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<strong>Transmedia</strong>le Erweiterung der<br />
dokumentar-filmischen Erzählung<br />
Untersuchung der gestalterischen Verflechtung von Dokumentarfilm<br />
und Erweiterungsmöglichkeiten durch transmediale Narration<br />
Masterarbeit im Studiengang Elektronische Medien<br />
vorgelegt von Benjamin Wiedenbruch<br />
Martrikelnummer: 22352<br />
an der Hochschule der Medien Stuttgart<br />
am 17.12.12<br />
Erstprüfer: Prof. Stuart Marlow<br />
Zweitprüfer: Prof. Jörn Precht
Erklärung<br />
Hiermit versichere ich, Benjamin Wiedenbruch, an Eides Statt, dass ich die vorliegende<br />
Masterarbeit mit dem Titel: „<strong>Transmedia</strong>le Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung“<br />
selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die angegebenen<br />
Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen<br />
Werken entnommen wurden, sind in jedem Fall unter Angabe der Quelle kenntlich<br />
gemacht. Die Arbeit ist noch nicht veröffentlicht oder in anderer Form als Prüfungsleistung<br />
vorgelegt worden. Ich habe die Bedeutung der eidesstattlichen Versicherung und die prüfungsrechtlichen<br />
Folgen (§26 Abs. 2 Bachelor-SPO (6 Semester), § 23 Abs. 2 Bachelor-SPO (7<br />
Semester) bzw. § 19 Abs. 2 Master-SPO der HdM) sowie die strafrechtlichen Folgen (gem. §<br />
156 StGB) einer unrichtigen oder unvollständigen eidesstattlichen Versicherung zur Kenntnis<br />
genommen.<br />
Stuttgart, den 17.12.12<br />
Benjamin Wiedenbruch<br />
III
Abstract<br />
Es ist zu beobachten, dass sich in Deutschland dokumentar-filmische Produktionen häufen,<br />
in denen erzählerische Inhalte der Dokumentarfilme auf anderen Medien komplementiert<br />
werden. Der Dokumentarfilm steht so in der Mitte eines narrativen Reigens aus transmedialen<br />
Erweiterungen wie beispielsweise dem vertiefenden Buch oder der fortführenden<br />
Internet-Kampagne.<br />
Gegenstand dieser Arbeit ist die Untersuchung der gestalterischen Verflechtung eines<br />
Dokumentarfilms mit weiteren Medien, die inhaltliche Aspekte seiner Erzählung fortführend<br />
und ergänzend aufgreifen (<strong>Transmedia</strong>lität). Um dieser Fragestellung gerecht werden<br />
zu können, ist es in einem ersten Schritt notwendig, die Gestaltung eines Dokumentarfilms<br />
umfassend aufzuschlüsseln. Die hierbei herausgearbeiteten Gestaltungsebenen stellen<br />
die Voraussetzung für die Analyse dar, die in einem zweiten Schritt erfolgt. An die herausgestellten<br />
Ebenen wird angeknüpft, um die transmediale Erweiterung der dokumentarfilmischen<br />
Erzählung erarbeiten und aufzeigen zu können.<br />
English:<br />
In Germany, there has been an increase in documentary film productions in which the narrative<br />
content of the documentary is complemented with various other medias. For instance,<br />
the documentary film finds itself embedded in a transmedial environment consisting<br />
of complementing books or Internet campaigns.<br />
The purpose of this paper is to examine the creative interlacement of a documentary<br />
film with other various medias, which reflect different aspects of its narrative content in<br />
order to transcend its content (transmediality). For this purpose, it is necessary to break<br />
down the composition of a documentary film. Several different levels of composition will be<br />
disclosed which will then serve as a basis for the following analysis, where the transmedial<br />
expansion of the documentary’s narrative will be explored and illustrated.<br />
V
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einführung ....................................................................................................... 1<br />
1.1 Zeitgeist: Medienkonvergenz ................................................................... 1<br />
1.2 Unmut einer Branche ............................................................................... 2<br />
1.3 Mediale Unabhängigkeitsbestrebungen ................................................... 4<br />
1.4 Thematische Abgrenzung und Fragestellung ............................................ 6<br />
1.5 Zielsetzung und Vorgehensweise ............................................................. 8<br />
2 Das Wesen des Dokumentarfilms ................................................................... 11<br />
2.1 Repräsentanten der Wirklichkeit ............................................................ 11<br />
2.2 Authentizitätssignale ............................................................................. 13<br />
2.3 Der mündige Zuschauer ......................................................................... 14<br />
2.4 Dokumentar-filmische Gestaltung .......................................................... 15<br />
2.4.1 Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion .................................... 15<br />
2.4.2 Identifizierte Ebenen der dokumentar-filmischen Gestaltung............ 16<br />
3 Die Regie-Ebene ............................................................................................. 19<br />
3.1.1 Auftrag und Vision ............................................................................... 20<br />
3.1.2 Haltung ................................................................................................ 20<br />
3.1.3 Strategisch-redaktionelle Erfassung .................................................... 21<br />
3.1.4 Reflexion .............................................................................................. 22<br />
4 Die konzeptionell-narrative Ebene ................................................................. 23<br />
4.1 Erzählung im Dokumentarfilm ................................................................ 23<br />
4.1.1 Die Natur der filmischen Erzählweise.................................................. 23<br />
4.1.2 Konzeptionell-narrative Komponenten der filmischen Erzählweise ... 24<br />
4.2 Konstitution der Erzählung ..................................................................... 25<br />
4.2.1 Diegetische Erzählebenen ................................................................... 25<br />
4.2.2 Erzählinstanzen im Dokumentarfilm ................................................... 28<br />
4.2.1 Dramaturgie als rhetorisches Mittel der Erzählung ............................ 30<br />
4.3 Perspektivierung der Erzählung .............................................................. 33<br />
4.3.1 Fokalisierung und Point-of-View ......................................................... 33<br />
4.3.2 Distanz und Nähe als narratives Konzept ............................................ 34<br />
