willkürlich mögliche That [!]<br />

des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen<br />

der Zukunft.“ (Wagner 1850, 32; Erg. d. V.).<br />

Obgleich er vor allem die „großen Künste“ wie Musik, Dichtung und Tanz im Kontext<br />

von Oper und Theater meinte, können die Grundzüge seiner Idee in abstrahierter Form<br />

analog auf die Phänomene der Medienkonvergenz in unserer Gegenwart übertragen werden.<br />

Die Annäherung der Medien erfuhr in den letzten drei Jahrzehnten einen bis heute<br />

anhaltenden epochalen Schub. Zu dieser Entwicklung haben im Vorfeld mehrere erstmals<br />

zusammenkommende Faktoren beigetragen. So bot die sukzessive Digitalisierung analoger<br />

Medien und Kunstformen erstmals die Möglichkeit Inhalte auf einen „medialen Nenner“ zu<br />

bringen. Dadurch entstand eine gemeinsame Basis für verschiedene Kunstformen. Als Konsequenz<br />

entsprang dieser medialen Entwicklung auch das Internet als ein tatsächlich neues,<br />

1<br />

Wie Lipp (2012, 33 ff.) aufzeigt, liegt es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte im Wesen des<br />

Menschen, sich Geschichten zu erzählen. Er gibt Eibl wieder, der laut Lipp behauptet, „der<br />

entscheidende evolutive Vorsprung des Menschen bestehe in seiner Fähigkeit, komplexe<br />

Geschichten zu erzählen. Eibl bezeichnet den Menschen daher als animal poeta, also als das<br />

Geschichten erzählende Tier.“ (Eibl zit. n. Lipp 2012, 33). Er folgert daraus: „Menschsein beginnt<br />

gewissermaßen dort, wo wir die uns umgebende Welt irrealisieren, indem wir sie zu Geschichten<br />

verdichten. Hier wird grundsätzlich deutlich, dass Menschsein ohne den Einsatz von Medien nicht<br />

denkbar ist.“ (ebd.).<br />

1


digitales Medium. Mit ihm stand nun erstmals ein „Hyper-Vertriebskanal“ zur Verfügung,<br />

der sowohl für Medien-Produzenten als auch etwas später für die Benutzer zur Verbreitung<br />

von Inhalten genutzt werden konnte.<br />

Die Kombination beider Phänomene – die digitale Revolution und die Entwicklung<br />

des Internets – bieten die Basis für die heute zu beobachtende Form der Medienkonvergenz<br />

mit all ihren hervorgebrachten Neben-Effekten wie beispielsweise der sozialen Vernetzung<br />

von Millionen Menschen.<br />

Hervorgebrachte digitale Medien wie Smartphones, PCs, Tablett-Computer, E-Book-<br />

Reader und smarte TV-Geräte können auf das Internet als den omnipräsenten, globalvernetzten<br />

Vertriebskanal im Hintergrund zurückgreifen. Sie sprechen alle die gleiche digitale<br />

Metasprache – bestehend aus Bits und Bytes –, so dass diese technische Voraussetzung<br />

die Übertragung von Inhalten geradezu provoziert. Sei es nun ein Text, ein Bild, ein Video<br />

oder eine interaktive Anwendung die von einem in ein anderes Medium übertragen werden<br />

soll, so ist zu beobachten, dass mittlerweile alles was digital ist verlinkt, geteilt und verbreitet<br />

wird. Sogar Hollywood-Filme können auf diesen Medien angeschaut werden – und das<br />

immer und überall online.<br />

Diese neu aufgekommenen Konvergenzphänomene im Medienbereich führen auch<br />

dazu, dass die einstigen Produzenten, Verlage und Studios einen unvergleichbaren Umbruch<br />

ihrer Wirtschaftszweige erleben mussten und immer noch müssen. Proportional zu<br />

den Entwicklungsschritten des Internets (Web 2.0, Social Web oder die reine Datenübertragungsleistung)<br />

und der Computertechnologien (steigende Rechenleistung, Speicherkapazität)<br />

wurde eine Branche nach der anderen von der Medienkonvergenz erfasst und umgewälzt.<br />

Der Zeitungsmarkt, die Musikindustrie, die Filmbranche und die TV-Sender, sie alle<br />

waren auf das, was kam, nicht gefasst und brauchten Zeit, um sich auf die neue Situation<br />

mit ihren Chancen – aber auch mit ihren Risiken – auszurichten. Der wohlkontrollierte gewohnte<br />

Vertrieb ihrer produzierten Inhalte mittels Zeitungen und Magazinen, Musik-CDs,<br />

Kinovorführungen und DVDs wurde durch die neu entstandene Situation regelrecht eingerissen.<br />

1.2 Unmut einer Branche<br />

Zeitlich umrahmt von der anhaltenden Medienkonvergenz und eingebettet in einem Markt<br />

mit spezifischen medienpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenheiten hat die<br />

deutsche Dokumentarfilm-Branche ihren eigenen Kampf zu führen. Die Ursachen hängen<br />

2


nicht direkt mit den Einflüssen der in Kapitel 1.1 erwähnten Phänomen zusammen, sondern<br />

vielmehr mit der aktuellen Politik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.<br />

Nach Meinung der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK), die sich „in erster<br />

Linie als film- und medienpolitische Lobby des Dokumentarfilms“ (@24) versteht, „[werden]<br />

AutorInnen und Regisseure von Dokumentarfilmen miserabel bezahlt, in der Vergütungsskala<br />

der Medienbranche rangieren sie am unteren Ende.“ (@25; Umst. d. V.). 2 Sogleich will<br />

die AG DOK die Umstände, die zu dieser Situation geführt haben, kennen:<br />

„Verantwortlich für diese Situation sind nach Ansicht der AG DOK vor allem die Sparbestrebungen<br />

der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die zwar Unsummen in Sportrechte,<br />

Unterhaltungsprogramme und Talkshows investieren, dabei aber ihre Kernkompetenz<br />

- die anspruchsvolle Dokumentation - zunehmend vernachlässigen und finanziell austrocknen.”<br />

(@25).<br />

Dieser mutmaßlichen „Vernachlässigung“ ist es geschuldet, dass nach Meinung der<br />

AG DOK die Produktion von anspruchsvollen Dokumentarfilmen in Deutschland immer weiter<br />

abnimmt. Schwierige finanzielle Situationen für Dokumentaristen – als auch die vermeintliche<br />

Bevorzugung quotenstarker Formate durch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten<br />

– hemmen nach Ansicht der AG DOK die Produktion innovativer und anspruchsvoller<br />

Dokumentarfilme bzw. dokumentarischer Formate. So hält die AG DOK in einem Thesenpapier<br />

fest:<br />

„1. Was das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland seinen Zuschauern als Dokumentarfilm<br />

präsentiert, bildet die Wirklichkeit unseres Landes nicht mehr vollständig ab.<br />

Schon die Themenwahl wird vom Quotendenken regiert. Vermeintlich "schwierige" und<br />

damit wenig quotenversprechende Inhalte finden immer seltener den Weg ins Programm<br />

oder werden in Randzonen deportiert.<br />

2. Künstlerische Handschriften sind kaum noch gefragt. Monotones Formatfernsehen,<br />

oftmals 1:1 von privaten Anbietern kopiert, setzt bis in das Programm der Kulturkanäle<br />

hinein die ästhetischen Standards.<br />

3. Der öffentlich-rechtliche Funktionsauftrag, die Diskursnotwendigkeit eines Themas<br />

oder das gesellschaftliche Informations-Bedürfnis treten als Kriterien der Programmgestaltung<br />

in den Hintergrund, stattdessen dominieren Marketing-Gesichtspunkte und ökonomische<br />

Überlegungen. […]<br />

4. Auch die Zuweisung der Finanzmittel folgt diesem Denken. Nicht der gesellschaftliche<br />

Nutzen, nicht die kulturelle Bedeutung und auch nicht der tatsächliche Finanzbedarf einer<br />

Sendung, sondern allein der vermeintliche "Marktwert" entscheidet über die Richtung<br />

der senderinternen Geldströme. […]” (@26; Ausl. d. V.).<br />

2<br />

Es wird im gleichen Absatz weiter ausgeführt: „das durchschnittliche Netto-Einkommen von<br />

Dokumentarfilmregisseuren liegt bei 1380 Euro im Monat - rund 18 Prozent der Befragten bleiben<br />

sogar unter 636 Euro. Lediglich 15 Prozent gaben an, dass sie allein von ihrer Autorentätigkeit und<br />

der Regiearbeit leben können - der weitaus größere Teil -nämlich 85 Prozent- müssen in teilweise<br />

berufsfremden Jobs Geld hinzuverdienen oder sie werden von ihren Angehörigen finanziell<br />

unterstützt.“ (@25).<br />

3


Die augenscheinlich schwierige medienpolitisch-wirtschaftliche Situation der Dokumentarfilm-Branche<br />

in Deutschland führt dazu, dass sich zunehmend Produzenten Gedanken<br />

darüber machen, wie man sich unabhängiger von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten<br />

machen kann. Es wird nach alternativen Distributionsformen für Dokumentarfilme und<br />

andere dokumentarische Formate gesucht, um die bestehenden Abhängigkeitsbeziehungen<br />

aufzulösen. In diesem Kontext sah sich auch Danquart auf dem Branchentreff des Dokumentarfilms<br />

Dokville im Jahr 2012 dazu veranlasst, dem anwesenden Publikum folgenden<br />

auffordernden Rat zu geben:<br />

„Das Fernsehen neu erfinden heißt die Devise. Die wahren Herausforderungen liegen<br />

heute im Internetfernsehen, im dokumentarischen 3-D Kino, in der Fokussierung auf einen<br />

Wechsel durch ein jüngeres Publikum im öffentlichen Fernsehen und im Verabschieden<br />

des »Immergleichen« im Programm, Stichwort: »Talk- und Kochshows«, auf ein unterhaltsames<br />

anspruchsvolles Fernsehen. Das muss doch zu schaffen sein. Die Frage sollte<br />

lauten: Die digitale Revolution ist vorbei, und was folgt daraus?” (HdF 2012, 9).<br />

1.3 Mediale Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

Die geschilderte Situation der deutschen Dokumentarfilm-Branche führt dazu, dass immer<br />

mehr Dokumentaristen und Produzenten, dem von Danquart bekräftigten Credo folgen. So<br />

empfiehlt auch Tielsch den Betroffenen der Branche einen Strategiewechsel, nämlich den<br />

Ausbruch aus klassischen Produktionsverhältnissen (vgl. HdF 2012, 15) und damit eine größere<br />

Unabhängigkeit von den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Für seine Produktionsfirma<br />

Filmtank wurde bereits das Geschäftsmodell abgeändert. Neben der Konzentration<br />

„bei […] klassischen Dokumentarfilmen […] auf Kinostoffe“ (HdF 2012, 17) bietet die Firma<br />

nunmehr auch Dienstleistungen an.<br />

„Die dritte Veränderung unseres Geschäftsmodells ist sicherlich die am tiefsten greifende:<br />

Wir investieren - statt in Auftragsproduktion gezielt in die Entwicklung crossmedialer<br />

Projekte und Formate. Generell sehen wir dabei unsere Perspektiven für die Crossmedia-<br />

Projekte und besonders für die Games mittelfristig eher im Bildungsbereich, als im Fernsehen.“<br />

(HdF 2012, 17).<br />

Konsequent beschäftigt sich Filmtank mit crossmedialen Projekten wie „Eroberung der<br />

Welt“ oder „New Horizon“. 3 Hier kommen zwar auch noch mitunter dokumentarische Formate<br />

für die TV-Ausstrahlung zum Zuge, allerdings werden diese begleitet von Onlinespielen<br />

und Webseiten.<br />

3<br />

4<br />

Das Projekt „Eroberung der Welt“ besteht aus „[…] zwei Fernsedokumentationen [!], einem<br />

Onlinespiel und einer Website. Es geht dabei um die Forschungsreisen von Francis Drake und<br />

Magellan.“ (HdF 2012, 52). „New Horizon“ wird von Tielsch wie folgt kommentiert: „Es bietet ein<br />

Spieluniversum, das sehr nah an den historischen Rahmenbedingungen angesiedelt ist. Wir<br />

erreichen damit eine andere Zielgruppe, als mit dem Geschichtsfernsehen. Das Verständnis der<br />

Handlung ist einfach viel intensiver“ (HdF 2012, 52).<br />

Für weitere Informationen: www.tastethewaste.com (letzter Abruf 02.12.2012).<br />

4


Auch Thurn beschreitet ähnliche Wege. Mit seinem Dokumentarfilm TASTE THE<br />

WASTE (D, 2011) löste er eine bundesweite Debatte zum Thema Lebensmittelverschwendung<br />

aus (vgl. HdF 2012, 18). Gemeinsam mit Produktionspartnern entwickelte er eine<br />

crossmediale Kampagne, welche die Thematik neben dem Dokumentarfilm auch in einem<br />

Buch, einem Kochbuch sowie einer Webseite weiterführt. 4<br />

In Hinblick auf derartige Erfolgsgeschichten fragt Schneider: „Crossmedia – ist sie<br />

also die Retterin eines ganzen künstlerischen Genres [d.h. des Dokumentarfilms], das Katalysations-Pulver,<br />

mit dem einem zu Tode geförderten Dokumentarismus der Geist freien<br />

Unternehmertums wieder eingehaucht werden könnte?“ (HdF 2012, 49; Einf. d. V.). Er verweist<br />

auf gebrueder beetz filmproduktion, eine der renommiertesten deutschen Dokumentarfilm-Produktionsfirmen<br />

der letzten Jahre und zitiert Geschäftsführer Christian Beetz:<br />

„‚Wir sind eine klassische Filmproduktionsfirma, die immer linear erzählt hat und von der<br />

Story ausgeht. Wir verändern das aber seit einigen Jahren. Wir sagen nun wir produzieren<br />

Inhalte‘, […] ‚wir müssen an das Publikum denken, an das wir heran möchten. Je nach<br />

Medium habe ich unterschiedliche Publica. Ob ich das Fernsehen benutze, oder ob ich<br />

das Internet benutze, oder ein Game oder ob ich ein Buch schreibe. Je nach Publica muss<br />

ich den Inhalt anders erzählen.‘“ (HdF 2012, 49, Ausl. d. V.).<br />

Daraus schließt Schneider den entscheidenden Punkt:<br />

„Crossmedia im Dokumentarfilm ist also keine Frage der Technik, sondern eine Frage des<br />

Inhalts und die Suche nach dem richtigen Publikum. Das ist keine technokratische, sondern<br />

eine humanistisch geprägte Erkenntis [!]: Jeder Zuschauer hat ein anderes Interesse<br />

daran wie er Inhalte eines Dokumentarfilms nutzen möchte – stets in Abhängigkeit seiner<br />

technischen Möglichkeiten und seiner momentanen Aufnahmefähigkeit. Diese Erkenntnisse<br />

könnte [!] das Genre, aber weit mehr auch die Medienwelt, verändern. Doch wie<br />

können Dokumentarfilmer darauf sinnvoll reagieren?” (HdF 2012, 49).<br />

Der zusammengefasste Diskurs renommierter Branchenvertreter macht deutlich, in<br />

welcher Qualität Bestrebungen verfolgt werden, Effekte der Medienkonvergenz für den<br />

Dokumentarfilm nutzbar zu machen. Dabei geht es neben der wirtschaftlichen Zukunft vieler<br />

Branchenvertreter auch um die kreative Weiterentwicklung des Dokumentarfilms in<br />

Deutschland. Die medientechnischen Voraussetzungen dafür sind gegeben. Jedoch fehlt es<br />

noch an Erfahrung, die angestoßenen Umbrüche der Medienkonvergenz für die ausgedehnte<br />

Verwertung von Dokumentarfilmen nutzbar zu machen. Aktuell befindet sich die Branche<br />

in einem Stadium, in dem Chancen und Risiken noch ausgelotet werden müssen. 5<br />

Schneider resümiert deshalb:<br />

4<br />

5<br />

Für weitere Informationen: www.tastethewaste.com (letzter Abruf 02.12.2012).<br />

Gleichwohl kann darauf verwiesen werden, dass die englische BBC schon 1994 damit begann, auf<br />

ihrer damaligen Webseite ihre TV- und Radio-Programme mit zusätzlichen Inhalten und der<br />

Möglichkeit zur Diskussion mit anderen Zuschauern, zu unterstützen. (vgl. @27). Bereits 1997<br />

wurden echte crossmediale Projekte durch die BBC produziert. So berichtet Hayes, dass er im<br />

Namen der Sendeanstalt für die Produktion sogenannter „netumentaries“ verantwortlich war<br />

(vgl. @28).<br />

5


„Es war für die DOKVILLE-Besucher durchaus beeindruckend, welche multimedialen Projekte<br />

bereits realisiert wurden oder in Planung sind. Ob dies aber ein Ansatz für die gesamte<br />

Branche ist ließ sich nicht bewerten – den klassichen [!] Rucksack-Produzenten<br />

werden solche Projekte ohnedies finanziell und organisatorisch überfordern.<br />

Aber die Fernsehanstalten müssen sich dem Thema über kurz oder lang ganz offen stellen.<br />

Sie sind auf der Suche nach einem jüngeren Publikum – aber mit ein paar Facebook-<br />

Fanseiten oder 7-Tage-Streams in der Mediathek ist es nicht getan. Es gehört deutlich<br />

mehr dazu den Dokumentarismus in Deutschland auch crossmedial aufzustellen.” (HdF<br />

2012, 49).<br />

1.4 Thematische Abgrenzung und Fragestellung<br />

Die vorangehend nachgezeichneten Gegebenheiten – der Unmut der Dokumentarfilmbranche<br />

und ihre Versuche, die Konvergenz der Medien für sich nutzbar zu machen – veranlassen<br />

den Verfasser dieser Arbeit dazu, sich mit der angestoßenen Thematik auseinander zu<br />

setzen. Doch soll es nicht um die Betrachtung der Medienkonvergenz oder der Dokumentarfilmbranche<br />

im wirtschaftlichen oder kultur-politischen Zusammenhang gehen. Gewiss<br />

würden die gebotenen Umstände viele Anknüpfungspunkte für wissenschaftliche Auseinandersetzungen<br />

bieten. Substanzielle und relevante Fragestellungen könnten unter vielen<br />

Gesichtspunkten formuliert werden.<br />

Vielmehr soll auf Basis der dargestellten Ausgangslage im Rahmen dieser Arbeit der<br />

Versuch unternommen werden, fundiert nachzuvollziehen, wie die Überführung eines Dokumentarfilmes<br />

in eine medienkonvergente Umgebung konzeptionell funktioniert. Die<br />

hiermit einhergehenden Verflechtungen zwischen der Gestaltung eines Dokumentarfilmes<br />

und dem gestalterischen Transferierungsprozess auf andere Medien sollen dabei im Fokus<br />

stehen. In diesem Kontext wird der Begriff Gestaltung vornehmlich auf die erzählerische<br />

Konstruktion eines Dokumentarfilmes bezogen und nicht ausschließlich auf die ästhetischformale<br />

Darstellungsweise.<br />

Für das vorangehend bekundete Vorhaben muss sogleich mit Blick auf die Diskussion<br />

über die neuen Möglichkeiten der Medienkonvergenz in der deutschen Dokumentarfilm-<br />

Branche festgestellt werden, dass die Begriffe Crossmedialität und <strong>Transmedia</strong>lität unscharf<br />

verwendet werden (vgl. @8). Es erscheint so, als ob eine von Schneider gewählte Absatzüberschrift<br />

eine programmatische Bedeutung bekäme: „Was Crossmedia ist, weiss keiner<br />

so genau“ (HdF 2012, 49).<br />

Hier bedarf es für diese Arbeit einer frühzeitigen Unterscheidung beider Begriffe. Bei<br />

genauerer Betrachtung der in Kapitel 1.3 erwähnten Produktionen stellt sich heraus, dass<br />

einzelne, als crossmedial bezeichnete Bestandteile einen erzählerischen Mehrwert im Vergleich<br />

zur ursprünglichen Erzählung des Dokumentarfilms schaffen. Sie ergänzen bzw. er-<br />

6


weitern die Erzählung des Dokumentarfilms um neue erzählerische Inhalte. Beispielsweise<br />

bietet das Kochbuch zu TASTE THE WASTE „Rezepte und Ideen für Essensretter“ (@29). Der<br />

eigentliche Film ist jedoch eher auf Lebensmittelverschwendung fokussiert. Das Kochbuch<br />

erweitert also die Geschichte des Dokumentarfilmes um weitere inhaltliche Aspekte. Diese<br />

sind aber nach wie vor erzählerisch eng mit den dokumentar-filmischen Betrachtungen von<br />

TASTE THE WASTE verbunden.<br />

Es handelt sich in diesem Produktions- Beispiel also nicht nur um eine rein adaptive<br />

Überführung von Inhalten des Dokumentarfilms auf andere Medien, so dass sich dieser in<br />

der Mitte eines Reigens von inhaltlichen Spiegelbildern befindet, die letztlich nur die identische<br />

Geschichte medial anders darstellen. Vielmehr steht der Grundgedanke im Mittelpunkt,<br />

nicht nur denselben Inhalt multimedial zu adaptieren, sondern medienspezifisch<br />

auch komplementäre Inhalte anzubieten.<br />

Der für diesen erzählerischen Ansatz zu verwendende Begriff, welcher für den Aufbau<br />

und das Verständnis dieser Arbeit wichtig ist, stammt von Jenkins (2006, 95 ff.). Er bezeichnet<br />

diese erweiternde Fortführung einer filmischen Erzählung auf andere Medien als<br />

„transmedia storytelling“ (im Folgenden mit transmedialer Narration oder transmedialer<br />

Erzählung übersetzt). Jenkins postulierte hierzu 2009 zum ersten Mal seine „Seven Core<br />

Concepts of <strong>Transmedia</strong> <strong>Storytelling</strong>“ (@10), die bis heute im medientheoretischen Diskurs<br />

als definitorische Grundlage anerkannt werden. Explizit hat er diese Konzepte für „commercial<br />

entertainment“ (ebd.) bzw. fiktionale Geschichten aufgestellt. 6 Sie sollen nach einer<br />

entsprechenden Transferierung in den dokumentarischen Kontext auch in der vorliegenden<br />

Arbeit als Orientierungsrahmen dienen.<br />

Zudem soll sich in dieser Arbeit ausdrücklich auf die Filmgattung Dokumentarfilm als<br />

Urform der non-fiktionalen filmischen Erzählung bezogen werden (im Folgenden auch nonfiktionaler<br />

Film oder faktualer Film genannt). Wie Nichols (2010, 142 ff.) herausstellt, umfasst<br />

dies ein breites Spektrum an möglichen dokumentar-filmischen Modalitäten, die sich<br />

in verschiedensten Spielarten manifestieren können. Für diese Arbeit soll als grundlegende<br />

Definition des Dokumentarfilmes bzw. der dokumentar-filmischen Erzählung gelten:<br />

„Documentary film speaks about situations and events involving real people (social actors)<br />

who present themselves to us as themselves in stories that convey a plausible proposal<br />

about, or perspective on, the lives, situations and events portrayed. The distinct<br />

point of view of the filmmaker shapes this story into a way of seeing the historical world<br />

directly rather than into a fictional allegory.” (Nichols 2010, 14).<br />

6<br />

Die sieben Prinzipien lauten: Spreadability vs. Drillability; Continuity vs. Multiplicity; Immersion vs.<br />

Extractability; Worldbuilding; Seriality; Subjectivity; Performance. Sie werden in den später<br />

ausführenden Kapiteln (s. Kap. 6 – 9) aufgegriffen. Für weitere Informationen: @10 und @19.<br />

7


Daran anknüpfend sollen an späterer Stelle die damit verbundenen relevanten Merkmale<br />

herausgestellt werden, welche das Wesen des Dokumentarfilmes ausmachen (s. Kap. 2).<br />

In Hinblick auf das erzählerische Potenzial des Dokumentarfilmes ist es wichtig, zu<br />

verstehen, dass „wie Spielfilme auch erfolgreiche Dokumentarfilme eine gute Geschichte<br />

[erzählen], ansprechende Figuren, erzählerische Spannung und einen Standpunkt [haben].<br />

Dies sind die Grundelemente für alle Geschichten, seien es Mythen, Legenden, Sagen oder<br />

Volkserzählungen […].“ (Rabiger 2008, 15; Umst. d. V.).<br />

Aufgrund dieses erzählerischen Potenzials können auf diese Weise möglichst allgemeingültige<br />

Feststellungen getroffen werden, welche unter Berücksichtigung spezifischer<br />

Eigenheiten auch auf abgeleitete Sub-Genres und Formate übertragen werden könnten. 7<br />

Aus dem bekundeten Vorhaben sowie den vorhergehenden Erläuterungen und thematischen<br />

Eingrenzungen ergeben sich organisch die folgenden zentralen Kernfragen die in<br />

der vorliegenden Arbeit diskutiert werden:<br />

Aus welchen gestalterischen Bestandteilen setzt sich dokumentar-filmische Erzählung<br />

zusammen?<br />

Wie funktioniert die narrative transmediale Erweiterung einer dokumentarfilmischen<br />

Erzählung?<br />

Welche Wechselwirkungen treten dabei zwischen der Gestaltung eines Dokumentarfilmes<br />

und den Methoden zur erzählerischen transmedialen Erweiterung auf?<br />

1.5 Zielsetzung und Vorgehensweise<br />

Durch die Beantwortung der eben aufgestellten zentralen Fragen kann umfassend nachvollzogen<br />

werden, wie sich die transmediale Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung<br />

vollzieht.<br />

Ziel dieser Arbeit ist es daher, anhand der beantworteten Kernfragen und in Anlehnung<br />

an bestehende Diskurse, ein narratives Gestaltungsmodell zu erarbeiten, das die<br />

transmediale Erweiterung existierender dokumentar-filmischer Erzählung darstellt. Hierbei<br />

sollen relevante gestalterische Zusammenhänge zwischen der Erzählung eines Dokumentarfilmes<br />

und ihrer <strong>Transmedia</strong>lisierung aufgezeigt werden.<br />

Aus der Fragestellung und Zielsetzung ergibt sich der Aufbau der vorliegenden Arbeit.<br />

Als Vorrausetzung für die Auseinandersetzung mit transmedialer Narration und ihren Erweiterungsmöglichkeiten<br />

der dokumentar-filmischen Erzählung muss zuvor eine genaue<br />

7<br />

So werden beispielsweise TV-Dokumentationen, Reportagen oder Tierfilme – als einzelne Werke<br />

oder in Form von Serien – in den nachfolgenden Ausführungen implizit mit einbezogen, obgleich<br />

explizit nicht auf ihre speziellen Eigenschaften und Eigenheiten eingegangen wird.<br />

8


Erörterung des Dokumentarfilms durchgeführt werden, um an einzelnen Komponenten der<br />

Dokumentarfilm-Gestaltung anknüpfen zu können. Es werden deswegen zwei kapitelübergreifende<br />

Groß-Komplexe behandelt. In einem ersten Schritt (Kap. 2 – 5) wird untersucht,<br />

was den non-fiktionalen Film und seine Gestaltung ausmacht. Der Dokumentarfilm wird<br />

hierbei analytisch in seine gestalterischen Einzelkomponenten zerlegt. Durch diese Aufschlüsselung<br />

wird offengelegt, auf welchen Ebenen ein faktualer Film entsteht.<br />

Die hierdurch transparent gemachten Gestaltungskomponenten bieten die notwendigen<br />

Anknüpfungspunkte für den zweiten Schritt (Kap. 6 – 9). In diesem Groß-Komplex<br />

werden die relevanten Eigenschaften der transmedialen Narration erörtert und damit einhergehend<br />

eine transmediale Erweiterung des Dokumentarfilms nachvollzogen werden. Die<br />

dabei entstehende Verflechtung von dokumentar-filmischer Erzählung und den Konzepten<br />

transmedialer Narration werden aufgezeigt und in einen Gesamtkontext gestellt.<br />

Um dieses Vorhaben zu erreichen, bedarf es einer klar strukturierten und sukzessiven<br />

Vorgehensweise. Dazu werden in Kapitel 2 zuerst die wesentlichen Merkmale des Dokumentarfilmes<br />

anhand des filmwissenschaftlichen Diskurses dargelegt. Auch soll aufgeschlüsselt<br />

werden, auf welchen Gestaltungsebenen sich der dokumentar-filmische Prozess<br />

vollzieht und aus welchen Elementen diese Ebenen bestehen. Es soll versucht werden, dem<br />

Leser einen prägnanten Überblick über die wesentlichen Elemente der dokumentarischen<br />

Gestaltung zu geben. An diese einleitende Übersicht anknüpfend, erfolgt in den nachfolgenden<br />

drei Kapiteln die Argumentation der aufgestellten These.<br />

In Kapitel 3 wird daher die Ebene der Regie genauer erläutert. Anhand des spezifischen<br />

filmwissenschaftlichen Diskurses soll für den Leser aufgeschlüsselt werden, welche<br />

abstrakten Prozesse auf dieser Ebene ablaufen und welche elementare Bedeutung diese für<br />

den gesamten kreativen Produktionsablauf eines Dokumentarfilmes haben.<br />

Kapitel 4 widmet sich der Herleitung sowohl der konzeptionellen sowie auch narrativen<br />

Aspekte und den Arbeitsschritten, die ein Dokumentarist bedenken und durchführen<br />

muss, um eine dokumentar-filmische Erzählung konstituieren zu können. Dem Leser wird<br />

dadurch der komplexe Vorgang des Geschichtenerzählens im Kontext des Dokumentarfilmes<br />

aufgezeigt werden. Diese Ebene soll anhand des aktuellen (film-) narratologischen<br />

Forschungsstandes dargelegt werden. Hierzu werden auch praxisnahe und filmwissenschaftliche<br />

Erkenntnisse und Erfahrungen mit einbezogen werden.<br />

Im folgenden Kapitel 5 wird die praktische und formal-kinematografische Gestaltung<br />

eines Dokumentarfilmes analysiert, um verstehen zu können, wie sich letztlich die dokumentar-filmische<br />

Erzählung audiovisuell ausdrücken kann.<br />

9


Im anschließenden Kapitel 6 soll die zweite Säule der Arbeit, die <strong>Transmedia</strong>lität begrifflich<br />

fassbar gemacht und eingeordnet werden. Beginnend mit einer definitorischen<br />

Unterscheidung soll sogleich auch ihr inhärentes Narrations-Potenzial dargelegt und auf<br />

allgemeine Anknüpfungspunkte an die dokumentarische Narration untersucht werden. Es<br />

ist wichtig den Begriff „Einbettung“ zu verstehen und in welcher Konstellation der Dokumentarfilm<br />

in einer transmedialen Erzählung am geeignetsten funktionieren kann.<br />

Aufbauend auf den zuvor bereits erarbeiteten Erkenntnissen soll in Kapitel 7 die<br />

transmediale Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung nachzuvollziehen. Hierzu<br />

werden vor allem jüngste medientheoretische Erkenntnisse auf diesem Gebiet als Basis<br />

verwendet. Dabei soll der Fokus des Kapitels vornehmlich auf den zu berücksichtigen Konzepten<br />

für die Dokumentarfilmgestaltung liegen. Dieser erkenntnisorientierte Prozess wird<br />

dann in Kapitel 8 fortgeführt. Hier soll die <strong>Transmedia</strong>lisierung theoretisch durchdrungen<br />

werden.<br />

In Kapitel 9 werden dann Auswirkungen der transmedialen Erweiterung auf den Zuschauer<br />

angestellt. Es kann unterstellt werden, dass der Transfer eines Dokumentarfilms in<br />

eine narrative medienkonvergente Blase zwangsläufig auch eine Veränderung der Position<br />

und des Handlungsrahmens des Rezipienten mit sich bringt.<br />

Abschließend soll Kapitel 10 einen übersichtlichen Rückblick gewähren und die wichtigsten<br />

Schlussfolgerungen aufbereiten.<br />

10


2 Das Wesen des Dokumentarfilms<br />

2.1 Repräsentanten der Wirklichkeit<br />

Seit seiner Entstehung vor mehr als 80 Jahren ringen Filmschaffende und Filmwissenschaftler<br />

um eine hinreichende Definition des Dokumentarfilms. Ausgehend von der grundlegenden<br />

Unterscheidung zwischen Non-Fiktion (im Folgenden auch faktual genannt) und Fiktion<br />

in der Filmwissenschaft, kann der Dokumentarfilm samt seiner Sub-Genres grundlegend als<br />

eine non-fiktionale Filmgattung angesehen werden (vgl. Borstnar et. al. 2008, 39). Die ihr<br />

zugehörigen Filme stellen die „actual historical world“ (Nichols 2010, 69; im Folgenden historisch<br />

reale Welt) statt einer erfundenen Welt dar. Diese „creative treatment of actuality"<br />

(Grierson zit. n. Nichols 2010, 12) impliziert sogleich den Anspruch, dem Zuschauer eine<br />

möglichst authentische Darstellung der von der Kamera festgehaltenen Realität wieder zu<br />

geben. Somit wird die Authentizität der dargestellten Wirklichkeit in Dokumentarfilmen zur<br />

wesentlichen Kerneigenschaft erhoben, welche das Vertrauen des Zuschauers – glaubwürdige<br />

Zusammenhänge der realen Welt gezeigt zu bekommen – wertschätzend bestätigen<br />

(vgl. Schadt 2012, 18-20).<br />

Jedoch liegt genau hier das scheinbar unlösbare definitorische Problem des ganzen<br />

Genres: Die künstlerische Aufbereitung einer vom Dokumentaristen erfassten Wirklichkeit<br />

schließt bereits eine lange Verkettung von Selektions- und Gewichtungsprozessen nach<br />

höchst persönlichen Kriterien ein, die jede dargestellte Welt im Dokumentarfilm stets als<br />

subjektiv gefilterte Wirklichkeit ausweisen. Marten (@1) beschreibt sehr zutreffend:<br />

„[…] dass ein [Dokumentar-]Film das Produkt einer Gestaltung ist und dass die Realität<br />

gefiltert als die subjektive Sicht der Filmemacher auf die Welt präsentiert wird. Während<br />

der dokumentarischen Dreharbeiten wird mehr oder weniger immer gestaltet. Entweder<br />

eine Situation wird vorgefunden und still beobachtet - oder die Filmemacher greifen beispielsweise<br />

die Protagonisten befragend - in die Situation ein. Oder eine Situation wird<br />

arrangiert oder sogar (nach)inszeniert. Auch der Bildausschnitt wird gestaltet. Einiges<br />

wird gezeigt und anderes nicht. Und spätestens in der Montage kann gar nichts mehr<br />

nicht gewählt werden. Jetzt muss alles ausgewählt oder weggelassen werden. Kurz, über<br />

alles wird entschieden. Der Film ist ein durchgestalteter Text." (Ausl. u. Anm. d. V.). 8<br />

So gleicht die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit durch den Dokumentaristen<br />

immer einem subjektiven Blick auf ein kleines Stück erlebter Wirklichkeit,<br />

welches er dem Zuschauer in aufbereitet Form eines „wirklichkeitsabbildende[n] Medien-<br />

8<br />

Eitzen (1998, 15) beschrieb ebenfalls pointierend die Omnipräsenz der Subjektivität: "Im Grunde<br />

ist jede Darstellung der Wirklichkeit ein künstliches Konstrukt und von daher Fiktion – ein<br />

selektiver und voreingenommener Blick auf die Welt, der daher unvermeidlich einen subjektiven<br />

Standpunkt wiedergibt. Selbst unsere 'unmittelbaren' Wahrnehmungen der Welt sind<br />

unweigerlich von unseren Überzeugungen, Annahmen, Absichten und Wünschen gefärbt."<br />

11


produkt[es]“ (Borstnar et. al. 2008, 41; Erg. d. V.) zur Verfügung stellt. 9 Oder mit Schadts<br />

(2012, 25) Worten: „Dokumentarfilm ist Film“. So soll für diese Arbeit gelten: Spielfilm ist<br />

Fiktion die mal mehr mal weniger als Allegorie der Wirklichkeit verstanden werden kann,<br />

Dokumentarfilm stellt ein subjektiv erzeugtes Abbild der Wirklichkeit dar. Borstnar et. al.<br />

(2008, 44) verdeutlicht diesen Grundsatz an einem der ersten Dokumentarfilme in der Geschichte:<br />

„Auch Robert Flahertys NANOOK, DER ESKIMO (USA 1922), der erste abendfüllende Dokumentarfilm<br />

und damit ein Pionierwerk ersten Ranges, wartet mit einigen Manipulationen<br />

der ‚dokumentierten‘ Wirklichkeit auf: Falherty regte seine Protagonisten beispielsweise<br />

zur gefährlichen Seelöwen-Jagd an, die zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen längst nicht<br />

mehr Praxis der Inuit gewesen ist; das Portrait eines Eskimo-Alltags wird zur idealisierenden,<br />

von fremden Vorstellungen geprägten Idylle.“<br />

Für einen Dokumentarfilm, der nach ähnlichen Gestaltungsprinzipien wie ein fiktionaler<br />

Film erstellt wurde, ist es daher umso wichtiger, als Repräsentant der Wirklichkeit<br />

glaubwürdig zu sein, damit das von ihm Repräsentierte als authentisch und wahr anerkannt<br />

werden kann. Ansonsten würde seine wirklichkeitsspiegelnde Funktion ad absurdum geführt.<br />

In diesem Kontext kann man das oft zitierte Zitat von Ophüls (zit. n. Eitzen 1998, 13)<br />

nachvollziehen, der selbst Dokumentarist war und deshalb wohl sehr genau um den schmalen<br />

Grat der filmischen Wirklichkeit wusste:<br />

"Dokumentarfilme - oder wie immer ihre Regisseure sie bezeichnen wollen - sind nicht<br />

meine liebste Art von Kino. Ich traue den kleinen Halunken nicht über den Weg. Und ich<br />

traue den Motiven derer nicht die meinen, dass Dokumentarfilme Spielfilmen überlegen<br />

seien; die behaupten, dass Dokumentarfilme die Wahrheit gepachtet hätten. Ich traue ihrem<br />

überzogenen und völlig unverdienten Status bürgerlicher Wohlanständigkeit nicht."<br />

Es gilt festzuhalten, dass die stets vorhandene Subjektivität eines Dokumentaristen<br />

die Möglichkeit beinhaltet, dass er vermeintlich reale Zusammenhänge aufgrund seiner<br />

Wahrnehmung anders darstellt, als sie die Zuschauer mit ihren eigenen Wirklichkeitseindrücken<br />

erleben. Geschieht dies von Seiten der Filmschaffenden bewusst, kann es als Versuch<br />

gewertet werden, das Publikum manipulieren zu wollen. Natürlich kann dies auch<br />

aufgrund fahrlässiger Recherchearbeiten oder unzuverlässiger Quellen geschehen. 10 Letztlich<br />

empfiehlt es sich einem Dokumentaristen wertschätzend mit der Wirklichkeit in dem<br />

von ihm kontrollierten künstlerischen Schaffensprozess umzugehen, damit sie nach seinen<br />

9<br />

Im Sinne einer zielorientierten Herangehensweise an die Themenstellung dieser Arbeit soll in<br />

diesem Abschnitt eine aktuelle, prägnante Übersicht zum filmwissenschaftlichen Diskurs zur<br />