4.4 Strukturierung der Erzählung ................................................................. 35<br />
4.4.1 Ordnung ............................................................................................... 37<br />
4.4.2 Dauer ................................................................................................... 38<br />
VI
5 Die formal-kinematografische Ebene .............................................................. 40<br />
5.1 Intradiegetische kinematografische Erzählmittel .................................... 40<br />
5.1.1 Dokumentarisches Filmen als narratives Basiskonstrukt .................... 41<br />
5.1.1.1 Die Kamera-Arbeit ....................................................................................... 41<br />
5.1.1.2 Original-Ton-Aufnahmen ............................................................................. 42<br />
5.1.2 Verbalsprachliche Erzählung im „On“ ................................................. 43<br />
5.2 Extradiegetische kinematografische Erzählmittel ................................... 44<br />
5.2.1 Visuelle extradiegetische Erzählmittel ................................................ 45<br />
5.2.1.1 Fremd- und Archivmaterial .......................................................................... 45<br />
5.2.1.2 Grafische Elemente ...................................................................................... 46<br />
5.2.2 Off-Kommentare als extradiegetisches Erzählmittel .......................... 47<br />
5.2.3 Montage .............................................................................................. 48<br />
6 Im Netz der Medienkonvergenz ...................................................................... 49<br />
6.1 Definitorische Einordnung ...................................................................... 49<br />
6.2 Vorbedingungen für eine sinnvolle <strong>Transmedia</strong>lisierung ........................ 50<br />
6.3 <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Kontext ........................ 52<br />
7 Der Dokumentarist als Weltenbauer .............................................................. 55<br />
7.1 Die Thematik wird zum Franchise ........................................................... 55<br />
7.2 Vermessung geeigneter Ausschnitte der Welt ........................................ 59<br />
7.3 Narrative Lücken als transmediale Anknüpfungspunkte ......................... 63<br />
8 <strong>Transmedia</strong>le Extension dokumentar-filmischer Narration ............................. 67<br />
8.1 Funktionen transmedialer Erweiterungen .............................................. 67<br />
8.1.1 Erweiternde und Ergänzende Funktion ............................................... 69<br />
8.1.1.1 Funktionen auf inhaltlicher Ebene ............................................................... 69<br />
8.1.1.2 Zeitliche Evolution durch Erweiterung und Ergänzung ................................ 69<br />
8.1.2 Subjektivierung .................................................................................... 71<br />
8.2 Entstehungsmoment der transmedialen Erzählung ................................ 72<br />
8.2.1 Konstitution der transmedialen Erzählung ......................................... 72<br />
8.2.2 Theoretische Betrachtungen ............................................................... 74<br />
8.2.2.1 Die Formel für <strong>Transmedia</strong>lität .................................................................... 74<br />
8.2.2.2 Notwendige Eigenschaften narrativer Einheiten ......................................... 75<br />
8.2.3 Aufteilung und Segmentierung ........................................................... 76<br />
8.2.4 Mediale Verteilung .............................................................................. 77<br />
8.2.5 Beispiel einer transmedialen Erzählung .............................................. 79<br />
VII
8.3 Erzählerische Kohärenz .......................................................................... 81<br />
9 Erweiterung des Handlungsraumes des Rezipienten ....................................... 83<br />
9.1 Dimensionen der Rezeption ................................................................... 83<br />
9.1.1 Immersive Erfahrbarkeit ...................................................................... 83<br />
9.1.2 Extraktion diegetischer Elemente ....................................................... 84<br />
9.2 Miteinbeziehung des Rezipienten .......................................................... 86<br />
9.2.1 Der Rezipient wird zum Partizipant ..................................................... 86<br />
9.2.2 Bidirektionale Kommunikation ............................................................ 88<br />
9.2.3 Einbindung als Protagonist oder Produzent ........................................ 89<br />
9.2.3.1 Involvierung als Protagonist ........................................................................ 89<br />
9.2.3.2 Miteinbeziehung in den Produktionsprozess .............................................. 90<br />
10 Abschließende Betrachtungen ................................................................... 92<br />
10.1 Gewonnene Erkenntnisse .................................................................. 92<br />
10.2 Schlussfolgerungen ............................................................................ 95<br />
10.3 Ausblick ............................................................................................. 97<br />
10.4 Resümee ............................................................................................ 99<br />
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 101<br />
Online-Ressourcen .............................................................................................. 102<br />
Filmografie ......................................................................................................... 104<br />
Sachregister ........................................................................................................ 105<br />
Danksagung ........................................................................................................ 106<br />
VIII
Abbildungsverzeichnis:<br />
Abbildung 1: Gestaltungsebenen des Dokumentarfilms ................................................................ 18<br />
Abbildung 2: Komponenten der abstrahierten Regie-Ebene .......................................................... 19<br />
Abbildung 3: Komponenten der konzeptionell-narrativen Ebene .................................................. 25<br />
Abbildung 4: Narrative Kommunikationsebenen im Dokumentarfilm ........................................... 27<br />
Abbildung 5: Intradiegetische Gestaltungskomponenten und ihre Elemente ............................... 40<br />
Abbildung 6: Kinematografische Erzählmittel auf der extradiegetischen Ebene ........................... 44<br />
Abbildung 7: Relationaler Zusammenhang in einer transmedialen Kampagne ............................. 54<br />
Abbildung 8: Aufbau einer transmedial erzählten diegetischen Welt ............................................ 66<br />
Abbildung 9: Erweiterung der diegetischen Welt auf mikro- und makro-diegetischer Ebene ....... 68<br />
Abbildung 10: Beispielhafte transmediale Kampagne .................................................................... 79<br />
Abbildung 11: Erweiterte Handlungsräume des Rezipienten ......................................................... 91<br />
Abbildung 12: Gestaltungsebenen einer transmedialen Erweiterung dokumentar-filmischer<br />
Erzählung ................................................................................................................... 97<br />
IX
Phantasie haben heißt nicht, sich etwas auszudenken,<br />
es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.<br />
Thomas Mann
1 Einführung<br />
1.1 Zeitgeist: Medienkonvergenz<br />
Die Zusammenführung von Darstellungsformen einzelner Mediengattungen, zur umfassenden<br />
Vermittlung von Inhalten, stellt kein exklusives Phänomen unserer Zeit dar. Es scheint<br />
in der Natur der Dinge zu liegen, dass Menschen seit jeher die gebotenen medialen Möglichkeiten<br />
nutzen und kombinieren, um neue Formen des Erzählens zu kreieren. 1 Man denke<br />
nur an die bereits frühzeitig eingesetzte Kombination von Text und Bild im Buch oder<br />
später in Zeitungen. Auch die Integration von visuellen und auditiven Inhalten im Film und<br />
Fernsehen stellt eine Konvergenz bereits bestehender medialer Darstellungsformen dar.<br />
So konstatierte zum Beispiel Richard Wagner (1813 – 1883) mit seiner Idee des „Gesamtkunstwerkes“<br />
einen umfassenden Zusammenschluss der vorherrschenden Künste seiner<br />
Epoche:<br />
„Das große Gesammtkunstwerk [!], das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede<br />
einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu<br />
Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes [!] aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren<br />
Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk<br />
[!] erkennt er [der menschliche Geist] nicht als die willkürlich mögliche That [!]<br />
des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen<br />
der Zukunft.“ (Wagner 1850, 32; Erg. d. V.).<br />
Obgleich er vor allem die „großen Künste“ wie Musik, Dichtung und Tanz im Kontext<br />
von Oper und Theater meinte, können die Grundzüge seiner Idee in abstrahierter Form<br />
analog auf die Phänomene der Medienkonvergenz in unserer Gegenwart übertragen werden.<br />
Die Annäherung der Medien erfuhr in den letzten drei Jahrzehnten einen bis heute<br />
anhaltenden epochalen Schub. Zu dieser Entwicklung haben im Vorfeld mehrere erstmals<br />
zusammenkommende Faktoren beigetragen. So bot die sukzessive Digitalisierung analoger<br />
Medien und Kunstformen erstmals die Möglichkeit Inhalte auf einen „medialen Nenner“ zu<br />
bringen. Dadurch entstand eine gemeinsame Basis für verschiedene Kunstformen. Als Konsequenz<br />
entsprang dieser medialen Entwicklung auch das Internet als ein tatsächlich neues,<br />
1<br />
Wie Lipp (2012, 33 ff.) aufzeigt, liegt es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte im Wesen des<br />
Menschen, sich Geschichten zu erzählen. Er gibt Eibl wieder, der laut Lipp behauptet, „der<br />
entscheidende evolutive Vorsprung des Menschen bestehe in seiner Fähigkeit, komplexe<br />
Geschichten zu erzählen. Eibl bezeichnet den Menschen daher als animal poeta, also als das<br />
Geschichten erzählende Tier.“ (Eibl zit. n. Lipp 2012, 33). Er folgert daraus: „Menschsein beginnt<br />
gewissermaßen dort, wo wir die uns umgebende Welt irrealisieren, indem wir sie zu Geschichten<br />
verdichten. Hier wird grundsätzlich deutlich, dass Menschsein ohne den Einsatz von Medien nicht<br />
denkbar ist.“ (ebd.).<br />
1
digitales Medium. Mit ihm stand nun erstmals ein „Hyper-Vertriebskanal“ zur Verfügung,<br />
der sowohl für Medien-Produzenten als auch etwas später für die Benutzer zur Verbreitung<br />
von Inhalten genutzt werden konnte.<br />
Die Kombination beider Phänomene – die digitale Revolution und die Entwicklung<br />
des Internets – bieten die Basis für die heute zu beobachtende Form der Medienkonvergenz<br />
mit all ihren hervorgebrachten Neben-Effekten wie beispielsweise der sozialen Vernetzung<br />
von Millionen Menschen.<br />
Hervorgebrachte digitale Medien wie Smartphones, PCs, Tablett-Computer, E-Book-<br />
Reader und smarte TV-Geräte können auf das Internet als den omnipräsenten, globalvernetzten<br />
Vertriebskanal im Hintergrund zurückgreifen. Sie sprechen alle die gleiche digitale<br />
Metasprache – bestehend aus Bits und Bytes –, so dass diese technische Voraussetzung<br />
die Übertragung von Inhalten geradezu provoziert. Sei es nun ein Text, ein Bild, ein Video<br />
oder eine interaktive Anwendung die von einem in ein anderes Medium übertragen werden<br />
soll, so ist zu beobachten, dass mittlerweile alles was digital ist verlinkt, geteilt und verbreitet<br />
wird. Sogar Hollywood-Filme können auf diesen Medien angeschaut werden – und das<br />
immer und überall online.<br />
Diese neu aufgekommenen Konvergenzphänomene im Medienbereich führen auch<br />
dazu, dass die einstigen Produzenten, Verlage und Studios einen unvergleichbaren Umbruch<br />
ihrer Wirtschaftszweige erleben mussten und immer noch müssen. Proportional zu<br />
den Entwicklungsschritten des Internets (Web 2.0, Social Web oder die reine Datenübertragungsleistung)<br />
und der Computertechnologien (steigende Rechenleistung, Speicherkapazität)<br />
wurde eine Branche nach der anderen von der Medienkonvergenz erfasst und umgewälzt.<br />
Der Zeitungsmarkt, die Musikindustrie, die Filmbranche und die TV-Sender, sie alle<br />
waren auf das, was kam, nicht gefasst und brauchten Zeit, um sich auf die neue Situation<br />
mit ihren Chancen – aber auch mit ihren Risiken – auszurichten. Der wohlkontrollierte gewohnte<br />
Vertrieb ihrer produzierten Inhalte mittels Zeitungen und Magazinen, Musik-CDs,<br />
Kinovorführungen und DVDs wurde durch die neu entstandene Situation regelrecht eingerissen.<br />
1.2 Unmut einer Branche<br />
Zeitlich umrahmt von der anhaltenden Medienkonvergenz und eingebettet in einem Markt<br />
mit spezifischen medienpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenheiten hat die<br />