Definition des Dokumentarfilms geschaffen werden, darüber hinaus aber auf eine weiterführende<br />

medientheoretische Diskussion verzichtet werden.<br />

10 So wird dem finanziell erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten FAHRENHEIT 9/11 (USA, 2004)<br />

von seinen Kritikern vorgeworfen, durch oder gerade aufgrund einer ihm zugrundeliegenden,<br />

schlechten Recherchearbeit den Zuschauer bewusst zu manipulieren. Vgl. hierzu einen<br />

ausführlichen Beitrag von Eberts (@2).<br />

12


Maßstäben im fertigen Film als repräsentierte Wahrheit stellvertretend für das vormals<br />

dokumentierte Stück Welt stehen kann.<br />

2.2 Authentizitätssignale<br />

Diese Überlegung führt zu einer weiteren wichtigen Eigenschaft des Dokumentarfilms, die<br />

neben der inhaltlichen Wahrhaftigkeit für den Zuschauer relevant ist: Der Wirkung aller<br />

Aspekte der formalen, stilistischen und technischen Umsetzung, welche Borstnar et. al.<br />

(2008, 42) in ihrer Gesamtheit mit „Authentizitätssignalen“ gleichsetzt. 11 Sie ermöglichen es<br />

dem Publikum, ein dokumentarisches Format als solches zu erkennen und entsprechend<br />

einzuordnen. Im Hinblick auf die oftmals sichtbare Anwesenheit der Kamera bzw. eines<br />

Filmteams in einem dokumentarischen Genre, konstatiert er<br />

„ein Arsenal bestimmter Signale, die dem Zuschauer anzeigen, ein reales Ereignis vermittelt<br />

zu bekommen. Solche Authentizitätssignale machen in der Regel die Unterscheidung<br />

zwischen vermitteltem Inhalt und vermittelnder Form sichtbar: Sie führen dem Zuschauer<br />

ins Bewusstsein, eine mediale Rekonstruktion von Wirklichkeit zu sehen. 12 (ebd.).<br />

Obwohl diese Feststellung formale Aspekte der filmischen Gestaltung als wichtige,<br />

sogar notwendige Eigenschaften des Dokumentarfilms ausweist, führt sie sogleich in die<br />

nächste definitorische Falle. Gerade formale Stilmittel können leicht nachgeahmt werden,<br />

um auch fiktionale Inhalte darzustellen. Sie bieten die Möglichkeit, einen fiktionalen Film in<br />

Teilen oder gänzlich so zu gestalten, dass er in glaubwürdigem Maße suggeriert, ebenfalls<br />

eine dokumentierte Realität wiederzugeben, obwohl die dargestellte Wirklichkeit inszeniert<br />

wurde.<br />

Einen derart als Dokumentarfilm inszenierten Spielfilm nennt man auch Mockumentary<br />

(vgl. Sextro 2009, 45 ff.). Obwohl diese Hybridform einen unwissenden Zuschauer mit<br />

ihrer fiktiven Wirklichkeit potenziell täuschen kann, beginnt spätestens mit der jeweiligen<br />

Aufklärung 13 des Films und seinem vermeintlichen Anspruch auf Authentizität eine Wahrnehmungsveränderung<br />

hin zur adäquaten Einordnung des Gesehenen als Fiktion (vgl. Eitzen<br />

1998, 32). Daher sind es vor allem die vielen abgestuften Mischformen zwischen Dokumentarfilm<br />

und dokumentarisch anmutendem Spielfilm, durch die „der Dokumentarfilm<br />

11 Eitzen (1998, 36) nennt diese Signale "situative Hinweise". In dieser Arbeit soll aufgrund der<br />

treffenden Formulierung die Begrifflichkeit "Authentizitätssignale" benutzt werden.<br />

12 Borstnar et. al. (2008, 43) benennt diese Authentizitätssignale: „wackelnde Kamera; unscharfes<br />

Bild; unausgewogenes Licht; Bildsprünge (Jump Cuts, Achsensprünge) in der Montage; Figuren<br />

wenden sich an die Kamera; Redebeiträge vom Team (das sichtbar oder nicht sichtbar ist)."<br />

13 Die Aufklärung kann entweder durch den Film selbst oder externe Quelle vor oder nach der<br />

Rezeption erfolgen.<br />

13


seit seinen Anfängen von einem ‚Spiel mit der Wirklichkeit‘ beherrscht [wird], das mal offener,<br />

mal verdeckter zutage tritt.“ (Borstnar et. al. 2008, 42; Erg. d. V.).<br />

2.3 Der mündige Zuschauer<br />

Zur Kunst gehört daher immer auch die Suche nach einer Aussage sowie deren Interpretation,<br />

die jedoch allein vom Rezipienten ausgehen kann. So sehr sich ein Dokumentarist auch<br />

bemühen mag einen Sachverhalt wahrheitsgemäß künstlerisch wieder zugeben, letztlich<br />

obliegt es dem Zuschauer den Film einzuordnen, seine Aussagen herauszufiltern und zu<br />

interpretieren.<br />

Aufgrund gemachter Rezeptionserfahrungen mit verschiedenen Medien, in der etablierte<br />

inhaltliche wie formale Konventionen fiktionale von non-fiktionalen Filmen relativ klar<br />

unterscheidbar machen (vgl. Borstnar et. al. 2008, 43), könnte der Zuschauer erwarten,<br />

dass dargestellte Ereignisse in einem Dokumentarfilm mit der Wirklichkeit gleichzusetzen<br />

sind (vgl. Sextro 2009, 30).<br />

Damit einher geht ein Vertrauensvorschuss und eine Erwartungshaltung an den Dokumentarfilm,<br />

die Nichols (1991, 27) wie folgt beschreibt:<br />

„Our fundamental expectation of documentary is that its sounds and images bear indexical<br />

relation to the historical world. As viewers we expect that what occurred in front of<br />

the camera has undergone little or no modification in order to be recorded on film and<br />

magnetic tape.“<br />

Die von Nichols angeführte Erwartungshaltung des Zuschauers verleiht Dokumentaristen<br />

wie z.B. Schadt, die Motivation, ihre dokumentarische Arbeit der Wahrhaftigkeit zu<br />

verschreiben. Der postulierte „mündige“ Zuschauer erteilt also einen Auftrag, Wirklichkeit<br />

wahrheitsgemäß filmisch wiederzugeben, dem sich die meisten Dokumentaristen verpflichtet<br />

fühlen. Bei aller Subjektivität, künstlerischer Gestaltung und medialer Selektion können<br />

so Filme entstehen, welche aufgrund einer geteilten dokumentarischen Vision die historisch<br />

reale Welt sinn- und wahrheitsgemäß für ein Publikum darstellen.<br />

Mal werden ihre Zusammenhänge sehr unverfälscht wiedergegeben, mal etwas freier<br />

interpretiert. Doch da sich Dokumentaristen und Zuschauer auf eine Lesart von Dokumentarfilmen<br />

im Laufe seiner Geschichte implizit geeinigt haben, können diese Filme<br />

mehrheitlich adäquat rezipiert werden. Mit den pointierenden Worten von Schadt (2012,<br />

23) sollen für diese Arbeit die dargelegten Überlegungen zur definitorischen Eingrenzung<br />

der Filmgattung Dokumentarfilm abgeschlossen werden:<br />

„Ich will Realität so dokumentieren, dass sie authentisch und deshalb für den Zuschauer<br />

glaubwürdig erscheint. Aus Realität leitet sich Authentizität ab, aus dokumentierter Authentizität<br />

wiederum Glaubwürdigkeit. Und da fast alle Dokumentarfilmer glaubwürdig<br />

14


sein wollen, ist in dieser Aktionsfolge meiner Ansicht nach der eigentliche Auftrag festgeschrieben.<br />

[...] Der eigentliche Auftraggeber ist der Zuschauer. [...] Sein Auftrag lautet:<br />

Zeig mir ein Stück Realität in der Art, dass ich sowohl dir als auch deiner dokumentierten<br />

Realität glaube, oder noch besser: dass ich dir glaube und deshalb auch deiner dokumentierten<br />

Realität. Seinem geradezu naiven Glauben an das Dokumentarische als Abbild von<br />

etwas Realem fühle ich mich verbunden, verpflichtet. Deshalb unterwerfe ich alle Aspekte<br />

meiner Arbeit dem Ziel, am Ende glaubhaft zu sein, das mir entgegengebrachte Vertrauen<br />

nicht zu (ent-) täuschen.“ (Ausl. d. V.).<br />

2.4 Dokumentar-filmische Gestaltung<br />

2.4.1 Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion<br />

Ob mit oder ohne Kamera, alle Momente im Leben sind geprägt von Einzigartigkeit. Zwar<br />

wiederholen sich bestimmte Umstände oder Situationen sogar täglich, aber nie sind sie<br />

identisch, obgleich sie subjektiv als auswechselbar erlebt werden (vgl. Kuhn 2011, 229). So<br />

eröffnet sich auch dem Dokumentaristen jede Wirklichkeits-Konstellation, die er mit der<br />

Kamera dokumentieren möchte, als unverwechselbarer einmaliger Moment. Diese Einzigartigkeit<br />

der Wirklichkeit führt folglich dazu, dass auch jeder Dokumentarfilm als medialer<br />

Repräsentant jenes Weltausschnitts stets unter einmaligen Umständen vorbereitet, gedreht<br />

und fertiggestellt werden muss. Entsprechend dieser jeweils einmaligen Produktionsbedingungen<br />

können keine (verbindlichen) Gestaltungsregeln aufgestellt werden. Jede<br />

Wirklichkeit und so auch jeder Film bedarf einer individuellen Herangehensweise, welche je<br />

nach Thema und Motiv sogar von Projekt zu Projekt gegensätzlich gehandhabt werden<br />

können. Schadt (2012, 76) bringt die Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion wie folgt<br />

auf den Punkt:<br />

„Je mehr man über das Wesen des Dokumentarischen nachdenkt, desto schwieriger wird<br />

es, so etwas wie allgemein gültige (Spiel-) Regeln für dokumentarisches Arbeiten zu formulieren.<br />

Was soll gelten, wenn richtige Bilder falsch und falsche Bilder richtig sein können,<br />

wenn keine Wahrheit verbindlich, aber alle Wirklichkeiten möglich sind, wenn Widersprüchliches<br />

wie Distanz und Nähe gleichermaßen benötigt werden, und darüber hinaus<br />

keine formalen Verbindlichkeiten oder Identifikationen mehr existieren, wenn gleiche<br />

formale Kriterien für gegensätzliche Inhalte stehen können?“.<br />

Doch können nach Rabiger (2008, 60 ff.) zumindest grundlegende Gestaltungselemente<br />

bzw. Prinzipien abgeleitet und erörtert werden, die häufig bei der Dokumentarfilm-<br />

Produktion zum Einsatz kommen, sich bewährt haben oder sogar einer gewissen „Schule“<br />

oder Stilart zugeordnet werden können. Diese werden in den Kapiteln 3, 4 und 5 dargelegt.<br />

15


2.4.2 Identifizierte Ebenen der dokumentar-filmischen Gestaltung<br />

„Beim Filmemachen ereignen sich in jeder Phase immer mehrere Dinge gleichzeitig, finden<br />

ständig auf parallelen Ebenen Prozesse statt, die von den Beteiligten teils bewusst<br />

teils unbewusst wahrgenommen oder ausgeführt werden. […] Die Aufgabe des Regisseurs<br />

besteht darin, sein Handwerk auf all diesen unterschiedlichen Ebenen gleich gekonnt<br />

auszuführen, sich als verantwortlicher Katalysator und Zentrum des Ganzen zu begreifen,<br />

um das komplexe und sensible Unternehmen Film steuern zu können. Dabei sollte<br />

er seine filmische Vision nie aus den Augen bzw. aus dem Sinn verlieren.“ (Schadt<br />

2012, 15; Ausl. d. V.).<br />

Schadt gelingt es mit dieser Feststellung, das Wesen der dokumentarischen Gestaltung<br />

auf den Punkt zu bringen. Obwohl er von „all diesen unterschiedlichen Ebenen“<br />

spricht, soll dem Begriff „Ebene“ im Rahmen dieser Arbeit eine übergeordnete Bedeutung<br />

in dreifacher Hinsicht zukommen: 14<br />

So gilt es in den nachfolgenden Kapiteln noch zu zeigen (s. Kap. 3, 4 u. 5), dass der<br />

dokumentarische Schaffensprozess in drei komplexe Gestaltungsebenen eingeteilt werden<br />

kann, die, wie Schadt feststellt, tendenziell parallel existieren. In diesen primären Gestaltungsräumen<br />

bewegt sich der Dokumentarist während des gesamten Produktionsprozesses<br />

und trifft ständig implizite oder explizite Entscheidungen. Die Ebenen sind miteinander<br />

stark verflochten und die auf ihnen getroffenen Entscheidungen beeinflussen bzw. bedingen<br />

sich teils gegenseitig. Die Qualität und Stärke ihrer Wechselwirkung hängt von vielen<br />

Faktoren ab, die der Dokumentarist in dem Stück Welt, welches er dokumentarisch darstellen<br />

möchte, vorfindet. Gleichwohl kann in diesem wechselwirkenden Beziehungsgeflecht<br />

eine Hierarchie der Ebenen festgestellt werden, die zum einen den Abstraktionsgrad (von<br />

hoch zu niedrig) als auch den Wirkungsgrad jeder Ebene (von global zu punktuell) berücksichtigt.<br />

Einer „dokumentarischen Bürde“ gleichend, obliegt es dem Dokumentaristen, die in<br />

der Welt vorgefundenen Zusammenhänge und Konstellationen im Sinne seines Filmprojektes<br />

zu ordnen, zu gewichten, Alternativen abzuwägen und letztlich entsprechend auf den<br />

drei Gestaltungsebenen auf sie zu reagieren. Mit dem dokumentarischen Auftrag im Hinterkopf<br />

gilt es also, der historisch realen Welt so angemessen wie möglich in jedem Gestaltungsraum<br />

zu begegnen und Entscheidungen zu treffen, die auf fundamentale Weise den<br />

finalen Dokumentarfilm prägen. Diese drei Ebenen sollen hier kurz skizziert werden, um sie<br />

in den nachfolgenden Kapiteln ausführlicher darzulegen:<br />

• Regie: Ein Dokumentarist übernimmt je nach Größe eines Projekts mehrere Rollen<br />

und Tätigkeiten während einer Produktion, ist aber immer in erster Linie Re-<br />

14 Auch kann sinngemäß von Gestaltungsräumen gesprochen werden.<br />

16


gisseur. Er hat in dieser Rolle bzw. auf dieser Ebene alle relevanten Faktoren die<br />

die Produktion betreffen, zu identifizieren, zu bewerten und entsprechend zu<br />

behandeln. Hierzu zählen neben konkreten Faktoren wie dem extern oder intern<br />

festgelegten Produktionsauftrag, einer strategisch-redaktionellen Erfassung des<br />

Themenfelds, auch weichere, vagere Faktoren, wie die innere Haltung des Filmemachers<br />

zum Thema und zu den Protagonisten. Ebenso wie die eben benannten<br />

Elemente muss er auch seinen subjektiven Einfluss auf die Wirklichkeit reflektieren.<br />

• Die konzeptionell-narrative Ebene: Hier bestimmt der Dokumentarist den Aufbau<br />

seiner Erzählung sowie deren dramaturgische Struktur. Dies bewerkstelligt er<br />

vor allem durch die Wahl der erzählerischen Perspektive und den entsprechenden<br />

Protagonisten. Diese Ebene besteht vor allem aus den Säulen der Konstitution,<br />

Perspektivierung und Strukturierung der Erzählung. Teilweise können diese<br />

Entscheidungen sogar erst nach dem eigentlichen Dreh in der Montage entschiedenen<br />

werden.<br />

• Die formal-kinematografische Ebene: Konkrete formale Aspekte der Filmgestaltung<br />

müssen auf dieser Ebene bestimmt werden. Hier manifestiert sich auch<br />

erstmals die filmische Erzählung, die auf den beiden anderen Ebenen geplant und<br />

konstruiert wurde. Das, was „hinter den Kulissen“ entschieden wurde, findet nun<br />

seinen Weg in den eigentlichen Film. Dabei wird außerhalb der filmischen Wirklichkeit<br />

(extradiegetisch) wie auch innerhalb der konkreten filmischen Erzählung<br />

(intradiegetisch) gestaltet.<br />

Jede dieser Ebenen besteht aus einer Vielzahl Ebenen-spezifischer Elemente, die ihrerseits<br />

eine Bandbreite an jeweils möglichen Ausprägungen aufweisen. Dabei können Elemente<br />

auch gleich mehrere Ausprägungen annehmen was bedeutet, dass ein einzelnes<br />

Element in etlichen Varianten gleichzeitig zur dokumentarischen Gestaltung beitragen<br />

kann. 15 Die Bestimmung und handwerklich-fachliche Ausarbeitung dieser Element-<br />

Ausprägung stellt den eigentlichen Akt der Gestaltung dar. 16<br />

15 Betrachtet man beispielsweise die Kameraarbeit beim Dreh als Element, so kann diese für einen<br />

Protagonisten sehr ruhig und statisch ausfallen. Um den Charakter eines anderen Protagonisten<br />

zu unterstreichen, könnte sie eher hektisch und dynamisch ausfallen. Ein Element, die<br />

Kameraarbeit, kommt so in einem Film in zweifacher Ausprägung zum Einsatz.<br />

16 Je nach fachlicher Perspektive auf die Thematik der dokumentarischen Gestaltung werden<br />

gleichsam andere Terminologien, Definitionen und Abgrenzungen in Bezug auf die (dokumentar-)<br />

filmische Gestaltung verwendet. In dieser Arbeit soll eine möglichst prägnante Erörterung der<br />

dokumentarischen Gestaltung anhand der fachlichen Diskurse der betroffenen Themenfelder<br />

durchgeführt werden.<br />

17


Abbildung 1 stellt die drei primären Gestaltungsebenen samt ihrer Hauptbereiche dar<br />

und setzt sie sogleich in eine hierarchische Beziehung. Die Regie-Ebene durchdringt und<br />

umfasst alle weiteren Ebenen. Die konzeptionell-narrative Ebene bedingt die Wahl der eigentlichen<br />

kinematografischen Erzählmittel:<br />

Abbildung 1: Gestaltungsebenen des Dokumentarfilms. 17<br />

Besonders relevant für den dokumentarischen Kreationsprozess ist, dass die Elemente<br />

in Relation zu anderen Komponenten und Elementen anderer Ebenen stehen und sich,<br />

wie oben mit Bezug auf die Ebenen bereits erwähnt, untereinander beeinflussen bzw. bedingen.<br />

So definiert beispielsweise die Distanz oder Nähe des Dokumentaristen zu einem<br />

Protagonisten (Ebene Regie – Strategisch-redaktionelle Erfassung + Reflexion) größtenteils<br />

auch die Kameraarbeit (Formal-Kinematografische Ebene – intradiegetische Erzählmittel),<br />

ist aber gleichzeitig auch ein Element welches konzeptionell-narrativ erfasst und strukturiert<br />

werden kann (Konzeptionell-Narrative Ebene – Perspektivierung).<br />

Letztlich besteht jeder Dokumentarfilm aus einer einmaligen Konstellation bestimmter<br />

Ausprägungen und Gewichtungen der einzelnen Elemente dieser drei Gestaltungsebenen.<br />

Bei jedem Film werden vor dem Hintergrund der Umstände und Situationen alle Elemente<br />

durch den Dokumentaristen bewusst oder auch unbewusst beeinflusst. Dies ist der<br />

Grund für die Komplexität einer Dokumentarfilmproduktion. Alles will bedacht und gestaltet<br />

werden. Nicht umsonst kann der Dokumentarfilm auch als eine lange Verkettung von<br />

getroffenen Entscheidungen begriffen werden.<br />

17 Quelle: Verfasser dieser Arbeit<br />

18


3 Die Regie-Ebene<br />

Wie von Schadt (vgl. 2012, 15) bereits angeführt wurde, bildet die Regieführung das eigentliche<br />

Zentrum des komplexen Produktionsprozesses, aus dem ein (Dokumentar-) Film entsteht.<br />

Dabei muss aufgrund des speziellen Produktionsvorhabens, „echte“ Menschen in<br />

einem Stück Welt abbilden zu wollen, die Dokumentarfilmregie breiter gefasst werden als<br />

ihr, allgemein eher klassisch verstandenes Pendant, die Spielfilmregie. Die Regieführung bei<br />

fiktionalen Filmen kann nämlich frei von den diktierten Bedingungen der Wirklichkeit agieren.<br />

Beide Gattungen haben freilich gemein, einen Sachverhalt inszenatorisch darstellen zu<br />

wollen (vgl. Rabiger 2008, 103 f.). Die Regie beim Dokumentarfilm fußt vornehmlich auf vier<br />

Komponenten, welche maßgeblich alle weiteren Gestaltungsmöglichkeiten des Filmemachens<br />

beeinflussen.<br />

Die Regie bedingt die ihr untergeordneten primären Ebenen und schließt diese in ihren<br />

Wirkungsbereich mit ein (vgl. Abb. 1). Sie beinhaltet aber auch einige von anderen Gestaltungsbereichen<br />

klar differenzierbare Aspekte. Dies zeigen sowohl der Konsens des fachliterarischen<br />

Diskurses als auch eigens gemachte Erfahrungen des Verfassers. Auf der abstrakten,<br />

teils nur intuitiv-gedanklich bzw. emotional zu bewältigenden Ebene der Regie<br />

können daher vier Gestaltungskomponenten identifiziert werden, die wiederum in eine<br />

Vielzahl von Elementen aufgeteilt werden können, wie Abbildung 2 darstellt: 18<br />

Abbildung 2: Komponenten der abstrahierten Regie-Ebene. 19<br />

18 Gleichwohl besteht diese Einteilung nicht auf eine vollständige Abbildung sondern soll die<br />

wichtigsten Bereiche hervorheben.<br />

19 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

19


In Anbetracht der Fragestellung dieser Arbeit, soll dem Leser nachfolgend ausschließlich<br />

ein kompakter Überblick über die relevantesten Komponenten der Regiearbeit gegeben<br />

werden. Dies entspricht einer prägnanten Zusammenfassung der von verschiedenen Autoren,<br />

teils gleich und teils anders aufgefassten Aspekte der Regiearbeit.<br />

3.1.1 Auftrag und Vision<br />

Jedes neue Dokumentarfilm-Projekt erwächst aus einem Auftrag. Dieser kann sich der Dokumentarist<br />

selbst stellen, beispielsweise wenn er als freischaffender Produzent arbeitet.<br />

Der Auftrag kann aber auch – und das ist oftmals der Fall – extern entstehen. Durch die<br />

Arbeit mit Redaktionen oder Produktionsfirmen kann zum Beispiel an den Dokumentaristen<br />

mit einer Auftragsstellung herangetreten werden.<br />

20<br />

Auf dieser Basis bildet sich bei jedem Projekt eine dokumentarische Vision, die in Abhängigkeit<br />

zum (internen/ externen) Auftrag freier entstehen kann oder aber bereits enger<br />

vorgefasst wurde. Die Vision definiert bestimmte Anforderungen, die auf den nachfolgenden<br />

Ebenen umgesetzt werden. Die Vision des Filmemachers impliziert auch eine persönliche<br />

Erwartungshaltung, die sehr stark den motivatorischen Fokus des gesamten Projektes<br />

festlegt, wie Schadt (2012, 77) beschreibt:<br />

„Ich halte es für absolut notwendig, die zentrale Frage zu einem Filmprojekt, wenn möglich,<br />

gleich zu Beginn klar zu formulieren. Darin liegt eine wesentliche Überlebensstrategie,<br />

während einer Dokumentarfilmproduktion das Zentrum nicht aus den Augen zu verlieren.<br />

Was ist der Auftrag? Zum einen ist es das Thema in seiner äußeren Erscheinung<br />

[…]. [Es] ist das Motiv, der Raum, in dem ich mich bewege. Zum anderen ist es jedoch das<br />

Thema dahinter, die persönliche Motivation, die eigene, übergeordnete Fragestellung,<br />

die weit über das bloße Motiv hinausgeht.“ (Ausl. d. V.; Erg. d. V.).<br />

3.1.2 Haltung<br />

Mit der Vision und der zentralen Frage zu einem dokumentarisches Thema geht auch eine<br />

Grundhaltung des Dokumentaristen einher, die er gegenüber dem zu dokumentierenden<br />

Stück Welt, dessen Protagonisten, der vorgefundenen potenziellen Geschichte(n) und der<br />

darin verborgenden Wahrheit entwickelt (vgl. Abb. 2). Eine Grundhaltung bildet sich wie bei<br />

vielen Dingen im Leben oftmals erst unbewusst und intuitiv. Erst in einem zweiten Schritt<br />

der Reflexion wird sie bewusst. Schadt (2012, 76) sieht in der persönlichen Haltung des<br />

Dokumentaristen einen wesentlichen Ausgangspunkt für ein Projekt:<br />

„Was ist für einen Dokumentarfilmregisseur der Ausgangspunkt, der Ansatz und Einstieg<br />

in ein Projekt, wenn jeder Film eigene und von Film zu Film bisweilen ganz unterschiedliche,<br />

ja augenscheinlich widersprüchliche Mittel und Regeln benötigt, um als Produkt qualitativ<br />

erfolgreich sein zu können? Was ist der Ausgangspunkt für die passende, ein Filmprojekt<br />

umfassende Dramaturgie? Es ist die innere Haltung des Dokumentaristen zu seinem<br />

Thema, zu seinen Protagonisten, zu seiner filmischen Methode. Und die gilt es gleich


zu Beginn des Projektes so klar wie möglich zu entwickeln und zu formulieren. Ausgangspunkt<br />

aller formalen und inhaltlichen Überlegungen muss die Frage sein: Warum mache<br />

ich diesen Film, was ist mein – über das bloße Thema hinausragendes – Interesse? Und:<br />

Was ist der Auftrag, was das Ziel?“.<br />

Die Haltung eines Regisseurs zu seinem Thema ist nach Schadt also maßgebend für<br />

alle kreativen Schritte in einer Dokumentarfilmproduktion und konstituiert die eigentliche<br />

grundlegende Annäherung an die Wirklichkeit, welche mit dem Thema verbunden ist.<br />

Gleichzeitig weist Rabiger (2008, 17) darauf hin, dass der Dokumentarfilm ein „echtes soziales<br />

Kunstwerk“ sei, da die „Haltung eines Autors durch die Individuen, die den Film drehen<br />

[und] schneiden […] kollektiv erarbeite[t] [wird].“ (Umst. u. Ausl. d. V.).<br />

Es ist nachvollziehbar, dass eine (Grund-) Haltung im Sinne Schadts (2012) durchaus<br />

zu Beginn einer Produktion durch den Regisseur gefunden werden muss – alleine oder im<br />

Team –, um sich auf ein Thema einlassen zu können. Gleichzeitig ist jedoch auch anzunehmen,<br />

dass im Sinne Rabigers (2008, 242) diese Haltung im Laufe des Produktionsprozesses<br />

geschärft und flexibel ergänzt bzw. verändert werden kann. Die Kernhaltung wird jedoch<br />

nur in seltenen Fällen, z.B. bei der Erschließung gänzlich neuer Erkenntnisse, eine grundlegende<br />

Veränderung erfahren.<br />

3.1.3 Strategisch-redaktionelle Erfassung<br />

Im Gegensatz zu Vision und Haltung, welche beide zunächst intuitiv und teils unbewusst<br />

entstehen, findet die Regie in ihrer strategisch-redaktionellen Ausprägung einen durchaus<br />

bewusst bestimmbaren Gestaltungsraum, der sich stark durch rationale Planung und Überlegungen<br />

definiert. Ist ein Thema erfasst worden, muss eine Strategie entwickelt werden,<br />

wie sich diesem am besten zu nähern ist. Dabei sind nahezu immer mehrere Optionen gegeben,<br />

welche abgewogen und bewertet werden wollen. Vision und Haltung haben hier<br />

entscheidenden Einfluss auf die strategische Herangehensweise an ein Thema. Ausgehend<br />

von der Fragestellung kann aufgrund erster redaktioneller Arbeiten, aber auch spontaner<br />

inhaltlicher Schwerpunkte – einhergehend mit einer ersten Arbeitshypothese – herausgearbeitet<br />

werden, was die Thematik im Sinne des Dokumentaristen adäquat wiederspiegeln<br />

kann (vgl. Rabiger 2008, 214 und 242 ff.). Diese inhaltliche Annäherung an die gegebenen<br />

Wirklichkeitszusammenhänge mündet dann in der konkreten redaktionellen Recherchearbeit,<br />

in der Fragen nach Orten und Protagonisten, aber auch nach Zusammenhängen des<br />

betroffenen Ausschnitts der historisch realen Welt nach und nach beantwortet werden.<br />

Somit beginnt die konzeptionelle Erfassung des Themenkomplexes, die sich mit konkreten,<br />

bereits filmspezifischen Fragen auseinandersetzt (vgl. Rabiger 2008, 214 ff. sowie Schadt<br />

2012, 108 ff.). (s. Kap. 4).<br />

21


3.1.4 Reflexion<br />

Wie Vision und Haltung, entspricht auch die reflexive Wahrnehmung einem nur schwer<br />

rational fassbaren Bereich, der aber dennoch große Auswirkungen auf die restlichen Arbeitsbereiche<br />

hat. Bei Dokumentarfilmproduktionen gilt es ständig die Handlung des Teams<br />

sowie der Außenwelt wahrzunehmen und zu reflektieren. Mit seinem weit gefassten Begriffsverständnis<br />

der Dramaturgie behauptet Schadt (2012, 16), dass „zur Dramaturgie eines<br />

Dokumentarfilms weiterhin […] menschliche Verhaltensweisen [gehören].“ (Umst. u.<br />

Ausl. d. V.). Beispielsweise wirken sich zwischenmenschliche Aspekte in der Beziehung zu<br />

den Protagonisten stark auf das Verhältnis von Distanz und Nähe aus und beeinflussen in<br />

elementarer Weise das Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren, was sich merklich auf<br />

den eigentlichen Film auswirken kann (vgl. Schadt 2011, 57).<br />

Zudem wird auch die Rolle des Dokumentaristen samt seines Teams im Zusammenspiel<br />

mit den Protagonisten, vor allem in Hinsicht auf die Dreharbeiten beeinflusst. Die<br />

„Macht“ der Kamera muss mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein eingesetzt werden<br />

(vgl. Schadt 2012 42 ff.). Ferner muss sich der Dokumentarist mit seiner eigenen Subjektivität,<br />

dem Verhältnis von angetroffener Wirklichkeit und darzustellender Wahrheit<br />

sowie seiner inneren Haltung gegenüber der Thematik bewusst werden, um für die nachfolgenden<br />

Ebenen entsprechende Entscheidungen treffen zu können. Rabiger (2008, 21)<br />

beschreibt diese reflexive Wahrnehmungsfähigkeit der dokumentarischen Regiearbeit zusammenfassend<br />

wie folgt:<br />

„Gut Regie zu führen verlangt eine hoch entwickelt dreifache Bewusstwerdung.<br />

Sie müssen kritisch in Betracht ziehen:<br />

• alle Aspekte der Welt, die Sie filmen.<br />

• wie sich Ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle entwickeln während Sie diese<br />

Welt erkunden.<br />

• die besonderen Merkmale des Mediums mit dem Sie ihre eigene Reise durch die<br />

Welt wiedergeben wollen.“.<br />

Es bleibt festzustellen, dass die Regieführung zwar „kein mystischer Vorgang“ (Rabiger<br />

2008, 20) ist, aber dennoch in weiten Teilen einer handwerklichen Arbeit „aus einer<br />

intuitiven Wahrnehmung heraus [gleicht], die in Wirklichkeit ein Prozess verinnerlichter<br />

Logik ist.“ (ebd.; Erg. d. V.). Reflexion, die Fähigkeit aus Distanz kritisch die eigene Haltung<br />

und das eigene Handeln sowie die Bezehiehungsverhältnisse und die Sinnhaftigkeit von<br />

getroffenen Entscheidungen im Produktionsprozess betrachten zu können, stellt hierbei<br />

unbestritten eine wichtige Kernkompetenz dar. Um der Welt einen Spiegel vorhalten zu<br />

können, ist es essentiell, sie und sich selbst in ihr richtig einordnen zu können.<br />

22


4 Die konzeptionell-narrative Ebene<br />

4.1 Erzählung im Dokumentarfilm<br />

4.1.1 Die Natur der filmischen Erzählweise<br />

Durchgehend beeinflusst durch die Ausprägung der sozio-empathisch reflexiven Komponenten<br />

der vorhergehend erörterten Regie-Ebene werden auf der konzeptionell-narrativen<br />

Ebene alle Entscheidungen hinsichtlich der eigentlichen dokumentarischen Erzählung getroffen.<br />

Auf der konzeptionell-narrativen Ebene geht es darum, den inhärenten wirklichkeitsspezifischen<br />

Inhalt eines Themas bzw. einer Fragestellung in Form von „Ereignis[sen],<br />

Akteur[en], Zeit und Raum“ (Grassl 2007, 66; Erg. d. V.) in verdichtend-erzählerischer Weise<br />

mit den narrativen Möglichkeiten des Mediums Dokumentarfilm strukturell zu ordnen und<br />

aufzubereiten. Die Wirklichkeit medial abbilden zu wollen, bedeutet immer auch, von ihr zu<br />

erzählen oder noch konkreter, sie, die Wirklichkeit, zu erzählen. Mediale Darstellung impliziert<br />

immer die Erzählung einer gewissen Wirklichkeitskonstellation bewusst zu gestalten –<br />

und zwar hinsichtlich der medial-strukturellen Gegebenheiten des Mediums Film und der<br />

inhaltlichen Fokussierung.<br />

Die narrativen Gestaltungsmöglichkeiten des Dokumentarfilms sind dabei rahmengebend<br />

für den Dokumentaristen. Alles, was er seinem Zuschauer mitteilen möchte, muss<br />

in die konstitutive Gussform der filmischen Erzählweise gegossen werden. Grassl (2007, 48)<br />

schreibt dazu, dass „ein Film eine Realität nie so zeigen [kann], wie sie tatsächlich ist, sondern<br />

nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise welche dem Medium Film inhärent ist.“.<br />

Dem stimmt Lipp (2012, 40) zu, wenn er schreibt, „[…] dass die Art und Weise des Geschichtenerzählens,<br />

also die dabei zum Einsatz kommenden narrativen Strukturen, zu einem ganz<br />

erheblichen Teil durch die Art des Mediums selbst bestimmt werden.“ (Ausl. d. V.).<br />

Darüber hinaus muss bei der filmischen Erzählweise der Zusammenhang zwischen<br />

der Erzählung und der Geschichte beachtetet werden. Denn eine Geschichte wird erzählt<br />

und handelt von etwas. Diese narratologische Feststellung veranlasst Kuhn (2011, 65 ff.)<br />

dazu, das Erzählen an sich, in Ebenen zu unterteilen. Im Rahmen dieser Arbeit wird diese<br />

grundlegende Differenzierung immer wieder von entscheidender Bedeutung sein. In Anlehnung<br />

an Kuhn (ebd.) soll für den dokumentar-filmischen Bereich eine leicht modifizierte<br />

Unterteilung vorgenommen werden:<br />

23


• Die erzählte Welt: Sie stellt die erzählerische Rahmenwelt dar, in der die eigentliche<br />

Geschichte samt ihrer Protagonisten angesiedelt ist. Sie wird auch Diegese<br />

genannt. Sie entspricht einem Abbild unserer historisch realen Welt. Da im Dokumentarfilm<br />

immer nur bestimmte Zusammenhänge der omnipräsenten Wirklichkeit<br />

dargestellt werden, bezieht sich die Diegese in diesem Kontext auf die<br />

verfilmten Wirklichkeitszusammenhänge – ein Stück Welt oder einem Ausschnitt<br />

der Wirklichkeit – in die die Protagonisten und Ereignisse innerhalb ihrer Lebenswelt<br />

verortet werden.<br />

• Die Geschichte: Laufen Ereignisse innerhalb der Diegese in einer bestimmten<br />

chronologischen Reihenfolge ab und stehen sie in einer kausalen Beziehung zu<br />

einander, bedingen sie sich also, spricht man von einer Geschichte (entspricht<br />

dem Plot). Protagonisten sind in einzelne Ereignis-Ketten, in Handlungsstränge,<br />

maßgebend verflochten und stellen somit das Ensemble der Geschichte dar. Hier<br />

kann von einer einmaligen Verschränkung von realen Gegebenheiten gesprochen<br />

werden, die in ihrer Konstellation ein bestimmtes Stück der Welt definieren.<br />

• Die Erzählung: Erst durch die Erzählung wird die Geschichte, die innerhalb der<br />

Diegese existiert, dem Zuschauer vermittelt. Dabei stellt sie mehr dar, als eine<br />

bloße chronologische Rekonstruktion der Geschichte. Die Erzählung beinhaltet<br />

auch die konzeptionell-narrative Gestaltung sowie die zeitliche (Um-) Strukturierung<br />

der Geschichte. 20<br />

4.1.2 Konzeptionell-narrative Komponenten der filmischen Erzählweise<br />

Kuhn (2011, 367) hat im deutschsprachigen Raum ein umfassendes „filmnarratologisches<br />

Modell“ durch die Übertragung der anerkannten narratologischen Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft<br />

von Genette auf das Medium des „narrativen Films“ 21 erarbeitet. Auf der<br />

20 Kuhn (2011, 66) unterscheidet außerdem noch zwischen Erzählung und Narration. Mit letzterer<br />

meint er die Präsentation einer Erzählung durch „bestimmte Sprachen, Medien […] und<br />

Darstellungsverfahren“ (Ausl. d. V.). Im Rahmen dieser Arbeit soll diese zusätzliche<br />

Unterscheidung zwischen Erzählung und Narration nicht getroffen werden, da sich zumeist auf die<br />

spezifische Erzählweise des Mediums Film, wie oben erörtert, bezogen wird.<br />

21 Obwohl Kuhn sein filmnarratologisches Modell vornehmlich auf fiktionale Filme anwendet<br />

schreibt er (2011, 69): „Grundsätzlich gilt: Das narratologische Modell der vorliegenden Arbeit<br />

[die Arbeit Kuhns] lässt sich auf sämtliche filmische Werke anwenden, die weitgehend oder in<br />

Teilen narrativ sind bzw. der weiten und engen Definition der Narrativität genügen, unabhängig<br />

vom Dispositiv und unabhängig davon, ob sie durch immanente oder kontextuelle Merkmale als<br />

fiktional oder faktual gekennzeichnet sind. Es ist für die Analyse eines Films nicht irrelevant, ob er<br />

fiktional oder faktual ist, aber unter der Annahme bestimmter Grundprämissen kann auch ein<br />

faktuales Werk mit narratologischen Kategorien untersucht werden, die anhand fiktionaler Werke<br />

entwickelt worden sind.“. (Anm. d. V.).<br />

24


konzeptionell-narrativen Ebene spricht er von drei fundamentalen Komponenten: der<br />

Stimme, dem Modus und der Zeit. Kuhn (2011, 72) erklärt:<br />

„Unter dem Aspekt der Stimme modelliert Genette Instanzen-, Ebenen- und Beziehungsfragen<br />

(Zeit der Narration, narrative Ebene, Person), d.h. die ‚narrative Situation oder Instanz‘<br />

im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich<br />

hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat, unter Modus Perspektiv- und Informationsvermittlungsfragen<br />

sowie Aspekte der Redewiedergabe (Fokalisierung, Distanz) und<br />

unter Zeit verschiedene Aspekte der Zeitgestaltung (Ordnung, Dauer, Frequenz).“.<br />

Denn „um das Zusammenwirken der unterschiedlichen Erzählebenen im Dokumentarfilm<br />

zu erfassen und die komplexen Beziehungen der narrativen Ebenen zu verstehen, ist es<br />

notwendig, einzelne Elemente des zusammenhängenden narrativen Gefüges, die in einer<br />