deutsche Dokumentarfilm-Branche ihren eigenen Kampf zu führen. Die Ursachen hängen<br />
2
nicht direkt mit den Einflüssen der in Kapitel 1.1 erwähnten Phänomen zusammen, sondern<br />
vielmehr mit der aktuellen Politik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.<br />
Nach Meinung der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK), die sich „in erster<br />
Linie als film- und medienpolitische Lobby des Dokumentarfilms“ (@24) versteht, „[werden]<br />
AutorInnen und Regisseure von Dokumentarfilmen miserabel bezahlt, in der Vergütungsskala<br />
der Medienbranche rangieren sie am unteren Ende.“ (@25; Umst. d. V.). 2 Sogleich will<br />
die AG DOK die Umstände, die zu dieser Situation geführt haben, kennen:<br />
„Verantwortlich für diese Situation sind nach Ansicht der AG DOK vor allem die Sparbestrebungen<br />
der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die zwar Unsummen in Sportrechte,<br />
Unterhaltungsprogramme und Talkshows investieren, dabei aber ihre Kernkompetenz<br />
- die anspruchsvolle Dokumentation - zunehmend vernachlässigen und finanziell austrocknen.”<br />
(@25).<br />
Dieser mutmaßlichen „Vernachlässigung“ ist es geschuldet, dass nach Meinung der<br />
AG DOK die Produktion von anspruchsvollen Dokumentarfilmen in Deutschland immer weiter<br />
abnimmt. Schwierige finanzielle Situationen für Dokumentaristen – als auch die vermeintliche<br />
Bevorzugung quotenstarker Formate durch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten<br />
– hemmen nach Ansicht der AG DOK die Produktion innovativer und anspruchsvoller<br />
Dokumentarfilme bzw. dokumentarischer Formate. So hält die AG DOK in einem Thesenpapier<br />
fest:<br />
„1. Was das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland seinen Zuschauern als Dokumentarfilm<br />
präsentiert, bildet die Wirklichkeit unseres Landes nicht mehr vollständig ab.<br />
Schon die Themenwahl wird vom Quotendenken regiert. Vermeintlich "schwierige" und<br />
damit wenig quotenversprechende Inhalte finden immer seltener den Weg ins Programm<br />
oder werden in Randzonen deportiert.<br />
2. Künstlerische Handschriften sind kaum noch gefragt. Monotones Formatfernsehen,<br />
oftmals 1:1 von privaten Anbietern kopiert, setzt bis in das Programm der Kulturkanäle<br />
hinein die ästhetischen Standards.<br />
3. Der öffentlich-rechtliche Funktionsauftrag, die Diskursnotwendigkeit eines Themas<br />
oder das gesellschaftliche Informations-Bedürfnis treten als Kriterien der Programmgestaltung<br />
in den Hintergrund, stattdessen dominieren Marketing-Gesichtspunkte und ökonomische<br />
Überlegungen. […]<br />
4. Auch die Zuweisung der Finanzmittel folgt diesem Denken. Nicht der gesellschaftliche<br />
Nutzen, nicht die kulturelle Bedeutung und auch nicht der tatsächliche Finanzbedarf einer<br />
Sendung, sondern allein der vermeintliche "Marktwert" entscheidet über die Richtung<br />
der senderinternen Geldströme. […]” (@26; Ausl. d. V.).<br />
2<br />
Es wird im gleichen Absatz weiter ausgeführt: „das durchschnittliche Netto-Einkommen von<br />
Dokumentarfilmregisseuren liegt bei 1380 Euro im Monat - rund 18 Prozent der Befragten bleiben<br />
sogar unter 636 Euro. Lediglich 15 Prozent gaben an, dass sie allein von ihrer Autorentätigkeit und<br />
der Regiearbeit leben können - der weitaus größere Teil -nämlich 85 Prozent- müssen in teilweise<br />
berufsfremden Jobs Geld hinzuverdienen oder sie werden von ihren Angehörigen finanziell<br />
unterstützt.“ (@25).<br />
3
Die augenscheinlich schwierige medienpolitisch-wirtschaftliche Situation der Dokumentarfilm-Branche<br />
in Deutschland führt dazu, dass sich zunehmend Produzenten Gedanken<br />
darüber machen, wie man sich unabhängiger von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten<br />
machen kann. Es wird nach alternativen Distributionsformen für Dokumentarfilme und<br />
andere dokumentarische Formate gesucht, um die bestehenden Abhängigkeitsbeziehungen<br />
aufzulösen. In diesem Kontext sah sich auch Danquart auf dem Branchentreff des Dokumentarfilms<br />
Dokville im Jahr 2012 dazu veranlasst, dem anwesenden Publikum folgenden<br />
auffordernden Rat zu geben:<br />
„Das Fernsehen neu erfinden heißt die Devise. Die wahren Herausforderungen liegen<br />
heute im Internetfernsehen, im dokumentarischen 3-D Kino, in der Fokussierung auf einen<br />
Wechsel durch ein jüngeres Publikum im öffentlichen Fernsehen und im Verabschieden<br />
des »Immergleichen« im Programm, Stichwort: »Talk- und Kochshows«, auf ein unterhaltsames<br />
anspruchsvolles Fernsehen. Das muss doch zu schaffen sein. Die Frage sollte<br />
lauten: Die digitale Revolution ist vorbei, und was folgt daraus?” (HdF 2012, 9).<br />
1.3 Mediale Unabhängigkeitsbestrebungen<br />
Die geschilderte Situation der deutschen Dokumentarfilm-Branche führt dazu, dass immer<br />
mehr Dokumentaristen und Produzenten, dem von Danquart bekräftigten Credo folgen. So<br />
empfiehlt auch Tielsch den Betroffenen der Branche einen Strategiewechsel, nämlich den<br />
Ausbruch aus klassischen Produktionsverhältnissen (vgl. HdF 2012, 15) und damit eine größere<br />
Unabhängigkeit von den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Für seine Produktionsfirma<br />
Filmtank wurde bereits das Geschäftsmodell abgeändert. Neben der Konzentration<br />
„bei […] klassischen Dokumentarfilmen […] auf Kinostoffe“ (HdF 2012, 17) bietet die Firma<br />
nunmehr auch Dienstleistungen an.<br />
„Die dritte Veränderung unseres Geschäftsmodells ist sicherlich die am tiefsten greifende:<br />
Wir investieren - statt in Auftragsproduktion gezielt in die Entwicklung crossmedialer<br />
Projekte und Formate. Generell sehen wir dabei unsere Perspektiven für die Crossmedia-<br />
Projekte und besonders für die Games mittelfristig eher im Bildungsbereich, als im Fernsehen.“<br />
(HdF 2012, 17).<br />
Konsequent beschäftigt sich Filmtank mit crossmedialen Projekten wie „Eroberung der<br />
Welt“ oder „New Horizon“. 3 Hier kommen zwar auch noch mitunter dokumentarische Formate<br />
für die TV-Ausstrahlung zum Zuge, allerdings werden diese begleitet von Onlinespielen<br />
und Webseiten.<br />
3<br />
4<br />
Das Projekt „Eroberung der Welt“ besteht aus „[…] zwei Fernsedokumentationen [!], einem<br />
Onlinespiel und einer Website. Es geht dabei um die Forschungsreisen von Francis Drake und<br />
Magellan.“ (HdF 2012, 52). „New Horizon“ wird von Tielsch wie folgt kommentiert: „Es bietet ein<br />
Spieluniversum, das sehr nah an den historischen Rahmenbedingungen angesiedelt ist. Wir<br />
erreichen damit eine andere Zielgruppe, als mit dem Geschichtsfernsehen. Das Verständnis der<br />
Handlung ist einfach viel intensiver“ (HdF 2012, 52).<br />
Für weitere Informationen: www.tastethewaste.com (letzter Abruf 02.12.2012).<br />
4
Auch Thurn beschreitet ähnliche Wege. Mit seinem Dokumentarfilm TASTE THE<br />
WASTE (D, 2011) löste er eine bundesweite Debatte zum Thema Lebensmittelverschwendung<br />
aus (vgl. HdF 2012, 18). Gemeinsam mit Produktionspartnern entwickelte er eine<br />
crossmediale Kampagne, welche die Thematik neben dem Dokumentarfilm auch in einem<br />
Buch, einem Kochbuch sowie einer Webseite weiterführt. 4<br />
In Hinblick auf derartige Erfolgsgeschichten fragt Schneider: „Crossmedia – ist sie<br />
also die Retterin eines ganzen künstlerischen Genres [d.h. des Dokumentarfilms], das Katalysations-Pulver,<br />
mit dem einem zu Tode geförderten Dokumentarismus der Geist freien<br />
Unternehmertums wieder eingehaucht werden könnte?“ (HdF 2012, 49; Einf. d. V.). Er verweist<br />
auf gebrueder beetz filmproduktion, eine der renommiertesten deutschen Dokumentarfilm-Produktionsfirmen<br />
der letzten Jahre und zitiert Geschäftsführer Christian Beetz:<br />
„‚Wir sind eine klassische Filmproduktionsfirma, die immer linear erzählt hat und von der<br />
Story ausgeht. Wir verändern das aber seit einigen Jahren. Wir sagen nun wir produzieren<br />
Inhalte‘, […] ‚wir müssen an das Publikum denken, an das wir heran möchten. Je nach<br />
Medium habe ich unterschiedliche Publica. Ob ich das Fernsehen benutze, oder ob ich<br />
das Internet benutze, oder ein Game oder ob ich ein Buch schreibe. Je nach Publica muss<br />
ich den Inhalt anders erzählen.‘“ (HdF 2012, 49, Ausl. d. V.).<br />
Daraus schließt Schneider den entscheidenden Punkt:<br />
„Crossmedia im Dokumentarfilm ist also keine Frage der Technik, sondern eine Frage des<br />
Inhalts und die Suche nach dem richtigen Publikum. Das ist keine technokratische, sondern<br />
eine humanistisch geprägte Erkenntis [!]: Jeder Zuschauer hat ein anderes Interesse<br />
daran wie er Inhalte eines Dokumentarfilms nutzen möchte – stets in Abhängigkeit seiner<br />
technischen Möglichkeiten und seiner momentanen Aufnahmefähigkeit. Diese Erkenntnisse<br />
könnte [!] das Genre, aber weit mehr auch die Medienwelt, verändern. Doch wie<br />
können Dokumentarfilmer darauf sinnvoll reagieren?” (HdF 2012, 49).<br />
Der zusammengefasste Diskurs renommierter Branchenvertreter macht deutlich, in<br />
welcher Qualität Bestrebungen verfolgt werden, Effekte der Medienkonvergenz für den<br />
Dokumentarfilm nutzbar zu machen. Dabei geht es neben der wirtschaftlichen Zukunft vieler<br />
Branchenvertreter auch um die kreative Weiterentwicklung des Dokumentarfilms in<br />
Deutschland. Die medientechnischen Voraussetzungen dafür sind gegeben. Jedoch fehlt es<br />
noch an Erfahrung, die angestoßenen Umbrüche der Medienkonvergenz für die ausgedehnte<br />
Verwertung von Dokumentarfilmen nutzbar zu machen. Aktuell befindet sich die Branche<br />
in einem Stadium, in dem Chancen und Risiken noch ausgelotet werden müssen. 5<br />
Schneider resümiert deshalb:<br />
4<br />
5<br />
Für weitere Informationen: www.tastethewaste.com (letzter Abruf 02.12.2012).<br />
Gleichwohl kann darauf verwiesen werden, dass die englische BBC schon 1994 damit begann, auf<br />
ihrer damaligen Webseite ihre TV- und Radio-Programme mit zusätzlichen Inhalten und der<br />
Möglichkeit zur Diskussion mit anderen Zuschauern, zu unterstützen. (vgl. @27). Bereits 1997<br />
wurden echte crossmediale Projekte durch die BBC produziert. So berichtet Hayes, dass er im<br />
Namen der Sendeanstalt für die Produktion sogenannter „netumentaries“ verantwortlich war<br />
(vgl. @28).<br />
5
„Es war für die DOKVILLE-Besucher durchaus beeindruckend, welche multimedialen Projekte<br />
bereits realisiert wurden oder in Planung sind. Ob dies aber ein Ansatz für die gesamte<br />
Branche ist ließ sich nicht bewerten – den klassichen [!] Rucksack-Produzenten<br />
werden solche Projekte ohnedies finanziell und organisatorisch überfordern.<br />
Aber die Fernsehanstalten müssen sich dem Thema über kurz oder lang ganz offen stellen.<br />
Sie sind auf der Suche nach einem jüngeren Publikum – aber mit ein paar Facebook-<br />
Fanseiten oder 7-Tage-Streams in der Mediathek ist es nicht getan. Es gehört deutlich<br />
mehr dazu den Dokumentarismus in Deutschland auch crossmedial aufzustellen.” (HdF<br />
2012, 49).<br />
1.4 Thematische Abgrenzung und Fragestellung<br />
Die vorangehend nachgezeichneten Gegebenheiten – der Unmut der Dokumentarfilmbranche<br />
und ihre Versuche, die Konvergenz der Medien für sich nutzbar zu machen – veranlassen<br />
den Verfasser dieser Arbeit dazu, sich mit der angestoßenen Thematik auseinander zu<br />
setzen. Doch soll es nicht um die Betrachtung der Medienkonvergenz oder der Dokumentarfilmbranche<br />
im wirtschaftlichen oder kultur-politischen Zusammenhang gehen. Gewiss<br />
würden die gebotenen Umstände viele Anknüpfungspunkte für wissenschaftliche Auseinandersetzungen<br />
bieten. Substanzielle und relevante Fragestellungen könnten unter vielen<br />
Gesichtspunkten formuliert werden.<br />
Vielmehr soll auf Basis der dargestellten Ausgangslage im Rahmen dieser Arbeit der<br />
Versuch unternommen werden, fundiert nachzuvollziehen, wie die Überführung eines Dokumentarfilmes<br />
in eine medienkonvergente Umgebung konzeptionell funktioniert. Die<br />
hiermit einhergehenden Verflechtungen zwischen der Gestaltung eines Dokumentarfilmes<br />
und dem gestalterischen Transferierungsprozess auf andere Medien sollen dabei im Fokus<br />
stehen. In diesem Kontext wird der Begriff Gestaltung vornehmlich auf die erzählerische<br />
Konstruktion eines Dokumentarfilmes bezogen und nicht ausschließlich auf die ästhetischformale<br />
Darstellungsweise.<br />
Für das vorangehend bekundete Vorhaben muss sogleich mit Blick auf die Diskussion<br />
über die neuen Möglichkeiten der Medienkonvergenz in der deutschen Dokumentarfilm-<br />
Branche festgestellt werden, dass die Begriffe Crossmedialität und <strong>Transmedia</strong>lität unscharf<br />
verwendet werden (vgl. @8). Es erscheint so, als ob eine von Schneider gewählte Absatzüberschrift<br />
eine programmatische Bedeutung bekäme: „Was Crossmedia ist, weiss keiner<br />
so genau“ (HdF 2012, 49).<br />
Hier bedarf es für diese Arbeit einer frühzeitigen Unterscheidung beider Begriffe. Bei<br />
genauerer Betrachtung der in Kapitel 1.3 erwähnten Produktionen stellt sich heraus, dass<br />
einzelne, als crossmedial bezeichnete Bestandteile einen erzählerischen Mehrwert im Vergleich<br />
zur ursprünglichen Erzählung des Dokumentarfilms schaffen. Sie ergänzen bzw. er-<br />
6
weitern die Erzählung des Dokumentarfilms um neue erzählerische Inhalte. Beispielsweise<br />