Erzählung gleichzeitig wirken, zu separieren und in Kategorien einzuteilen.“ (Grassl 2007,<br />

73). Den nachfolgenden Erörterungen sollen diese drei von Kuhn dargelegten Komponenten<br />

(Stimme (Konstitution), Modus (Perspektivierung), Zeit (Strukturierung)) zum einen als<br />

Begriffe zu Grunde liegen. Zum anderen soll auf diese im Hinblick auf eine Verortung relevanter<br />

Aspekte im Dokumentarfilm in einem adäquaten Detailgrad eingegangen werden.<br />

Abbildung 3 gibt eine Übersicht über die drei Komponenten dieser Ebene, samt den wichtigsten<br />

Gestaltungselementen:<br />

4.2 Konstitution der Erzählung<br />

Abbildung 3: Komponenten der konzeptionell-narrativen Ebene. 22<br />

4.2.1 Diegetische Erzählebenen<br />

In Bezug auf die Erkenntnisse der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung kann ein erzählendes<br />

Werk, wie beispielsweise ein Roman oder aber auch ein Film, in mehrere Kom-<br />

22 Quelle: Verfasser dieser Arbeit mit Bezug auf das filmnarratologische Modell von Kuhn (2011).<br />

25


munikationsebenen oder auch Erzählebenen aufgeteilt werden. Diese Erkenntnisse sind im<br />

Dokumentarfilmbereich relevant, da besonders in dieser Filmgattung oftmals parallel auf<br />

mehreren Erzählebenen eine Geschichte wiedergegeben wird. So unterscheidet man in der<br />

Erzähltheorie grundlegend:<br />

• Extradiegetische Erzählebene: Betrifft innerhalb der Erzählung alles, was außerhalb<br />

der filmischen Welt liegt, die in einem Dokumentarfilm dargestellt wird. Also<br />

„Kommentarstimme, Untermalungsmusik, Titel, Grafiken, Fremdmaterial (z.B.<br />

Archivbilder) und Effekte, die vom Kameraverhalten, der Tonbearbeitung und der<br />

Montage herrühren.“ (Kiener 1999, 238). Dennoch liegt auch alles Extradiegetische<br />

innerhalb des narrativen Werkes und ist demnach Werks-intern zu verorten.<br />

• Intradiegetische Erzählebene: Betrifft alles, was tatsächlicher Bestandteil der<br />

Diegese, also der erzählten Welt, ist. „Die Ebene [besteht] aus den Elementen<br />

Bildinhalt und Originalton (Dinge und Sachverhalte, auf die Kamera und Mikrophon<br />

gerichtet werden).“ (ebd.). Dies ist im Regelfall die Ebene, auf der die Erzählung<br />

in Form der filmischen Handlungen stattfindet. Auch diese Ebene ist als<br />

Werks-intern anzusehen.<br />

• Metadiegetische Erzählebene: Betrifft eine erzählte Welt in der eigentlichen dokumentarisch<br />

abgebildeten Welt. „Die Metadiegese ist eine durch eine oder<br />

mehrere (intra)diegetische Instanz(en) eröffnete ‚Diegese innerhalb der Diegese‘;<br />

[…].“ (Kuhn 2011, 103; Ausl. d. V.). Im einfachsten Fall handelt es sich zum Beispiel<br />

um einen Film im Film.<br />

Filmemacher konstituieren die dokumentar-filmische Erzählung hauptsächlich auf den<br />

extradiegetischen und intradiegetischen Ebenen – in Ausnahmen auch auf der metadiegetischen<br />

Ebene. Auf diesen Ebenen wird die gefilmte Wirklichkeit dargestellt und dem Zuschauer<br />

unidirektional kommuniziert. Hier laufen tatsächlich alle Erzählprozesse eines Dokumentarfilms<br />

durch die jeweils angesiedelten Erzählinstanzen ab. Grundsätzlich kann vorausgesetzt<br />

werden, dass jede Erzählung über diese Ebenen-Schachtelung verfügt und<br />

durch sie eine einmalige erzählerische Struktur erhält.<br />

Aus narratologischer Sicht wird grundsätzlich angenommen, dass ein Erzähler auf<br />

diesen Erzählebenen als vermittelnde Instanz zwischen Zuschauer und Geschichte agiert. Er<br />

berichtet, erzählt also einem postulierten Adressaten von Ereignissen innerhalb der Diegese,<br />

die wiederum im dokumentar-filmischen Bereich von der Wirklichkeit abstammen. Der<br />

Erzähler fungiert als alles kontrollierender Gestalter dieser Erzählung. Denn „dem filmischen<br />

Medium [ist] prinzipiell eine diegetische Erzählerrede gegeben.“ (Kiener 1999, 176;<br />

26


Umst. d. V.), und somit „[bedingt] die narrative Form [des Films] die Position eines Erzählers.“<br />

(Kiener 1999, 149; Umst. d. V.; Erg. d. V.).<br />

Das non-fiktionale Wesen der Erzählung im Dokumentarfilm bedingt, dass der reale<br />

Autor/ Regisseur des Films der narrativen Instanz des Erzählers gleichzusetzen ist, der immer<br />

eine filmische Erzählungssituation durch seine Autorenschaft initiiert und kontrolliert.<br />

Jedoch lässt er in bewusstem Maßen auch andere Akteure (innerhalb der Diegese) zu Wort<br />

kommen. Ein Dokumentarist nimmt also immer die Position des vermittelnden initiierenden<br />

Erzählers (im Folgenden initiierender Erzähler genannt) ein. Denn er erzählt auf seine individuelle<br />

Weise von Geschehnissen und Ereignissen der Welt, und „[übernimmt] die volle<br />

Verantwortung für die Behauptungen seiner Erzählung und [billigt] infolge dessen keinem<br />

[impliziten] Erzähler irgendeine Autonomie zu.“ (Genette zit. n. Kiener 1999, 175; „implizit“<br />

kann hier als diegetisch verstanden werden).<br />

Akteure entsprechen diegetischen Erzählern und können Protagonisten gleichgesetzt<br />

werden (z.B. Personen im Interview, Voice-Over-Kommentare etc.). Ihre Erzählung innerhalb<br />

des Films entspricht der von Kiener oben erwähnten „diegetischen Erzählrede“. Das<br />

bedeutet zusammengefasst: Der initiierende Erzähler bedient sich für seine Erzählung den<br />

intra- und extradiegetischen Mitteln der formal-kinematografischen Ebene, auf denen unter<br />

anderem auch Protagonisten zu Wort kommen. Abbildung 4 fasst diese narratologischen<br />

Zusammenhänge für den Dokumentarfilm zusammen:<br />

Abbildung 4: Narrative Kommunikationsebenen im Dokumentarfilm. 23<br />

23 Quelle: Verfasser dieser Arbeit in Anlehnung an Kuhn (2011, 85, Abb. 7).<br />

27


4.2.2 Erzählinstanzen im Dokumentarfilm<br />

Unter Berücksichtigung der medienspezifischen Eigenheiten der Gattung Film konstatiert<br />

Kuhn eine audiovisuell narrative Erzählinstanz 24 sowie eine informierende fakultative (optionale)<br />

sprachliche Erzählinstanz (vgl. 2011, 84 – 86). Mit Blick auf den narrativen Spielfilm<br />

nennt Kuhn (vgl. 2011, 95) sie fakultativ, da eine sprachliche narrative Instanz nicht notwendiger<br />

Weise im Film vorkommen muss. So konstatiert er (2011, 95): „Im Film kann ohne<br />

Sprache erzählt werden. So gibt es Stummfilme, die mit wenigen oder keinen Schrifttafeln<br />

auskommen. Bezüglich des Kommunikationsmodells wären das Filme, in denen es einzig<br />

eine visuelle Erzählinstanz (kurz VEI) auf extradiegetischer Ebene gibt.“. Die sprachliche<br />

Erzählinstanz gewinnt im Dokumentarfilm im Gegensatz zum Spielfilm jedoch eine besonders<br />

wichtige Stellung<br />

Kuhn (2011, 95 f.) sieht in dieser fakultativ sprachlichen Erzählinstanz sprachliche<br />

Kommunikation, welche sowohl schriftlicher als auch verbaler Natur sein kann.<br />

„Von einer sprachlichen Erzählinstanz (SEI) im Film kann man immer dann sprechen,<br />

wenn auf irgendeine Weise sprachlich mindestens eine Minimalgeschichte erzählt<br />

wird. Das heißt, sprachliches Erzählen ist im Film fakultativ, während visuelles bzw.<br />

kinematographisches Erzählen den narrativen Film notwendig erst als solchen hervorbringt<br />

und definiert, sofern dabei eine Minimalgeschichte gezeigt wird.“<br />

Dies verhält sich im Dokumentarfilm anders. Zwar kann auch hier je nach Spielart ohne<br />

Kommentar oder Interview von einer Realität erzählt werden (z.B. im nonverbalen Dokumentarfilm<br />

wie BERLIN, DIE SINFONIE DER GROßSTADT (D, 1927), vgl. Lipp 2012, 63 ff.), jedoch<br />

sehen die überwiegenden Formen des Dokumentarfilms einen Sprecher, Interviews oder<br />

zumindest Texteinblendungen (usw.). vor (vgl. Lipp 2012). Um eine dokumentar-filmische<br />

Geschichte der historisch realen Welt zu erzählen, muss man dem Zuschauer durch verbalsprachlich<br />

verortete diegetische Erzählinstanzen Zusammenhänge näherbringen. So handelt<br />

es sich bei ihnen um ein quasi-fundamentales – jedoch nicht obligatorisches – Gestaltungsinstrument<br />

des Dokumentarfilms, dass dazu dient, dem Zuschauer – abgesehen vom<br />

nonverbalen Film – im üblichen Fall die dargestellten Wirklichkeitszusammenhänge näher<br />

zu erläutern, tieferes Verständnis zu bilden und vor allem auch Identifikationsmöglichkeiten<br />

zu bieten.<br />

So können bestimmte „stilistische Kennzeichen der dokumentarischen Form“ (Grassl<br />

2007, 75) im Umgang mit der Funktion und Rolle der verbal-sprachlichen Erzählung ausgemacht<br />

werden, „die es uns Zuschauern erlauben, schon noch [!] wenigen Sekunden, sozu-<br />

24 Die audiovisuelle narrative Erzählinstanz wird in Kapitel 5 ausführlich erörtert, da sie als<br />

audiovisuelle Komponente in der formal-kinematografischen Ebene aufgeht (s. Kap. 5.1).<br />

28


sagen auf den ersten Blick, einen Dokumentarfilm als solchen zu erkennen.“ (Kiener 1999,<br />

176). Hier handelt es sich also um wichtige Authentizitätssignale.<br />

Grassl (2007, 75) schlussfolgert, dass<br />

„die diegetische Erzählrede des Dokumentarfilms auf der Mittelbarkeit [beruht], d.h. sie<br />

wird von jemandem geäußert. Jede Darstellung einer Gegebenheit, eines Ereignisses in<br />

Form einer Geschichte braucht einen Erzähler. So auch die Darstellung mittels realer Bilder<br />

und Töne. […] Ein Erzähler nimmt dabei die Position des Vermittlers im Kommunikationsprozess<br />

[zwischen diegetischen Erzählern und Zuschauern] ein. Trotz diegetischem<br />

Charakter des filmischen Mediums gibt es viele Möglichkeiten, wie die Erzählfigur im Dokumentarfilm<br />

eingesetzt wird. Diese Situation bestimmt die Kommunikationssituation, in<br />

der Inhalte vermittelt bzw. erzählt werden.“ (Umst., Ausl. u. Anm. d. V.).<br />

Dies kann ein körperloser Kommentar als „Stimme Gottes“ sein oder aber Interviews mit<br />

Protagonisten vor der Kamera (vgl. Rabiger 2008, 66 f.). Viele Mischformen sind denkbar.<br />

Kiener (vgl. 1999, 238) schlüsselt auf, dass ein audiovisuell in Erscheinung tretender<br />

diegetischer Erzähler im Dokumentarfilm durch drei Eigenschaften in Relation zum Film<br />

verortet werden kann. Diese Kriterien entsprechen den wie von Kuhn (2011) bereits angeführten,<br />

Eigenschaften der von Genette postulierten narratologischen Analyseklasse Stimme:<br />

• Ebene: Ein extradiegetischer Erzähler konstruiert nur die Rahmenhandlung<br />

(durch Off-Kommentare), hinterlässt aber keine Spuren und nimmt keinen Einfluss<br />

in der Diegese selbst. Entsprechend als intradiegetisch wird er bezeichnet,<br />

wenn er als Akteur merklich audiovisuell in Erscheinung tritt (z.B. als Experte, Reporter<br />

oder Protagonist) und somit zum diegetischen Bestandteil der erzählten<br />

Welt wird. (vgl. Grassl 2007, 76).<br />

• Person: Der diegetische Erzähler kann homodiegetisch sein, d.h. er ist Bestandteil<br />

der erzählten Geschichte (z.B. ein Protagonist oder Zeitzeuge). Er kann aber auch<br />

heterodiegetisch sein und ist entsprechend in die erzählten Handlungen nicht integriert<br />

(z.B. Interview mit einem außenstehenden Experten).<br />

• Zeitverhältnis: Dieses Kriterium bezieht sich auf die zeitliche Stellung des Erzählers<br />

zu den Ereignissen der Geschichte, welche er in seiner Erzählung schildert.<br />

Das Zeitverhältnis kann jedoch vernachlässigt werden, denn das „filmische[…] Erzählen<br />

[ist] ohne zeitliche Markierungen möglich. So ist der häufigste Fall in der<br />

Erzählliteratur die spätere Narration im Präteritum, während dem Film eine Zeitlosigkeit<br />

eingeschrieben ist, die eine Tendenz zur gleichzeitigen Narration hat,<br />

zumindest so lange keine weiteren sprachlichen oder nicht-sprachlichen Markierungen<br />

auf einen anderen Typus verweisen.“ (Kuhn 2011, 243, Umst. u. Ausl. d.<br />

29


Verfassers). Der Erzähler bezieht sich im Dokumentarfilm immer auf vergangene<br />

oder gegenwärtige Ereignisse.<br />

Ausgehend von diesen filmnarratologischen Kriterien, die als einzelne Gestaltungselemente<br />

der konzeptionell-narrativen Ebene gelten können, kann ein Dokumentarist sich<br />

selbst, seine Protagonisten und andere Akteure im Film verorten bzw. als erzählende Instanzen<br />

positionieren. „Dadurch ist der Status des [diegetischen] Erzählers einerseits durch<br />

die Ebene festgelegt, auf der er sich befindet […], und weiteres [!] durch seine Beziehung<br />

zur Erzählrealität […].“ (Grassl 2007, 76; Ausl. u. Anm. d. V.). Dieser Status des/ der diegetischen<br />

Erzähler(s) wirkt sich direkt auf die Atmosphäre, Dramaturgie und auch auf das Identifikationspotenzial<br />

eines Dokumentarfilms aus.<br />

Es macht einen großen Unterschied -ob ein Dokumentarist in moderatorischexploratorischer<br />

Funktion durch einen Dokumentarfilm führt (wie z.B. Michael Moore in<br />

BOWLING FOR COLUMBINE (USA, 2002)) oder er sich eher zurückhaltend ausschließlich auf der<br />

extradiegetischen Ebene bewegt, wie in DER GROßE AUSVERKAUF (D, 2006) – und seine Protagonisten<br />

die Geschichte erzählen lässt. Auf kinematografischer Ebene ergeben sich durch<br />

diese konzeptionell-narrativen Überlegungen viele Möglichkeiten, verbal-sprachliche Erzählinstanzen<br />

im Dokumentarfilm einzusetzen.<br />

4.2.1 Dramaturgie als rhetorisches Mittel der Erzählung<br />

Eine Geschichte kann auf unterschiedliche Arten erzählt werden. Dabei gibt es eine Vielzahl<br />

von Ausprägungsformen und Möglichkeiten, wie im vorausgegangenen Kapitel bereits angebracht<br />

wurde. Doch aus Sicht der Rezipienten könnte man gewiss annehmen, dass es vor<br />

allem wichtig ist, dass eine Geschichte spannend und interessant ist.<br />

„Die Aufgabe der Dramaturgie ist einerseits die positive Lenkung des/der Zuschauerin,<br />

um ihn zu einem Punkt zu führen, wo Zusammenhänge und somit die Geschichte verstanden<br />

wird, und andererseits den/die Zuschauerin emotional an den Film zu binden.<br />

Oft hat man es mit einem nichtspezialisierten Publikum zu tun, das einen Dokumentarfilm<br />

mit einer Erwartungshaltung rezipiert, die sich aus einfachen Erzählstrukturen des<br />

Fernsehens und des Spielfilms gebildet hat. Die Herausforderung an den/die Filmemacherin<br />

besteht darin, eine langweilige Abfolge oder ein alltägliches Phänomen spannend<br />

zu gestalten, weshalb dramaturgische und ästhetische Fragen für den Dokumentarfilm<br />

umso bedeutender sind.“ (Grassl 2007, 87).<br />

Dramaturgie dient also dazu – vor allem im Dokumentarfilm – die beobachtete Wirklichkeit<br />

so aufzubereiten, dass Sie auf den Zuschauer attraktiv wirken und er dem Filmverlauf<br />

interessiert, im Idealfall gar gefesselt folgt. Möglichst soll das Publikum die beabsichtigten<br />

Aussagen und Gedankenanstößen aus einem Film im Sinne der Vision und Haltung des<br />

Dokumentaristen extrahieren. Dramaturgie kann als konzeptionell-narrative Technik zur<br />

30


Förderung eines immersiven Erlebnisses des Zuschauers verstanden werden. Je besser die<br />

dramaturgische Steigerung der filmischen Geschehnisse ist, desto höher Fällt der Grad der<br />

Immersion aus. Entsprechend stark ist der Rezipient auf den Filmverlauf fokussiert und<br />

kann sich auf die filmische Erzählung einlassen (vgl. Curtis u. Voss 2008, 11 ff.). 25<br />

Dem Dokumentaristen stehen zur Erzeugung dieser Rezeptionserlebnisse verschiedene<br />

erzählerische Strukturen zur Verfügung, welche sich im Laufe der Zeit bewährt haben.<br />

Beim Spielfilm wie auch beim Dokumentarfilm dient hierzu üblicher Weise die aristotelische<br />

Dramaturgie, deren Ursprünge bekanntlich über 2000 Jahre zurückreichen und die ursprünglich<br />

für die dramatische Darstellung im Theater entwickelt wurde (@1). Dabei folgt<br />

die aristotelische Form der Geschichtenpräsentation beim Spiel- wie Dokumentarfilm normalerweise<br />

der Drei- bzw. Fünf-Akt-Dramaturgie, die Hant verdeutlicht: „Die Grundstruktur<br />

jeder Geschichte ist einfach: Anfang, Mitte und Ende. Wir können diese drei Abschnitte<br />

auch als drei Akte bezeichnen…“ (Hant zit. n. Mangeot 2012, 39). Implizit setzt Rabiger<br />

(2008, 91) die Drei-Akt-Struktur für den Dokumentarfilm voraus, und erklärt sie wie folgt:<br />

„I. Akt Exposition: Die Figuren, ihre Beziehungen zueinander sowie die Situation und<br />

das Kernproblem der Hauptfigur(en) werden eingeführt.<br />

II. Akt Die Lage spitzt sich zu, während die Hauptfigur mit Hindernissen kämpft, die<br />

ihn davon abhalten, das Hauptproblem zu lösen.<br />

III. Akt Die Spannung steigert sich zum Höhepunkt, bis die Hauptfigur das Problem auf<br />

eine emotional befriedigende Weise löst.“<br />

Einhergehend mit dem Einsatz dramaturgischer Strukturen müssen auch entsprechende<br />

zeitliche Verdichtungen der historisch realen Ereignisse zum Zuge kommen. In Abhängigkeit<br />

des zu dokumentierenden Themas können so relevante Dinge ausführlicher behandelt<br />

werden, weniger relevante beiläufige Sachverhalte tendenziell verkürzter und<br />

prägnanter dargestellt oder gar gänzlich weggelassen werden.<br />

„Viele Elemente nehmen Einfluss darauf, wie Sie Ihren Film strukturieren. Im Dokumentarfilm<br />

gibt es oft das Problem, ein angemessenes Gefühl für die Weiterentwicklung des<br />

Dargestellten zu vermitteln. Deshalb ist es wichtig zu verkürzen und einen Vergleich zwischen<br />

Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen, wenn Sie zeigen wollen, dass sich tatsächlich<br />

etwas verändert. […] Jede befriedigende Geschichte braucht ein Gefühl von Bewegung,<br />

von Fortschreiten. Dazu bedarf es eines Organisationsprinzips, das man gewöhnlich<br />

im Stoff des Themas findet.“ (Rabiger 2008, 91).<br />

25 Hier ergänzt Mangeot (2012, 33): „Nach der Dramentheorie beruht die Kunst des Erzählens auf<br />

der Nachahmung (Mimesis), eine archetypische Darstellung von Realität – eine idealisierte<br />

Realität. Für Aristoteles hat das Drama die Funktion der Reinigung (Katharsis) durch Erleben von<br />

negativen Gefühlszuständen (Aggressionen, Angst). Der Rezipient soll eine Läuterung erfahren<br />

und gereinigt aus der Rezeption hervorgehen.“. Menschen beschäftigen sich demnach schon sehr<br />

lange mit der Rhetorik der Erzählung, also der Art und Weise des Vortragens von Geschichten.<br />

Ursprung und Entwicklung der Dramaturgie, Unterschiede zwischen Epik und Drama usw. sollen in<br />

dieser Arbeit aber nicht weiter Gegenstand des Diskurses sein.<br />

31


In Hinblick auf derartige Organisationsprinzipien im Dokumentarfilm erörtert Grassl<br />

(2007, 90) die Rolle des filmenden Dokumentaristen sowie der von ihm besetzbaren erzählenden<br />

Akteure (vgl. Kap. 4.2.2):<br />

„Im Unterschied zum Spielfilm und zu anderen Erzählungen spiegeln die Ereignisse im<br />

Dokumentarfilm immer auch die Anwesenheit eines/r Autorin wider, der selbst Teil des<br />

Geschehenen war. Somit setzt der Dokumentarfilm ein ‚Subjekt der epischen Form‘ oder<br />

ein ‚episches ich‘, einen Erzähler, einen Kommentator einen Begleiter des Geschehens<br />

voraus. Dieser reflektiert, schildert und beurteilt das Geschehen aus seiner eigenen subjektiven<br />

Sichtweise. Nicht nur die Erzählerstimme, auch Statements und Interviews der<br />

Protagonistinnen werden im Dokumentarfilm oft als strukturierendes Mittel eingesetzt<br />

und bestimmen so den roten Faden.“. 26<br />

Wie von Schadt (2012) bereits angeführt wurde, bedarf jedes Thema also einer eigenen,<br />

vom Dokumentaristen in der Rolle des initiierenden Erzählers individuell angepassten<br />

dramaturgischen Strukturierung. Somit kann die klassische Akt-Struktur nur als Orientierungspunkt<br />

des Dokumentaristen dienen, wie auch abschließend Grassl (2007, 99) resümiert:<br />

„Grundsätzlich sind die vorgestellten narrativen Modelle, Elemente, Abläufe und<br />

Analyseelemente nur theoretische Modelle, an die sich in der Praxis kein/e Filmemacherin<br />

eins zu eins halten wird. Viel wichtiger ist die Haltung des/der Filmemacherin aus der heraus<br />

der Film gemacht wird.“<br />

Die Ausprägungen der Dramaturgie schlagen sich ausgesprochen stark auf die zeitliche<br />

Re-Strukturierung der filmischen Erzählweise nieder (s. Kap. 4.4). Es erscheint jedoch<br />

im dokumentar-filmischen Bereich naheliegend, die Dramaturgie eher als ein rhetorisches<br />

Mittel der Erzählung anzusehen, als bloßes Instrument zur Strukturierung der Erzählung in<br />

starre Akte. Denn durch den kontrollierten Einsatz von diegetischen Erzählern respektive<br />

intra- und extradiegetischer Erzählmittel wird die diegetische Erzählrede des Dokumentarfilms<br />

erheblich geprägt. Die Grenzen sind hier teils unscharf. Die Rhetorik der dokumentarfilmischen<br />

Erzählung ist komplex und umfasst im Grunde genommen alle hier aufgeführten<br />

Gestaltungsebenen. In den Worten Schadts (2012, 16) ausgedrückt: „[…] die Suche nach der<br />

richtigen Dramaturgie beginnt für den Regisseur spätestens bei der Frage, ob es besser ist,<br />

mit geputzten oder nicht geputzten Schuhen aufzutreten. Anders formuliert: Alles ist Dramaturgie<br />

und Dramaturgie ist alles.“<br />

26 Hinsichtlich des strukturalistischen Organisationsprinzips der Erzählung im Dokumentarfilm<br />

unterscheidet Hohenberger nach Kiener zwischen kontinuierlicher und diskontinuierlicher<br />

Darstellungsweisen. Bei der kontinuierlichen Variante wird dem Zuschauer ein in sich<br />

geschlossenes Sinngefüge präsentiert, dass allein durch seine filmische Abfolge (vgl. Kap. 4)<br />

bereits alle nötigen Informationen enthält, um dem Geschichtsverlauf in Gänze folgen zu können.<br />

Dem entgegen wird bei der diskontinuierlichen Erzählweise zwischen einzelnen Erzählsequenzen<br />

eine weitere Erzählebene eingeschoben, auf der weitere Informationen und Auskünfte erteilt<br />

werden, um die zum Verständnis der Erzählsequenzen benötigt werden (vgl. Kiener 1999, 33).<br />

32


4.3 Perspektivierung der Erzählung<br />

4.3.1 Fokalisierung und Point-of-View<br />

Sobald Personen als Protagonisten eine Rolle spielen, muss sich ein Filmemacher fragen,<br />

wie wichtig die Erlebnisse und Wahrnehmungswelten dieser Menschen innerhalb des betroffenen<br />

Ausschnitts der Wirklichkeit für seinen Film sind – und wie umfangreich er diese<br />

filmisch nachvollziehen bzw. darstellen sollte. Diese Überlegungen werden umso wichtiger,<br />

wenn mehrere Personen in dem zu filmenden Wirklichkeitsausschnitt involviert sind und<br />

potenziell als tragende Figuren bzw. erzählende Akteure in Frage kommen. Denn je nachdem,<br />

wessen Perspektive filmisch nachgezeichnet wird, ändert sich entsprechend auch der<br />

Fokus des gesamten Films und somit letztlich das Rezeptionserlebnis für den Zuschauer<br />

(vgl. Kap. 4.2.3). Ausgehend von der Haltung und Vision des Dokumentaristen, bildet sich<br />

für ihn eine Tendenz heraus, von welchem Standpunk aus, der Dokumentarfilm seine Geschichte<br />

erzählen soll. Dies wird meistens durch einen Selektionsprozess entschieden, der<br />

oftmals eher intuitiv als rational geplant abläuft (vgl. Rabiger 2008, 75 f. sowie Kap. 3.1.1 u.<br />

3.1.2). Die filmische Perspektivierung bzw. der Point-of-View (POV) 27 stellt daher einen<br />

elementaren Aspekt bei der konzeptionell-narrativen Gestaltung eines (Dokumentar-) Filmes<br />

dar. In der Narratologie wird demnach mit dem erzähltheoretischen Begriff der Fokalisierung<br />

auf analytischer Ebene gefragt:<br />

„Aus dem Erlebnisbereich welcher Figur wird eine ‚Geschichte’ gezeigt und wie tief ist der<br />

Zugang zu ihren Wahrnehmungen und Gedanken? Anders gesagt: auf wen und in welcher<br />

Weise ist die Erzählung fokussiert? Diejenige Figur, von deren physischem wie auch psychologischem<br />

Wahrnehmungsstandpunkt aus Situationen und andere Figuren geschildert<br />

werden, bildet das Zentrum der Perspektive. Sie ist die Quelle der Informationen. Von<br />

manchen Autoren wird sie bildhaft ‚Reflektor-Figur’ genannt.“ (Kiener 1999, 208).<br />

Für einen Dokumentaristen als gestaltende und vermittelnde narrative Instanz ergeben<br />

sich sehr viele Möglichkeiten die Fokalisierung zu gestalten. Je nach den von ihm vorgefundenen<br />

Umständen in der realen Welt kann der Informationsfluss eventuell durch eine<br />

einzelne Reflektor-Figur nicht hinreichend über gewisse Aspekte der Diegese oder aber<br />

über die eigentliche Thematik bzw. die gewünschte filmische Aussage informieren und somit<br />

die Erzählung konstituieren. In einem solchen Fall kann ggf. erst die Wahrnehmungsvermittlung<br />

mehrerer Reflektor-Figuren ausreichen, um eine adäquate Erzählung zu konstruieren.<br />

Zum Beispiel baut der Regisseur im Dokumentarfilm DER GROßE AUSVERKAUF eine<br />

filmische Erzählung über die zunehmende Privatisierung der Welt auf, indem er unter ande-<br />

27 POV kann neben der Bedeutung einer gewissen, physischen Kameraeinstellung vornehmlich auch<br />

als Synonym für den „emotionalen und psychologischen Standpunkt gebraucht“ (Rabiger 2008,<br />

75) werden.<br />

33


em gleich mehrere Ausschnitte der Welt durch die Perspektive eines jeweils anderen Protagonisten<br />

beschreiben lässt. Durch die Kombination mehrerer Fokalisierungen ergibt sich<br />

so seine episodische Erzählweise innerhalb der etablierten Diegese. 28<br />

Kuhn sowie Kiener erörtern die drei Grundtypen des von Genette etablierten Fokalisierungs-Konzeptes<br />

sowohl filmnarratologisch (Kuhn 2011) als auch mit starkem dokumentar-filmischen<br />

Bezug (Kiener 1999). Dabei setzt Kiener den Ausdruck Fokussierung dem<br />

narratologischen Begriff Fokalisierung gleich. Rabiger verfolgt einen durchweg praxisorientierten<br />

Ansatz aus Sicht des Dokumentarfilmregisseurs und benutzt daher durchgehend den<br />

Begriff Point-of-View, der aber ebenfalls wie Kieners Fokussierung der Fokalisierung gleichzusetzen<br />

ist. Kiener (1999, 209) stellt alle drei Grundtypen wie folgt vor:<br />

„1. „Übersicht“, oder Nullfokussierung [bzw. Nullfokalisierung]: „wo der Erzähler<br />

also mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der<br />

Figuren weiß; anders dargestellt: Erzähler > Figur.<br />

2. „Innensicht“, oder interne Fokussierung: „der Erzähler sagt nicht mehr, als die<br />

Figur weiß“, was die Formel symbolisiert: Erzähler = Figur.<br />

3. „Außensicht“, oder externe Fokussierung: „der Erzähler sagt weniger, als die<br />

Figur weiß“, dafür gilt: Erzähler < Figur.“ (Anm. d. V.).<br />

Kuhn (2011, 123) merkt an, dass „[sich] das Konzept der Fokalisierung auf eine relationale<br />

Informationsselektion [bezieht], genauer: Die Informationsrelation zwischen narrativer<br />

Instanz [dem vermittelnden initiierenden Erzähler] und Figur.“ (Umst. u. Anm. d. V.).<br />

Grassl (vgl. 2007, 80) weist darauf hin, dass in vielen Filmen eine konsequente Verfolgung<br />

eines einzelnen Fokalisierungs-Typus nicht möglich oder gewollt ist und es daher zu<br />

sog. „Alterationen“, also dynamischen Veränderungen innerhalb des filmischen Fokalisierungs-Konzeptes<br />

kommen kann. Denn „oft wird ein Thema durch eine alternierende Fokalisierung<br />

erst interessant“ (ebd.).<br />

4.3.2 Distanz und Nähe als narratives Konzept<br />

Kiener (vgl. 1999, 209 f.) resümiert, dass die Fokalisierungs-Konzepte sich nicht nur durch<br />

die Quantität der vermittelten Informationen auszeichnen, sondern vor allem auch durch<br />

die Qualität des Informationsflusses. Das qualitative Spektrum der Fokalisierung „reicht von<br />

allgemeinen, jedermann zugänglichen Beobachtungen bis zu intimen Gedanken und persönlichen<br />

Gefühlen.“ (ebd.). Es hängt also von dem spektralen Tiefgang in der filmischen<br />

28 Interessanterweise baut der Regisseur zudem Interviews mit Experten ein, die kein Bestandteil<br />

der Erlebniswelten der Protagonisten sind, und auf einer quasi-unabhängigen Ebene Kommentare<br />

zu den Phänomenen abgeben, die den eigentlichen Protagonisten wiederfahren. Hier kann<br />

festgestellt werden, dass die filmischen Indizien darauf hindeuten, dass die Protagonisten homodiegetischen<br />

Erzählern und die Experten hetero-diegetischen Erzählern gleichen.<br />

34


Nachzeichnung der protagonistischen Erlebniswelten ab, wie der Zuschauer einen Dokumentarfilm<br />

erlebt und rezipiert. So fällt es dem Zuschauer leichter sich mit Figuren identifizieren<br />

bzw. deren Handeln nachvollziehen zu können, wenn ihm ein Zugang mittels qualitativ<br />

tiefgehender Interviewsituationen zur Erlebniswelt der Protagonisten gewährt wird. Je<br />

mehr man über einen Protagonisten erfährt und entdeckt, desto leichter fällt es, sich ein<br />

Urteil über die dargestellte Person zu bilden, Gemeinsamkeiten, Gegensätzlichkeit und<br />

Sympathie oder Antipathie bzw. Verständnis und Empathie festzustellen.<br />

Dies fördert letztlich – und das ist die konzeptionell-narrativ relevante Erkenntnis –<br />

die Identifikationsfähigkeit des Zuschauers mit einem Protagonisten. Diese emotionalempathische<br />

Lenkung des Rezipienten hängt von der Vision, Haltung und verfolgter Fokalisierungs-Strategie<br />

des Regisseurs ab. Dadurch verändert sich das Verhältnis von Distanz<br />

und Nähe im erzähltheoretischen Kontext zwischen Zuschauer und Protagonisten.<br />

So wirkt sich die Qualität im Sinne der filmisch nachvollzogenen Wahrnehmungsebene<br />

der Protagonisten vor allem auf den Rezeptionsmodus des Zuschauers aus, aus welcher<br />

Motivation heraus er der filmischen Erzählung folgt.<br />

Nach Kiener (vgl. 1999, 210) könnten diese Rezeptionsmodi unter Berücksichtigung<br />

der verschiedenen Fokalisierungs-Typen wie folgt aufgeschlüsselt werden:<br />

• Engagierter Beobachter; Motivation: Voyeuristisch, spekulierend. Mutmaßend;<br />

Wo: Externe Fokalisierung.<br />

• Kritischer Beobachter; Motivation: Neugierig, genau informierend.<br />

Wo: Nullfokalisierung.<br />

• Emotionaler Beobachter; Motivation: Emotionale Anteilnahme, identifizierend;<br />

Wo: Interne Fokalisierung.<br />

Diese Aufschlüsselung soll exemplarisch die möglichen Unterschiede im Rezeptionsverhalten<br />

der Zuschauer in Relation zu den möglichen Fokalisierungen andeuten und bedürfte<br />

zur Validierung einer nähergehenden empirischen Untersuchung.<br />

4.4 Strukturierung der Erzählung<br />

Der Begriff „Zeit“ kann im Zusammenhang mit dem Medium Film auf mehrere Arten gedeutet<br />

werden und muss daher vor einer näheren narratologischen Analyse im dokumentarischen<br />

Kontext definiert werden. Es gilt in einem ersten Schritt zwischen der erzählten bzw.<br />

dargestellten Zeit und der Erzähl- bzw. Darstellungszeit zu unterscheiden. Der erste Begriff<br />

bezieht sich auf die Zeit, welche innerhalb eines Filmes abgebildet wird. Dabei wird vor<br />

35


allem die umfasste Zeitspanne innerhalb der Diegese gemeint. So kann ein Dokumentarfilm<br />

theoretisch einige Ereignisse innerhalb weniger Stunden bis hin zu Prozessen über mehrere<br />

Jahre darstellen. Es wird noch zeigen, dass die erzählte Zeit unter Umständen durch transmediale<br />

Erweiterungen erheblich beeinflusst werden kann (s. Kap. 8.1.1.2).<br />

Dabei spielt die o.g. zweite Deutungsweise hinsichtlich der Rezeption eine entscheidende<br />

Rolle. Ein Film diktiert wie jedes andere Medium, eine spezifische Rezeptionsweise<br />

und vor allem Rezeptionszeit aufgrund seiner medialen Beschaffenheit (vgl. Kap. 4.1.1).<br />

Filmische Einstellungen zeigen – im sog. Normalfall (s.u.) – Ereignisse in Echtzeit. Ohne weitere<br />

Manipulationen entspricht eine dargestellte Sekunde innerhalb einer filmischen Einstellung<br />

genau einer Sekunde in der realen Welt des Rezipienten und ist somit zeitlich identisch.<br />

Mahne (2007, 78) spricht hier von der „Gleichzeitigkeit von Erzählung und Handlung“<br />

und spezifiziert (ebd.):<br />

„Die Erzählzeit und die erzählte Zeit verhalten sich zeitdeckend, d.h. die Kamera bildet<br />

die Handlung in Echtzeit ab. Der Zuschauer erlebt die Kontinuität der Handlungszeit im<br />

gleichen Maße wie die beteiligten Figuren. Szenisches Erzählen bleibt im Roman ein hypothetisches<br />

Konstrukt, während es im Film eine medienspezifische Notwendigkeit ist.“<br />

Film besteht also aus einzelnen, zeitlich geschlossenen Segmenten, innerhalb derer<br />

die Kamera an die zeiträumlichen Gegebenheiten gebunden ist, welche im Dokumentarfilm<br />

der real verstrichenen Zeit entspricht. Diese Segmente, innerhalb derer ein „zeiträumliches<br />

Kontinuum“ (Lohmeier zit. n. Kiener 1999, 185) herrscht, entsprechen exakt den aus der<br />

Filmpraxis und Filmwissenschaft geläufigen Szenen, welche wiederum aus den o.g. einzelnen<br />

zeitdeckenden Einstellungen bestehen. „Das zeitstrukturelle Grundmuster ist also klar<br />

und bei jedem Film dasselbe: Es zeigt eine Kette unterschiedlicher langer szenischer Einheiten,<br />

die durch unterschiedlich starke Zeitsprünge getrennt sind.“ (ebd.).<br />

Ein Film bietet dem Dokumentaristen durch seine medienspezifische Zeitstrukturierung<br />

vielseitige Möglichkeiten Sachverhalte zu erzählen, hervorzuheben oder wegzulassen.<br />

Im Nachfolgenden sollen die für den dokumentarischen Kontext dieser Arbeit relevanten<br />

Eigenschaften nähergehend analysiert werden. 29<br />

29 Neben Ordnung und Dauer gehört auch die Frequenz zu den Komponenten der erzählerischen<br />

Strukturierung (s. Abb. 3). Die Frequenz beschreibt, in welcher Beziehung ein diegetisches Ereignis<br />

zu einer wiederholten Erzählung steht. Es kann angenommen werden, dass im Dokumentarfilm<br />

der „Regelfall“ des filmischen Erzählens eintritt: ein einmaliges Ereignis wird einmal hinreichend<br />

filmisch dargestellt. Mit seltenen Ausnahmen stellt die singulative Erzählform (einmal wird<br />

erzählt, was einmal passierte; vgl. Kuhn 2011, 229) die dominante narrative Form dar – aufgrund<br />

der Einmaligkeit historisch realer Momente. Daher soll sich mit der Frequenz nicht nähergehend<br />

beschäftigt werden (vgl. Kun 2011, xxx).<br />

36


4.4.1 Ordnung<br />

Nimmt man den „gleichmäßigen, chronologisch-linearen Zeitablauf“ (Kiener 1999, 182) des<br />

filmischen Erzählflusses als medial-narrativen Grundzustand, so bezeichnet man Abweichungen<br />

von dieser sog. „Basiserzählung“ (ebd.) als Anachronien. Diese stellen „Umstellungen<br />

im chronologischen [diegetischen Handlungs-] Ablauf [dar], so dass Einschübe in der<br />

„Erzählung“ sich mit Ereignissen beschäftigen, die aus der Erzählgegenwart der Basiserzählung<br />

(auch ‚Haupterzählung’) herausfallen und die entfernte oder nähere Vergangenheit,<br />

beziehungsweise Zukunft, evozieren.“ (ebd.; Anm. d. V.). Es gibt zwei grundsätzliche Arten<br />

von Anachronien im narratologischen Kontext 30 :<br />

• Prolepsen: Auch Vorausblenden, Prospektiven oder Flash-Forwards genannt.<br />

Prolepsen stellen einen Einschub in die Basiserzählung dar, in der zukünftige respektive<br />

erst später erfolgende Ereignisse der Geschichte vorweg genommen<br />

werden. Es handelt sich also in Relation zur Chronologie der geschichtlichen Ereignisse<br />

um eine erzählerische Vorschau.<br />

• Analepsen: Entsprechen Rückblenden, Retroperspektiven oder Flashbacks. Analepsen<br />

stellen in die Basiserzählung eingeschobene erzählerische Rückgriffe auf<br />

bereits vergangene, geschehene Ereignisse innerhalb der eigentlichen Geschichte<br />

dar.<br />

Beide anachronischen Kategorien lassen sich durch „Reichweite“ und „Umfang“ charakterisieren:<br />

„Eine Anachronie kann sich […], mehr oder weniger weit vom „gegenwärtigen“ Augenblick<br />

entfernen, d.h. von dem Augenblick der Geschichte, wo die Erzählung unterbrochen<br />

wird, um ihr Platz zu machen: Wir werden diese zeitliche Distanz die Reichweite der Anachronie<br />

nennen. Diese kann wiederum eine mehr oder weniger lange Dauer der Geschichte<br />

abdecken: was wir ihren Umfang nennen werden.“ (Genette zit. n. Kuhn 2011,<br />

196).<br />

Sowohl Pro- als auch Analepsen beinhalten verschiedene Unterkategorien, die sich<br />

durch ihre Ausprägung von Reichweite und Umfang beschreiben lassen können. Für diese<br />

Arbeit ist es jedoch zielführend einen prägnanten Überblick über die Formen von Anachronien<br />

zu bieten, ohne spezifische Unterkategorien in die Erörterung mit einzubeziehen.<br />

Temporale Verschachtelungen tragen dazu bei, den chronologischen Aufbau einer<br />

Erzählung hinsichtlich der Dramaturgie attraktiver und interessanter respektive weniger<br />

vorhersehbar zu gestalten. So kann ein zukunftsgewandter Ausblick für den Zuschauer die<br />

30 Grundsätzlich gilt: „… fiktionale und faktuale Erzählungen unterscheiden sich grundlegend weder<br />

durch den Gebrauch von Anachronien, noch durch die Weise, sie zu bezeichnen [im Film kenntlich<br />

zu machen].“ (Genette zit. n. Kiener 1999, 182; Anm. d. V.).<br />

37


Frage aufkommen lassen „Wie wird es dazu kommen?“. Eine Prolepse stellt unter gestalterischen<br />

Gesichtspunkten unter anderem also einen motivatorischen Appell an die Neugierde<br />

des Rezipienten dar, die geschichtliche Entwicklung weiter verfolgen zu wollen. Gleichwohl<br />

müssen Prolepsen mit Bedacht eingesetzt werden, um nicht zu viel Spannung im Voraus<br />

aus der Erzählung zu nehmen, wie Kiener (1999, 206) folgerichtig bemerkt: „Von der<br />

großen Erwartung: ‚was wird passieren‘, bliebe beim Zuschauer […] nichts mehr übrig und<br />

die ‚Erzählung‘ müsste [!] allein mit der Frage ‚wie ist es passiert‘ Spannung erzeugen, was<br />

ungleich schwieriger zu handhaben ist.“ (Ausl. d. V.).<br />

Analepsen können dem gleichen, spannungserzeugenden Zwecke dienen. Bewusst in<br />

die Erzählung gesetzte Auslassungen bilden beim Zuschauer Wissenslücken, zu deren Befriedigung<br />

(motiviert die Neugierde) spätere Rückblenden als aufklärende Segmente dienen<br />

können. Gleichzeitig können Analepsen auch den informativen Hintergrund bzw. Unterbau<br />

zu einem gewissen Sachverhalt bilden.<br />

4.4.2 Dauer<br />

Wie in Kapitel 4.4 angedeutet, beschreibt das zweite Element narrative Dauer der Gestaltungskomponente<br />

„Zeit“, eine Klasse von sog. Anisochronien, welche auf das Verhältnis<br />

zwischen dargestellter Zeit und Darstellungszeit wirken. 31 Kuhn (2011, 213) übernimmt<br />

leicht modifiziert eine Übersicht auf die fünf anisochronischen Grundtypen von Martinez<br />

/Scheffel, die auch für den dokumentarischen Kontext, leicht ergänzt, übernommen werden<br />

kann. Hierbei ist zum Verständnis wichtig, dass die verwendeten Begriffe „discours“ und<br />

„histoire“ den hier etablierten Begriffen Erzählung und Geschichte entsprechen (vgl. Kap.<br />

4.1.1)<br />

„1. Zeitdeckendes Erzählen (szenisches Erzählen; Szene) liegt vor, wenn die dargestellte<br />

Zeit ungefähr der Darstellungszeit entspricht. (Darstellungszeit ≈ dargestellte Zeit).<br />

2. Zeitdehnendes Erzählen (Dehnung) liegt vor, wenn die Darstellungszeit größer ist als<br />

die dargestellte Zeit; der discours ist länger als die histoire. (Darstellungszeit > dargestellte<br />

Zeit)<br />

3. Zeitraffendes Erzählen (Raffung; summarisches Erzählen; Summary) liegt vor, wenn die<br />

Darstellungszeit kleiner ist als die dargestellte Zeit; der discours ist kürzer als die histoire.<br />

(Darstellungszeit < dargestellte Zeit)<br />

4. Eine Ellipse (Zeitsprung; Auslassung) liegt vor, wenn ein beliebig großer Teil der histoire<br />

übersprungen wird; der discours steht still, die histoire geht weiter. (Darstellungszeit = 0;<br />

dargestellte Zeit beliebig groß)<br />

31 Sie stellen ein zu erörterndes Gestaltungselement dar, aber eine tiefergehende narratologische<br />

Erörterung im Kontext dieser Arbeit erscheint nicht zielführend, da bereits eine prägnante<br />

Darstellung zum ausreichenden Verständnis beiträgt.<br />

38


5. Eine (deskriptive) Pause liegt vor, wenn der discours weitergeht, während die histoire<br />

stillsteht. (Darstellungszeit beliebig groß; dargestellte Zeit = 0)“.<br />

Der Einsatz dieser Grundtypen entspricht einer Modulation des Erzählrhythmus und<br />

der Erzählgeschwindigkeit, ist also vor allem auf konzeptionell-narrativer Ebene von entscheidender<br />

Bedeutung zur Strukturierung der Erzählung. Der Dokumentarist kann mit ihrem<br />

Einsatz relevante Sachverhalte und Ereignisse durch eine längere Darstellungszeit intensiver<br />

behandeln und demnach in Relation zur Gesamtspiellänge des Films betonen.<br />

Durch die sinnvolle Aufteilung der Darstellungszeit setzt er einen inhaltlichen Fokus;<br />

Ihm wichtig erscheinende Dinge erhalten mehr Zeit, unwichtigere Dinge weniger. Praktisch<br />

setzt ein Filmemacher diese Fokussierungen innerhalb der Montage um.<br />

39


5 Die formal-kinematografische Ebene<br />

Trotz der vielen Unvorhersehbarkeiten die dem dokumentarischen Arbeiten aus Sicht des<br />

Dokumentaristen innewohnen, steht ihm auf der konkretesten aller Gestaltungsebenen,<br />

der formal-kinematografischen, ein definierbares Set audiovisueller Gestaltungsprinzipien<br />

zur Verfügung. Auf diese kann er im Sinne seines narrativ-dramaturgischen Konzeptes zurückgreifen.<br />

Denn „obwohl eine umfassende Definition des Dokumentarfilms kaum zu finden<br />

ist, gibt es doch eine Anzahl von allgemeinen Feststellungen, die wir heranziehen können,<br />

beginnend mit den Techniken und Konstruktionsmethoden, die den ästhetischen Umriss<br />

eines Dokumentarfilms bestimmen.“ (Rabiger 2008, 62; Einf. d. V.).<br />

Die formalen Gestaltungsprinzipien beruhen dabei auf den medienspezifischen Eigenheiten<br />

des Films. Neben der reinen Bildgestaltung gilt es ebenso die auditive Ebene zu<br />

gestalten. Alle im Vorfeld der Produktionsphase getroffenen Entscheidungen auf Regie- und<br />

konzeptionell-narrativer Ebene manifestieren sich letztlich in den Bildern und Tönen, die in<br />

der Drehphase „gesammelt“ bzw. gedreht wurden. In der finalen Montage in einer einmaligen<br />

Konstellation komponiert, stellen sie für den Zuschauer das einzig nachvollziehbare<br />

Zeugnis des dokumentarischen Entscheidungsprozesses dar.<br />

5.1 Intradiegetische kinematografische Erzählmittel<br />

Bevor nachfolgend im Detail erörtert wird, welche intradiegetische Gestaltungs- Elemente<br />

dem Dokumentaristen zur Verfügung stehen soll Abbildung 5 einen Überblick über diese<br />

geben:<br />

Abbildung 5: Intradiegetische Gestaltungskomponenten und ihre Elemente. 32<br />

32 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

40


Es wird deutlich, dass die Gestaltungsmöglichkeiten auf der intradiegetischen Ebene<br />

fast ausschließlich auf das Aufnahmeverfahren mittels Kamera und Mikrofon fokussiert<br />

sind. Der Gestaltungskanon öffnet sich erst durch den Sprung von dieser zur extradiegetischen<br />

Erzählebene. Gleichzeitig stellt jedoch die filmtechnische Aufnahme das Basiskonstrukt<br />

eines Dokumentarfilms dar.<br />

5.1.1 Dokumentarisches Filmen als narratives Basiskonstrukt<br />

5.1.1.1 Die Kamera-Arbeit<br />

Allen voran stellt die mit Kamera und Mikrofon aufgezeichnete historisch reale Wirklichkeit<br />

und deren anschließende Strukturierung des gefilmten Materials in der Montage die elementare<br />

Erzählebene bzw. die Basiserzählung (vgl. Kap. 4.4.1) des fertigen Films dar. Kamera<br />

und Tonequipment dienen als technische Hilfsmittel um die vorgefundenen Umstände<br />

der Wirklichkeit zu konservieren.<br />

In diesen Situationen steht ebenfalls stark die Regiearbeit des Dokumentaristen im<br />

Vordergrund. Es gilt die richtige Balance zwischen dem filmtechnischen Aufnahmeprozess<br />

und dem gleichzeitigen Umgang mit den Protagonisten, welche Teil der dokumentierten<br />

Realität sind, zu finden. Anders ausgedrückt muss der Dokumentarist den Stil, wie er sein<br />

Team mit den Protagonisten „vor der Kamera“ arbeiten lässt, von seinem Konzept ableiten<br />

und entsprechend anwenden. So kann Wirklichkeit mittels Kamera und Mikrofon eher partizipatorisch-beobachtend<br />

(Stilrichtung direct cinema) oder aber inszenatorisch-evozierend<br />

(Stilrichtung camera veritè) dokumentar-filmisch festgehalten werden. Diese Stilausrichtung<br />

hat grundlegenden Einfluss darauf, wie der Zuschauer später das gezeigte aufnimmt. 33<br />

Entgegen der Vorgehensweise im Spielfilm ist es im Dokumentarfilm häufig nicht<br />

möglich, im Vorfeld ein Story-Board mit klaren Kameraeinstellungen zu erstellen und dieses<br />

dann „abzudrehen“. Denn zum einen existiert oftmals nur eine grobe Vorstellung von den<br />

zu dokumentierenden Ereignissen und zum anderen kann die angetroffene Realität je nach<br />

Stilrichtung eben nicht wie im Spielfilm choreografiert werden. Diese Wissenslücken und<br />

die Unplanbarkeit der Realität können durch handwerkliche Erfahrung und eine intuitive<br />

Kameraarbeit kompensiert werden. Grassl (2007, 99) zitiert dazu aus einem Interview mit<br />

Husman sehr treffend:<br />

33 Zwar spielen die Stilrichtungen eine entscheidende Rolle im Dokumentarfilm, allerdings soll mit<br />

dem in dieser Arbeit verfolgten, stilübergreifenden Ansatz eine detaillierte Ausdifferenzierung der<br />

einzelnen Stilrichtungen und dokumentarischen Spielarten bewusst vermieden werden. Lipp<br />

(2012) und Rabiger (2008) werden hier dem interessierten Leser für eine vertiefende Lektüre<br />

empfohlen.<br />

41


„Ein guter Dokumentarfilmkameramann ist so sensibel [!] dass er sich ohne Regieanweisungen<br />

intuitiv der Realität, die er vorfindet, anpasst. Er muss sensibel sein für dass [!]<br />

was die Wirklichkeit ausstrahlt. Diese Ausstrahlung der Wirklichkeit ist dann durch einen<br />

bestimmten Rhythmus und eine Perspektive in den Bildern zu erkennen“.<br />

Der Dokumentarist muss sich entsprechend (ggf. mit seinem Kameramann) überlegen,<br />

welche Ästhetik die Bildgestaltung mit der Kamera erzielen soll. Dabei stellt die aktive<br />

Gestaltung des Bildausschnittes und verschiedener anderer technischer Parameter während<br />

des Drehens eine klare Reaktion auf die in der Realität vorgefundenen situativen Gegebenheiten<br />

dar, wie mit Husman bereits gesagt wurde. 34 Das eigentliche Motiv, die Wirklichkeit<br />

ist maßgebend für die filmische Gestaltung. Am Drehort ablaufende Ereignisse,<br />

Menschen respektive Protagonisten, kleine gegenständliche Details und auch die Lichtverhältnisse,<br />

müssen in den konzeptionellen Kontext eingeordnet, gewichtet und entsprechend<br />

filmtechnisch behandelt werden. Die natürlich vorgefundene „Mise-en-scène“ prägt<br />

also auch in formal-ästhetischer Hinsicht die intradiegetische Erzählebene des Dokumentarfilms.<br />

5.1.1.2 Original-Ton-Aufnahmen<br />

Die auditiven Gestaltungselemente innerhalb der intradiegetischen Erzählebene verhalten<br />

sich analog zu den visuellen Elementen, genauso wie das Mikrofon das komplementäre<br />

Pendant der Kamera ist. Der originale Synchronton während einer Aufnahme stellt ein<br />

wichtiges Element für die Wiedergabe eines gefilmten Motivs dar. Er lässt die dargestellte<br />

Welt für den Zuschauer erklingen, macht sie hörbar. Wie im Beispiel der ersten, einleitenden<br />

Szene von WORKINGSMAN‘S DEATH (D/A, 2005) kann der Synchronton sogar zum dominierenden<br />

intradiegetischen Element avancieren. Dann etwa, wenn auf der visuellen Ebene<br />

durch die Kamera bestimmte Dinge bewusst ausgelassen werden, aber gleichzeitig doch zu<br />

hören sind. Dies regt die Vorstellungskraft des Zuschauers an und kann dargestellte Ereignisse<br />

sogar verstärken. Schadt (2012, 83) beschreibt diese Art der audiovisuellen Komposition<br />

wie folgt:<br />

„Nichts ist für den Zuschauer langweiliger und ermüdender, als alles im On gezeigt oder<br />

erklärt zu bekommen. Identifikation und Spannung werden im Gegenteil dadurch erzeugt,<br />

dass man dem Zuschauer (Bild-) Informationen bewusst vorenthält damit er, der<br />

alles verstehen will, sie dann selbst kombinieren muss. Dramaturgie heißt vor allem, die<br />

Fantasie des Zuschauers exakt dahingehend zu aktivieren Neugierde zu wecken, indem<br />

man genau überlegt und entscheidet, was im On ist und was im Off. Das betrifft gleichermaßen<br />

Ton und Bild […]“ (Ausl. d. V.).<br />

34 Die Erörterung dieser Parameter im Detail bildet einen eigenen Bereich innerhalb der<br />

Filmwissenschaft und würde demnach den Rahmen dieser Arbeit überschreiten.<br />

42


Zu dieser auditiven Kategorie des Original-Tons müssen auch Gespräche gezählt werden,<br />

die mitunter wichtige Informationen über die Handlung im Film preisgeben können.<br />

Sie werden nicht evoziert, sondern ergeben sich beim dokumentarischen Filmen als situatives<br />

Ereignis.<br />

5.1.2 Verbalsprachliche Erzählung im „On“<br />

Eine ausgesprochen wichtige Komponente auf der intradiegetischen Erzählebene sind verbalsprachliche<br />

Erzählungen, vornehmlich in Form von On-Kommentaren und eingerichteten<br />

Interviewsituationen. Bei beiden Elementen handelt es sich – im Unterschied zu rein situativ<br />

entstandenen Gesprächen zwischen verschiedenen Protagonisten vor der Kamera – um<br />

interaktive Situationen zwischen Protagonisten und Filmemachern, welche derartigen Situationen<br />

bewusst evoziert haben. Zum einen wird dadurch natürlich der stattfindende Akt<br />

des dokumentarischen Filmens „enttarnt“. Zum anderen bieten diese gestalteten Situationen<br />

dem Dokumentaristen die Möglichkeit, innerhalb der Diegese authentische, oftmals<br />

unverfälschte Kommentare von den Protagonisten einzuholen. Die beiden beschriebenen<br />

Situationen stellen die originärsten Möglichkeiten für den Protagonisten dar, durch verbalsprachliche<br />

Kommunikation direkt mit den Zuschauern respektive mit dem Dokumentaristen<br />

als deren moderierende Stellvertreter in Kontakt zu treten und Gedanken, Meinungen<br />

und Gefühle zum Ausdruck zu bringen.<br />

On-Kommentare können vom Dokumentaristen evoziert werden, wenn er während<br />

des dokumentarischen Filmens an einen Punkt gelangt, an dem er es für sinnvoll erachtet,<br />

den Protagonisten zu bitten, die aktuelle Situation zu kommentieren. Was folgt, ist eine<br />

Kommentierung der jeweiligen Umstände, Handlungen und Ereignisse spontan und unverfälscht<br />

durch den gefilmten Menschen vor der Kamera. Derartige Einstellungen wirken dynamisch<br />

und „filmisch“ (Schadt 2012, 168) – allerdings sind sie auch für das Filmteam anspruchsvoller,<br />

weil sie komplexer in der Vorbereitung und Durchführung sind.<br />

Aus narrativ-konzeptioneller Sicht sind On-Kommentare durch ihren deskriptivsituativen<br />

Charakter in der erzählerischen Gegenwart eines Films verankert. Sie beschreiben<br />

oftmals das, was „jetzt“ für den Zuschauer innerhalb der Szenerie zu sehen ist. Allerdings<br />

sind durchaus Szenen denkbar, in denen der Protagonist vor der Kamera einer Tätigkeit<br />

nachgeht, diese verbalsprachlich beschreibt und innerhalb dieser Beschreibung Rückbezüge<br />

zu vergangenen oder in der Zukunft liegenden Ereignissen herstellt, welche nicht<br />

mit der Kamera gefilmt wurden bzw. werden können.<br />

Dem entgegen gibt es eine zweite Variante, die oftmals mit dem Begriff Talking<br />

Heads beschrieben wird: Die klassische vorbereitete Interviewsituation in der sich der Pro-<br />

43


tagonist statisch vor der Kamera befindet und mit dem Dokumentaristen spricht, welcher<br />

selbst nicht sichtbar hinter/neben der Kamera sitzt oder auch im Bild zu sehen ist.<br />

„Kritisiert wird dabei mitunter, diese sogenannten Talking Heads seien unfilmisch, da oft<br />

zu statisch und im Bildaufbau nur wenig attraktiv. Das mag in vielen Fällen richtig sein,<br />

doch ich persönlich finde, die Priorität während eines Interview liegt zuerst einmal auf<br />

dem, was der Protagonist wie erzählt.“ (Schadt 2012, 168).<br />

Eingerichtete Interviewsituationen bieten dem Dokumentaristen, stärker noch als<br />

On-Kommentare, die Möglichkeit bereits vergangene Sachverhalte, welche nicht mit der<br />

Kamera dokumentarisch eingefangen werden konnten, aufzuarbeiten und in die Gegenwart<br />

des dokumentarischen Erzählstrangs zu holen. „So kann die Darstellung von wichtigen Ereignissen<br />

[in der nicht gefilmten Vergangenheit der Diegese] nachgeholt werden.“ (Grassl<br />

2007, 97; Erg. d. V.).<br />

Die verbal-sprachliche Erzählung stellt in Hinsicht auf die Konstitution der filmischen<br />

Erzählung einen wichtigen – oft fundamentalen – Bestandteil der diegetischen Erzählrede<br />

dar.<br />

5.2 Extradiegetische kinematografische Erzählmittel<br />

Auf der extradiegetischen Erzählebene, also der Ebene die nicht Bestandteil der erzählten<br />

Welt ist, stehen folgende in der Übersichtsgrafik aufgereihten Erzählmittel zur Verfügung:<br />

Abbildung 6: Kinematografische Erzählmittel auf der extradiegetischen Ebene 35<br />

35 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

Auf den komplexen Bereich der extradiegetischen Musikuntermalung im Dokumentarfilm soll in<br />

Anbetracht des Rahmens dieser Arbeit nicht eingegangen werden.<br />

44


5.2.1 Visuelle extradiegetische Erzählmittel<br />

5.2.1.1 Fremd- und Archivmaterial<br />

Unter Fremd- und Archivmaterial können wie Abbildung 6 zeigt, weitgehend alle<br />

Formen filmischen oder fotografischen Materials verstanden werden, das nicht vom Dokumentaristen<br />

selbst hergestellt wurde, von diesem aber für die Fortführung der diegetischen<br />

Erzählrede in der Montage zum eigens gedrehten Material hinzugezogen wird. Hierunter<br />

kann man beispielsweise Einspieler von Nachrichten, TV-Beiträgen und generell Bewegt-<br />

Bildmaterial der verschiedensten Epochen und Quellen verstehen. Bei Personenportraits<br />

bietet sich so zum Beispiel auch die Verwendung von privaten Videoaufnahmen des Protagonisten<br />

an. Aber auch Fotografien jedweder Art und Dokumente (Papiere, Magazin-Cover,<br />

Zeitungsartikel etc.) können die Erzählung im Detail pointieren, ergänzen und mit „narrativer<br />

Substanz“ unterfüttern.<br />

Oftmals wird solches Material „mit einer Kamera abgefilmt, die sich auf das Foto<br />

[bzw. das Material] zu, von ihm weg oder quer darüber bewegt, um es lebendiger zu machen.“<br />

(Rabiger 2008, 63; Erg. d. V.). Auch eine simple Montierung zwischen verschiedene<br />

Szenen oder Sequenzen selbstgedrehten Materials der Basiserzählung ist eine gängige<br />

Möglichkeit zur Einbindung: Zum Beispiel spricht ein Protagonist und währenddessen wird<br />

Videomaterial aus seiner Jugend, von der er erzählt, eingeblendet. 36<br />

Es wird deutlich: Die Verwendungsmöglichkeiten von externen Materialquellen sind<br />

nahezu unbegrenzt. Alles was in einen Film (audio-) visuell montiert werden kann, ist theoretisch<br />

verwendbar. Der damit einhergehende potenzielle narrative Mehrwert ist im dokumentarischen<br />

Kontext sehr hoch. Dies liegt in der Natur des Dokumentarfilms: Eine Filmgattung,<br />

die einen historisch realen Sachverhalt zu dokumentieren versucht, kann jedwede<br />

Form historisch realen Materials hinzuziehen, um die relevanten Zusammenhänge der<br />

Wirklichkeit glaubhaft darzustellen sowie die eigene Filmthese und Argumentation untermauern<br />

zu können. Rabiger (2008, 68 ff.) benutzt eine einprägsame Analogie, in der er den<br />

36 Ein Beispiel: Im Dokumentarfilm WAR PHOTOGRAPHER (CH, 2001) befindet sich auf der Kamera des<br />

im Mittelpunkt des Films stehenden Kriegsfotografen James Nachtwey eine Minikamera, die die<br />

Arbeit Nachtweys aus der subjektiven Ich-Perspektive darstellt. Aus dieser Perspektive kann der<br />

Zuschauer immer wieder im Film sehen, wie Nachtwey den Auslöser der Kamera drückt,<br />

woraufhin das gerade „live“ geschossene Foto filmtricktechnisch vor schwarzem Hintergrund in<br />

seiner finalen Gestalt eingeblendet wird. Hier findet eine Transformation statt. Intradiegetisch<br />

konstituiertes Fotomaterial wird vom Erzähler der Geschichte, also dem Dokumentaristen, auf<br />

einer nur für das Publikum einsehbaren, extradiegetisch Ebene eingebunden. Somit wird das<br />

intradiegetisch produzierte Foto zu einem extradiegetisch-homodiegetischen Erzählmittel (vgl.<br />

Kap. 4.3.2).<br />

45


Dokumentarfilm mit einem Gerichtsprozess vergleicht. Hierbei weist er auf die notwendige<br />

„Qualität von Beweismitteln“ (2008, 68) hin:<br />

„Die Vokabeln, mit denen Historiker und Kritiker oft über den Dokumentarfilm sprechen<br />

– „Zeugnis ablegen“, „dokumentieren“, „aussagen“, „beweisen“ – legen die Vermutung<br />

nahe, dass ein Dokumentarfilm einem Publikum zur Beurteilung vorgelegt wird wie Beweismittel<br />

einem Gericht.“.<br />

Dies stellt für Rabiger einen großen Anspruch an den Dokumentaristen in der „Beweisführung“<br />

dar, die eine selbstkritische Betrachtung der „Beweise“ erfordert: 37<br />

„Wie authentisch und glaubhaft sind die Dokumente, Bilder, Erinnerungen oder Aufzeichnungen,<br />

die bei der Beweisführung verwendet werden (sind z.B. die Dokumente<br />

Originale oder Fotokopien).“. (2008, 70).<br />

Die Verwendung von Fremd- und Archivmaterialien kann also je nach Thematik des Dokumentarfilms<br />

sowie der Vision und Haltung des Regisseurs ausgesprochen sinnvoll sein.<br />

Es gibt zudem noch eine weitere Form der Materialverwendung, welche aufgrund ihrer<br />

filmischen Einbindung komplexer einzuordnen ist.<br />

5.2.1.2 Grafische Elemente<br />

Hauptunterscheidungskriterium von grafischen Elementen zu Fremd- und Archivmaterial<br />

ist, dass diese Komponenten filmtricktechnisch erstellt werden. Das heißt, sie abstrahieren<br />

die historisch reale Welt und spiegeln sie in Form virtueller Bilder wieder. Obwohl hier die<br />

Deutungs- und Definitions-Linien teilweise unscharf werden, kann davon ausgegangen<br />

werden, dass das Archivmaterial die gefilmte, historisch reale Welt darstellt und Animationen<br />

einen abstrakteren Sachverhalt deskriptiv abbilden. Auch Untertitel oder Titeleinblendungen<br />

zählen zu dieser Form der visuellen extradiegetischen Erzählmittel.<br />

So werden zum Beispiel im Dokumentarfilm GOD GREW TIRED OF US (USA, 2006) sowohl<br />

Archivbilder als auch Animationen verwendet, um die dramatische Flucht der verfolgten<br />

„Lost Boys“ aus dem Süd-Sudan nach Äthiopien und anschließend nach Kenia nachzuzeichnen.<br />

Ursachen des sudanischen Bürgerkrieges in den 1980er Jahren werden weitgehend<br />

in einer Kombination aus Off-Kommentaren (vgl. Kap. 5.2.2) und Archivmaterial erklärt.<br />

Um die aus der kriegerischen Auseinandersetzung resultierende Flucht der „Lost<br />

Boys“ zu verbildlichen, werden zu den beiden Erzählmitteln Animationen hinzugezogen, die<br />

von den Dokumentaristen augenscheinlich nur für diesen Zweck produziert wurden. Die<br />

37 Zugleich hat sich der Dokumentarist laut Rabiger (ebd.) auch seiner eigenen Haltung gegenüber<br />

kritisch zu positionieren. Für ihn gelte, alle Seiten zu berücksichtigen und nicht nur die eigene<br />

Meinung mit Beweisen zu unterfüttern: „Da der Filmemacher zugleich Anklage, Verteidigung und<br />

Richter repräsentiert, ist es wichtig, dass Sie alle relevanten Informationen und Standpunkte<br />

wiedergeben und nicht nur diejenigen, die Ihre eigenen Vermutungen bestätigen, vor allem dann,<br />

wenn Sie komplexe und widersprüchliche Sachverhalte schildern.“.<br />

46


Animationen zeichnen prägnant den zurückgelegten Fluchtweg der „Lost Boys“ nach und<br />

bieten dem Zuschauer somit eine wichtige Orientierung, um die extradiegetisch nacherzählte,<br />

intradiegetische Flucht der Protagonisten nachvollziehen zu können.<br />

Ihre Verwendung richtet sich direkt an den Zuschauer und dient vornehmlich zur<br />

Vereinfachung der Rezeption. So kann der Rezipient auf einen Blick einen abstrakten Zusammenhang<br />

verstehen (Infografiken etc.) sowie Sprachbarrieren in Kommentar- und Interviewsituationen<br />

überwinden (Untertitel). Hier dient die extradiegetische Erzählebene<br />

dem erzählenden Dokumentaristen als Basis für den Einsatz von Hilfsmitteln, die den Erzählfluss<br />

für den Zuschauer zugänglicher gestalten. Sie ergänzen, erörtern oder vereinfachen<br />

narrative Elemente, um eine insgesamt flüssigere Narration zu ermöglichen.<br />

5.2.2 Off-Kommentare als extradiegetisches Erzählmittel<br />

Im dokumentarischen Kontext unterteilen sich Off-Kommentare in zwei Kategorien. Zum<br />

einen werden Voice-Off-Kommentare eingesetzt, deren Ursprung intradiegetisch ist. Es<br />

wurden also Protagonisten durch die dokumentarischen Filmarbeiten zumindest auditiv<br />

aufgenommen. Jedoch ist die Quelle des Kommentars zum Zeitpunkt ihrer auditiven Einspielung<br />

nicht im Bild oder gar in der aktuellen Szene zu verorten.<br />

Zum anderen gibt es Voice-Over-Kommentare, deren Ursprung klar außerhalb der<br />

Diegese liegt, vornehmlich also durch die Filmemacher konstituiert wurde. Den Kommentarformen<br />

ist gemein, dass „in beiden Fällen […] der Ursprung der Stimme in dem Moment<br />

nicht zu sehen ist (≈ off-screen), in dem die Stimme zu hören ist. Letzteres Faktum unterscheidet<br />

beide Formen von szenischem Voice-on [≈ On-Kommentar, s. 5.1.2] bzw. inszeniertem<br />

Sprechen.“ (Kuhn 2011, 188; Ausl. u. Einf. d. V.).<br />

Der Einsatz von Voice-Off- bzw. Voice-Over-Kommentaren bedingt ihre Kombination<br />

mit Material, welches nicht Quelle ihres Ursprungs ist. Dies impliziert, dass entweder ein<br />

Kommentar die zu sehenden Bilder (dokumentarische Aufnahmen, Fremdmaterialien o.<br />

grafische Elemente) ergänzend mit Informationen anreichern soll oder aber, dass die Bilder<br />

als Visualisierung des gesprochenen Textes zu interpretieren sind.<br />

Ob generell das Verhältnis zwischen Bild- und Ton-Ebene komplementär, kontrapunktierend<br />

oder paraphrasierend ist, hängt von der Intention des Erzählers sowie seiner<br />

Vision und Haltung zur Thematik ab. Satirische Off-Kommentare von Michael Moore in seinem<br />

Film BOWLING FOR COLUMBINE (USA, 2001) zur widersprüchlichen US-Waffenpolitik erzielen<br />

eine gänzlich andere Wirkung als sehr ernste Protagonisten-Kommentare aus dem Off,<br />

wenn es im Film WAR PHOTOGRAPHER um die Erlebnisse Nachtweys in Süd-Afrika geht, wo ein<br />

Kollege quasi in seinen Armen starb.<br />

47


5.2.3 Montage<br />

Wie in Kapitel 4 bereits angedeutet wurde, konstituiert der Dokumentarist erst in der Montage<br />

die eigentliche filmische Erzählung. In dieser Phase der Postproduktion organisiert,<br />

selektiert, strukturiert und kombiniert er die gefilmten bzw. von externen Quellen bezogenen<br />

Materialschnipsel und formt aus diesen die konkreten Bestandteile seines Dokumentarfilms.<br />

Dabei stellen alle zusammengetragenen visuellen, wie auditiven Elemente, komplexe<br />

Bausteine sowohl in inhaltlicher wie auch kinematografischer Hinsicht dar. Aus Sicht<br />

des Dokumentaristen gilt es, sie in einen adäquaten semantischen Zusammenhang nach<br />

syntaktisch-formalen Regeln der Filmgestaltung zu bringen. Wie ein Romanautor, der aus<br />

einzelnen Wörtern inhaltliche Bedeutungseinheiten kreiert, bildet auch der Dokumentarist<br />

aus einzelnen Einstellungen und Tonaufnahmen ein höheres, sinnergebendes Ganzes. Denn<br />

„Bilder wie Worte erhalten ihre Bedeutung erst im Kontext“ (Krieg zit. n. Grassl 2007, 70), in<br />

den sie vom initiierenden Erzähler gebracht werden. Gibt es beim Konstruieren einer belletristischen<br />

Erzählung „nur“ die Zeichenebene der Wörter und ihrer unzähligen semantischen<br />

Kombinationsmöglichkeiten, stehen dem Autor eines (Dokumentar-) Films gleich zwei<br />

komplexe kinematografische Zeichensysteme auf visueller sowie auditiver Ebene zur Verfügung.<br />

Die Formen ihres möglichen Wechselspiels steigern zusätzlich die Komplexität. „Die<br />

Montage ist demnach eine weitere vermittelnde kommunikative [extradiegetische] Handlung<br />

des Erzählers, die alle kinematografischen Elemente des Films zu einem Werk bzw.<br />

einer Geschichte vereint […]“ (Grassl 2007, 101; Ausl. u. Anm. d. V.).<br />

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich der Dokumentarist als Regisseur<br />

selbstkritisch mit seiner Film-Idee als auch mit dem Material auseinandersetzt.<br />

„Um herauszufinden, welcher Film im Material verborgen liegt, wie das Gesetz des Materials<br />

lautet, müssen Grundsatzfragen beantwortet werden: Was will ich erzählen? Was<br />

kann ich – in genauer Kenntnis des Materials – überhaupt erzählen? Das muss nicht unbedingt<br />

identisch sein. Deshalb muss weitergefragt werden: Was kann das Material erzählen,<br />

was kann es nicht erzählen, was will es erzählen?“ (Schadt 2012, 192).<br />

Diese selbstkritische Prüfung der eigenen Vision als auch der Möglichkeiten, die das Material<br />

bietet – sowie die Relation zwischen den beiden Polen – ist entscheidend um „den<br />

bestmöglichen Film“ (Schadt 2012, 193) aus dem vorhanden Material „extrahieren“ zu können.<br />

48


6 Im Netz der Medienkonvergenz<br />

6.1 Definitorische Einordnung<br />

„’Why do we have to define it yet?’ asks indie filmmaker Lance Weiler. ‘Why can`t we just<br />

continue to experiment?’ Because, says TV writer-producer Jesse Alexander (Lost and<br />

Heroes) ‘You have to give it a name so people can talk about it. Isaac Newton didn’t discover<br />

gravity, he named it.’” (@3).<br />

Ebenso wie im eben angeführten Zitat ist Jenkins (2006) der Auffassung, die <strong>Transmedia</strong>lität<br />

nicht „entdeckt“, sondern dieses Phänomen und seine möglichen Implikationen<br />

und Potenziale zum ersten Mal beschrieben zu haben (vgl. Kap. 1.1). So definierte er 2006<br />

(97-98) zum ersten Mal den Kern der transmedialen Erzählung: 38<br />

„A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making<br />

a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedia storytelling,<br />

each medium does what it does best — so that a story might be introduced in a<br />

film, expanded through television, novels, and comics; its world might be explored<br />

through game play or experienced as an amusement park attraction. Each franchise entry<br />

needs to be self-contained so you don’t need to have seen the film to enjoy the game,<br />

and vice versa.”<br />

Dabei konnte er gleichzeitig eine erste Unterscheidung zwischen den bis dato vorherrschenden<br />

crossmedialen Medienprojekten in der elektronischen Unterhaltungsindustrie<br />

ziehen. Im Gegensatz zu transmedialen Erzähltechniken stellen diese Produktionstechniken<br />

mit jeder hinzukommenden medialen Erzähleinheit keinen neuen narrativen Inhalt<br />

bereit und erweitern demnach auch nicht die diegetische Welt. In crossmedialen Medienproduktionen<br />

wird der gleiche Inhalt auf mehrere Medien projiziert. Die Geschichte wird<br />

also lediglich auf mehreren Plattformen adaptiert (vgl. Kap. 1.4). So hält Iacobacci (@6)<br />

fest: „In a crossmedia environment, content is repurposed, diversified and spread across<br />

multiple devices to enhance, engage und reach as many users/viewers as possible. It is<br />

common to call crossmedia ‚content 360‘”.<br />

Auch Jenkins (@10) unterscheidet klar zwischen crossmedialen und transmedialen<br />

Produktionen in der Unterhaltungsindustrie:<br />

„We need to distinguish between adaption, which reproduces the original narrative with<br />

minimum changes into a new medium and is essentially redundant to the original work,<br />

and extensions, which expands our understanding of the original by introducing new elements<br />

into the fiction“.<br />

38 Bereits 2003 notierte Jenkins: “This past month, I attended a gathering of top creatives from<br />

Hollywood and the games industry, hosted by Electronic Arts; they were discussing how to<br />

collaboratively develop content that would play well across media. This meeting reflected a<br />

growing realization within the media industries that what is variously called transmedia,<br />

multiplatform, or enhanced storytelling represents the future of entertainment.” (@4).<br />

49


Was jedoch crossmediale und transmediale Erzählungen gemeinsam haben, ist, laut<br />

Iacobacci, ihr multimedialer „Charakter. „Both crossmedia and transmedia are obviously<br />

multimedia approaches, using largely of any available channel, tool and media to tell a story.“<br />

(@6). Es kann also für die Erörterungen in dieser Arbeit festgehalten werden:<br />

• Crossmediale Medienproduktionen transportieren denselben narrativen Inhalt<br />

medienspezifisch auf mehreren Medien verteilt. Die gleiche Geschichte, der gleiche<br />