bietet das Kochbuch zu TASTE THE WASTE „Rezepte und Ideen für Essensretter“ (@29). Der<br />
eigentliche Film ist jedoch eher auf Lebensmittelverschwendung fokussiert. Das Kochbuch<br />
erweitert also die Geschichte des Dokumentarfilmes um weitere inhaltliche Aspekte. Diese<br />
sind aber nach wie vor erzählerisch eng mit den dokumentar-filmischen Betrachtungen von<br />
TASTE THE WASTE verbunden.<br />
Es handelt sich in diesem Produktions- Beispiel also nicht nur um eine rein adaptive<br />
Überführung von Inhalten des Dokumentarfilms auf andere Medien, so dass sich dieser in<br />
der Mitte eines Reigens von inhaltlichen Spiegelbildern befindet, die letztlich nur die identische<br />
Geschichte medial anders darstellen. Vielmehr steht der Grundgedanke im Mittelpunkt,<br />
nicht nur denselben Inhalt multimedial zu adaptieren, sondern medienspezifisch<br />
auch komplementäre Inhalte anzubieten.<br />
Der für diesen erzählerischen Ansatz zu verwendende Begriff, welcher für den Aufbau<br />
und das Verständnis dieser Arbeit wichtig ist, stammt von Jenkins (2006, 95 ff.). Er bezeichnet<br />
diese erweiternde Fortführung einer filmischen Erzählung auf andere Medien als<br />
„transmedia storytelling“ (im Folgenden mit transmedialer Narration oder transmedialer<br />
Erzählung übersetzt). Jenkins postulierte hierzu 2009 zum ersten Mal seine „Seven Core<br />
Concepts of <strong>Transmedia</strong> <strong>Storytelling</strong>“ (@10), die bis heute im medientheoretischen Diskurs<br />
als definitorische Grundlage anerkannt werden. Explizit hat er diese Konzepte für „commercial<br />
entertainment“ (ebd.) bzw. fiktionale Geschichten aufgestellt. 6 Sie sollen nach einer<br />
entsprechenden Transferierung in den dokumentarischen Kontext auch in der vorliegenden<br />
Arbeit als Orientierungsrahmen dienen.<br />
Zudem soll sich in dieser Arbeit ausdrücklich auf die Filmgattung Dokumentarfilm als<br />
Urform der non-fiktionalen filmischen Erzählung bezogen werden (im Folgenden auch nonfiktionaler<br />
Film oder faktualer Film genannt). Wie Nichols (2010, 142 ff.) herausstellt, umfasst<br />
dies ein breites Spektrum an möglichen dokumentar-filmischen Modalitäten, die sich<br />
in verschiedensten Spielarten manifestieren können. Für diese Arbeit soll als grundlegende<br />
Definition des Dokumentarfilmes bzw. der dokumentar-filmischen Erzählung gelten:<br />
„Documentary film speaks about situations and events involving real people (social actors)<br />
who present themselves to us as themselves in stories that convey a plausible proposal<br />
about, or perspective on, the lives, situations and events portrayed. The distinct<br />
point of view of the filmmaker shapes this story into a way of seeing the historical world<br />
directly rather than into a fictional allegory.” (Nichols 2010, 14).<br />
6<br />
Die sieben Prinzipien lauten: Spreadability vs. Drillability; Continuity vs. Multiplicity; Immersion vs.<br />
Extractability; Worldbuilding; Seriality; Subjectivity; Performance. Sie werden in den später<br />
ausführenden Kapiteln (s. Kap. 6 – 9) aufgegriffen. Für weitere Informationen: @10 und @19.<br />
7
Daran anknüpfend sollen an späterer Stelle die damit verbundenen relevanten Merkmale<br />
herausgestellt werden, welche das Wesen des Dokumentarfilmes ausmachen (s. Kap. 2).<br />
In Hinblick auf das erzählerische Potenzial des Dokumentarfilmes ist es wichtig, zu<br />
verstehen, dass „wie Spielfilme auch erfolgreiche Dokumentarfilme eine gute Geschichte<br />
[erzählen], ansprechende Figuren, erzählerische Spannung und einen Standpunkt [haben].<br />
Dies sind die Grundelemente für alle Geschichten, seien es Mythen, Legenden, Sagen oder<br />
Volkserzählungen […].“ (Rabiger 2008, 15; Umst. d. V.).<br />
Aufgrund dieses erzählerischen Potenzials können auf diese Weise möglichst allgemeingültige<br />
Feststellungen getroffen werden, welche unter Berücksichtigung spezifischer<br />
Eigenheiten auch auf abgeleitete Sub-Genres und Formate übertragen werden könnten. 7<br />
Aus dem bekundeten Vorhaben sowie den vorhergehenden Erläuterungen und thematischen<br />
Eingrenzungen ergeben sich organisch die folgenden zentralen Kernfragen die in<br />
der vorliegenden Arbeit diskutiert werden:<br />
Aus welchen gestalterischen Bestandteilen setzt sich dokumentar-filmische Erzählung<br />
zusammen?<br />
Wie funktioniert die narrative transmediale Erweiterung einer dokumentarfilmischen<br />
Erzählung?<br />
Welche Wechselwirkungen treten dabei zwischen der Gestaltung eines Dokumentarfilmes<br />
und den Methoden zur erzählerischen transmedialen Erweiterung auf?<br />
1.5 Zielsetzung und Vorgehensweise<br />
Durch die Beantwortung der eben aufgestellten zentralen Fragen kann umfassend nachvollzogen<br />
werden, wie sich die transmediale Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung<br />
vollzieht.<br />
Ziel dieser Arbeit ist es daher, anhand der beantworteten Kernfragen und in Anlehnung<br />
an bestehende Diskurse, ein narratives Gestaltungsmodell zu erarbeiten, das die<br />
transmediale Erweiterung existierender dokumentar-filmischer Erzählung darstellt. Hierbei<br />
sollen relevante gestalterische Zusammenhänge zwischen der Erzählung eines Dokumentarfilmes<br />
und ihrer <strong>Transmedia</strong>lisierung aufgezeigt werden.<br />
Aus der Fragestellung und Zielsetzung ergibt sich der Aufbau der vorliegenden Arbeit.<br />
Als Vorrausetzung für die Auseinandersetzung mit transmedialer Narration und ihren Erweiterungsmöglichkeiten<br />
der dokumentar-filmischen Erzählung muss zuvor eine genaue<br />
7<br />
So werden beispielsweise TV-Dokumentationen, Reportagen oder Tierfilme – als einzelne Werke<br />
oder in Form von Serien – in den nachfolgenden Ausführungen implizit mit einbezogen, obgleich<br />
explizit nicht auf ihre speziellen Eigenschaften und Eigenheiten eingegangen wird.<br />
8
Erörterung des Dokumentarfilms durchgeführt werden, um an einzelnen Komponenten der<br />
Dokumentarfilm-Gestaltung anknüpfen zu können. Es werden deswegen zwei kapitelübergreifende<br />
Groß-Komplexe behandelt. In einem ersten Schritt (Kap. 2 – 5) wird untersucht,<br />
was den non-fiktionalen Film und seine Gestaltung ausmacht. Der Dokumentarfilm wird<br />
hierbei analytisch in seine gestalterischen Einzelkomponenten zerlegt. Durch diese Aufschlüsselung<br />
wird offengelegt, auf welchen Ebenen ein faktualer Film entsteht.<br />
Die hierdurch transparent gemachten Gestaltungskomponenten bieten die notwendigen<br />
Anknüpfungspunkte für den zweiten Schritt (Kap. 6 – 9). In diesem Groß-Komplex<br />
werden die relevanten Eigenschaften der transmedialen Narration erörtert und damit einhergehend<br />