Content wird auf verschiedenen Medientypen aufbereitet. Dabei kommt es<br />

nur zu minimalen narrativen Abweichungen von der ursprünglichen Diegese. Es<br />

handelt sich also um eine Adaption.<br />

• Beide Ansätze, crossmedial und transmedial, sind multimediale Phänomene der<br />

Medienkonvergenz. Die Grenzen zwischen beiden Narrations-Formen ist oftmals<br />

noch unscharf und die Übergange weitgehend fließend. Dies liegt am noch experimentellen<br />

Stadium solcher Produktionen (vgl. Kap. 1.3).<br />

• In rein transmedialen Medienproduktionen werden hingegen etablierte Geschichten<br />

und die sie umrahmenden Welten (Diegese) durch jedes hinzukommende<br />

Medium narrativ erweitert oder ergänzt.<br />

6.2 Vorbedingungen für eine sinnvolle <strong>Transmedia</strong>lisierung<br />

Bedenkt man, dass bereits THE MATRIX (USA, 1999) vor mehr als 12 Jahren eine diegetische<br />

Welt etablierte, die beispielsweise durch Spiele, kurze Animationsfilme und eine lebhafte<br />

Web-Community transmedial erweitert wurde (vgl. Jenkins 2006, 103 ff.), ist diese Entwicklung<br />

im dokumentarischen Kontext vergleichsweise jung. Selbst im fiktionalen Filmbereich<br />

konnten sich nur wenige Story-Welten etablieren, die durch transmediale Erzählungen immer<br />

weiter ausgebaut wurden. So merkt Bordwell kritisch an:<br />

„There aren’t that many films/franchises that generate profoundly devoted fans on a<br />

large scale: The Matrix, Twilight, Harry Potter, The Lord of the Rings, Star Wars, Star Trek,<br />

maybe The Prisoner. These items are a tiny portion of the total number of films and TV<br />

series produced. It’s hard to imagine an ordinary feature, let alone an independent film,<br />

being able to motivate people to track down all these tributary narratives. There could be<br />

a lot of expensive flops if people tried to promote such things.” (@9).<br />

Bei den von Bordwell erwähnten, transmedial ausgebauten Story-Universen handelt es sich<br />

fast nur um Vertreter des Fantasy- oder Science-Fiction-Genres. Das heißt, dass nicht nur<br />

diese Genres die Möglichkeit für transmediale Narrationen bieten. Jenkins bemerkt: “[the<br />

transmedia] approach lends itself to a broader array of genres than simply the fantasy and<br />

science fiction franchises that have been its primary home to date.” (@11; Erg. d. V.).<br />

50


Bekanntlich beruhen die Filmereihen von TWILIGHT (USA, 2008), HARRY POTTER<br />

(USA/UK, 2001) und THE LORD OF THE RINGS (USA/NZ, 2001) auf mehreren Romanen, welche<br />

anschließend verfilmt wurden. Obwohl sie ihren Ursprung in der Literatur haben, erlangten<br />

diese Story-Welten erst über das Medium Film einen hohen Bekanntheitsgrad innerhalb<br />

der Popkultur und begeisterten Millionen Menschen. Hinter THE MATRIX (USA, 1999 - 2003)<br />

oder STAR WARS (USA, 1977 - 2005) stehen sogar bekannte Story-Universen, die einem rein<br />

(TV-) filmischen Ursprung entwachsen sind.<br />

Es kann daher konstatiert werden, dass erst das Aufkommen filmischer Ableger den<br />

bis dahin nicht sehr populären Story-Welten zu einem derart breiten Publikum verholfen<br />

haben. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass (Kino-)Filme im Rahmen einer<br />

transmedial erzählten Story-Welt eine Schlüsselrolle einnehmen. Es liegt die Vermutung<br />

nahe, dass sie über das Potenzial verfügen, eine populäre Basis zu schaffen, auf der transmediale<br />

Erzählungen aufbauen können. In dieser Rolle agieren sie als initiierende Primärwerke,<br />

die eine Geschichte öffentlichkeitswirksam etablieren. 39<br />

Jenkins zufolge liegt Bordwells Beobachtung, es gäbe nicht viele erfolgreiche transmedialer<br />

Story-Welten, zu Grunde, dass nur wenige Filme auch eine komplexe, faszinierende<br />

diegetische Welt ausbreiten und erzählen, sondern sich vielmehr eher auf charakter-<br />

oder handlungsorientierte Geschichten konzentrieren:<br />

„For me, the core aesthetic impulses behind good transmedia works are world building<br />

and seriality. For this reason, the transmedia approach enhances certain kinds of works<br />

that have been udged [!] harshly by traditional aesthetic criteria because they are less<br />

concentrated on plot or even character than more classically constructed narratives.”<br />

(@11).<br />

Aus diesen von Jenkins formulierten Kerneigenschaften und der zuvor getroffenen Feststellung,<br />

dass Filmen in vielen populären Fällen eine etablierende Schlüsselrolle zukommt –<br />

auch Jenkins bezieht sich öfters auf ein solches „mother ship, the primary work which anchors<br />

the franchise“ (@10; Herv. d. V.) – kann für die nachfolgenden Betrachtungen geschlussfolgert<br />

werden:<br />

• Als Ausgangspunkt für eine <strong>Transmedia</strong>lisierung einer dokumentarischen Erzählung,<br />

sollte ein Primärwerk eine Thematik unserer Wirklichkeit in Form einer ver-<br />

39 Aus dieser Schlussfolgerung sowie den angeführten Betrachtungen Bordwells und Jenkins ergibt<br />

sich so folgendes Kriterium für transmediale Erweiterungen von Dokumentarfilmen, dass<br />

besonders im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der deutschen Branche relevant ist (vgl.<br />

Kap. 1.2): Je größer die generierte „Fanbasis“ eines Filmprojektes ist, desto niedriger sind die<br />

ökonomischen Barrieren, die etablierte diegetische Welt transmedial zu erweitern und zu<br />

ergänzen. Das Risiko „expensive flops“ zu erzeugen, könnte daher sinken. Trotz seiner großen<br />

Bedeutung soll dieser Punkt im Rahmen dieser Arbeit ausgeklammert werden. Stattdessen soll<br />

sich auf zwei weitere sehr relevante gestaltungsorientierte Kriterien konzentriert werden, die aus<br />

der Diskussion von Bordwell und Jenkins abgeleitet werden können.<br />

51


dichteten Diegese konstruieren und etablieren, die genügend Anknüpfungspunkte<br />

für weitere transmediale Erzählungen bereithält („world building“; s. Kap. 7.2).<br />

• Im Sinne der von Jenkins erwähnten „seriality“ müssen Aspekte dieser Thematik<br />

fragmentierbar sein. Das heißt, es müssen sich einzelne sinnvolle narrative Einheiten<br />

bilden lassen, welche allein für sich stehend eine Geschichte erzählen<br />

können (s. Kap 8).<br />

6.3 <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Kontext<br />

Die zeitlichen Möglichkeiten, einen Dokumentarfilm mit transmedialen Erzählmitteln zu<br />

kombinieren, sind theoretisch unbegrenzt. Long (2007, 165) weist jedoch zu Recht<br />

daraufhin, dass<br />

„when evaluating a transmedia franchise, it’s important to consider when the transmediation<br />

began. If a story wasn’t intended to spawn other stories, then it might have been<br />

written as a ‘closed’ world and later extensions may feel artificial. […] Storytellers and<br />

producers working on transmedia franchises may want to keep this distinction in mind<br />

when either beginning a new project or joining an existing one to determine the difficulty<br />

of adding further extensions.”<br />

Daraus kann abgeleitet werden, dass es sehr sinnvoll ist, transmediale Erweiterungen bereits<br />

zu Beginn einer Dokumentarfilmproduktion einzuplanen. Um Wechselwirkungen zwischen<br />

den dokumentarischen und den transmedialen Gestaltungsebenen prägnanter aufzeigen<br />

zu können, soll in dieser Arbeit daher angenommen werden, dass die transmediale<br />

Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung bereits von vorneherein miteingeplant<br />

wird. 40 Aufgrund der Filmgattungs-spezifischen Beziehung zur Realität (vgl. Kap. 2.1) existieren<br />

in den meisten Fällen keine literarischen Vorlagen, auf denen eine dokumentarfilmische<br />

Betrachtung aufbauen kann. Vielmehr stellt es sich so dar, dass der Dokumentarfilm<br />

durch seine Funktion als Repräsentant der Wirklichkeit fast immer zum ersten Mal<br />

bestimmte Zusammenhänge der historisch realen Welt extrahiert und filmisch darstellt.<br />

Daher kann er als primäre narrative Einheit gesehen werden, die den Anstoß einer parallel<br />

stattfindenden transmedialen Erzählung gibt. In dieser Rolle führt er als „Ur-Werk“ erstmals<br />

in eine Thematik ein und generiert Aufmerksamkeit. Als ein solches initiatives Primärwerk<br />

etabliert er die diegetisch verdichtete Wirklichkeit. So werden die relevanten Protagonisten,<br />

Orte, Umstände und Sachverhalte in Beziehung zueinander gestellt und für das Publi-<br />

40 Der sinnvollste Zeitpunkt hängt allgemein von der Intention des Dokumentaristen und seines<br />

Auftrages ab (vgl. Kap. 3.1.1). Auch die Thematik des zu dokumentierenden Wirklichkeits-<br />

Ausschnittes hat Einfluss.<br />

52


kum vorgestellt. Daran anknüpfend können dann bereits parallel mitentwickelte transmediale<br />

Erweiterungen anknüpfen. 41<br />

Im Zuge dieser abgeleiteten – möglichen – Verschränkung von Dokumentarfilm und<br />

transmedialer Narration können die medialen Erweiterungen eines Films auch als transmediale<br />

(Erweiterungs-) Kampagne bezeichnet werden. 42 Eine derartige Erzähl-Kampagne<br />

impliziert, dass die Diegese des Dokumentarfilms transmedialisiert wird. Durch den Prozess<br />

der <strong>Transmedia</strong>lisierung erwächst aus der dokumentar-filmischen Diegese eine diegetische<br />

Welt, die durch die werks-internen Diegesen aller transmedialen Erzählungen repräsentiert<br />

wird. Die Geschichte des Dokumentarfilms bildet also den Keim für einen transmedial aufgezogenen<br />

„Geschichten-Baum“. Die Werks-interne Diegese des Dokumentarfilmes geht<br />

somit in der diegetischen Welt auf. Der Begriff „diegetische Welt“ kann als dokumentarisches<br />

Pendant zu den Begrifflichkeiten „story world“, „Story-Welt“ oder „Story-Universum“<br />

verstanden werden.<br />

Es könnte argumentiert werden, dass eine diegetische Welt nur innerhalb des Primärwerkes<br />

und allen transmedialen Erzählungen existiert: Alles was nicht in der transmedialen<br />

Kampagne dargestellt wurde, existiert bisweilen auch nicht. Erst wenn dieser Erzählkanon<br />

erweitert wird, erweitert sich auch die diegetische Welt. Vor allem bei fiktionalen Werken,<br />

die von einer fiktionalen Welt erzählen, ist dieses Argument sicher zutreffend. Bei<br />

ihnen lebt die Story-Welt nur in den einzelnen Werken.<br />

Doch da es sich bei einem Dokumentarfilm immer um die verdichtete Abbildung der<br />

Welt handelt, welche über die transmediale Erzählkampagne hinaus weiterhin existiert,<br />

spielt der Aspekt einer unabhängigen – weil in der Wirklichkeit verankerten – diegetischen<br />

Welt eine zusätzliche Rolle. Mit jeder transmedialen Erweiterung wird zwar die diegetische<br />

Welt weiter narrativ ausgebaut, jedoch stellt dies die Beleuchtung bislang nicht im Fokus<br />

gestandener Bestandteile der realen Welt dar. Es handelt sich also nicht um eine rein narrative<br />

Konstruktion wie bei fiktionalen Werken. Mit jeder hinzukommenden transmedialen<br />

Erweiterung wird ein weiterer, kleiner Wirklichkeits-Ausschnitt erzählerisch verdichtet und<br />

41 Die Aufmerksamkeitsgenerierung durch das Primärwerk bietet sich an, ist jedoch im Zweifelsfall<br />

optional anzusehen. Es hängt sehr stark von der behandelten Thematik ab, ob ein<br />

Dokumentarfilm in der Form eines Flaggschiffes öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen soll. Es<br />

würde zudem auch die Möglichkeit bestehen, eine integrierte dokumentarische Kampagne, in der<br />

der Dokumentarfilm nicht mehr als Primärwerk auszumachen ist zu planen. Doch für diese<br />

transmediale dokumentarische Narration bedarf es einer eigenständigen umfangreichen Analyse,<br />

die in dieser Arbeit nicht durchgeführt werden kann.<br />

42 Der Begriff Kampagne soll in diesem Zusammenhang den Kanon transmedialer Erweiterungen<br />

beschreiben, der sich um ein Primärwerk gebildet hat. Er ist in erster Linie als Erzähl-Kampagne zu<br />

verstehen. Mit dem Begriff Kampagne ist nicht die strategische Platzierung medialer Inhalte im<br />

Sinne einer PR-Kampagne gemeint, obwohl diese Assoziationen in Abhängigkeit eines<br />

dokumentarischen Themas sicherlich zutreffend wären.<br />

53


der bereits bestehenden diegetischen Welt zugeführt. Diese fortführende dokumentarische<br />

Verdichtung stellt einen wesentlichen Unterschied zur ergänzenden Dichtung im fiktionalen<br />

Bereich dar.<br />

Diese Feststellung bedeutet, dass ein Themenkomplex in einer transmedialen Kampagne<br />

theoretisch immer weiter beleuchtet werden könnte, da er in unserer Wirklichkeit<br />

verankert ist und dementsprechend in ein sehr komplexes Netz aus weltlichen Zusammenhängen<br />

und Faktoren eingebettet ist. Hier muss also die Fokussierung und vorausgehende<br />

Definition einer potenziellen diegetischen Welt die Grenzen des Erweiterungs-Kanons setzen,<br />

wie im nachfolgenden Kapitel erörtert wird.<br />

Abbildung 7 zeigt übersichtlich das Verhältnis zwischen Primärwerk, transmedialer<br />

Kampagne, sowie dokumentar-filmischer Diegese und diegetischer Welt im Kontext der<br />

Wirklichkeit: 43 Abbildung 7: Relationaler Zusammenhang in einer transmedialen Kampagne. 44<br />

43 Dabei wird auf den Begriff der „narrativen Lücken“ zu einem Späteren Zeitpunkt noch näher<br />

eingegangen, da dieser in einem anderen Kontext sehr relevant ist (s. Kap. 7.3):<br />

44 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

54


7 Der Dokumentarist als Weltenbauer<br />

7.1 Die Thematik wird zum Franchise<br />

Mit der <strong>Transmedia</strong>lisierung der dokumentar-filmischen Erzählung geht zwangsweise eine<br />

Wahrnehmungsveränderung bezüglich der Diegese einher, auf die sich der Dokumentarist<br />

einlassen muss, um die Sinnhaftigkeit der transmedialen Narration möglichst konkret fassen<br />

zu können. Die „richtige Denke“ ist Voraussetzung für das effiziente, sinnvolle Ausschöpfen<br />

der transmedialen Erzählung und ihrer Möglichkeiten.<br />

Im Hinblick auf die bereits erwähnten fiktionalen Beispiele in Kapitel 6.2, die von<br />

Jenkins und Bordwell als Franchise bezeichnet wurden, stellt sich die Frage, welche Motivation<br />

hinter einer <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Bereich stehen könnte?<br />

Warum sollte dieser Aufwand betrieben werden und wo liegt der Mehrwert für den Zuschauer?<br />

Denn der findet bei den fiktionalen <strong>Transmedia</strong>lisierungen zumindest die Möglichkeit,<br />

noch tiefer in fantastische Welten einzutauchen, um sich so mitunter hervorragend<br />

unterhalten lassen zu können.<br />

Diese Fragen stellt sich auch Merin (@15) und kommt mit einem gelungenen Beispiel<br />

zu einer klaren Antwort:<br />

„But when it comes to transmedia branding of a documentary, the task isn't that simple.<br />

Turn to the example of Garbage Dreams [Dokumentarfilm 45 ], which has successfully<br />

made its mark on multiple platforms. Just what is the brand that identifies and unifies<br />

Garbage Dreams’ multiplatform campaign? It's not the film itself, although the title is<br />

used as the game's name. It isn't the director, Mai Iskander -- and, if it were, the multiplatform<br />

model might well collapse under the weight of what might well be perceived as<br />

filmmaker egocentricity. It isn't the three 'zeballeen' teens, although they are characters<br />

who face dramatic and gripping life-threatening challenges and are, in their way, as engaging<br />

as Harry Potter.<br />

The Garbage Dreams multiplatform brand is the film's issue. More specifically, the brand<br />

is the issue of waste disposal, recycling and how all that effects human life on Earth.<br />

That's what the film's about. That's what the game's about. That's what the discussion is<br />

about. The issue is the brand.” (Anm. u. Herv. d. V.).<br />

Passend resümiert Merin (@15): „Basically, it [transmedia storytelling] is a marketing<br />

approach.” (Anm. u. Umst. d. V). Damit hält sie einen wichtigen Gedanken fest, der mit der<br />

<strong>Transmedia</strong>lisierung von Story-Welten einhergeht: „Marjor studios and distributors have<br />

successfully used transmedia marketing to promote narrative blockbusters – the ‘Harry<br />

Potter’ franchise is an obviously successful mainstream example.“ (ebd.). Es gibt viele Formen,<br />

wie transmediale Narration genutzt werden kann. Die Verwandtschaft zwischen<br />

transmedia storytelling und transmedia branding kann daher schlüssig erklärt werden. Bei<br />

45 Für weitere Informationen siehe: www.garbagedreams.com (letzter Aufruf 12.11.12).<br />

55


der <strong>Transmedia</strong>lisierung von Inhalten in unserer Zeit haben sich stetig Strategien, Methoden<br />

und geeignete Instrumente weiter entwickelt und gegenseitig beeinflusst. Der methodische<br />

Kanon kann entsprechend vielseitig eingesetzt werden, um Markenwelten oder<br />

eben fiktionale respektive faktuale diegetische Welten zu etablieren – dies kann mitunter<br />

sogar dasselbe sein. Jenkins (@7) macht deutlich:<br />

„<strong>Transmedia</strong>, used by itself, simply means “across media.” <strong>Transmedia</strong>, at this level, is<br />

one way of talking about convergence as a set of cultural practices. […] <strong>Transmedia</strong> storytelling<br />

describes one logic for thinking about the flow of content across media. We might<br />

also think about transmedia branding, transmedia performance, transmedia ritual,<br />

transmedia play, transmedia activism, and transmedia spectacle, as other logics.” (Ausl.<br />

d. V.).<br />

In Hinblick auf große Filmstudios liegt die Vermutung nahe, dass der tiefere Sinn von<br />

„transmedia storytelling“ darin besteht, möglichst viele Menschen auf möglichst vielen<br />

Plattformen mit ihrer Story-Welt anzusprechen, sie eintauchen zu lassen, um somit Synergie-Effekte<br />

zwischen den einzelnen narrativen Einheiten entstehen zu lassen. Denn umso<br />

mehr Menschen sich mit einer diegetischen Welt beschäftigen, desto höher ist die Chance,<br />

dass sie auch weitere Medien und Geschichten, die in der Diegese angesiedelt sind, konsumieren,<br />

um mehr über die erzählte Welt zu erfahren. Letztlich stellt dies eine weitere Säule<br />

im Gebäude der Profitmaximierung dar.<br />

Aus Sicht der Verbraucher ein wünschenswerter Zustand. So bieten mehr transmediale<br />

Erzählungen auch mehr Berührungspunkte für Fans, sich mit seinem Lieblings-Story-<br />

Universum auf unterschiedle Weise auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel anhand von<br />

STAR WARS oder HARRY POTTER nachvollziehbar ist. Neben den Filmen können Bücher gelesen<br />

oder auch Videospiele gespielt werden, die im selben – mitunter faszinierenden – Story-<br />

Universum angesiedelt sind.<br />

Im Hinblick auf eine Dokumentarfilmproduktion bietet es sich an, die in der Diegese<br />

manifestierten Thematiken zu „branden“, das heißt sie zu einer Marke auszubauen. Ein<br />

durch ein Primärwerk erschlossenes Themenfeld wird so zu einer Markenwelt, einem Franchise<br />

46 weiterentwickelt und transmedial erzählt. Hier stellt sich die Motivationslage auf<br />

Seiten des Dokumentaristen jedoch etwas komplexer dar. Zum einen – das wurde in Kapitel<br />

1.2 und 1.3 dargelegt – wird in der transmedialen Erzählung eine Möglichkeit gesehen, Profite<br />

zu steigern, um so einen Ausweg aus der gegenwärtig kritischen Lage der gesamten<br />

46 Obgleich die Idee des Franchise relativ bekannt ist, soll sie hier noch einmal aufgeführt werden:<br />

„Franchise bezeichnet im Medienbereich das geistige Eigentum (z. B. für Bücher, Filme,<br />

Handlungsrahmen, Figuren, Schauplätze, Warenmuster), das über mehrere Produkte und<br />

meistens auch über mehrere Medien (z. B. Film, Literatur, Fernsehen, Videospiele) hinweg<br />

entwickelt und verwendet wird. Eine der bekanntesten Personen dieses Marketing-Konzepts war<br />

Walt Disney, dessen Name zum Synonym für Franchise wurde.“ (@16).<br />

56


Dokumentarfilm-Branche zu finden. Jedoch ermöglicht <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentarischen<br />

Kontext auch die Generierung von Aufmerksamkeit auf bestimmte Thematiken und<br />

Sachverhalte unserer Welt. Ganz im Sinne vieler Dokumentaristen kann die Welt dargestellt<br />

und aufgeklärt werden (vgl. Kap. 2). Für den mündigen Zuschauer bietet dies die entsprechende<br />

Gelegenheit, sich umfassend über bestimmte Zusammenhänge seiner eigenen<br />

Wirklichkeit aufklären zu lassen. Statt des Dokumentarfilms als einziger Spiegel der Welt<br />

kann das Publikum im Falle einer transmedialen Kampagne in einen Kanon von Spiegeln<br />

eintauchen, die jeweils kleine Facetten der gleichen Wirklichkeit beleuchten.<br />

Die Idee, dokumentarische Thematiken zu Marken auszubauen, soll nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, dass es sich bei der transmedialen Erweiterung von dokumentarischer<br />

Narration im Sinne Jenkins um „transmedia storytelling“ und nicht „transmedia branding“<br />

handelt:<br />

„We might also draw a distinction between transmedia storytelling and transmedia<br />

branding, though these can also be closely intertwined. So, we can see something like<br />

Dark Lord: The Rise of Darth Vader as extension of the transmedia narrative that has<br />

grown up around Star Wars because it provides back story and insights into a central<br />

character in that saga. […] By comparsion, Star Wars breakfast cereal may enhance the<br />

franchise’s branding but it may have limited contribution to make to our understanding<br />

of the narrative or the world of the story.” (@10).<br />

Insofern liegt nach Jenkins Definition eine begriffliche Unschärfe bei Merins Feststellung<br />

vor. Trotzdem wurde ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit transmedialer Narration<br />

benannt.<br />

Ein anschauliches Beispiel für eine transmediale Kampagne mitsamt dem Thema als<br />

Franchise bietet der Oskar-prämierte Dokumentarfilm THE COVE (USA, 2009). „[The movie]<br />

follows an elite team of activists, filmmakers and freedivers as they embark on a covert<br />

mission to penetrate a remote and hidden cove in Taijii, Japan, shining a light on a dark and<br />

deadly secret” (@12; Erg. d. V.) – nämlich der alljährlichen Tötung hunderter Quecksilber<br />

kontaminierter Delfine, deren Fleisch anschließend als Walfleisch in Japan angeboten wird.<br />

Auf einer dazugehörigen Webseite 47 erhält das Publikum Zugang zu Hintergrundinformationen,<br />

zu den Protagonisten sowie vertiefende Erörterungen des Sachverhaltes in<br />

Text- und Videoform. Dazu gibt es themenrelevante Informationen in Form von Studien<br />

und Publikationen zu den Themenbereichen „genießbare Fischsorten“ und „Quecksilber-<br />

Vergiftung“ – beides Aspekte der Thematik bzw. der Diegese, welche hier unabhängig von<br />

der Erzählung des Films vertieft werden.<br />

47 www.thecovemovie.com (letzter Aufruf 11.11.12).<br />

57


Gleichzeitig geht die <strong>Transmedia</strong>lisierung noch ein Stück weiter und versucht die<br />

Wahrnehmung des Publikums über den Film hinaus zu sensibilisieren und sein Engagement<br />

zu fördern. Dafür gibt es auf der Homepage eine Kategorie „What Can You Do?“ (vgl. @12).<br />

Diese führt umgehend zu einer neuen Webseite 48 , auf der die einleitende Überschrift „The<br />

Secret Is Out. Spread the Word“ (@13) die Intention der Macher aufzeigt. Hier werden dem<br />

interessierten Publikum weitere Hinweise darauf gegeben, wie sie sich aktiv an der sogenannten<br />

„Social Action Campaign“ (@13) beteiligen können. Neben der Möglichkeit zur<br />

Spende kann auch an einer Petition teilgenommen werden „to Help Save Japan’s Dolphins“<br />

(@14). Zudem werden sehr viele Artikel, Fotos und Videos zu den etablierten Themenfeldern<br />

angeboten. Hierzu werden dann auch kleine Ausspielungen des eigentlichen Films<br />

(crossmedial) eingesetzt.<br />

Ganz klar tritt der angesprochene transmediale Franchise-Gedanke zu Tage. Die vom<br />

Film behandelte Thematik wird unter dem etablierten Marken-Namen „The Cove“ zu einem<br />

Franchise weiterentwickelt. Es wird damit begonnen, letztlich auch losgelöst von den Protagonisten<br />

des Films, über verschiedene Ausschnitte der – auf der Wirklichkeit beruhenden<br />

– Thematik, zu berichten. Die in der Diegese dargestellten thematischen Aspekte werden<br />

einzeln aufgegriffen und unabhängig von der eigentlichen Erzählung weiter vertieft. Eine<br />

transmediale Kampagne kann also auch neben der erzählenden Funktion eine informierende<br />

haben. 49 Der Franchise-Gedanke geht bei THE COVE soweit, dass auch Kleidungsstücke,<br />

Wein und Musik gekauft werden können, auf denen „The Cove“ draufsteht bzw. die vom<br />

Film inspiriert wurden. Die transmediale Kampagne wird zur Markenwelt.<br />

Das Beispiel verdeutlicht auch weitere bemerkenswerte Punkte. Zum einen dient der<br />

Dokumentarfilm als initiatives Primärwerk für eine transmediale Erzählung. Die diegetische<br />

Welt, wurde durch den Film erstmals als filmische Diegese konstituiert. Die mit dem Film<br />

einhergehende transmediale Erzählung dieses Welt-Ausschnitts weist genau genommen<br />

auch crossmediale adaptive Anteile auf. Sie liefert zum einen, wie oben bereits beschrieben,<br />

Hintergrundinformationen. Der Dokumentarfilm dient also im Sinne der Kampagne zur<br />

Generierung von Aufmerksamkeit, quasi als „Eyecatcher“, der das interessierte Publikum in<br />

die transmediale Kampagne einführt.<br />

Die Kampagne ermöglicht dem Zuschauer zum anderen aktiv die thematischen Sachverhalte<br />

der Diegese (Delfinschlachten in der Bucht Taijin) mithilfe der Petition zu beeinflussen.<br />

Hier findet also durch transmediale Narration eine Rückkopplung mit der filmischen<br />

48 www.takepart.com/cove (letzter Aufruf 11.11.12).<br />

49 Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlich eingegangen (s. Kap. 8.1.1.1).<br />

58


Diegese statt: Der Zuschauer wird als aktiver Akteur zu einem unterstützenden Bestandteil<br />

der Kampagne der Filmemacher (s. Kap. 9.2).<br />

7.2 Vermessung geeigneter Ausschnitte der Welt<br />

„When I first started you would pitch a story because without a good story, you didn’t<br />

really have a film. Later, once sequels started to take off, you pitched a character because<br />

a good character could support multiple stories. And now, you pitch a world because a<br />

world can support multiple characters and multiple stories across multiple media.” (u.V.<br />

zit. n. Jenkins 2006, 116).<br />

Wie Jenkins mit dem Zitat betont, sollten grundlegend bestimmte Punkte hinsichtlich<br />

der zu dokumentierenden Thematik beachtet werden, um mit einem Dokumentarfilm als<br />

Primärwerk möglichst erfolgreich ein Themenfeld als Franchise zu etablieren und transmedial<br />

erzählen zu können. Welche Eigenschaften eine dokumentarische Thematik aufweisen<br />

sollte um die daraus verdichtete Diegese optimal für alle nachfolgenden transmedialen<br />

Schritte ausrichten zu können. Was ist für transmediale Erzählungen geeignet?<br />

Moloney (2010, 89) kommt hier zu dem Schluss:<br />

„Jenkins' principle of worldbuilding is of significant importance in a transmedia entertainment<br />

production. When imagining a new world for a fictional story, all the complexities<br />

and nuances must be imagined and created as well. However, journalism and documentary<br />

stories already exist within a preexisting world notable for its complexity, nuance<br />

and unpredictability. It is not the task of a journalist to build that world, but to explore<br />

its many possible stories in the most enlightening way — or to facilitate the public<br />

doing that for itself.”<br />

Hierzu nimmt Moloney (2010, 12) an, dass vor allem „ [the] coverage of a complex<br />

and ongoing issue – immigration, the aftermath of war, social struggle – lends itself perfectly<br />

to a considered approach and complex delivery”. Die Logik hinter seiner Annahme ist<br />

nachvollziehbar: Komplexe gesellschaftliche Themen, die multifaktoriellen Einflüssen unterliegen<br />

und eine Vielzahl an Parteien involvieren bzw. tangieren, scheinen potenziell mehr<br />

Anknüpfungsmöglichkeiten für ergänzende und weiterführende Erzählungen auf transmedialer<br />

Ebene zu bieten, als vielleicht bei Charakter-orientierten Themen angenommen werden<br />

könnte. 50 Dies wurde auch bereits mit Jenkins (vgl. @11) in Kapitel 6.2 angedeutet.<br />

Letztlich kommt es auf die erzählerische Aufbereitung der Thematik an. Es liegt im Geschick<br />

des Dokumentaristen das Thema derart strategisch-redaktionell zu erfassen, dass es genügend<br />

Potenzial für eine transmediale Erzählung bietet.<br />

50 Nichtsdestotrotz kann unterstellt werden, dass auch Charakter-orientierte Dokumentarfilme mit<br />

ihrer Diegese als Basis für eine transmediale Erweiterung dienen können. Die Lebenswelt<br />

einzelner Protagonisten könnte transmedial aufbereitet werden.<br />

59


60<br />

So fragen Klastrup und Tosca (2004, 4) „Which core features can we find in all transmedial<br />

worlds?“. Wohlbemerkt, ihre Frage bezieht sich vor allem auf eine fiktional-virtuelle<br />

Welt, wie sie in Multiplayer-Videospielen angesiedelt ist, in die Spieler mit einem Avatar<br />

eintauchen und auch einander begegnen können. Ihre selbstgegebene Antwort fällt eindeutig<br />

aus. Sie schlagen drei Dimensionen vor, in denen eine transmedialisierte (fiktionale)<br />

Diegese möglichst substanzielle Ausprägungen aufweisen sollte: 51<br />

• Mythos: Die alles umgebende große Rahmenhandlung/ Hintergrundgeschichte.<br />

Sie evoziert Konflikte und Ereignisse und stellt Protagonisten einen Handlungsraum<br />

zur Verfügung. Diese Elemente reihen sich in Geschehnisse ein und entfalten<br />

somit einzelne Geschichten (vgl. Kap. 4.1.1). „One could say that the mythos<br />

of the word is the backstory of all backstories – the central knowledge one needs<br />

to have in order to interact with or interpret events in the word successfully.”<br />

(ebd.).<br />

• Topos: Das Setting der Welt bezüglich Raum und Zeit. Wo und wann ereignen<br />

sich die einzelnen Geschichten? Was sind die zentralen Schauplätze? Welche<br />

ortsbedingten oder zeitlich bedingten Besonderheiten herrschen? Welche kulturell-<br />

gesellschaftlichen Bedingungen wurden vorgefunden? „[…] we can say that<br />

knowing the topos is knowing what is to be expected from the physics of and navigation<br />

in the world.“ (ebd.; Ausl. d. V.).<br />

• Ethos: Die ethische Grundstrukturierung der erzählten Welt. Sie beinhaltet implizite<br />

und explizite moralische Kodizes, nach denen sich die Charaktere ausrichten.<br />

52<br />

Diese drei Dimensionen stellen die Substanz einer diegetischen Welt dar. Je ausgeprägter<br />

sie sind, desto vielfältiger und substanzieller können auch transmediale Erzählungen<br />

ausfallen. Bei der Auswahl einer potenziellen Thematik müssen sich also Mythos, Topos<br />

und Ethos in einem Ausschnitt der Wirklichkeit wiederfinden lassen. Das heißt in einem<br />

Stück Welt sollten die Zusammenhänge derart verschränkt sein, dass sie im Sinne der drei<br />

51 Trotz der fiktionalen Ausrichtung ihres Ansatzes können die von Klastrup und Tosca aufgestellten<br />

Attributfelder nachfolgend in adäquater Weise für den faktualen Bereich des Dokumentarfilms<br />

adaptiert werden.<br />

52 Long (2007, 61 ff.) identifiziert sechs hermeneutische Klassen, die eine diegetische Welt<br />

substanziell für transmediale Fortführungen und Erweiterungen vorbereitet: „A storyteller looking<br />

to craft a potential transmedia narrative should carefully craft the world in which that story exists,<br />

and then make passing references to other cultures, characters, events, places, sciences or<br />

philosophies of that world during the course of the narrative to simultaneously spark audience<br />

imaginations through negative capability and provide potential openings for future migratory<br />

cues.“ Die von ihm genannten Attribute finden sich jedoch allesamt in den Dimensionen Mythos,<br />

Topos und Ethos wider und werden daher nicht weiter berücksichtigt.


Dimensionen vermuten lassen können, dass die spätere diegetische Welt entsprechend<br />

interessant ausfallen kann. 53<br />

Und genau dies ist eine positive Grundvorrausetzung für die transmediale Narration<br />

einer dokumentar-filmischen Thematik. Jeder hinzukommende erzählerische Baustein kann<br />

eine sinnvolle Fortführung oder Ergänzung zur etablierten diegetischen Welt des Primärwerks<br />

leisten und stellt nicht bloß oberflächliches Beiwerk dar. Jenkins (2006, 116) schreibt<br />

hierzu:<br />

„More and more, storytelling has become the art of world building, as artists create<br />

compelling environments that cannot be fully explored or exhausted within a single work<br />

or even a single medium. The world is bigger than the film, bigger even than the franchise<br />

– since fan speculations and elaborations also expand the world in variety of directions”.<br />

Im dokumentar-filmischen Kontext wird klar, dass der Mythos eine grundlegend tragende<br />

Rolle bei der Eingrenzung eines Themenfeldes hat, respektive diese sogar definiert.<br />

Er spiegelt den eigentlichen Sachverhalt und die damit verbundenen Zusammenhänge wieder,<br />

die sich hinter einer Thematik verbergen. Im Falle von THE COVE könnte man den Mythos<br />

als „Delfin-Schlachtung in Japan“ benennen. Er stellt den rahmengebenden Kontext<br />

dar und bedingt den großen Konflikt zwischen Tierschützern und japanischen Fischern. Aus<br />

deren Reihen stellt der Film einzelne Protagonisten (Richard O’Barry und das Filmteam) und<br />

Antagonisten (Fischer sowie die Delfinarium-Industrie) heraus. Teilaspekte dieser Rahmenhandlung<br />

stellen die Basis für einzelne Geschichten dar:<br />

• Massenschlachtung von Delfinen in einer abgesperrten, nicht einsehbaren Bucht<br />

im Ort Taiji. Konflikt: Protagonisten möchten herausfinden, was Antagonisten<br />

dort genau machen.<br />

53 Interessanterweise schlägt Ryan (@18) unabhängig von Long (2007) vor “to define storyworlds<br />

through a static component that precedes the story, and a dynamic component that captures its<br />

unfolding.” Und führt dann aus:<br />

“1. An inventory of existents, comprising (a) the kinds of species and objects that populate the<br />

storyworld; (b) the cast of individual characters who act as protagonists<br />

2. A folklore relating to the existents (backstories, legends, rumors)<br />

3. A space with certain geographic features<br />

4. A set of natural laws<br />

5. A set of social rules and values<br />

Dynamic component:<br />

6. Physical events that bring changes to the existents<br />

7. Mental events that gives significance to the physical events (i.e. the motivations of the<br />

agents and the emotional reactions of both agents and patients), affect the relations between<br />

characters, and occasionally alter the social order”. Ryan bietet eine weitere, detaillierte<br />

Aufschlüsselung der relevanten Elemente einer potenziellen Story-Welt. Jedoch findet sich<br />

dies ebenfalls auch in den drei Dimensionen wider.<br />

61


• Mit Quecksilber kontaminiertes Delfin-Fleisch wird als Wal-Fleisch deklariert und<br />

in Supermärkten verkauft. Konflikt: Protagonisten möchten Öffentlichkeit aufklären<br />

und Antagonisten somit am Verkauf hindern.<br />

• Die boomende Delfinarien-Industrie bietet finanzielle Anreize für das Fortführen<br />

des Schlachtens in der Taiji-Bucht. Das profitable Geschäft weist eine Doppel-<br />

Moral auf (familiengerechte Shows mit Delfinen vor dem Hintergrund blutiger<br />

Massenschlachtungen). Konflikt: Protagonisten kämpfen gegen die kommerzielle<br />

Ausnutzung der überlebenden Delfine durch Delfinarien.<br />

• Japan weigert sich an Wal-Schutz-Abkommen teilzunehmen und erwirbt durch<br />

finanzielle Anreize die Gunst kleinerer Staaten um bei Abstimmungen auf internationalen<br />

Konferenzen Mehrheiten zu erlangen. Konflikt: Protagonisten wollen<br />

auf diese Missstände aufmerksam machen.<br />

Die von Klastrup und Tosca angeführte Dimension Topos ist am einfachsten auf faktuale<br />

Erzählungen übertragbar. Ort und Zeit können aufgrund ihres Ursprungs in der historisch<br />

realen Welt immer eindeutig bestimmt werden.<br />

Ihre Ausprägungen können grob oder detailliert ausfallen. Wichtig sind nur bestimmte<br />

Bezugspunkte, damit der Zuschauer das Gezeigte in Relation zu sich selbst stellen und<br />

sich somit orientieren kann. Beispiel:<br />

• Raum/ Ort: Asiatischer Kulturraum, Times Square in New York City, der<br />

Schwarzwald.<br />

• Zeit/ Epoche: Deutschland im zweiten Weltkrieg, Mauerfall, Zur Zeit der Pharaonen.<br />

• Im Beispiel THE COVE: Japan im hier und jetzt; genauer: Taiji 2009, als Ort des<br />

zentralen Geschehens.<br />

Komplexer erscheint hingegen die Verortung des Ethos im dokumentarischen Kontext.<br />

Die genannten moralischen Kodizes beinhalten die Wertevorstellungen der verschiedenen<br />

Charaktere sowie ihre daraus resultierenden Motivationen. Nach welchen ethischen<br />

Vorstellungen sich Protagonisten und Antagonisten ausrichten, definiert auch, wie sehr sie<br />

sich überhaupt voneinander unterscheiden lassen. Es kann eine Herausforderung für den<br />

Dokumentaristen darstellen, diese Werte freizulegen, um damit das Handeln der verschiedenen<br />

Protagonisten tiefergehend ergründen zu können. Im Falle von THE COVE werden die<br />

Wertevorstellungen der einzelnen Parteien augenscheinlich eindeutig bestimmt, wodurch<br />

auch ihre Motivationen für ihre jeweiligen Handlungen leicht nachvollziehbar werden.<br />

62


Dadurch lassen sie sich (vermeintlich) sehr leicht in Protagonisten und Antagonisten aufteilen.<br />

• Protagonisten: Tierschutz, Bewahrung eines gerechten Umgangs mit Tieren, Vereitelung<br />

von Ungerechtigkeit.<br />

• Antagonisten: Berufung auf japanische Traditionen, Profitgier, Grausamkeit.<br />

Die Aufschlüsselung des Ethos muss sorgfältig und differenziert erfolgen, um stereotype<br />

Darstellungen zu vermeiden.<br />

Für den Dokumentaristen bedeutet dies im Rückschluss, eine umfangreiche Sondierung<br />

der Themenstellungen vor dem Beginn einer Produktion. Hier ist er vor allem auf Regie-Ebene<br />

gefordert, Auftrag und Vision (vgl. Kap. 3.1.1) entsprechend zu hinterfragen und<br />

strategisch-redaktionell (vgl. Kap. 3.1.3) potenzielle Anknüpfungspunkte und Anwendungsmöglichkeiten<br />

transmedialer Erzählung zu recherchieren. Denn es bietet sich nicht<br />

jeder Sachverhalt unserer Welt an, transmedial erzählt zu werden, obwohl er vielleicht für<br />

einen Dokumentarfilm funktionieren würde. <strong>Transmedia</strong>le Erzählung bedingt, zusätzliche<br />

Faktoren bei der Entwicklung eines dokumentarischen Stoffes zu berücksichtigen.<br />

Das entscheidende Kriterium stellt hier das potenzielle Publikum dar. Denn wenn sich<br />

eine Thematik unter erfahrenen dokumentarischen Augen als uninteressant oder nicht<br />

ansprechend genug darstellt, wird es schwieriger finanzielle Mittel für eine transmediale<br />

Kampagne zu akquirieren. Entgegen der (evtl. kostengünstigen) dokumentar-filmischen<br />

Darstellung von jedem erdenklichen Ereignis in unserer Welt impliziert eine transmediale<br />

Erzählung eines beliebigen Inhalts jedoch einen zeitlichen und finanziellen Mindestaufwand,<br />

der allein schwierig zu tragen ist. Eine gewisse Grundrelevanz innerhalb unserer Welt<br />

sollte daher von einem potenziellen Thema empfehlenswerter Weise ausgehen.<br />

7.3 Narrative Lücken als transmediale Anknüpfungspunkte<br />

Als Erzähler muss der Dokumentarist seiner Verantwortung nachkommen und einzelne des<br />

definierten Aspekte dieser Wirklichkeits-Zusammenhänge adäquat in einen Film zu übersetzen.<br />

Doch stellt sich die Frage, nach welchen strategisch-gestalterischen Kriterien im<br />

Hinblick auf die transmediale Kampagne die dokumentar-filmische Erzählung des ausgewählten<br />

Ausschnittes der Welt konstituiert werden sollte.<br />

An diese anspruchsvolle Arbeit auf konzeptionell-narrativer Ebene kommen spezifische<br />

Aspekte in Hinblick auf eine weiterführende und ergänzende transmediale Kampagne<br />

hinzu. Long (2007, 165) beobachtet hierzu: „a more ‘open’ world is easier to extend.“. Denn<br />

63


würde ein Film einen Sachverhalt zu geschlossen abhandeln und kaum Raum für erzählerische<br />

Ergänzungen oder Fortführungen bieten, hätte es eine transmediale Kampagne vergleichsweise<br />

schwer an das Primärwerk „stimmig“ anzuschließen. Eine allzu umfassende<br />

Abhandlung eines Themas würde weitere Erzählungen innerhalb der gleichen diegetischen<br />

Welt redundant werden lassen.<br />

64<br />

Im simplen Umkehrschluss ergibt sich daraus eine Grundeigenschaft, welche die Geschichte<br />

eines Dokumentarfilms – ob Themen-orientiert oder Charakter-orientiert – zu erfüllen<br />

hat, um Raum für transmediale Narrationen zu bieten: Narrative Lücken. So würde<br />

ein Dokumentarfilm beispielsweise dann narrative Lücken aufweisen, wenn er die diegetische<br />

Welt einführt, gleichzeitig aber dem Publikum (implizit oder explizit) vermittelt, dass<br />

nur ein Teilaspekt (evtl. als Sinnbild für das große Ganze) eines größeren Zusammenhangs<br />

abgebildet wird und andere Aspekte nicht thematisiert werden. Sie dienen also als diegetische<br />

Sollbruchstellen für die Fragmentierung der erzählten Welt in einzelne Geschichten,<br />

die sich zwar überlappen können, aber dennoch einzigartig sind.<br />

Long (2007, 53) bezeichnet dies mit Bezug auf Keats 54 als „negative capability“. Damit<br />

meint er die Kunst solche Lücken zu installieren und die damit einhergehende Fähigkeit des<br />

Publikums mit dem Nichtwissen umgehen zu können:<br />

„When applied to storytelling, negative capability is the art of building strategic gaps into<br />

a narrative to evoke a delicious sense of 'uncertainty, Mystery, or doubt' in the audience.<br />

Simple references to people, places or events external to the current narrative provide<br />

hints to the history of the characters and the larger world in which the story takes place.<br />

This empowers audiences to fill in the gaps in their own imaginations while leaving them<br />

curious to find out more.“.<br />

Diese These bekräftigt auch Jenkins (@17), wenn er mit Bezug auf fiktionale Geschichten,<br />

schreibt:<br />

„We are drawn to master what can be known about a world which always expands beyond<br />

our grasp. This is a very different pleasure than we associate with the closure found<br />

in most classically constructed narratives, where we expect to leave the theatre knowing<br />

everything that is required to make sense of a particular story.”<br />

Konkret könnten narrative Lücken wie folgt umgesetzt werden: Ein Dokumentarfilm<br />

soll als Primärwerk die Problematik, dass Bootsflüchtlinge von Afrika nach Europa „drängen“,<br />

etablieren. Dafür könnte er in seiner Exposition mithilfe extradiegetischer Erzählmittel<br />

und eines Off-Kommentars die großen geo-politischen Zusammenhänge auf einer Europa-Karte<br />

erläutern, um dann auf Malta, als ein Hauptschauplatz in diesem Kontext, zu<br />

„zoomen“. Anschließend könnte ein Flüchtling als intradiegetischer Protagonist eingeführt<br />

und im direct-cinema-Stil beobachtend begleitet werden. Mithilfe des Protagonisten als<br />

54 Long (2007, 53) zitiert Keats wie folgt: „I mean Negative Capability, that is when man is capable of<br />

being in uncertainties, Mysteries, doubts without any irritable reaching after fact and reason...“.


homo-intradiegetische Erzählinstanz und seinen verbal-sprachlichen Interviews könnte der<br />

Dokumentarist die komplexe Flüchtlingsproblematik anhand eines einzelnen Menschen und<br />

seines individuellen Schicksals exemplifizieren. Gleichzeitig wäre es wahrscheinlich, dass<br />

der Protagonist auf weitere Flüchtlinge trifft (soziales Umfeld) oder in Berührung mit der<br />

maltesischen Gesellschaft kommt (Arbeitsstelle, evtl. Engagement in Vereinen). 55<br />

So könnte<br />

im Sinne der Dramaturgie des Dokumentarfilms ein Handlungsbogen hinreichend erzählt<br />

werden. Gleichzeitig würden genügend nicht abgedeckte diegetische Bestandteile in der<br />

filmischen Erzählung offen bleiben, damit weitere transmediale Erweiterungen daran anknüpfen<br />

könnten.<br />

So entsteht mithilfe des Primärwerks die Basis für ein Geflecht von Geschichten, die<br />

sich gegenseitig zwar teilweise überschneiden können, aber jede für sich genommen einen<br />

individuellen Beitrag zum Verständnis der diegetischen Welt leistet.<br />

Die Möglichkeiten, gezielt Aspekte einer diegetischen Welt anzudeuten, sie jedoch<br />

dann bewusst nicht zu vertiefen, sind fast unbegrenzt. Dem Publikum kann dies explizit<br />

durch extradiegetische Hinweise des Dokumentaristen erfolgen, oder subtiler durch die<br />

intradiegetische Handlung (selbsterklärend) erfolgen. Für den Zuschauer kann dies im Sinne<br />

Jenkins eine Motivationsförderung bedeuten, sich auch über den Dokumentarfilm hinaus<br />

mit der dargestellten Thematik im Allgemeinen oder natürlich mit weiteren transmedialen<br />

Angeboten der diegetischen Welt des Dokumentarfilms zu beschäftigen. So resümiert Long<br />

(2007, 60):<br />

„A storyteller looking to craft a potential transmedia narrative should carefully craft the<br />

world [hier: dokumentarische Thematik] in which that story [hier: Primärwerk] exists, and<br />

then make passing references to elements in that world during the course of the narrative<br />

to simultaneously spark audience imaginations through negative capability and provide<br />

potential openings for future migratory cues.” (Anm. u. Herv. d. V.). 56<br />

Im Hinblick auf die etablierende Funktion des dokumentarischen Primärwerks ist das<br />

Anlegen narrativer Lücken besonders relevant für die Anknüpfung transmedialer Erweiterungen.<br />

Doch auch für diese hinzukommenden narrativen Bausteine auf anderen Medien<br />

stellt das Prinzip der narrativen Lücken einen relevanten Faktor dar, um narrative Anknüpfungspunkte<br />

für Fortführungen oder Ergänzungen zu setzen. Durch inhärente andeutende<br />

Aussparungen in ihren Geschichten beziehen sie sich auf andere Bestandteile der transmedialen<br />

Kampagne. So kann ein dichtes Geflecht aus einzelnen Werk-Diegesen entstehen,<br />

55 Das aufgestellte dokumentar-filmische Beispiel bezieht sich auf eine aktuelle Dokumentarfilm-<br />

Produktion des Verfassers dieser Arbeit mit dem Namen STEPPING FORWARD (M, 2011- ).<br />

56 Mit „migratory cue bezieht sich Long (2007, 166) auf ein narratives Konzept Ruppels: „the ability<br />

for these gaps [narrative Lücken] to function as directional pointers for intertextual connections is<br />

what Marc Ruppel called ‘migratory cues’“ (Anm. d. V.).<br />

65


das in seiner Gesamtheit die diegetische Welt repräsentiert. Abbildung 8 verdeutlicht abschließend<br />

diesen größeren Zusammenhang:<br />

Abbildung 8: Aufbau einer transmedial erzählten diegetischen Welt. 57<br />

57 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

66


8 <strong>Transmedia</strong>le Extension dokumentar-filmischer Narration<br />

8.1 Funktionen transmedialer Erweiterungen<br />

Fortführende transmediale Erzählungen, die an den narrativen Lücken des Primärwerks<br />

anknüpfen, erfüllen nach Jenkins beim Spielfilm vor allem drei Eigenschaften:<br />

„<strong>Transmedia</strong> extensions, then, may focus on unexplored dimensions of the fictional<br />

world, […] and expands upon what was depicted in the films. <strong>Transmedia</strong> extensions may<br />

broaden the timeline of the aired material, as happens when we rely on comics to fill in<br />

back story or play out the long term ramifications of the depicted events […]. A third<br />

function of transmedia extensions may be to show us the experiences and perspectives<br />

of secondary characters.” (@19; Ausl. d. V.).<br />

Übertragen auf den dokumentarischen Kontext können transmediale Erweiterungen<br />

also folgende Funktionen erfüllen:<br />

• Ausdehnung: Fortführung und Ausbau von bereits bestehenden Geschichten.<br />

• Ergänzung: Punktuelle Vertiefung dargestellter Aspekte; Ausfüllen vorhandener<br />

narrativer Lücken.<br />

• Subjektivierung: Ausbau und Integration weiterer subjektiver Perspektiven auf<br />

die Sachverhalte in der diegetischen Welt. Die Subjektivierung stellt eine – nach<br />

Jenkins – sehr wichtige Funktion dar. Obwohl sie mit den beiden vorherigen<br />

Funktionen oftmals einhergeht, ist sie so wesentlich für den dokumentarischen<br />

Kontext, dass sie gesondert betrachtet wird (s. Kap. 8.1.2).<br />

• Rezipienten Aktivierung: Engagement des Publikums im Hinblick auf Aspekte der<br />

Welt fördern und die Intensität der Erfahrbarkeit sowie die konkrete Miteinbeziehung<br />

zu steigern (s. Kap. 9) 58 .<br />

In individuellen Kombinationen definieren diese vier Funktionen jede transmediale<br />

Narration. Wie diese funktionalen Zusammensetzungen letztlich aussehen, wird von der<br />

Intention bestimmt, die ein Dokumentarist mit einer spezifischen Erweiterung verfolgt (vgl.<br />

Kap. 3). Wohlgemerkt können sie sich auch überschneiden, d.h. ihre Grenzen sind teils unscharf.<br />

An dieser Stelle soll explizit darauf hingewiesen werden, dass transmediale Erweiterungen<br />

nicht nur für Erzählungen von Geschichten einer diegetischen Welt funktionieren,<br />

sondern auch der reinen Informationsvermittlung dienen können. Dies ist natürlich besonders<br />

im dokumentarischen Kontext von Bedeutung.<br />

58 Diese Funktion führt zu einer ganzen Reihe wichtiger Implikationen, die in einem gesonderten<br />

Kapitel 9 ausgeführt werden.<br />

67


Zudem ist es relevant zu unterscheiden, ob sich eine transmediale Erweiterung auf<br />

die Erzählung oder Fakten eines einzelnen bestehenden (Primär-) Werkes bezieht oder aber<br />

auf die gesamte diegetische Welt an sich. Eine Unterscheidung kann wie folgt vorgenommen<br />

werden:<br />

• Makro-diegetische Erweiterung: Die Funktion der transmedialen Erweiterung<br />

bezieht sich auf die gesamte diegetische Welt. Die transmedial konstituierte Meta-Diegese<br />

wird erweitert.<br />

• Mikro-diegetische Erweiterung: Die Funktion der transmedialen Erweiterung bezieht<br />

sich auf eine Geschichte eines bestehenden Werkes.<br />

Zum einen kann nun eine diegetische Welt makro-diegetisch erweitert werden, das<br />

heißt, dass der Kanon an bereits bestehenden Werken um neue, relativ unabhängige Geschichten<br />

und informative Aspekte bereichert wird. Diese hinzukommenden Erweiterungen<br />

stehen mit den bereits bestehenden zwar in einer inhaltlichen Beziehung zum Beispiel<br />

durch narrative Lücken, decken aber noch unbehandelte Aspekte der diegetischen Welt ab.<br />

Zum anderen können aber auch einzelne Geschichten innerhalb der großen diegetischen<br />

Welt transmedial erweitert werden. Hier werden dann bestimmte narrative oder<br />

informative Aspekte einer einzelnen Geschichte aufgegriffen. Daher kann in diesem Zusammenhang<br />

von mikro-diegetischen Erweiterungen gesprochen werden. Die diegetische<br />

Welt wird zwar erweitert, aber in einer kleineren Größenordnung. Abbildung 8 verdeutlicht<br />

diesen Zusammenhang:<br />

Abbildung 9: Erweiterung der diegetischen Welt auf mikro- und makro-diegetischer Ebene. 59<br />

59 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

68


Die nachfolgenden Erörterungen können sowohl für die makro- also auch die mikrodiegetische<br />

Ebene gelten. Auf eventuelle Abweichungen oder Besonderheiten von diesem<br />

Grundsatz wird spezifisch eingegangen.<br />

8.1.1 Erweiternde und Ergänzende Funktion<br />

8.1.1.1 Funktionen auf inhaltlicher Ebene<br />

Eine Ausdehnung liegt vor, wenn ein Handlungsstrang eines Protagonisten oder die Erörterung<br />

eines Sachverhalts erweitert wird. In diesem Zusammenhang trifft der Begriff „transmediale<br />

Erweiterung“ wohl am ehesten zu. Bestehende Facetten narrativen oder informativen<br />

Charakters werden ausgebaut, um auf sie einen umfangreicheren Blick zu gewähren.<br />

Eine ergänzende Funktion liegt vor, wenn (bislang nur am Rande) dargestellte oder<br />

komplett ausgelassene Aspekte und Zusammenhänge einer Geschichte in den Mittelpunkt<br />

einer transmedialen Erweiterung rücken. Wie in Kapitel 7.1 beschrieben, wurden die filmischen<br />

Erörterungen des Films THE COVE bezüglich der Quecksilber-Kontaminierung durch<br />

Studien, die sich der interessierte Zuschauer auf der Webseite des Films herunterladen<br />

kann, ergänzt. Ein im Film bereits dargestellter Aspekt wird somit tiefergehend durch die<br />

Darstellung von extradiegetischem Fremdmaterial dargestellt. Dementgegen läge eine intradiegetische<br />

Erweiterung vor, wenn auf der Homepage zusätzliche Interviews von Experten,<br />

die auch im Film zu Worte kamen, angeboten würden.<br />

Sowohl die erweiternden als auch die ergänzenden Funktionen werden auf der narrativ-konzeptionellen<br />

Ebene, um sie dann sowohl mit intradiegetischen als auch extradiegetischen<br />

Erzählmitteln konstruierten. Dies kann beispielsweise über On- oder Off-<br />

Kommentaren oder durch Hinzufügen von Fremdmaterialien (Fotos, Videos, Dokumente)<br />

erfolgen.<br />

8.1.1.2 Zeitliche Evolution durch Erweiterung und Ergänzung<br />

Es muss sich aber nicht nur um eine inhaltlich-erzählerische Ausdehnung oder Ergänzung<br />

einer Diegese oder Geschichte handeln. Eine weitere Kerneigenschaft der transmedialen<br />

Erzählung im dokumentarischen Kontext kann darüber hinaus auch die zeitliche Erweiterung<br />

und Ergänzung einer diegetischen Welt darstellen.<br />

So kann eine transmediale Kampagne nur den narrativen „Ist“-Zustand erzählerisch<br />

erweitern, den ein Primärwerk filmisch abgebildet hat. Denn obwohl ein Dokumentarfilm<br />

mitunter auch einen langjährigen Prozess filmisch verdichten kann, gewährt er nach seiner<br />

Fertigstellung stets nur einen Blick auf die Vergangenheit. Eine komplexe Wirklichkeit wird<br />

69


eingefroren und ist fortan unveränderlich „auf Film gebannt“. Auf dieser Basis kann eine<br />

transmediale Kampagne zwar ansetzen und inhaltliche Aspekte vertiefen und ausdehnen,<br />

verharrt dabei jedoch immer in dem zeitlichen Rahmen, den das Primärwerk konstituiert<br />

hat (vgl. Kap. 4.4).<br />

Mithilfe transmedialer Erweiterungen kann die Wirklichkeit jedoch auch über diesen<br />

„Ist“-Zustand hinaus in einer zeitlichen Dimension abgebildet werden. So können themenrelevante<br />

Veränderungen innerhalb der behandelten Sachverhalte und Zusammenhängen,<br />

die erst nach der Fertigstellung des Dokumentarfilms eingetreten sind, weiterhin in die<br />

diegetische Welt integriert werden. Der vom Primärwerk konstituierte „Ist“-Zustand tritt<br />

sodann als „War“-Zustand in den Hintergrund. Fortan bildet er innerhalb der transmedialen<br />

Kampagne eine historische diegetische Basis. Darauf aufbauend können nachträgliche Entwicklungen<br />

immer wieder durch neue, aktuellere Abbildungen des gegenwärtigen „Ist“-<br />

Zustandes der Wirklichkeit etabliert werden bis diese wiederum abgelöst werden usw. Es<br />

kann so mitunter eine dokumentarische narrative Evolution stattfinden die im Rahmen<br />

einer transmedialen Kampagne nachgezeichnet wird. Auch die zeitlichen Grenzen können<br />

also neben den narrativen Grenzen eines Primärwerkes durch transmediale Erweiterungen<br />

durchbrochen werden.<br />

Im Beispiel von THE COVE (Fertigstellung 2009) könnte dies bedeuten, dass ein bestimmter<br />

Fischer zu den Tierschützern im Jahre 2011 „überläuft“, um Sachverhalte der Gegenseite<br />

aufzudecken. Ein etwas entfernteres Beispiel: Es könnte durch die transmedial<br />

angestoßene Petition ein Umdenken bei den Fischern eintreten. So etabliert sich die bislang<br />

dargestellten Fronten aufweichen und beide Parteien im Jahre 2013 in einem neuen Verhältnis<br />

zueinander stehen. Durch eine kurze Video-Dokumentation könnte diese neuzeitliche<br />

Entwicklung in die transmediale Kampagne mit aufgenommen werden, so dass sich<br />

abermals ein neuer „Ist“-Zustand innerhalb der diegetischen Welt etabliert.<br />

Natürlich hängt diese zeitdurchdringende Funktion vom geplanten Umfang einer<br />

transmedialen Erzähl-Kampagne insgesamt ab. Eine längerfristig angelegte Erweiterung<br />

kann ein Themenfeld innerhalb der konstituierten diegetischen Welt adäquater verfolgen,<br />

als eine, die nur den „Schnappschuss“ des Primärwerkes erweitern soll. Dies ist vor allem<br />

abhängig von der Intention einer dokumentarischen transmedialen Narration. Auch die<br />

Produktionskosten (länger = teurer) haben sicher Einfluss auf die zeitliche Ausprägung.<br />

Mit der Dauer einer Kampagne geht auch die Anzahl der Menschen einher, die erreicht<br />

werden können. Je länger eine transmediale Narration aufrechterhalten wird, desto<br />

mehr Rezipienten können an ihr teilhaben. Doch in diesem speziellen Kontext der „Reichweite“<br />

einer Kampagne spielt die chronologische Funktion nur eine untergeordnete Rolle.<br />

70


Sie kann zwar damit einhergehen, dies muss aber nicht der Falls sein. So kann auch ein zeitlich<br />

eingefrorener Sachverhalt durch eine einmalig aufgebaute narrative Kampagne mehrere<br />

Jahre bestehen, wodurch stets die Möglichkeit gegeben ist, noch mehr Menschen erreichen<br />

zu können. 60<br />

8.1.2 Subjektivierung<br />

Subjektivierung 61 stellt für Jenkins eine besonders wichtige Funktion für transmediale Erweiterungen<br />

dar. Seiner Meinung nach können Erweiterungen, die eine neue Perspektive<br />

innerhalb einer diegetischen Welt bzw. auf einen bestehenden Kontext einer Geschichte<br />

einnehmen, einen sinnvollen Beitrag im Kanon der transmedialen Narrationen leisten. Mit<br />

Blick auf eine fiktionale TV-Serie, die um Hintergrundgeschichten und Einblicke in die Welt<br />

einzelner (unwichtigerer) Charaktere durch Comics im Internet erweitert wurde, schreibt<br />

er: „[…] These kinds of extensions tap into longstanding readers interest in comparing and<br />

contrasting multiple subjective experiences of the same fictional events.” (@19; Ausl. d. V.).<br />

Neben Ausdehnungen und Ergänzungen stellt das Einnehmen einer neuen (erzählerischen)<br />

Perspektive einen wichtigen narrativen Mehrwert dar. Ein neuer Blickwinkel kann spannend<br />

wirken, Interesse fördern und die transmediale Kampagne substanziell bereichern. Im dokumentarischen<br />

Kontext gewährt die Darstellung eines Sachverhalts aus unterschiedlichen<br />

Blickwinkeln neben der qualitativen Bereicherung noch einen weiteren, entscheidenden<br />

Vorteil: der Repräsentation von Wirklichkeit ein Stück näher zu kommen.<br />

Die Verlagerung auf eine weitere subjektive Sichtweise kann einen sehr bereichernden<br />

Aufschluss über die individuellen Vorstellungen und Motivationen darstellen eines<br />

Protagonisten oder einer Partei geben. Konflikte, Sachverhalte und Umstände innerhalb der<br />

diegetischen Welt können mit dieser Perspektivenverlagerung umfangreicher erfasst werden,<br />

und dem Zuschauer letztlich mehr Raum für Verständnis bieten. Dies kann einer Steigerung<br />

der Glaubwürdigkeit sehr zu Gute kommen.<br />

Für den Dokumentaristen bedeutet dies, auf intradiegetischer Ebene weitere Erzählinstanzen<br />

zu identifizieren oder aber bestehende Instanzen modifiziert darzustellen (vgl.<br />

Kap. 4.2.2 u. 4.3.). Werden neue Protagonisten dem bestehenden Ensemble hinzugefügt, so<br />

wird automatisch auch deren neue Perspektive eingenommen. Somit erfolgt der substanzielle<br />

Ausbau automatisch.<br />

60 Der strategische Aspekt der Reichweite und die darauf ausgerichtete, zeitliche Taktung einzelner<br />

transmedialer Erweiterungen (um ständig Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten) ist für sich<br />

genommen ausgesprochen wichtig, doch würde eine adäquate Erörterung den Rahmen dieser<br />

Arbeit überschreiten.<br />

61 Im Original: „subjectivity” (@19).<br />

71


Bei bereits etablierten Protagonisten kann hingegen auch nur eine Modifikation der<br />

Fokalisierung und der Distanz erfolgen. Einem bislang nur marginal dargestellten Protagonisten<br />

kann mehr Raum eingeräumt werden, seinen Standpunkt darzulegen. Ein Beispiel<br />

wäre die Darstellung der Fischer in THE COVE. Ihre Sicht der Dinge, vor allem ihre Motivation,<br />

wird zwar durch die anderen Protagonisten erwähnt (Traditionen etc.), allerdings fokalisiert<br />

der Film eindeutig die Wahrnehmung des aktivistischen Filmteams. Dies erlaubt es<br />

dem Zuschauer einen emotionalen Standpunkt einzunehmen, wohingegen er über die tieferen<br />

Motivationen der einzelnen Fischer, die die Delfine massenweise schlachten, nur<br />

mutmaßen kann (vgl. Kap. 4.3.2).<br />

Das Konzept der Subjektivierung stellt in jedem Fall eine Erweiterung respektive eine<br />

Ergänzung vorhandener Geschichten (mikro-diegetisch) oder der diegetischen Welt insgesamt<br />

(makro-diegetisch) dar. Hier überschneiden sich also mehrere transmediale Funktionen.<br />

Trotzdem birgt das Integrieren neuer Perspektiven in eine bestehende Erzählung<br />

derart viel Potenzial, dass von einer eigenen, transmedial-narrativen Funktion – vor allem<br />

im dokumentarischen Kontext – gesprochen werden muss.<br />

8.2 Entstehungsmoment der transmedialen Erzählung<br />

8.2.1 Konstitution der transmedialen Erzählung<br />

Neben „world building“ (vgl. Kap.) stellt das Prinzip der „seriality“ für Jenkins (@11) den<br />

zweiten Baustein dar, auf der transmediale Erzählungen fußen (vgl. Kap. 6.2). 62 Seinen<br />

Überlegungen folgend kommt „seriality“ einer „Serialisierung“ narrativer Inhalte gleich. Im<br />

Grunde genommen bedeutet dies, die Segmentierung einer Geschichte in einzelne eigenständige<br />

Einheiten, wodurch erst die Möglichkeit entsteht, sie fortlaufend medial präsentieren<br />

zu können.<br />

72<br />

Dabei muss betont werden, dass dieser Vorgang im Sinne des hier aufgebauten dokumentarischen<br />

Kontextes sowohl eines Aufsplitterns der diegetischen Welt als auch der in<br />

ihr befindlichen einzelnen Geschichte bedeuten kann. Der Prozess kann sich demnach einerseits<br />

auf die makro- und andererseits auf die mikro-diegetische Ebene beziehen (vgl.<br />

Kap. 8.1). Zudem ist es möglich, dass eine Verschachtelung stattfindet, das heißt, erst werden<br />

einzelne Geschichten innerhalb der diegetischen Welt gebildet respektive identifiziert,<br />

um wiederum in einzelne narrative Segmente aufgeteilt zu werden. Anschließend können<br />

62 Dieses Konzept bezieht sich stark auf die narratologische Unterscheidung von Geschichte<br />

(diegetische Ereignisabfolge) und Erzählung (rhetorischer Prozess, die Ereignisse zu rekapitulieren<br />

um Rezipienten die Gelegenheit zu bieten, die Geschichte mental zu Restrukturierung) (vgl. Kap.<br />

4.3.1).


diese Einheiten in medialer Abfolge über ein oder mehrere Medien hinweg dem Publikum<br />

bereitgestellt werden (vgl. @19). 63 Sowohl die makro-diegetische Aufteilung als auch die<br />

mikro-diegetische Segmentierung finden durch den Dokumentaristen auf den Werksinternen<br />

Ebenen statt. Die mediale Verteilung stellt hingegen einen Werks-externen Gestaltungsprozess<br />

dar. Alle drei Prozesse stehen in enger Wechselwirkung, wie sich auch in Kapitel<br />

8.2.4 zeigen wird.<br />

• Makro-diegetische Aufteilung: Einordnung der diegetischen Welt in einzelne Geschichten,<br />

Handlungsstränge und informative Bestandteile (Werks-internen).<br />

• Mikro-diegetische Segmentierung: Einteilung einer Geschichte in sinnvolle narrative<br />

Segmente (Werks-internen). 64<br />

• Mediale Verteilung: Verteilung der makro-diegetischen oder mikro-diegetischen<br />

narrativen und informativen Einheiten auf einem Medium oder mehreren Medien<br />

(s. Kap. 8.2.4). Auf Seiten des Rezipienten ergibt eine Restrukturierung der<br />

einzelnen Einheiten in einer bestimmten Reihenfolge die ursprüngliche Geschichte<br />

oder Einheit wider.<br />

Diese Schemata vor Augen kommt Jenkins im Hinblick auf transmediale Narration zu<br />

dem Schluss, dass<br />

„[one] can think of transmedia storytelling then as a hyperbolic version of the serial,<br />

where the chunks of meaningful and engaging story information [narrative Segmente]<br />

have been dispersed not simply across multiple segments within the same medium [Mediale<br />

Verteilung], but rather across multiple media systems.”. (Ers. u. Anm. d. V.).<br />

Dies führt zu einer tieferen Erkenntnis, was transmediale Narration in der praktischen<br />

Umsetzung bedeutet: Das Definieren und Erschaffen einer (dokumentarisch erfassbaren)<br />

diegetischen Welt und deren anschließende Aufteilung und Segmentierung in einzelne<br />

narrative Einheiten, die seriell über mehrere Medien verteilt werden. Bis hierhin<br />

63 Jenkins schreibt dazu: „We might understand how serials work by falling back on a classic film<br />

studies distinction between story and plot. The story refers to our mental construction of what<br />

happened which can be formed only after we have absorbed all of the available chunks of<br />

information. The plot refers to the sequence through which those bits of information have been<br />

made available to us. A serial, then, creates meaningful and compelling story chunks [Story-<br />

Brocken; narrative Segmente] and then disperses the full story across multiple installments<br />

[serielle Verteilung]” (@19; Anm. d. V.).<br />

64 Im Beispiel von THE COVE wurde besonders die Segmentierung nicht derart explizit vorgenommen<br />

wie es hier beschrieben wird. Eine makro-diegetische Aufteilung in verschiedene – potenziell<br />

autonom ausbaubare – Handlungsstränge könnte trotzdem wie folgt aussehen: a)<br />

Massenschlachtung von Delfinen in Taiji b) Quecksilber-verseuchtes Fleisch wird als Walfleisch<br />

verkauft c) Delfinarien-Industrie bietet finanzielle Anreize für die weitere Schlachtung und<br />

Ausbeutung von Delfinen d) Japan erkauft sich die Gunst kleinerer Staaten um weiterhin Wale<br />

(und somit auch Delfine) fangen zu dürfen. Die Aspekte a) und d) wurden in Form der Petition<br />

eigenständig im Internet weitergeführt. Teil b) wurde durch angebotene Studien informativ<br />

Ausgebaut.<br />

73


konnte also bereits ein wichtiger Teil der von Jenkins aufgeführten Definition von <strong>Transmedia</strong>lität<br />

nachvollzogen werden (vgl. Kap. 6.1).<br />

8.2.2 Theoretische Betrachtungen<br />

8.2.2.1 Die Formel für <strong>Transmedia</strong>lität<br />

Im Hinblick auf die Bildung von einzelnen narrativen Einheiten und ihrer medialen Verteilung<br />

verlangt Jenkins drei Kriterien, die erfüllt werden müssen, damit tatsächlich eine Form<br />

der <strong>Transmedia</strong>lität entstehen kann: “For me, a work needs to combine radical intertextuality<br />

and multimodality for the purposes of additive comprehension to be a transmedia story.<br />

That’s why shortening transmedia to “a story across multiple media” distorts the discussion.“<br />

(@7).<br />

Mit dem Begriff „radical intertextuality“ bezieht er sich auf eine notwendige inhaltliche<br />

Verschränkung der einzelnen narrativen Einheiten. Das heißt, bestimmte Aspekte des<br />

einen Segments sollten sich auch in anderen Segmenten wiederfinden und umgekehrt. So<br />

entsteht eine Verflechtung aus narrativen Querverweisen, die überhaupt erst innerhalb<br />

einer transmedialen Erzählung eine diegetische Welt entstehen lassen würde. Durch diese<br />

Bezüge auf andere Aspekte und Facetten entsteht erst der diegetische Kontext. In Kapitel<br />

7.3. wurde mit dem Konzept der narrativen Lücken dieses notwendige Prinzip bereits für<br />

eine transmediale Erweiterung einer dokumentar-filmischen Erzählung implementiert.<br />

Im Beispiel von THE COVE beziehen sich die veröffentlichte Petition sowie alle weiteren<br />

audiovisuellen Inhalte der Internet-Seite auf Aspekte des Films. Auch die verfügbaren<br />

Studien zur Quecksilber-Kontamination und möglichen Gesundheitsschäden verweisen auf<br />

behandelte Thematiken des Dokumentarfilms. Zum Teil sind einzelne Erweiterungen daher<br />

auch untereinander verflochten da sie eine gemeinsame thematische Ausrichtung haben.<br />

Mit „multimodality“ bezieht sich Jenkins auf das Phänomen, dass jedes Medium einen<br />

narrativen Inhalt spezifisch strukturiert darstellt. Dies liegt an der Beschaffenheit der<br />

einzelnen Medien und in Kapitel 4.1.1 wurde es sinngemäß für den Dokumentarfilm erörtert.<br />

Mahne (2007, 126) schreibt dazu:<br />

„Auf der Grundlage ihrer möglichen Darstellungstechniken modelliert jede Erzählgattung<br />

[im Kontext sind die Medien gemeint] auch den Inhalt einer Geschichte. Ein verfilmter<br />

Roman weist unweigerlich Abweichungen zu seinem schriftsprachlichen Bezugsmedium<br />

auf. Unterschiede, die sich aus den medialen Differenzen heraus erklären.“ (Anm. d. V.).<br />

Die Darstellungstechnik hat dabei wiederum Rückwirkungen auf den Inhalt wie Jenkins<br />

ausführt:<br />

74


„The key point here is that different media involve different kinds of representation — so<br />

what Green Lantern looks like differs from a comic book, a live action movie, a game, or<br />

an animated television series. Each medium has different kinds of affordances — the<br />

game facilitates different ways of interacting with the content than a book or a feature<br />

film. A story that plays out across different media adopts different modalities. A franchise<br />

can be multimodal without being transmedia — most of those which repeat the same<br />

basic story elements in every media fall into this category.” (@7).<br />

Diese Feststellung erfordert demnach auch eine Berücksichtigung der Beziehung zwischen<br />

den narrativen Segmenten und ihrer medialen Darstellung. Ein konzeptionell-narrativ definiertes<br />

Segment erscheint nicht auf allen Medien gleich. Aufteilung und Segmentierung<br />

stehen also in enger Wechselwirkung mit ihren medialen Repräsentationen (s. Kap. 8.2.4).<br />

Multimodalität bedeutet in diesem Kontext also, dass erst die Verwendung mehrerer Medien<br />

und ihrer einzigartigen Darstellungspotenziale (Modalitäten) zur Darstellung von (möglichst<br />

komplementären) Inhalten zu einer <strong>Transmedia</strong>lität führt. <strong>Transmedia</strong>le Narration<br />

bedingt demnach einen Mindestgrad an Multimedialität (vgl. Kap. 6.1).<br />

Die beiden Konzepte „radical intertextuality“ und „multimodality“ sollen nach Jenkins<br />

dann im Sinne des Prinzips der „additive comprehension“ angewendet werden: „Ideally,<br />

each individual episode must be accessible on its own terms even as it makes a unique<br />

contribution to the narrative system as a whole. (@17). Jedes narrative Segment soll also<br />

mithilfe medialer Darstellungstechniken zum Verständnis des großen Ganzen, der Themen<br />

die in der diegetischen Welt abgebildet werden, beitragen. Dabei sollte jedes mediale Werk<br />

bzw. Segment so gestaltet sein, dass es eine sinnvolle Zugänglichkeit für den Rezipienten<br />

garantiert. Im Falle von TASTE THE WASTE kann das erwähnte Kochbuch auch von Menschen<br />

benutzt werden, die den eigentlichen Dokumentarfilm mitsamt seiner audiovisuell Präsentation<br />

der diegetischen Welt nicht gesehen haben.<br />

8.2.2.2 Notwendige Eigenschaften narrativer Einheiten<br />

Jenkins fordert zudem, dass transmediale Narrationen dem Publikum zum einen die Möglichkeit<br />

bietet, sich bei Interesse in Aspekte der Erzählung vertiefen zu können (Drillability)<br />

und zum anderen aber auch leicht die Möglichkeiten haben sollte, Inhalte verbreiten zu<br />

können, z.B. via sozialer Medien (Spreadability). Hierzu bemerkt Mittell an, dass beide Attribute<br />

„opposing vectors of cultural engagement“ (@20) darstellen.<br />

Auf der einen Seite erfordert „Drillability” eine ausreichend substanzielle Basis, um<br />

genügend informative Tiefe bieten zu können. Daraus folgt dann, dass „[Drillability] encourage[s]<br />

a mode of forensic fandom that encourages viewers to dig deeper, probing beneath<br />

the surface to understand the compleity of a sotry [!] and its telling. Such programs<br />

75


create magnets for engagement, drawing viewers into the storyworlds and urging them to<br />

drill down to discover more…” (ebd.; Erg. u. Anm. d. V.).<br />

Auf der anderen Seite bedingt “Spreadability”, dass ein transmediales Projekt auch<br />

derart aufbereitet wurde, dass es genügend Anreize schafft, damit Rezipienten es in sozialen<br />

Netzwerken weiter verbreiten (@10): „Spreadability refered to the capacity oft he<br />

public to engage actively in the circulation of media content through social networks and in<br />

the process expand is economic value and cultural worth.“ (@10). Obwohl Jenkins hier sehr<br />

vage bleibt – er schreibt selbst „more works need to be done to fully understand the interplay<br />

between these two impulses” (ebd.) – ist denkbar, dass Spreadability vor allem durch<br />

digitale Medien automatisch zu einer Eigenschaft von transmedialer Narration wird.<br />

8.2.3 Aufteilung und Segmentierung<br />

Sowohl makro-diegetische Aufteilungen als auch mikro-diegetische Segmentierungen stellen<br />

an den Dokumentaristen von Projekt zu Projekt sehr spezifische Anforderungen. Es gilt<br />

die Frage zu beantworten, wo diese Unterteilungen am besten vorgenommen werden können.<br />