eine transmediale Erweiterung des Dokumentarfilms nachvollzogen werden. Die<br />
dabei entstehende Verflechtung von dokumentar-filmischer Erzählung und den Konzepten<br />
transmedialer Narration werden aufgezeigt und in einen Gesamtkontext gestellt.<br />
Um dieses Vorhaben zu erreichen, bedarf es einer klar strukturierten und sukzessiven<br />
Vorgehensweise. Dazu werden in Kapitel 2 zuerst die wesentlichen Merkmale des Dokumentarfilmes<br />
anhand des filmwissenschaftlichen Diskurses dargelegt. Auch soll aufgeschlüsselt<br />
werden, auf welchen Gestaltungsebenen sich der dokumentar-filmische Prozess<br />
vollzieht und aus welchen Elementen diese Ebenen bestehen. Es soll versucht werden, dem<br />
Leser einen prägnanten Überblick über die wesentlichen Elemente der dokumentarischen<br />
Gestaltung zu geben. An diese einleitende Übersicht anknüpfend, erfolgt in den nachfolgenden<br />
drei Kapiteln die Argumentation der aufgestellten These.<br />
In Kapitel 3 wird daher die Ebene der Regie genauer erläutert. Anhand des spezifischen<br />
filmwissenschaftlichen Diskurses soll für den Leser aufgeschlüsselt werden, welche<br />
abstrakten Prozesse auf dieser Ebene ablaufen und welche elementare Bedeutung diese für<br />
den gesamten kreativen Produktionsablauf eines Dokumentarfilmes haben.<br />
Kapitel 4 widmet sich der Herleitung sowohl der konzeptionellen sowie auch narrativen<br />
Aspekte und den Arbeitsschritten, die ein Dokumentarist bedenken und durchführen<br />
muss, um eine dokumentar-filmische Erzählung konstituieren zu können. Dem Leser wird<br />
dadurch der komplexe Vorgang des Geschichtenerzählens im Kontext des Dokumentarfilmes<br />
aufgezeigt werden. Diese Ebene soll anhand des aktuellen (film-) narratologischen<br />
Forschungsstandes dargelegt werden. Hierzu werden auch praxisnahe und filmwissenschaftliche<br />
Erkenntnisse und Erfahrungen mit einbezogen werden.<br />
Im folgenden Kapitel 5 wird die praktische und formal-kinematografische Gestaltung<br />
eines Dokumentarfilmes analysiert, um verstehen zu können, wie sich letztlich die dokumentar-filmische<br />
Erzählung audiovisuell ausdrücken kann.<br />
9
Im anschließenden Kapitel 6 soll die zweite Säule der Arbeit, die <strong>Transmedia</strong>lität begrifflich<br />
fassbar gemacht und eingeordnet werden. Beginnend mit einer definitorischen<br />
Unterscheidung soll sogleich auch ihr inhärentes Narrations-Potenzial dargelegt und auf<br />
allgemeine Anknüpfungspunkte an die dokumentarische Narration untersucht werden. Es<br />
ist wichtig den Begriff „Einbettung“ zu verstehen und in welcher Konstellation der Dokumentarfilm<br />
in einer transmedialen Erzählung am geeignetsten funktionieren kann.<br />
Aufbauend auf den zuvor bereits erarbeiteten Erkenntnissen soll in Kapitel 7 die<br />
transmediale Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung nachzuvollziehen. Hierzu<br />
werden vor allem jüngste medientheoretische Erkenntnisse auf diesem Gebiet als Basis<br />
verwendet. Dabei soll der Fokus des Kapitels vornehmlich auf den zu berücksichtigen Konzepten<br />
für die Dokumentarfilmgestaltung liegen. Dieser erkenntnisorientierte Prozess wird<br />
dann in Kapitel 8 fortgeführt. Hier soll die <strong>Transmedia</strong>lisierung theoretisch durchdrungen<br />
werden.<br />
In Kapitel 9 werden dann Auswirkungen der transmedialen Erweiterung auf den Zuschauer<br />
angestellt. Es kann unterstellt werden, dass der Transfer eines Dokumentarfilms in<br />
eine narrative medienkonvergente Blase zwangsläufig auch eine Veränderung der Position<br />
und des Handlungsrahmens des Rezipienten mit sich bringt.<br />
Abschließend soll Kapitel 10 einen übersichtlichen Rückblick gewähren und die wichtigsten<br />
Schlussfolgerungen aufbereiten.<br />
10
2 Das Wesen des Dokumentarfilms<br />
2.1 Repräsentanten der Wirklichkeit<br />
Seit seiner Entstehung vor mehr als 80 Jahren ringen Filmschaffende und Filmwissenschaftler<br />
um eine hinreichende Definition des Dokumentarfilms. Ausgehend von der grundlegenden<br />
Unterscheidung zwischen Non-Fiktion (im Folgenden auch faktual genannt) und Fiktion<br />
in der Filmwissenschaft, kann der Dokumentarfilm samt seiner Sub-Genres grundlegend als<br />
eine non-fiktionale Filmgattung angesehen werden (vgl. Borstnar et. al. 2008, 39). Die ihr<br />
zugehörigen Filme stellen die „actual historical world“ (Nichols 2010, 69; im Folgenden historisch<br />
reale Welt) statt einer erfundenen Welt dar. Diese „creative treatment of actuality"<br />
(Grierson zit. n. Nichols 2010, 12) impliziert sogleich den Anspruch, dem Zuschauer eine<br />
möglichst authentische Darstellung der von der Kamera festgehaltenen Realität wieder zu<br />
geben. Somit wird die Authentizität der dargestellten Wirklichkeit in Dokumentarfilmen zur<br />
wesentlichen Kerneigenschaft erhoben, welche das Vertrauen des Zuschauers – glaubwürdige<br />
Zusammenhänge der realen Welt gezeigt zu bekommen – wertschätzend bestätigen<br />
(vgl. Schadt 2012, 18-20).<br />
Jedoch liegt genau hier das scheinbar unlösbare definitorische Problem des ganzen<br />
Genres: Die künstlerische Aufbereitung einer vom Dokumentaristen erfassten Wirklichkeit<br />
schließt bereits eine lange Verkettung von Selektions- und Gewichtungsprozessen nach<br />
höchst persönlichen Kriterien ein, die jede dargestellte Welt im Dokumentarfilm stets als<br />
subjektiv gefilterte Wirklichkeit ausweisen. Marten (@1) beschreibt sehr zutreffend:<br />
„[…] dass ein [Dokumentar-]Film das Produkt einer Gestaltung ist und dass die Realität<br />
gefiltert als die subjektive Sicht der Filmemacher auf die Welt präsentiert wird. Während<br />
der dokumentarischen Dreharbeiten wird mehr oder weniger immer gestaltet. Entweder<br />
eine Situation wird vorgefunden und still beobachtet - oder die Filmemacher greifen beispielsweise<br />
die Protagonisten befragend - in die Situation ein. Oder eine Situation wird<br />
arrangiert oder sogar (nach)inszeniert. Auch der Bildausschnitt wird gestaltet. Einiges<br />
wird gezeigt und anderes nicht. Und spätestens in der Montage kann gar nichts mehr<br />
nicht gewählt werden. Jetzt muss alles ausgewählt oder weggelassen werden. Kurz, über<br />
alles wird entschieden. Der Film ist ein durchgestalteter Text." (Ausl. u. Anm. d. V.). 8<br />
So gleicht die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit durch den Dokumentaristen<br />
immer einem subjektiven Blick auf ein kleines Stück erlebter Wirklichkeit,<br />
welches er dem Zuschauer in aufbereitet Form eines „wirklichkeitsabbildende[n] Medien-<br />
8<br />
Eitzen (1998, 15) beschrieb ebenfalls pointierend die Omnipräsenz der Subjektivität: "Im Grunde<br />
ist jede Darstellung der Wirklichkeit ein künstliches Konstrukt und von daher Fiktion – ein<br />