Das Konzept der narrativen Lücken ist hier von entscheidender Bedeutung. Nun jedoch<br />

nicht mehr nur mit Bezug auf das etablierende Primärwerk, sondern als Prinzip auf die<br />

komplette makro- und mikrodiegetischen Bestandteile einer transmedialen Erzählung anzuwenden<br />

(vgl. Kap. 7.3 u. Abb. 7).<br />

Generell bringt die „Serialisierung“ einer Geschichte einige Forschungsfragen mit<br />

sich, die bislang noch nicht hinreichend geklärt wurden, wie dies Jenkins (@19) auf den<br />

Punkt bringt:<br />

„There still is a lot we don’t know about what will motivate consumers to seek out those<br />

other bits of information about the unfolding story [bestehend aus narrativen Segmenten]<br />

– ie. What would constitute the cliffhanger in a transmedia narrative – and we still<br />

know little about how much explicit instruction they need to know these other elements<br />

exist or where to look for them“. (Anm. d. V.).<br />

Auf mikro-diegetischer Ebene können für eine gegebene Geschichte bestimmte gestalterische<br />

Komponenten ausgemacht werden, die sich auf eine möglichst sinnvolle und<br />

ansprechende Segmentierung positiv auswirken. Allen voran stellt die inhärente Dramaturgie<br />

ihrer Erzählung (vgl. Kap. 4.1.1 u. 4.2.1) einen entscheidenden Orientierungsrahmen für<br />

ein Aufsplittern dar. Der Handlungsbogen eines Protagonisten erlaubt es an bestimmten<br />

Punkten einen Schnitt zu setzen. Im trivialsten Fall kann sich der Dokumentarist am Drei-<br />

oder Fünf-Akt-Model orientiert werden (vgl. 4.2.1). Hinter dem Ende eines jeden Aktes<br />

könnte eine Aufteilung erfolgen. Letztlich hängt dies vom individuellen Handlungsbogen<br />

eines Protagonisten ab. Die Kunst besteht darin, einzelne narrative Einheiten derart auszu-<br />

76


gestalten, dass sie für sich genommen einen runden dramaturgischen Bogen aufweisen,<br />

sich gleichzeitig aber auch in den größeren Handlungsbogen der ganzen Erzählung einfügen.<br />

Mit Blick auf fiktionale TV-Serien schreibt Jenkins (@19): „[…] there is a great deal we<br />

can learn by studying classic serial forms of fiction, such as the serial publication of novels<br />

or the unfolding of chapters in movie serials or even in comic book series.“. Im dokumentarischen<br />

Kontext ist die Dramaturgie jedoch immer auch von den real verlaufenden Ereignissen<br />

abhängig, auf die die eigentliche filmische Erzählung aufbaut. So fallen allgemeine gestalterische<br />

Faustformeln ausgesprochen klein aus (vgl. Kap. 2.4.1). Daher kann eine hundertprozentige<br />

Übernahme der seriellen Dramaturgie aus dem fiktionalen Bereich auch<br />

nicht erfolgen, ist jedoch der Orientierung des Dokumentaristen dienlich. Jedes Projekt<br />

bedarf hier einer eigenen Herangehensweise.<br />

8.2.4 Mediale Verteilung<br />

Die mediale Verteilung von zuvor definierten narrativen und informativen Einheiten stellt<br />

den eigentlichen Akt der transmedialen Erzählung dar. Mit diesem gestalterischen Schritt<br />

eröffnet der Dokumentarist auch erstmals dem Publikum in der Praxis die Möglichkeit teilzuhaben.<br />

Die Ausgestaltung der medialen Verteilung ist sehr stark an die Thematik gebunden.<br />

Doch kann festgehalten werden, über welche möglichen medialen Wege Inhalte verteilt<br />

werden können.<br />

Es sind viele mediale Kombinationen denkbar, hier definiert der Zweck einer narrativen<br />

Einheit die medialen Mittel zur Verteilung. Zudem rückt das Publikum erstmals in den<br />

Mittelpunkt des Gestaltungsraums. So macht Pratten (2011, 29) darauf aufmerksam:<br />

„Almost any technology, medium and place can be used to convey your story but think<br />

about your audience again – what’s their lifestyle? Where and how do they hang out? If<br />

you’ve got a story appealing to single-parent families is it likely they’re going to attend<br />

live events? Maybe if it’s during the day and they can bring their babies but most likely<br />

not in the evenings – they have problems with babysisters, cash and free time. Which<br />

platforms will appeal to this audience?”.<br />

Letztlich stehen fast alle möglichen medialen Darstellungsformen in enger Verbindung<br />

mit den gewählten intra- und extradiegetischen Erzählmitteln des primären Dokumentarfilms.<br />

Dieser mediale Zusammenhang fördert demnach auch die Anknüpfungsfähigkeit<br />

transmedialer Erweiterungen an den Dokumentarfilm. Einzig die Interaktivität mancher<br />

Medienträger wie der PC oder spezifische Anwendungen im Internet stellen einen wirklichen<br />

Bruch mit den bislang erörterten Erzählmitteln dar (vgl. Kap. 5.1 u. 5.2).<br />

77


78<br />

Man kann zwischen Erzählmittel und Trägermedium unterscheiden. Die nachfolgende<br />

Auflistung soll einen beispielhaften Eindruck davon vermitteln, welche Erzählmittel für<br />

die transmediale Erzählung generell in Frage kommen: 65<br />

• Visuell: Bilder, Fotos, Grafiken, Illustrationen, Texte u.a.<br />

• Auditiv: Tonaufnahmen, Musik u.a.<br />

• Audiovisuell: Film und Video, Zeichentrick, Animationen u.a.<br />

• Interaktiv: Videospiele, interaktive Grafiken, Text-Foren, Chats u.a.<br />

Wohlbemerkt stehen diese Erzählmittel weitgehend losgelöst vom Trägermedium. So kann<br />

ein Bild sowohl mithilfe eines Bildschirms repräsentiert werden als auch als physisch vorhandene<br />

Entität für sich selbst stehen. Eine Tonaufnahme eines Protagonisten kann von<br />

einer Kassette repräsentiert werden oder aber von einer digitalen Aufnahme auf CD bzw.<br />

als Audiostream im Internet. Gleichsam können alle visuellen und auditiven Erzählmittel<br />

durch audiovisuelle Trägermedien wie TVs, Smartphones oder PCs dargestellt werden. Diese<br />

medientheoretische Betrachtung soll nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, ihre<br />

Andeutung soll aber bewusst machen, dass eine transmediale Kampagne ausgesprochen<br />

vielgestaltig im Hinblick auf ihre Multimedialität ausfallen kann.<br />

festhält:<br />

Hierbei werden aber auch explizit keine Medien zwingend benötigt, wie Jenkins (@7)<br />

„So far, nothing here implies that particular media need to be involved for something to<br />

become transmedia. One can construct a high end transmedia system (a major blockbuster<br />

movie or network television show and its extensions) and one can construct a low<br />

end transmedia system (a low budget and/or independent film, a comic book or web series<br />

as the spring board for something which might include live performance or oral storytelling…)<br />

Some have tried to argue that games are a key component of transmedia, but<br />

I do not want to prioritize digital media extensions over other kinds of media practices.”.<br />

Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass eine transmediale Erzählung tendenziell auch<br />

Massenmedien wie Radio, TV, Internet oder das Kino integriert, um mithilfe dieser Träger<br />

möglichst viele Menschen zu erreichen. Dies stellt aber natürlich kein Muss dar. Da das<br />

Internet aber als Katalysator der Medienkonvergenz stetig wichtiger in der Gesellschaft<br />

wird (vgl. Kap. 1.1), sieht auch Long einen Trend zur digitalen Distribution von narrativen<br />

Inhalten, mitunter aufgrund der mit ihnen einhergehenden Möglichkeiten zur einfachen<br />

Aus- und Ankoppelung von Inhalten (vgl. Long 2007, 141). So liegt es nahe, dass das Internet<br />

eine dominante Rolle bei der Distribution digitaler Inhalte spielt. Dies kann wiederum<br />

auch bedeuten, dass eine Projekt-Webseite als zentrale Anlaufstelle für eine komplette<br />

65 Natürlich stellt diese Auflistung keine umfassende Darstellung oder Vergleich aller möglichen<br />

Erzählmittel dar. Für einen tieferen Einblick in die narrativen Eigenschaften bestimmter Medien<br />

bietet Mahne 2007 eine Einführung an.


Kampagne dienen kann. Auf alle digitalen Inhalte könnte direkt weitergeleitet werden und<br />

auf transmediale Erweiterungen auf anderen Trägermedien könnte zumindest hingewiesen<br />

werden (Bücher, DVDs, TV-Feature etc.).<br />

8.2.5 Beispiel einer transmedialen Erzählung<br />

Eine praxisnahe Verdeutlichung der bislang dargelegten Zusammenhänge und Überlegungen<br />

soll nun Abbildung 10 zusammenfassend bieten. Zu sehen ist ein Primärwerk dessen<br />

konstituierte diegetische Welt durch transmediale Erweiterungen substanziell bereichert<br />

wird. Dabei soll sich weniger auf ihre konkrete mediale Präsentationsform und mehr auf die<br />

eigentlichen Erzählmittel konzentriert werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass die meisten<br />

Erweiterungen zumindest im Internet vorzufinden wären. Hierzu soll an das Flüchtlings-<br />

Beispiel in Kapitel 7.3 angeknüpft werden:<br />

Abbildung 10: Beispielhafte transmediale Kampagne. 66<br />

In die Flüchtlingsthematik in Süd-Europa wird durch das Primärwerk eingeführt, das<br />

die dort vorherrschenden Zusammenhänge mithilfe einer Erzählung in eine diegetische<br />

Welt überführt. Mikro-diegetische Erweiterungen dieser erzählten Welt gehen nun vom<br />

Dokumentarfilm aus (dunkel- zu hellrot).<br />

66 Quelle: Verfasser dieser Arbeit in Anlehnung an Pratten (2011, 13, Abb. 10).<br />

79


• Die Videos im Internet beleuchten Perspektiven die zwar im Primärwerk angedeutet,<br />

aber nicht ausgeführt wurden. So können beispielsweise politische Gegner<br />

einer Einreise von afrikanischen Flüchtlingen nach Europa zu Wort kommen<br />

und ihre Perspektive darlegen. Gleichzeitig könnten aber auch im Film nur marginal<br />

dargestellte Menschenrechtler und Soziologen zu Wort kommen und von ihrem<br />

Standpunkt aus erklären, wieso Migrationswellen unabdingbar sind (Hinzufügen<br />

weiterer Erzählinstanzen oder Änderung des Distanz-Nähe-Verhältnisses).<br />

• Zudem können Interviews mit den Protagonisten in Videoform angeboten werden,<br />

die ihr Innenleben näher beleuchten (Verschiebung von Fokalisierung und<br />

Distanz). Es liegt nahe, dass diese im Internet angesiedelt sind. Die Interviews<br />

könnten aber auch als Bonus-Material auf einer entsprechenden Film-DVD präsentiert<br />

werden.<br />

• Eine nachträglich produzierte kurze Video-Dokumentation erörtert den sozialgeschichtlichen<br />

Hintergrund der Migrationswellen. Es werden die Ursachen und<br />

Zusammenhänge erklärt, wieso überhaupt Menschen in Afrika den Weg nach Europa<br />

suchen (Konstruktion einer makro-diegetischen Rückblendung).<br />

• Eine interaktive Animation soll die ergänzende Brücke zwischen der kurzen Hintergrunddokumentation<br />

und dem Handlungsbeginn des Primärwerks (Flüchtlinge<br />

bereits auf Malta) schlagen, in dem sie die eigentliche Reise der Menschen durch<br />

die Sahara, Nordafrika und das Mittelmeer darstellt. Zum Beispiel könnten Benutzer<br />

bei verschiedenen Stationen der Reisenden einen Einblick davon erhalten,<br />

welche Umstände hier herrschen und wie viele Menschen diese Station statistisch<br />

bereits durchquert haben (extradiegetisches Erzählmittel, Veränderung der<br />

Fokalisierung).<br />

• Nun könnte angenommen werden, dass eine Reportage aufgrund der öffentlichen<br />

Resonanz auf das Primärwerk und die bislang gestaltete transmediale Kampagne<br />

für einen TV-Sender produziert wird. Diese verfolgt im Anschluss an die<br />

Handlung des Primärwerks die weitere Entwicklung eines Protagonisten (makrodiegetische<br />

Erweiterung).<br />

• Zudem wird eine Studie erstellt, die sich der genauen Betrachtung eines Aspekts<br />

des Primärwerks widmet. Beispielsweise könnte untersucht werden unter welchen<br />

Bedingungen Flüchtlinge in Malta bereits zu Beginn ihres Aufenthaltes in<br />

Untersuchungshaft geraten sind und ob dies konform mit geltendem EU-Gesetz<br />

ist (mikro-diegetische Erörterung).<br />

80


• Die Webseite dient in diesem Beispiel als Dreh- und Angelpunkt der gesamten<br />

Kampagne. Es ist sinnvoll in Hinblick auf eine einheitlich wirkende und übersichtliche<br />

Gestaltung der Kampagnen ein zentrales Portal für die Thematik zu erstellen.<br />

So wird dem Rezipienten Orientierung und Übersicht über die verschiedenen<br />

Angebote gegeben. Zudem bietet die Webseite Kommunikationskanäle wie Foren,<br />

Live-Chats oder ähnliches. Hier können sich Rezipienten untereinander austauschen<br />

oder eventuell sogar mit den Filmemachern in Kontakt treten (z.B.<br />

durch einen angekündigten Termin, an dem Interessierte mit den Filmemachern<br />

chatten kann).<br />

8.3 Erzählerische Kohärenz<br />

Es geht bei transmedialer Kohärenz und Kontinuität um die Einhaltung gewisser Rahmencharakteristiken,<br />

Werte und Wiedererkennungsmerkmale. Diese Projekt-spezifischen<br />

Attribute gewährleisten, dass trotz unterschiedlicher medialer Erzählformen transmedialen<br />

Erweiterungen eindeutig einem bestimmten Primärwerk bzw. einer Kampagne zugeordnet<br />

werden können. Dies ist eine Konsequenz des Gedankens, dass sich eine diegetische Welt<br />

zu einem Franchise im Kontext der <strong>Transmedia</strong>lisierung weiterentwickelt. Jenkins schreibt<br />

hierzu: „It is certainly the case that many transmedia franchises do indeed seek to construct<br />

a very strong sense of ‘continuity’ which contributes to our appreciation of the ‘coherence’<br />

and ‘plausibility’ of their fictional worlds […]” (@10).<br />

Alle diegetischen Fragmente müssen, obgleich sie sich gegenseitig ergänzen oder erweitern,<br />

bestimmte inhaltliche Übereinstimmungen aufweisen. Erst so kann eine in sich<br />

stimmige diegetische Welt entstehen. Denn ohne einen Mindestgrad an inhaltlicher Kohärenz<br />

bei der transmedialen Aufbereitung einer Thematik würden die einzelnen Erweiterungen<br />

in Widerspruch zueinander stehen und einen inhaltlich fließenden Übergang zwischen<br />

den einzelnen medialen Komponenten einer Kampagne unmöglich machen. Dies wiederum<br />

würde dann zu einem Bruch in der Kontinuität der transmedialen Narration führen, was<br />

beim Rezipienten zu Irritationen führt, wodurch letztlich seine Aufnahme der einzelnen<br />

Erzählungen und Informationen gestört oder gar unterbrochen wird. 67<br />

67 Im fiktionalen Bereich kann transmediale Kontinuität beispielhaft damit beschrieben werden, dass<br />

die Comicfigur „Superman“ immer das gleiche Kostüm trägt, den gleichen Schwachpunkt aufweist<br />

(das Material „Kryptonit“) und über die gleichen übermenschlichen Fähigkeiten verfügt. Würde<br />

sich diese charakteristische Eckpunkt in verschiedenen Werken widersprechen, würde dies zu<br />

gravierenden Irritationen führen.<br />

81


Dabei müssen Kontinuität und Kohärenz sowohl auf makro- als auch mikrodiegetischer<br />

Ebene eingehalten werden. Auf globaler Ebene der diegetischen Welt müssen<br />

bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt werden. So sollte sich jede Erweiterung derart auf<br />

einen gewissen Aspekt einer diegetischen Welt beziehen, dass eindeutig ersichtlich wird,<br />

dass sie Teil einer bzw. der gleichen transmedialen Kampagne ist. So würde zum Beispiel<br />

die Darstellung einer gänzlich neuen Perspektive auf einen Sachverhalt, die jedoch in keinem<br />

Zusammenhang zu bereits aufgegriffenen Aspekten stehen würde, schlichtweg aus<br />

dem Rahmen der Kampagne fallen. Daher ist die Ausstrahlung gewisser Zugehörigkeits-<br />

Signale im Umkehrschluss ausgesprochen wichtig, damit Zuschauer die von ihnen rezipierten<br />

medialen Erzählungen zu einer größeren transmedialen Kampagne zuordnen können.<br />

In Hinblick auf den Franchise-Gedanken könnte dies zudem durch die schlichte Einblendung<br />

eines extra- oder intradiegetischen Hinweises geschehen (Name des Primärwerks<br />

oder der Kampagne; Hinweis auf die Webseite usw.) oder etwa durch die Markierung mit<br />

einem einheitlichen Logo erfolgen. Hier entsteht das eigentliche, dem Marketing sehr nahe<br />

stehende, „branding“ einer jeden dokumentarischen Erzähleinheit. Auf inhaltlicher Ebene<br />

hilft dann vor allem die Berücksichtigung des Konzepts der narrativen Lücken sowie die<br />

Einhaltung der von Jenkins geforderten Eigenschaften einzelner narrativer Einheiten (vgl.<br />

Kap. 8.2.2.1)<br />

Auf mikro-diegetischer Ebene spiegelt sich transmediale Kontinuität dahingehend<br />

wider, dass einzelne Sachverhalte und Aspekte gleichbleibend dargestellt werden. Dies soll<br />

nicht bedeuten, dass nicht mehrere Perspektiven auf einen Sachverhalt, die auch eine andere<br />

Wahrheit mitunter vertreten, erzählt werden können. Sofern dies transparent gemacht<br />

wird, entstehen beim Zuschauer keine Irritationen, sondern er kann das erzählte als<br />

eine von mehreren Sichtweisen einordnen.<br />

Vielmehr ist damit gemeint, dass zum Beispiel Fakten, Namen und Orte als auch erzählerische<br />

Funktionen der Protagonisten stets kontinuierlich dargestellt werden sollten.<br />

Diese „harten“ Eigenschaften und Elemente einer diegetischen Welt dienen als erzählerisches<br />

Stützkorsett und geben jeder transmedialen Erweiterung einen Orientierungsrahmen.<br />

Auch das Beziehungsgeflecht der einzelnen Protagonisten und Parteien kann als „harte“<br />

Komponente in Erscheinung treten, wie im Falle von THE COVE die Beziehung zwischen japanischen<br />

Fischern und den Tierschützern unverändert gegensätzlich ist. Doch da sich Verhältnisse<br />

und Relationen auch verändern können, müssen diese Veränderungen im Sinne<br />

einer kontinuierlichen Erzählung transparent gemacht werden. Hier spielt vor allem das<br />

zeitliche Verhältnis der transmedialen Kampagne zu den realen Zusammenhängen in der<br />

Wirklichkeit eine entscheidende Rolle (vgl. Kap. 8.1.1.2).<br />

82


9 Erweiterung des Handlungsraumes des Rezipienten<br />

Jenkins fordert von transmedialer Narration mitunter auch die Erfüllung des Prinzips der<br />

Performance. Darunter versteht er das Konzept, dass das Publikum nicht nur rezipiert, sondern<br />

auch Möglichkeiten geboten bekommt, aktiv an der diegetischen Welt teilnehmen zu<br />

können. Er beschreibt dies wie folgt:<br />

„[…] I introduced two related concepts – cultural attractors (a phrase borrowed from<br />

Pierre Levy) and cultural activators. Cultural attractors draw together a community of<br />

people who share common interests – even if it is simply the common interest in figuring<br />

out who is going to get booted from the island next. Cultural activators give that community<br />

something to do.”(@19; Ausl. d. V.).<br />

Dem stimmt Iacobacci zu, wenn sie schreibt: „Content spread across various media<br />

(crossmedia) is no longer satisfying enough, viewers wants [!] more, they are becoming<br />

VUPs and in viewing/using/playing want to participate, and to certain extent create, the<br />

story themselves.” (@6).<br />

Mit diesen Worten bringt sie auf den Punkt, welche Transformation ein Rezipient<br />

unweigerlich durchmacht, wenn er in eine entsprechend ausgestaltete transmedial erzählte<br />

Welt eintaucht. Sein Handlungsraum wird erweitert, so dass er zum „VUP“ wird, dem viewer/user/player<br />

(vgl. @22). Er stellt nicht länger nur einen (passiven) Empfänger dar, sondern<br />

kann aktiv werden, transmediale Erzählelemente selbst benutzen – in Abhängigkeit<br />

der medialen Form dieser einzelnen Erzählelemente. In den nachfolgenden Unterkapiteln<br />

sollen einzelne Facetten des VUP-Konzeptes erörtert werden, obgleich auch das Konzept an<br />

sich keiner näheren Analyse unterzogen werden soll. Es soll als Anlass dienen, die Erweiterungen<br />

des Handlungsraumes des Rezipienten zu untersuchen, ohne dabei selbst im Fokus<br />

zu stehen.<br />

9.1 Dimensionen der Rezeption<br />

9.1.1 Immersive Erfahrbarkeit<br />

Wurden die in den Kapiteln 6 bis 8 dargelegten, gestalterischen Konzepte der transmedialen<br />

Narration nach Möglichkeit eingehalten und umgesetzt, so wird dem Publikum dadurch<br />

die Möglichkeit geboten, einzutauchen in eine erzählende und informierende Welt. Rezipienten<br />

können so ein dokumentarisch aufbereitetes Thema durch verschiedene Mediengattungen<br />

audiovisuell, im Falle eines Buches sogar haptisch sinnlich wahrnehmen. Mitunter<br />

bieten ihnen auch digitale Anwendungen die Möglichkeiten, mit Aspekten der diegetischen<br />

Welt direkt zu interagieren. Diese Formen des medialen Erlebens sind Voraussetzungen<br />

83


dafür, dass Rezipienten in die diegetische Welt (mental) hineingleiten können. In manche<br />

Aspekte können sie während der Rezeption regelrecht versinken und sich durch das mediale<br />

Springen zu anderen Erzählbausteinen immer weiter in die Thematik vertiefen.<br />

Natürlich unterscheiden sich Projekte im Umfang und der medialen Aufbereitungen<br />

mitunter erheblich von anderen, so dass auch die Voraussetzungen für derartig intensive<br />

Erlebnisse von Projekt zu Projekt mal mehr und mal weniger gegeben sein können. Zudem<br />

müssen Rezipienten überhaupt Interesse an einer transmedialen dokumentarischen Narration<br />

haben, um bereit sein zu können, sich auf sie einzulassen.<br />

Ungeachtet dieser multi-faktoriellen Bedingungen bilden transmedial erzählte diegetische<br />

Welten gute Vorrausetzungen, um Rezipienten tendenziell die Möglichkeit zu bieten,<br />

sinnesumfassend in die diegetische Welt einzutauchen. Jenkins benutzt hierfür den Begriff<br />

Immersion, „the ability of consumers to enter into fictional worlds.” (@19). Ein weiteres<br />

Gestaltungsprinzip, das für ihn „transmedia storytelling“ mit definiert.<br />

Er bezieht sich hierbei, wie bei all seinen Äußerungen, auf fiktionale Story-Welten. Im<br />

Vergleich liegt es auf der Hand, dass die intensive Interaktion mit einem Videospiel, dass im<br />

STAR WARS-Universum angesiedelt ist, Benutzern ein stärkeres immersives Erlebnis bietet<br />

als die transmediale Erzählung von dokumentarischen Inhalten. Jenkins Verständnis von<br />

Immersion kann im hier behandelten transmedialen Kontext also vielmehr als die Möglichkeit<br />

angesehen werden, dokumentarisch erzählte und aufbereitete Sachverhalte Sinnesumfassender<br />

erleben zu können, als es ein reiner Dokumentarfilm ermöglichen könnte (vgl.<br />

Kap. 4.2.1). Durch immersives Erleben verschiedener Aspekte einer transmedialen Narration<br />

kann das Publikum auch die diegetische Welt insgesamt besser verstehen und nachvollziehen.<br />

Und diese intensive Erfahrbarkeit einer Thematik stellt einen wünschenswerten<br />

Zustand sowohl für den Dokumentaristen als für das Publikum dar (vgl. Kap. 2).<br />

9.1.2 Extraktion diegetischer Elemente<br />

Für Jenkins steht Immersion im Spannungsverhältnis mit „Extractability“, der Möglichkeit<br />

für den Rezipienten, gegenständliche Dinge oder informative Aspekte einer (fiktionalen)<br />

diegetischen Welt in die eigene reale Lebenswelt zu überführen. Beide Prinzipien bilden<br />

entgegengesetzte Ausprägung der gleichen Dimension: Erfahrbarkeit der diegetischen<br />

Welt.<br />

Bezieht sich Immersion jedoch auf die Möglichkeit mediale Inhalte präsenter zu erleben,<br />

meint Extractability das genaue Gegenteil. Die Extraktion einzelner Aspekte der diegetischen<br />

Welt wird in die konkrete Lebenswelt des Zuschauers (praktisch) überführt. Das<br />

84


Prinzip ist nicht neu, man denke an Merchandising im fiktionalen Bereich (z.B. Action-<br />

Figuren, Spielzeug, Schlafanzüge).<br />

Doch auch im dokumentarischen Kontext macht das Prinzip der Extractability durchaus<br />

Sinn. Möchte dokumentarische Erzählung dem Publikum ohnehin schon eine möglichst<br />

authentische Möglichkeit bieten, sich über die eigene reale Welt zu informieren, führt<br />

Extractability diese Intention konsequent weiter: Die Beeinflussung der Lebenswelt des<br />

Zuschauers durch nachhaltiges Informieren.<br />

Entsprechend der Thematik eines Projektes kann dies beispielsweise durch die Bereitstellung<br />

von zuschauerorientierten Informationen geschehen. Hinweise, Ratschläge,<br />

Methoden oder Anleitungen könnten so dem interessierten Zuschauer zur Hand gegeben<br />

werden. Ihm ist es also möglich, Aspekte zu extrahieren und in seiner eigenen Lebenswelt<br />

anzuwenden. Bemerkenswerter Weise stellt hier der erste Dokumentarfilm NANOOK, DER<br />

ESKIMO ein sogar außerordentliches Beispiel dar. Nach seinem Erscheinen löste er eine regelrechte<br />

Eskimo-Begeisterung aus. Unter anderem inspirierte der Film in den USA dazu, Eis<br />

am Stiel zu essen, das fortan „Eskimo Pies“ genannt und kommerziell vertrieben wurde.<br />

Eine Methodik der Inuit, Nahrung zu gefrieren, wirkte inspirierend und wurde in die Lebenswelt<br />

des Publikums extrahiert (vgl. @21).<br />

Derartige Beispiele verdeutlichen, dass durch Extractability die Wirklichkeit der Rezipienten<br />

nachhaltig durch die Rezeption medialer Inhalte verändert werden kann. Es handelt<br />

sich hierbei um eine Rückführung filmisch abstrahierter Zusammenhänge der Wirklichkeit<br />

in die individuelle Lebenswelt der Rezipienten – der Dokumentarfilm als Wirklichkeits-<br />

Spiegel beleuchtet für den Rezipienten nur schwer einsehbare Bereiche seiner Welt, woraufhin<br />

dieser sich das damit gewonnene Wissen zu Nutze macht.<br />

Dieser Prozess kann mal impliziter (wie im Falle von NANOOK, DER ESKIMO) und mal expliziter<br />

von den Filmemachern evoziert werden. So können im Beispiel von THE COVE, wie<br />

bereits erwähnt, Kleidungsstücke mit dem Aufdruck THE COVE sowie THE COVE-Wein und THE<br />

COVE-Musik gekauft werden. Zudem werden explizit verbraucherorientierte Informationen<br />

zu den Folgen von Quecksilber in Nahrung usw. angeboten. Die transmediale Kampagne<br />

möchte also nicht mehr nur den Rezipienten aufklären, sondern auch tatsächlich seine Lebenswelt<br />

durch die Veränderung seines Bewusstseins für bestimmte Sachverhalte, nachhaltig<br />

beeinflussen.<br />

85


9.2 Miteinbeziehung des Rezipienten<br />

9.2.1 Der Rezipient wird zum Partizipant<br />

Am Beispiel von THE COVE kann die Transformation durch eine Steigerung des Engagements<br />

des Publikums beobachtet werden. In Kapitel 6.3 wurde die von den Produzenten angestoßene<br />

„Social Action Campaign“ (@13) bereits kurz erörtert. Sie lädt das Publikum dazu ein,<br />

die im Film dargelegten Umstände aktiv zu beeinflussen. So wird der Zuschauer also nicht<br />

nur informiert, wodurch eventuell sein Verhalten nachhaltig verändert werden könnte,<br />

sondern darüber hinaus wird er zu aktivem Handeln, zur Einmischung in die dargestellten<br />

Zusammenhänge aufgefordert. Ihm wird die Möglichkeit geboten zusammen mit den Filmemachern<br />

(bzw. Protagonisten) „Seite an Seite“ gegen die gleichen antagonistischen Kräfte<br />

aus der diegetischen Welt zu kämpfen. Vom Rezipienten wandelt er sich so zum intervenierenden<br />

Partizipant. Der Rezipient „fasst“ sozusagen mit seiner Hand durch den dokumentarischen<br />

Wirklichkeits-Spiegel, um beleuchtete Bereiche seiner eigenen Welt zu berühren.<br />

Im Beispiel von THE COVE bietet sich ihm so beispielsweise die Gelegenheit mit seiner<br />

Teilnahme an einer Petition den politischen Druck auf die japanische Regierung zu erhöhen.<br />

Zudem können auch vorformulierte Briefe an Funktionäre in Japan geschickt werden. 68<br />

Auch wenn dies nur eine sehr abstrakte „Betretung“ der diegetischen Welt darstellt, kann<br />

dies definitiv als Involvieren in die dargestellten realen Konflikte gewertet werden.<br />

So könnte auch zu Spenden aufgerufen werden, wie im Falle von GARBAGE DREAMS<br />

(USA, 2009), um bei der Finanzierung von Schulen oder bestimmten Hilfeleistungen für die<br />

Protagonisten zu helfen. Durch die Verwendung von Massenmedien in der transmedialen<br />

Kampagne können entsprechend viele Menschen angesprochen werden. So liegt die Annahme<br />

nahe, dass die Möglichkeiten zur Intervention durch ein großes Publikum auf mediale<br />

Kanäle konzentriert werden, die von einer Vielzahl von Menschen gleichzeitig wahrgenommen<br />

werden können. Der einzelne Partizipant spielt dabei dann eine untergeordnete<br />

Rolle, vielmehr bildet er zusammen mit anderen Partizipanten einen Schwarm, dessen potenzielle<br />

„Wirkungsenergie“ von transmedialen Techniken katalysiert und anschließend in<br />

gelenkten Bahnen zielgerichtet kanalisiert wird.<br />

68 Zum Augenblick des letzten Aufrufs der Petitions-Seite: http://www.takepart.com/cove<br />

/takeaction am 25.11.12, konnte die Aktion 500000 Unterzeichner verbuchen, und erreichte nach<br />

eigenen Angaben 100% ihres Vorhabens.<br />

86


Sofern dieses Involvieren durch mediale Erzählbausteine dokumentiert und in den<br />

transmedialen Kanon aufgenommen wird, entwickelt sich ein Zuschauer so zu einem Element<br />

der diegetischen Welt. Denn zeitliche Entwicklungen dieser transmedial konstruierten,<br />

erzählten Abbildung der Wirklichkeit können nur durch Hinzufügen jüngerer narrativer<br />

Segmente in der diegetischen Welt verankert werden (vgl. Kap. 8.1.1.2). Somit findet eine<br />

Integration des partizipierenden Zuschauers in einem aktualisierten „Ist-Zustand“ der diegetischen<br />

Welt als marginaler Bestandteil statt.<br />

Wird die transmediale Erzählung als Meta-Werk begriffen und die diegetische Welt<br />

als die Diegese dieses erzählenden Meta-Werkes, so findet durch die mediale Integration<br />

des Zuschauers ein diegetischer Kurzschluss statt. Denn dadurch berührt er durch sein reales<br />

Engagement via transmedialer Hilfsmittel die eigentliche intradiegetische Ebene der<br />

Erzählung, wenn auch nur in der peripheren Rolle als „intervenierender Partizipant“.<br />

Kuhn (vgl. 2011, 357 ff.) bezeichnet narratologische Phänomene im fiktionalen filmischen<br />

Bereich, in dem eine Brücke zwischen verschiedenen Erzählebenen und –Instanzen<br />

geschlagen wird, als „Metalepsen“. Damit sind vor allem illusionsstörende Überschreitungen<br />

der Erzählebenen innerhalb eines narrativen Werkes gemeint wie zum Beispiel die<br />

überraschende direkte Ansprache des Zuschauers durch einen Schauspieler, der direkt in<br />

die Kamera spricht (vgl. Kuhn 2011, 113). Ursprünglich wurde dieser Begriff von Genette<br />

geprägt, der von Kuhn wie folgt zitiert wurde:<br />

„Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische<br />

Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.)<br />

oder auch […] das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal<br />

phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, daß er alle<br />

diese Transgressionen abdeckt.“ (Genette zit. n. Kuhn 2011, 357; Ausl. im Zitat).<br />

Zumindest für den Zuschauer findet hier ein Umbruch in der Wahrnehmung statt: Er<br />

kann sein eigenes Eindringen in die diegetische Welt erkennen, sieht sich im transmedialen<br />

„Meta-Werk“ also selbst.<br />

Dieses Konzept der transmedialen Metalepse ist nach Genette sehr weit gefasst.<br />

Der Zuschauer wird als peripherer Partizipant in die zeitlich fortgeführte Diegese integriert,<br />

genauso wie die bereits vorhandenen intradiegetischen Protagonisten. 69<br />

69 Das Verhältnis zwischen dem Begriff der Metalepse und dem transmedialen Phänomen der<br />

Miteinbeziehung von Zuschauern in die diegetische Welt könnte noch tiefergehend analysiert<br />

werden. Diese Analyse kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt werden.<br />

87


9.2.2 Bidirektionale Kommunikation<br />

Die meisten vorhergehend genannten Beispiele einer Miteinbeziehung des Zuschauers in<br />

die diegetische Welt oder die Erweiterung ihrer Erlebbarkeit basieren auf einem unidirektionalen<br />

Kommunikationskanal. Entweder fließen Informationen von den Filmemachern zum<br />

Publikum (Regelfall) oder die Zuschauer können als Partizipanten an gewissen Aktionen<br />

teilnehmen. Ein beidseitiger Austausch an Informationen besteht jedoch nicht (mit Ausnahme<br />

von interaktiven Anwendungen innerhalb des transmedialen Kanons, allerdings hier<br />

bisher nicht direkt zwischen Filmemachern und Publikum).<br />

Eine starke kommunikative Miteinbeziehung des Rezipienten kann durch die Etablierung<br />

bidirektionaler Kommunikationskanäle erfolgen. Vor allem mithilfe digitaler Kommunikationsplattformen<br />

im Internet können so Brücken zwischen dem Publikum und den Produzenten,<br />

oder dem Publikum und den Protagonisten geschlagen werden. 70 Als Beispiel könnten<br />

klassische Foren oder Chaträume genannt werden. Aber auch spezielle Veranstaltungen,<br />

in denen dann „ausgewählte“ Zuschauer die Möglichkeit erhalten, direkt mit den Produzenten<br />

und Protagonisten in persönlichen Kontakt zu treten sind denkbar (z.B. via Skype-<br />

Konferenzen 71 oder bei Podiumsdiskussionen). Die Qualität der Miteinbeziehung hängt<br />

hierbei dann von dem Zeitpunkt ab, an dem derartige Kommunikationskanäle eröffnet<br />

werden. So können die Produzenten beispielsweise Kommentare und Meinungen des Zuschauers<br />

einholen und evtl. in die weitere Arbeit mit einfließen lassen. Das Publikum wiederum<br />

könnte die Chance erhalten, Wissen aus erster Hand über die Thematik zu bekommen<br />

und Fragen zu stellen.<br />

Im Unterschied zum Konzept des intervenierenden Partizipanten wird der Zuschauer<br />

bei der Aufnahme einer bidirektionalen Kommunikation nicht unbedingt in die diegetische<br />

Welt involviert. Ein rein informativer Austausch mit den Protagonisten oder den Produzenten<br />

kann zwar mitunter Einfluss auf deren weiteres Verhalten haben, dieser Einfluss<br />

ist aber zu spekulativ und nicht messbar. Vielmehr steigert dieser kommunikative Miteinbezug<br />

aus Sicht des Zuschauers die immersive Erfahrbarkeit der diegetischen Welt sowie die<br />

Extrahierbarkeit bestimmter (informativer) diegetischer Elemente.<br />

Solange diese Kommunikation nicht dokumentiert wird, findet sie außerhalb der eigentlichen<br />

diegetischen Welt statt, quasi „hinter den Kulissen“. Erst wenn beispielsweise<br />

70 Natürlich könnten über diese Plattform auch die Produzenten mit den Protagonisten<br />

kommunizieren. Aufgrund der jedoch ohnehin bereits notwendigerweise bestehenden engen<br />

kommunikativen Verknüpfung beider Parteien, macht dies nur in Ausnahmefällen einen Sinn (z.B.<br />

bei bestimmten Veranstaltungen, Events usw.).<br />

71 Skype ist ein sehr verbreitetes Programm zur digitalen Videotelefonie über das Internet. Nähere<br />

Informationen unter www.skype.de (letzter Abruf 26.11.12).<br />

88


eine solche Kommunikation in die transmediale Kampagne aufgenommen, archiviert bzw.<br />

manifestiert wird, erweitert sie auch die diegetische Welt nachhaltig. Die genaue Ausprägung<br />

der bidirektionalen Kommunikation hat dabei starke Auswirkungen auf die Miteinbeziehung<br />

und die Rolle des Zuschauers, ist also ausgesprochen projektabhängig.<br />

9.2.3 Einbindung als Protagonist oder Produzent<br />

Die höchste Form der Partizipation basiert auf den vorhergehenden Konzepten und führt<br />

diese zu einer noch engeren Verflechtung von Publikum und transmedialer Narration zusammen:<br />

Der Miteinbeziehung in den eigentlichen Produktionsprozess als Produzent oder<br />

Protagonist.<br />

Dadurch wird der Handlungsraum des einfachen Rezipienten abermals erheblich<br />

erweitert. Über das VUP-Konzept hinaus kann er zum Produzenten oder Protagonisten<br />

werden. Demnach könnte das VUP-Konzept durch die Möglichkeiten transmedialer Narration<br />

zu einem erweiterten VUP³-Konzept ausgebaut werden, das folgender metaphorischer<br />

Gleichung entspricht: VUP + Produzent + Protagonist = VUP³.<br />

Vorbedingung für diesen höchsten Grad der Miteinbeziehung ist eine entsprechend<br />

frühzeitige Etablierung entsprechender Kommunikationskanäle und der Organisation von<br />

transmedialen Angeboten. Klar ist auch, dass diese intensive Miteinbeziehung des Publikums<br />

in den Kreationsprozess einer transmedialen Narration oder sogar des Primärwerks<br />

ein Projekt von vorneherein wesentlich prägt. Hier können sich mitunter die Konturen eines<br />

noch klar identifizierbaren Dokumentarfilms auflösen und mit anderen dokumentarischen<br />

Formaten oder transmedialen Erzähltechniken verschwimmen. Zudem müssen die Intention<br />

der Filmemacher als auch die Thematik der transmedialen Kampagne entsprechend<br />

ausgerichtet sein.<br />

9.2.3.1 Involvierung als Protagonist<br />

Die Mitgestaltung des Primärwerks anderer transmedialer Werke stellt einen konzeptionell-narrativen<br />

wie auch organisatorisch ausgesprochen anspruchsvollen Prozess dar. Ein<br />

Beispiel hierfür ist die Produktion des Dokumentarfilms 350 SOUTH (USA, 2012- ), in der zwei<br />

Iren von Nord-Alaska nach Süd-Argentinien mit dem Fahrrad in 350 Tagen fahren möchten.<br />

Ihre Unternehmung wird dabei von einem Kamerateam begleitet. Während dieser Zeit<br />

werden ihre Erlebnisse zudem mithilfe von sozialen Medien wie Facebook und Twitter als<br />

auch durch ein Video-Tagebuch, Fotoalben und schriftliche Blog-Einträge dokumentiert. Mit<br />

diesen transmedialen Erzählwerkzeugen, die zentralisiert vor allem auf der Webseite des<br />

89


Projektes dargestellt werden 72 , kann das Publikum vor der Fertigstellung des eigentlichen<br />

Primärwerks bereits den Produktionsprozess mit verfolgen und mit den Filmemachern als<br />

auch mit den Protagonisten in bidirektionalen Kontakt treten.<br />

Hinzu kommt – und dies ist entscheidend –, dass sich die Produzenten dazu entschlossen<br />

haben, die Protagonisten mit einem GPS-Sender auszustatten. Somit ist nicht nur<br />

die Verfolgung der kompletten Unternehmung nachvollziehbar, sondern in Echtzeit kann<br />

das Publikum einsehen, wo sich die Protagonisten gerade befinden. In Kombination mit der<br />

bidirektionalen Kommunikation wird es hierdurch den Zuschauern ermöglicht, sich aktiv an<br />

dem Vorhaben zu beteiligen und den beiden Fahrradfahrern während ihrer über 27300<br />

Kilometer langen Tour persönlich zu begegnen. So können Zuschauer aktiv den Verlauf des<br />

Primärwerks als Protagonisten mit beeinflussen, wenn ihre Begegnung in der finalen Montage<br />

in den Film geschnitten wird.<br />

Bernardo, einer der Produzenten dieser transmedialen Kampagne, erörtert die Intentionen<br />

der Filmemacher und des gesamten Projektes:<br />

„We wanted audiences to be part of the documentary. […] But we also created the right<br />

context so the documentary can be affected by audiences. We used Spot Adventures’<br />

GPS tracking service to enable everyone to know where Ian and his cycling partner, Lee,<br />

are at any given moment.<br />

Both Ian and Lee are available almost daily on social media, contacting viewers. And the<br />

results started to appear. Viewers that live near the route they established started to<br />

contact the adventurers, offering them a meal, a place to sleep or a pint in the nearest<br />

pub. They are physically interacting with the adventurers, and as everything is recorded<br />

on camera, they become part of the documentary. Audiences also unite in cycling events,<br />

helping the adventurers to overcome some challenges and also telling their own stories.<br />

Other adventurers doing similar routes found out about the documentary and approached<br />

Ian and Lee, becoming part of the experience too.” (@23).<br />

Durch die spezielle Auslegung des gesamten Produktionsprozesses auf die Teilnahme<br />

des Publikums werden einzelne Zuschauer zu echten Protagonisten des Films. Ihre eigene<br />

Lebenswelt wird zum Teil der diegetischen Welt.<br />

Ein diegetischer Kurzschluss bleibt aus, da durch die transmedialen Techniken die<br />

Zuschauer konkret zu Protagonisten gemacht werden. Der Zuschauer nimmt nicht mehr nur<br />

als einer von vielen Partizipanten an den Vorgängen teil, sondern er wird in die Diegese<br />

integriert.<br />

9.2.3.2 Miteinbeziehung in den Produktionsprozess<br />

Eine weitere Möglichkeit, dem Publikum eine beitragende Rolle zu bieten, ist die Aufforderung<br />

zur Ausgestaltung und Anreicherung der diegetischen Welt. Konkret können je<br />

72 www.350south.org (letzter Abruf 26.11.12).<br />

90


nach Themenstellung Aufgaben an die Benutzer einer transmedialen Kampagne herangetragen<br />

werden. Beispielsweise kann darum gebeten werden, selbst produzierte Inhalte wie<br />

Video-Clips, Fotos, Texte etc. einzusenden oder digital bereitzustellen. So könnte etwa ein<br />

Archiv aufgebaut werden, um Meinungen und Beispiele zu einem bestimmten Sachverhalt<br />

zu veröffentlichen, dass direkt von dem Publikum gestaltet wird.<br />

Der Zuschauer wird durch die Einbindung seines bereits gestellten, selbstproduzierten<br />

Inhaltes zu einem Protagonisten der transmedialen diegetischen Welt oder<br />

aber, wenn er nur als produzierendes Element des Inhaltes in Erscheinung trat, zu einem<br />

Mit-Produzenten der transmedialen Kampagne. Die diegetische Welt wird demnach um<br />

seinen produzierten Inhalt bereichert. Auch dies stellt eine hohe Form der Miteinbeziehung<br />

des Zuschauers in die transmediale Kampagne dar.<br />

Abschließend soll Abbildung 11 die zwei Dimensionen der Erweiterung des Handlungsraums<br />

des Zuschauers noch einmal zusammenfassen. Dabei soll für jede Dimension<br />

gelten: Je kleiner der Bereich, desto nachhaltiger ist die Wechselwirkung zwischen Rezipient<br />

und diegetischer Welt und je dunkler der Bereich eingefärbt ist, fällt das Erlebnis für<br />

den Rezipienten umso intensiver aus.<br />

Abbildung 11: Erweiterte Handlungsräume des Rezipienten. 73<br />

73 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

91


10 Abschließende Betrachtungen<br />

10.1 Gewonnene Erkenntnisse<br />

Zur Beantwortung der eingangs aufgestellten Kernfragen wurden in der vorliegenden Arbeit<br />

zwei ineinander greifende, interdisziplinäre Arbeitsschritte vollzogen:<br />

• Die Identifikation und Herleitung von Gestaltungsebenen, auf denen ein Dokumentarfilm<br />

gänzlich konstruiert wird (vgl. Kap. 2 bis 5).<br />

• Die umfassenden Verortung des Dokumentarfilmes im Kontext der transmedialen<br />

Narration und eine damit einhergehende Ableitung von gestalterischen<br />

Wechselwirkungen zwischen filmischer Gestaltung und transmedialen Erzählmitteln<br />

(vgl. Kap. 6 bis 9).<br />

Im Laufe der Abhandlung dieser beiden kapitelübergreifenden Groß-Komplexe konnten<br />

folgende relevante Erkenntnisse hinsichtlich der zentralen Fragen dieser Arbeit gewonnen<br />

werden:<br />

1. Dokumentaristen und ihr Publikum teilen eine gemeinsame dokumentarische Vision:<br />

Der Dokumentarfilm soll in der Funktion eines Repräsentanten der Wirklichkeit<br />

unsere Welt möglichst glaubwürdig wiedergeben. Dazu ist von Seiten des<br />

Dokumentaristen ein hoher Grad an Authentizität durch den Einsatz aller verfügbaren<br />

erzählerischen Mittel anzustreben. Trotzdem obliegt letztlich die Interpretation<br />

der dokumentarischen Darstellung dem mündigen Zuschauer (vgl. Kap. 2).<br />

2. Die dokumentar-filmische Erzählung wird auf drei Ebenen konstituiert. Dabei<br />

stehen die einzelnen Elemente auf diesen Ebenen miteinander in enger Wechselwirkung.<br />

Sie sind definiert durch eine Anzahl spezifischer Elemente, deren<br />

konkrete Ausprägung der Dokumentarist gestalten muss. Hierdurch entsteht ein<br />

Dokumentarfilm, der als Repräsentant der Wirklichkeit gelten kann. Die Ebenen<br />

unterscheiden sich durch ihren Abstraktionsgrad und lauten (vgl. Kap. 2.4.2):<br />

a. Die Regie-Ebene<br />

b. Die konzeptionell-narrative Ebene<br />

c. Die formal-kinematografische Ebene<br />

3. Ein Dokumentarfilm wird durch den Auftrag und die Vision des Dokumentaristen,<br />

Sachverhalte unserer Wirklichkeit filmisch abzubilden, initiiert. Dazu muss er die<br />

Zusammenhänge strategisch unter Zuhilfenahme redaktioneller Methoden erfassen<br />

und gleichzeitig selbstreflexiv seine Umwelt und sich verorten (vgl. Kap. 3).<br />

92


4. Es gilt eine ausgewählte Thematik – samt der mit ihr verbundenen Sachverhalte –<br />

erzählerisch zu verdichten und sie in die konstitutive Gussform der filmischen Erzählweise<br />

zu gießen. Aus Wirklichkeit wird so eine Diegese. Dabei muss sich drei<br />

konzeptionell-narratologischen Konzepten bedient werden (vgl. Kap. 4):<br />

a. Die Konstitution der Erzählung<br />

b. Die Perspektivierung der Erzählung<br />

c. Strukturierung der Erzählung<br />

5. Die Diegese manifestiert sich erst in einem Dokumentarfilm durch das Abbilden<br />

der Wirklichkeit mithilfe formal-kinematografischer intra- und extradiegetischer<br />

Erzählmittel. Die Montage stellt den konkreten Akt der filmischen Konstruktion<br />

dar (vgl. Kap. 6.3).<br />

6. Ein Dokumentarfilm ist prädestiniert dazu, als Primärwerk eine transmediale<br />

Kampagne zu initiieren. Er steht so in der Mitte eines narrativen Reigens aus<br />

transmedialen Erweiterungen. Dabei behält der Film an sich jedoch seine Integrität<br />

und bleibt als Werk bestehen (vgl. Kap. 6.3).<br />

7. Die Diegese eines Dokumentarfilmes wird zum initiierenden Kern einer transmedialen<br />

diegetischen Welt. Sie begründet mit ihrer Thematik den Rahmen, die Bedingungen<br />

und Regeln dieser Welt. Im Zuge ihrer narrativen <strong>Transmedia</strong>lisierung<br />

wird die in der Diegese verdichtete Thematik zum Kern einer Themen-Franchise.<br />

Der Dokumentarist wird so zum Weltenbauer (vgl. Kap. 6.3 u. 7.1).<br />

8. Die geplante Einbettung einer filmischen Diegese in eine transmedialsierte diegetische<br />

Welt bedingt, dass die in ihr verdichtete Thematik bereits im Vorfeld auf<br />

inhaltliche Substanz geprüft wird. Nur wenn diese gegeben ist, kann eine fruchtbare<br />

und sinnvolle diegetische Welt entstehen. Hierzu dienen die drei Dimensionen<br />

Mythos, Topos und Ethos, als Orientierungsrahmen bei der Erfassung einer<br />

Thematik. Eine derartige inhaltliche Vorprüfung findet auf der Regie-Ebene statt<br />

(vgl. Kap. 7.2).<br />

9. Damit transmediale Erweiterungen die dokumentar-filmische Narration ausdehnen,<br />

ergänzen und vertiefen können, sollten narrative Lücken in der filmischen<br />

Diegese implizit bzw. explizit installiert werden. Narrative Lücken entsprechen<br />

erzählerisch andeutenden Aussparungen in der Diegese. Sie bieten Anknüpfungspunkte<br />

für andere Werke, die entsprechend diese Lücken füllen können. Ihre<br />

narrative Installation findet gänzlich auf der konzeptionell-narrativen Ebene<br />

statt (vgl. Kap. 7.3). Narrative Lücken sollten darüber hinaus auch in jeder trans-<br />

93


medialen Erweiterung zu finden sein. Sie stellen kein Primärwerk-exklusives narratives<br />

Phänomen dar.<br />

10. <strong>Transmedia</strong>le Erweiterungen können sowohl intra- als auch extradiegetischer Natur<br />

sein. Sie können generell auf zwei Ebenen stattfinden:<br />

a. Makro-diegetisch: Meta-Ebene der diegetischen Welt<br />

b. Mikro-diegetisch: Narrative Ebene eines einzelnen Werkes<br />

11. Die Funktion von transmedialen Erweiterungen umfasst vornehmlich die Ausdehnung<br />

und Vertiefung bereits etablierter narrativer Inhalte. Ebenso kann sie<br />

aber auch die Ergänzung bzw. das Hinzufügen nur marginal etablierter oder gänzlich<br />

neuer narrativer Inhalte beinhalten (vgl. Kap. 8.1).<br />

12. <strong>Transmedia</strong>le Erweiterungen bieten die Möglichkeit, über den erzählerisch abgedeckten<br />

Zeitraum des Dokumentarfilmes hinaus die diegetische Welt immer weiter<br />

zu entwickeln. Der medial eingefrorene „Ist-Zustand“ der dokumentarfilmischen<br />

Diegese kann überwunden werden (vgl. Kap. 8.1.1.2).<br />

13. Der eigentliche Akt der transmedialen Erweiterung findet durch die inhaltliche<br />

Aufteilung und Segmentierung der diegetischen Welt statt. Dabei werden einzelne<br />

narrative Einheiten bzw. Segmente gebildet, die jeweils einen Aspekt, Sachverhalt<br />

oder Blickwinkel, der dokumentar-filmischen Diegese vertiefen und mit<br />

medienspezifischen Mitteln erzählen. Die einzelnen Werk-Diegesen dieser Teilerzählungen<br />

können sich gegenseitig überschneiden und beinhalten teilweise gleiche<br />

oder verwandte Ausprägungen hinsichtlich Konstitution, Perspektivierung<br />

und Strukturierung ihrer Erzählung. Aber im Idealfall liefert jedes narrative Segment<br />

einen einmaligen diegetischen Beitrag zur gesamten transmedialen diegetischen<br />

Welt. Insgesamt bilden sie so ein enges Netz aus gegenseitigen narrativen<br />

Verweisen und Rückbezügen, in das der Dokumentarfilm eingebettet ist (vgl. Kap.<br />

8.2).<br />

14. Der gesamte Prozess der narrativen Segmentierung wird mit den Konzepten, die<br />

auf der konzeptionell-narrativen Ebene vorgestellt wurden, durchgeführt. Anhaltspunkte<br />

für die Bildung einzelner Segmente ist zum einen die Orientierung an<br />

installierten narrativen Lücken. Zum anderen spielt die Dramaturgie einzelner<br />

Handlungsstränge eine ausgesprochen wichtige Rolle bei diesen als „Sollbruchstellen“<br />

(vgl. Kap. 8.2).<br />

15. Inhaltliche Kohärenz und Kontinuität sind wichtig, um eine in sich stimmige,<br />

transmediale diegetische Welt zu erschaffen. Da sie aus der komplexen Verschränkung<br />

der narrativen Segmente entsteht, müssen diese auf makro-<br />

94


diegetischer Ebene eine Mindest-Zugehörigkeit zur diegetischen Welt erfüllen.<br />

Auf der mikro-diegetischen Ebene müssen faktische Aussagen und faktuale Sachverhalte<br />

übereinstimmend dargestellt werden. Dies schließt nicht die transparente<br />

Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Meinungen aus. Wird die Kohärenz<br />

und Kontinuität nicht berücksichtigt, kann die Repräsentation der Wirklichkeit<br />

nicht glaubhaft vermittelt werden, was zu einer Irritation des Rezipienten<br />

führt (vgl. Kap. 8.3).<br />

16. In Anbetracht der transmedialen Erweiterung der dokumentar-filmischen Narration<br />

erfährt auch der mündige Zuschauer eine Erweiterung seines möglichen Rezeptions-<br />

und Handlungsraumes. So kann Immersion im Akt der Rezeption<br />

transmedial verstärkt werden. Zudem können mitunter diegetische Elemente in<br />

die eigene Lebenswelt extrahiert werden (vgl. Kap. 9.1).<br />

17. Das Maß einer direkten, aktiven Miteinbeziehung des Zuschauers in die diegetische<br />

Welt kann in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der transmedialen Narration<br />

in mehreren Stufen ansteigen (vgl. Kap. 9.2):<br />

a. Der Rezipient wird zum intervenierenden Partizipant. Mithilfe transmedialer<br />

Methoden kann er aktiv werden und auf die dargestellte Wirklichkeit<br />

hinter der diegetischen Welt einwirken. Diese „Wirkungsenergie“<br />

wird dabei oftmals von den Produzenten der diegetischen Welt kanalisiert.<br />

Hierbei entsteht für den Partizipant eine Rückkopplung zwischen<br />

diegetischer Welt und Wirklichkeit.<br />

b. Der Rezipient wird zum Produzenten. Er bereichert durch eigene narrative<br />

Segmente oder Inhalte die diegetische Welt.<br />

c. Der Rezipient wird zum Protagonisten. Er wird durch eine spezielle Verschränkung<br />

der transmedialen Narration mit den dokumentar-filmischen<br />

Produktionsprozessen in die Dreharbeiten involviert. In dieser Rolle verschwimmen<br />

die Grenzen zwischen seiner Lebenswelt und der diegetischen<br />

Welt.<br />

10.2 Schlussfolgerungen<br />

In Hinblick auf die zu Beginn formulierten Kernfragen kann abschließend festgehalten werden,<br />

dass die dokumentar-filmische Erzählung aus einem vielschichtigen Komplex miteinander<br />

verschränkter Gestaltungsebenen besteht. Diese konnten einzeln benannt und ihre<br />

Relationen untereinander aufgezeigt werden.<br />

95


Der Dokumentarfilm bzw. die von ihm konstituierte Erzählung kann als initiierender<br />

narrativer Grundstein einer fortführenden und ergänzenden transmedialen Erzählung begriffen<br />

werden. Die dokumentar-filmische Erzählung steht nicht mehr nur für sich alleine,<br />

sondern befindet sich in einem Geflecht von narrativen Erweiterungen. <strong>Transmedia</strong>le Narration<br />

bringt dabei eigene Gestaltungskomponenten mit sich die auf den drei dokumentarfilmischen<br />

Ebenen während der Dokumentarfilmgestaltung berücksichtigt werden müssen.<br />

So gehen Dokumentarfilm und transmediale Erweiterungen eine erzählerische Symbiose<br />

ein, in deren Folge narrative Synergie-Effekte auftreten. Jedes Element, sei es der Dokumentarfilm<br />

oder erweiternde mediale Erzählungen im Reigen der umfassenden transmedialen<br />

Narration, bereichert das Primärwerk durch seinen eigenständigen narrativen Mehrwert.<br />

Die Erzählung stellt dann mehr dar als die Summe ihrer narrativen Teile:<br />

• Eine dokumentarisch darzustellende Thematik kann viel vielschichtiger narrativ<br />

erschlossen werden.<br />

• Der dokumentarischen Vision von Glaubwürdigkeit und authentischer Repräsentation<br />

von Wirklichkeit kann stärker nachgekommen werden, als dies ein einzelnes<br />

Werk, der Dokumentarfilm, vollbringen könnte.<br />

Es konnte aufgezeigt werden, dass die aufgestellte Annahme, ein Dokumentarfilm<br />

könne als Primärwerk eine transmediale Erzählkampagne anstoßen, in keinem Widerspruch<br />

zu den per Definition notwendigen Eigenschaften von transmedialer Narration steht. Die<br />

Integrität der prozesshaften Gestaltung eines Dokumentarfilms als erzählendes Medium<br />

bleibt dabei erhalten. Sie wird zum einen um neu zu beachtende Gestaltungsaspekte bereichert.<br />

Zum anderen wird sie selbst, die dokumentar-filmische Gestaltung, in die Gussform<br />

der transmedialen Erzählweise überführt. Dem Produzenten des Repräsentanten der Wirklichkeit<br />

werden Grundregeln vorgegeben, wie die Welt hinsichtlich einer umfassenden<br />

transmedialen Erzählkampagne zu verdichten ist. Als initiierender Erzähler gilt es nun nicht<br />

mehr nur die Diegese des einzelnen faktualen Filmes abzuleiten, sondern im gleichen<br />

Atemzug will eine ganze diegetische Welt erschaffen werden. Es kommen neue Dimensionen<br />

und Aspekte hinzu, die der Dokumentarist während des Produktionsprozesses mitbedenken<br />

muss. Diese transmedialen Gestaltungskomponenten konnten in dieser Arbeit herausgearbeitet<br />

werden.<br />

Abbildung 12 soll in Anlehnung an Abbildung 1 die vollzogene Überführung der dokumentar-filmischen<br />

Gestaltungsebenen in den Kontext der transmedialen Narration zusammenfassend<br />

aufzeigen. Je umfassender die Ebene, desto grundlegender umrahmt sie<br />

die anderen Ebenen:<br />

96


74<br />

Abbildung 12: Gestaltungsebenen der transmedialen Erweiterung dokumentar-filmischer Erzählung.73F<br />

10.3 Ausblick<br />

Die im vorliegenden Arbeitsprozess vollzogene Eingrenzung der analytischen Perspektive<br />

auf den Dokumentarfilm als Primärwerk schloss die Betrachtung alternativer Modelle faktualer<br />

transmedialer Narrationen aus. Allen voran ist hier die transmediale dokumentarische<br />

Narration zu nennen, welche sich im Unterschied zu der hier betrachteten transmedialen<br />

Erweiterung dokumentar-filmischer Narration vollständig vom Dokumentarfilm abgelöst<br />

hat. Bei dieser Variante der transmedialen Narration wird gänzlich auf ein Primärwerk verzichtet.<br />

Die dokumentarische Erzählung wird durchweg nur noch durch eine „Wolke“<br />

transmedialer Erzähleinheiten konstituiert. Daher kann auch hier nicht mehr von einer narrativen<br />

<strong>Transmedia</strong>lisierung gesprochen werden, da diese Begrifflichkeit eine Überführung<br />

von diegetischen Inhalten von einem Medium (dem Primärwerk) in zusätzliche Medien<br />

impliziert. Die Grenzen zwischen beiden Formen können jedoch fließend sein. Dennoch ist<br />

auch der Unterschied klar erkennbar. Bei der transmedialen dokumentarischen Narration<br />

werden nur noch die vom Dokumentarfilm abstammenden charakteristischen Gestaltungsmittel<br />

verwendet, um faktuale Geschichten über reale Zusammenhänge multimedial<br />

zu erzählen.<br />

74 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />

97


Dabei ist zu vermuten, dass interaktive Erzähl-Elemente und damit einhergehende<br />

non-lineare Erzähl-Schemata einen höheren Stellenwert besitzen, als sie es in der hier untersuchten<br />

Form transmedialer Narration getan haben. Beispiele, wie die ambitionierten<br />

Projekte Collapsus 75 oder Prison Valley 76 deuten hierdrauf hin. Zudem geben die Bezeichnungen<br />

für solche Projekte, „interaktiver Dokumentarfilm“ oder „Web-Dokumentarfilm“,<br />

Anlass dazu, weitere Unterscheidungsmerkmale im Rahmen einer transmedialen dokumentarischen<br />

Narration herauszustellen.<br />

Die in dieser Arbeit herausgearbeitete Wechselwirkung zwischen Dokumentarfilm<br />

und narrativer <strong>Transmedia</strong>lisierung kann daher als Ausgangspunkt für eine umfassendere<br />

Untersuchung der transmedialen dokumentarischen Narration verwendet werden. Dafür<br />

können mehrere forschungsrelevante Anknüpfungspunkte aus den hieraus gewonnenen<br />

Erkenntnissen abgeleitet werden:<br />

• Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit auch ohne ein einführendes<br />

Primärwerk genügend Aufmerksamkeit und Interesse an der Thematik erzeugt<br />

wird?<br />

• Wie müssen narrative Eintrittspunkte gestaltet sein, um dem Publikum leicht zugängliche<br />

Einlässe zur diegetischen Welt zu gewähren?<br />

• Wie sehen geeignete Handlungsbögen und Formen der Dramaturgie aus, die in<br />

einer non-linearen narrativen Umgebung funktionieren können?<br />

• Welche Rolle spielen interaktive Elemente bei der Erzählung?<br />

• In welchem Verhältnis stehen Produzenten und Zuschauer in Bezug auf die Autorenschaft<br />

und Deutungshoheit der narrativen Inhalte? Bleibt das bekannte Rollenverhältnis<br />

„Erzähler – Rezipient“ bestehen oder löst es sich auf?<br />

Darüber hinaus erscheinen auch weiterführende Untersuchungen zwischen der formal-kinematografischen<br />

Gestaltung eines Dokumentarfilmes und der medienspezifischen<br />

Ausgestaltung transmedialer Erweiterungen sinnvoll. Im Einzelnen wurden die hier bestehenden<br />

Wechselwirkungen nicht betrachtet. Es stellt sich die Frage, welche narrativen Inhalte<br />

mit welchen Medien und welcher spezifischen Gestaltung vorzugsweise im Sinne des<br />

Rezipienten erzählt werden sollen.<br />

Des Weiteren kann auf Basis dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, mit welchen<br />

Faktoren auf die Gestaltung eines Dokumentarfilmes eingewirkt werden kann, wenn<br />

dieser nicht als Primärwerk – sondern erst im Laufe einer transmedialen Kampagne produ-<br />

75 http://www.collapsus.com/ (letzter Abruf 27.12.12).<br />

76 http://prisonvalley.arte.tv/?lang=de (letzter Abruf 27.12.12).<br />

98


ziert wird. Durch diese Umkehrung der in dieser Abhandlung erarbeiteten Konstellation fällt<br />

vor allem der konzeptionell-narrative Weltenbau weg. Der Verlust dieses initiierenden Status‘<br />

führt also zu einem neuen medientheoretischen Verhältnis zwischen transmedialer<br />

Narration und Dokumentarfilm. Es stellt sich die Frage, ob – und wenn ja –, welche dafür<br />

neu hinzukommenden gestalterischen Faktoren zu berücksichtigen sind.<br />

Zudem erscheint es lohnenswert in anknüpfenden Arbeiten die verschiedenen Spielarten,<br />

Sub-Genres und Formate, welche vom Dokumentarfilm abstammen, hinsichtlich<br />

ihrer spezifischen Eigenschaften im Kontext der transmedialen Narration zu untersuchen.<br />

Hier könnte man dem Aspekt nachgehen, welche Auswirkungen auf das Beziehungsgeflecht<br />

zwischen filmischer Erzählung und transmedialer Narration zu Tage treten, wenn anstatt<br />

eines Dokumentarfilmes eine dokumentarische Serie als Ausgangspunkt zugrunde gelegt<br />

wird. Auch können spezifische gestalterische Abweichungen in anderen dokumentarischen<br />

Genres Auswirkungen auf die Gestaltung der transmedialen Narration haben.<br />

10.4 Resümee<br />

Mit der vorliegenden Arbeit gelang eine umfassende Analyse der Gestaltung des Dokumentarfilmes.<br />

Auf deren Basis konnte eine narrative <strong>Transmedia</strong>lisierung eben jener aufgeschlüsselten<br />

dokumentar-filmischen Erzählung nachvollzogen werden. Durch eine umfassende<br />

Betrachtung und Herleitung vorhandener gestalterischer Beziehungen konnten die<br />

eingangs aufgestellten Fragen somit beantwortet werden.<br />

Die analytisch gewonnenen Erkenntnisse können als Gestaltungsmodell für transmediale<br />

Erweiterungen dokumentar-filmischer Narration dienen. Es beschreibt den zu beherrschenden<br />

gestalterischen Handlungsrahmen und bietet so Orientierung und Hinweise, um<br />

transmediale Narration zu konstituieren. Dabei könnte das Modell auch auf hier nicht berücksichtigte<br />

andere dokumentarische (Film-) Formate wie zum Beispiel Doku-Serien oder<br />

gar Doku-Soaps angewendet werden. Denn auch diese Formen dokumentarischer Narration<br />

bewegen sich auf den gleichen Gestaltungsebenen und Gestaltungselementen. Auch<br />

ihre Einbettung in den Kontext transmedialer Erzählungen basieren auf den gleichen Konzepten<br />

– wenngleich auch Genre-spezifische Eigenschaften zusätzlich berücksichtigt werden<br />

müssten.<br />

Die Erarbeitung dieses Modells basiert auf bestehenden filmnarratologischen und<br />

medientheoretischen Feststellungen, die im Kontext fiktionaler Spielfilme aufgestellt wurden.<br />

Daher war es notwendig, diese Erkenntnisse nach kritischer Auseinandersetzung auf<br />

den faktualen Dokumentarfilm zu übertragen. Während des Transferierungsprozesses wur-<br />

99


den aktuelle Ergebnisse des theoretischen Dokumentarfilm-Diskurses mitbedacht. Diese<br />

interdisziplinäre Basis bietet Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen und Analysen<br />

– unter Gesichtspunkten verschiedener Disziplinen. Die hier verfolgte erkenntnisorientierte<br />

Vorgehensweise sowie der vorgegebene Rahmen dieser Arbeit bedingten zudem, dass einige<br />

Aspekte im Detail nicht betrachtet werden konnten. Somit kann das in dieser Arbeit<br />

entwickelte Modell zwar im Sinne der aufgestellten Kernfragen und Zielsetzung als hinreichend<br />

entwickelt.<br />

Ob und in wie fern sich die transmediale Erweiterung dokumentar-filmischer Erzählung<br />

in der (deutschen) Dokumentarfilm-Branche durchsetzen kann, wird die Zukunft zeigen.<br />

In Hinblick auf die in der Einführung dargestellten Projekte deutscher Dokumentarfilm-<br />

Produzenten schreiben Mayer und Reschl, Führungspersönlichkeiten vom Haus des Dokumentarfilms:<br />

„Fast alle Hoffnungen richten sich aufs Internet, auf crossmediale Projekte.<br />

[…] Ohne solche Visionen wird der Filmemacher-Nachwuchs kaum auskommen […]“. (HdF<br />

2012, 3; Ausl. d.V.). Es bleibt abzuwarten, welche Projekte in den kommenden Jahren verwirklicht<br />

werden und ob sich durch sie die augenscheinlich verfahrene Situation der deutschen<br />

Dokumentarfilm-Branche bessern wird.<br />

Von einer solchen Entwicklung könnte der Zuschauer nach Auffassung des Verfassers<br />

dieser Arbeit nur profitieren. Die Welt würde dem Rezipienten durch jedes Projekt facettenreich<br />

und auf innovative Weise für eigene Entdeckungen zugänglich gemacht werden.<br />

Und darum geht es im Kern der dokumentarischen Verdichtung der Wirklichkeit. Letztlich<br />

wird es das Publikum sein, das die Entscheidung treffen wird, welche Formen medialer Erzählungen<br />

Erfolg haben werden.<br />

Dabei werden innovative Technologien, Methoden und Möglichkeiten der Medienkonvergenz<br />

zweitrangig bleiben. Es wird zuerst immer auf die Geschichte ankommen, die<br />

ein Dokumentarist von unserer Welt erzählen möchte. Welche Mittel er dafür einsetzt,<br />

hängt von der Wirklichkeit ab, obgleich sich nicht umsonst der Dokumentarfilm als gängiges<br />

Erzählmedium etabliert hat. Form folgt Funktion – dokumentarische Erzählung folgt Wirklichkeit.<br />

Daran soll abschließend mit den Worten Nichols (2010, 15) erinnert werden:<br />

„Documentaries adopt no fixed inventory of techniques, address no one set of issues,<br />

display no single set of forms or styles. Documentary film practice is an arena in which<br />

things change. Alternative approaches are constantly attempted and then adopted or<br />

abandoned. Prototypical works stand out that others emulate without ever being able to<br />

copy or reproduce entirely.”<br />

100


Literaturverzeichnis<br />

Borstnar, N., Pabst, E., & Wulff, H. J. (2008). Einführung in die Film- und<br />

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101


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bordwell.net. URL: http://www.davidbordwell.net/blog/2009/08/19/now-leavingfrom-platform-1/print/.<br />

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Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@12 Ohne Autor: Synopsis. Ohne Datum. Online auf: The Cove Movie. URL:<br />

http://www.thecovemovie.com/the_cove/synopsis.htm. Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@13 Ohne Autor: The Secret Is Out. Spread the Word. Ohne Datum. Online auf: Take<br />

Part. URL: http://www.takepart.com/cove. Letzter Abruf 10.12.12.<br />

102


@14 Ohne Autor: We're So Close! Ohne Datum. Online auf: Take Part. URL:<br />

http://www.takepart.com/cove/takeaction. Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@15 Merin, J.: The <strong>Transmedia</strong> Approach to Documentary Development and Marketing.<br />

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@16 Ohne Autor: Franchise (Medien). Datum: 15.11.2012. Online auf: Wikipedia. URL:<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/ Franchise_(Medien). Letzter Abruf 10.12.12.<br />

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@18 Ryan, M.-L.: <strong>Transmedia</strong> storytelling and transfictionality. Ohne Datum. Online<br />

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@19 Jenkins, H.: Revenge of the Origami Unicorn: The Remaining Four Principles of<br />

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@20 Mittell, J.: To Spread or To Drill? Datum: 25.02.2009. Online auf: Just TV. URL:<br />

http://justtv.wordpress.com/2009/02/25/to-spread-or-to-drill/. Letzter Abruf<br />

10.12.12.<br />

@21 Ohne Autor: Eskimo Pie Day. Datum: 12.03.2008. Online auf: Monts of Edible Celebrations.<br />

URL: http://monthsofediblecelebrations.blogspot.de/2008/03/eskimopie-day.html.<br />

Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@22 Bernardo, N.: Nuno Bernardo: <strong>Transmedia</strong> in Documentary <strong>Storytelling</strong>. Datum:<br />

08.03.2012. Online auf: mipblog. URL: http://blog.mipworld.com/2012/03/nunobernardo-transmedia-in-documentary-storytelling/.<br />

Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@23 Ohne Autor: Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Datum: 08.03.2012. Online<br />

auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/about/about. Letzter Abruf<br />

10.12.12.<br />

@24 Ohne Autor: Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Ohne Datum. Onli- ne<br />

auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/about/about. Letzter Abruf<br />

10.12.12.<br />

@25 Ohne Autor: Kreativität zum Dumpingpreis. Datum: 25.10.2012. Online auf:<br />

AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/politics/177089/hpg_detail. Letzter<br />

Abruf 10.12.12.<br />

@26 Ohne Autor: Gegen die Gummiwand der Ignoranz. Datum: 19.04.2012. Online<br />

auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/politics/167433/hpg_detail. Letzter<br />

Abruf 10.12.12.<br />

103


@27 Connor, A.: The WWW Info-Rainforest. Datum: 25.12.2007. Online auf: BBC Internet<br />

Blog. URL: http://www.bbc.co.uk/blogs/bbcinternet/2007/12/the_www_<br />

In forainforest_1.html. Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@28 Hayes, G.: Cross-Media. Datum: 2006. Online auf: Personalize Media. URL:<br />

http://www.personalizemedia.com/articles/cross-media/. Letzter Abruf 10.12.12.<br />

@29 Ohne, Autor.: Taste the Waste. Rezepte und Ideen für Essensretter. Ohne Datum.<br />

Online auf: Taste the Waste. URL: http://kochbuch.tastethewaste.com/. Letzter<br />

Abruf 10.12.12.<br />

Filmografie<br />

BERLIN, DIE SINFONIE DER GROßSTADT (Regie: Walther Ruttmann; Deutschland, 1927).<br />

BOWLING FOR COLUMBINE (Regie: Michael Moore; USA, 2002).<br />

DER GROßE AUSVERKAUF (Regie: Florian Opitz; Deutschland, 2006).<br />

FAHRENHEIT 9/11 (Regie: Michael Moore; USA, 2004).<br />

GOD GREW TIRED OF US (Regie: Christopher Dillon Quinn; USA, 2006).<br />

HARRY POTTER (Regie: Chris Columbus; USA/Großbritannien, 2001).<br />

NANOOK, DER ESKIMO (Regie: Robert J. Flaherty; USA 1922).<br />

STEPPING FORWARD (Regie: Benjamin Wiedenbruch, Casjen Ennen; Malta 2011-).<br />

THE LORD OF THE RINGS (Regie: Peter Jackson; USA/Neuseeland, 2001).<br />

THE MATRIX (Regie: Andy Wachowski u. Larry Wachsowki; USA, 1999).<br />

TWILIGHT (Regie: Catherine Hardwicke; USA, 2008).<br />

TASTE THE WASTE (Regie: Valentin Thurn; Deutschland, 2011).<br />

WAR PHOTOGRAPHER (Regie: Christian Frei; Schweiz, 2001).<br />

WORKINGSMAN‘S DEATH (Regie: Michael Glawogger; Deutschland/ Österreich,2005).<br />

104


Sachregister<br />

Additive comprehension ............................ 75<br />

Analepsen .................................................. 37<br />

Ausdehnung ............................................... 67<br />

Crossmedial ................................................ 50<br />

Diegese ....................................................... 24<br />

Drillability ................................................... 75<br />

Ergänzung ................................................... 67<br />

Erzählung .................................................... 24<br />

Ethos .......................................................... 60<br />

Extractability .............................................. 85<br />

Extradiegetisch ........................................... 26<br />

Extraktion diegetischer Elemente .............. 84<br />

Fokalisierung .............................................. 33<br />

Geschichte .................................................. 24<br />

Heterodiegetisch ........................................ 29<br />

Homodiegetisch ......................................... 29<br />

Immersion .................................................. 84<br />

Intervenierenden Partizipant ..................... 86<br />

Intradiegetisch ............................................ 26<br />

Kampagne ................................................... 53<br />

Makro-diegetische Aufteilung .................... 73<br />

Makro-diegetisch ........................................ 68<br />

Metadiegetisch ........................................... 26<br />

Mikro-diegetisch ......................................... 68<br />

Mikro-diegetische Segmentierung ............. 73<br />

Mythos ....................................................... 60<br />

Narrative Lücken ........................................ 64<br />

Prolepsen .................................................... 37<br />

Radical intertextuality ................................ 74<br />

Spreadability ............................................... 75<br />

Subjektivierung .......................................... 71<br />

Topos .......................................................... 60<br />

<strong>Transmedia</strong>le Kohärenz u. Kontinuität ....... 81<br />

<strong>Transmedia</strong>len Erzählung ........................... 49<br />

World building ............................................ 72<br />

105


Danksagung<br />

Mein spezieller Dank gilt Anne Pollakowski, die mich unermüdlich unterstützt, motiviert<br />

und mir den Rücken gestärkt hat! Mit Dir hat man bereits die halbe Miete – von Allem!<br />

Esther Pollakowski möchte ich für ihre bemerkenswert präzisen und gewissenhaften Beobachtungen<br />

bei der Lektüre des Manuskriptes danken! Ihre konstruktiven Vorschläge waren<br />

ausgesprochen hilfreich.<br />

Doris Pettkus gilt mein Dank für ihre Ratschläge und das tolle Engagement, mit der sie entschlossen<br />

mein Manuskript gegengelesen hat. Ihre Besonnenheit und Erfahrung waren sehr<br />

bereichernd.<br />

Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinen Eltern Brigitte und Volker Wiedenbruch für den grandiosen<br />

Job, den sie gemacht haben!<br />

106


Den Dokumentarfilmern dieser Welt gewidmet.<br />

Was kann schöner sein als zu entdecken?<br />

Wir bleiben am Ball!<br />

107

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