selektiver und voreingenommener Blick auf die Welt, der daher unvermeidlich einen subjektiven<br />
Standpunkt wiedergibt. Selbst unsere 'unmittelbaren' Wahrnehmungen der Welt sind<br />
unweigerlich von unseren Überzeugungen, Annahmen, Absichten und Wünschen gefärbt."<br />
11
produkt[es]“ (Borstnar et. al. 2008, 41; Erg. d. V.) zur Verfügung stellt. 9 Oder mit Schadts<br />
(2012, 25) Worten: „Dokumentarfilm ist Film“. So soll für diese Arbeit gelten: Spielfilm ist<br />
Fiktion die mal mehr mal weniger als Allegorie der Wirklichkeit verstanden werden kann,<br />
Dokumentarfilm stellt ein subjektiv erzeugtes Abbild der Wirklichkeit dar. Borstnar et. al.<br />
(2008, 44) verdeutlicht diesen Grundsatz an einem der ersten Dokumentarfilme in der Geschichte:<br />
„Auch Robert Flahertys NANOOK, DER ESKIMO (USA 1922), der erste abendfüllende Dokumentarfilm<br />
und damit ein Pionierwerk ersten Ranges, wartet mit einigen Manipulationen<br />
der ‚dokumentierten‘ Wirklichkeit auf: Falherty regte seine Protagonisten beispielsweise<br />
zur gefährlichen Seelöwen-Jagd an, die zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen längst nicht<br />
mehr Praxis der Inuit gewesen ist; das Portrait eines Eskimo-Alltags wird zur idealisierenden,<br />
von fremden Vorstellungen geprägten Idylle.“<br />
Für einen Dokumentarfilm, der nach ähnlichen Gestaltungsprinzipien wie ein fiktionaler<br />
Film erstellt wurde, ist es daher umso wichtiger, als Repräsentant der Wirklichkeit<br />
glaubwürdig zu sein, damit das von ihm Repräsentierte als authentisch und wahr anerkannt<br />
werden kann. Ansonsten würde seine wirklichkeitsspiegelnde Funktion ad absurdum geführt.<br />
In diesem Kontext kann man das oft zitierte Zitat von Ophüls (zit. n. Eitzen 1998, 13)<br />
nachvollziehen, der selbst Dokumentarist war und deshalb wohl sehr genau um den schmalen<br />
Grat der filmischen Wirklichkeit wusste:<br />
"Dokumentarfilme - oder wie immer ihre Regisseure sie bezeichnen wollen - sind nicht<br />
meine liebste Art von Kino. Ich traue den kleinen Halunken nicht über den Weg. Und ich<br />
traue den Motiven derer nicht die meinen, dass Dokumentarfilme Spielfilmen überlegen<br />
seien; die behaupten, dass Dokumentarfilme die Wahrheit gepachtet hätten. Ich traue ihrem<br />
überzogenen und völlig unverdienten Status bürgerlicher Wohlanständigkeit nicht."<br />
Es gilt festzuhalten, dass die stets vorhandene Subjektivität eines Dokumentaristen<br />
die Möglichkeit beinhaltet, dass er vermeintlich reale Zusammenhänge aufgrund seiner<br />
Wahrnehmung anders darstellt, als sie die Zuschauer mit ihren eigenen Wirklichkeitseindrücken<br />
erleben. Geschieht dies von Seiten der Filmschaffenden bewusst, kann es als Versuch<br />
gewertet werden, das Publikum manipulieren zu wollen. Natürlich kann dies auch<br />
aufgrund fahrlässiger Recherchearbeiten oder unzuverlässiger Quellen geschehen. 10 Letztlich<br />
empfiehlt es sich einem Dokumentaristen wertschätzend mit der Wirklichkeit in dem<br />
von ihm kontrollierten künstlerischen Schaffensprozess umzugehen, damit sie nach seinen<br />
9<br />
Im Sinne einer zielorientierten Herangehensweise an die Themenstellung dieser Arbeit soll in<br />
diesem Abschnitt eine aktuelle, prägnante Übersicht zum filmwissenschaftlichen Diskurs zur<br />
Definition des Dokumentarfilms geschaffen werden, darüber hinaus aber auf eine weiterführende<br />
medientheoretische Diskussion verzichtet werden.<br />
10 So wird dem finanziell erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten FAHRENHEIT 9/11 (USA, 2004)<br />
von seinen Kritikern vorgeworfen, durch oder gerade aufgrund einer ihm zugrundeliegenden,<br />
schlechten Recherchearbeit den Zuschauer bewusst zu manipulieren. Vgl. hierzu einen<br />
ausführlichen Beitrag von Eberts (@2).<br />
12
Maßstäben im fertigen Film als repräsentierte Wahrheit stellvertretend für das vormals<br />
dokumentierte Stück Welt stehen kann.<br />
2.2 Authentizitätssignale<br />
Diese Überlegung führt zu einer weiteren wichtigen Eigenschaft des Dokumentarfilms, die<br />
neben der inhaltlichen Wahrhaftigkeit für den Zuschauer relevant ist: Der Wirkung aller<br />
Aspekte der formalen, stilistischen und technischen Umsetzung, welche Borstnar et. al.<br />
(2008, 42) in ihrer Gesamtheit mit „Authentizitätssignalen“ gleichsetzt. 11 Sie ermöglichen es<br />
dem Publikum, ein dokumentarisches Format als solches zu erkennen und entsprechend<br />
einzuordnen. Im Hinblick auf die oftmals sichtbare Anwesenheit der Kamera bzw. eines<br />
Filmteams in einem dokumentarischen Genre, konstatiert er<br />
„ein Arsenal bestimmter Signale, die dem Zuschauer anzeigen, ein reales Ereignis vermittelt<br />
zu bekommen. Solche Authentizitätssignale machen in der Regel die Unterscheidung<br />
zwischen vermitteltem Inhalt und vermittelnder Form sichtbar: Sie führen dem Zuschauer<br />
ins Bewusstsein, eine mediale Rekonstruktion von Wirklichkeit zu sehen. 12 (ebd.).<br />
Obwohl diese Feststellung formale Aspekte der filmischen Gestaltung als wichtige,<br />
sogar notwendige Eigenschaften des Dokumentarfilms ausweist, führt sie sogleich in die<br />
nächste definitorische Falle. Gerade formale Stilmittel können leicht nachgeahmt werden,<br />
um auch fiktionale Inhalte darzustellen. Sie bieten die Möglichkeit, einen fiktionalen Film in<br />
Teilen oder gänzlich so zu gestalten, dass er in glaubwürdigem Maße suggeriert, ebenfalls<br />
eine dokumentierte Realität wiederzugeben, obwohl die dargestellte Wirklichkeit inszeniert<br />
wurde.<br />
Einen derart als Dokumentarfilm inszenierten Spielfilm nennt man auch Mockumentary<br />
(vgl. Sextro 2009, 45 ff.). Obwohl diese Hybridform einen unwissenden Zuschauer mit<br />
ihrer fiktiven Wirklichkeit potenziell täuschen kann, beginnt spätestens mit der jeweiligen<br />
Aufklärung 13 des Films und seinem vermeintlichen Anspruch auf Authentizität eine Wahrnehmungsveränderung<br />
hin zur adäquaten Einordnung des Gesehenen als Fiktion (vgl. Eitzen<br />
1998, 32). Daher sind es vor allem die vielen abgestuften Mischformen zwischen Dokumentarfilm<br />
und dokumentarisch anmutendem Spielfilm, durch die „der Dokumentarfilm<br />
11 Eitzen (1998, 36) nennt diese Signale "situative Hinweise". In dieser Arbeit soll aufgrund der<br />
treffenden Formulierung die Begrifflichkeit "Authentizitätssignale" benutzt werden.<br />
12 Borstnar et. al. (2008, 43) benennt diese Authentizitätssignale: „wackelnde Kamera; unscharfes<br />
Bild; unausgewogenes Licht; Bildsprünge (Jump Cuts, Achsensprünge) in der Montage; Figuren<br />
wenden sich an die Kamera; Redebeiträge vom Team (das sichtbar oder nicht sichtbar ist)."<br />
13 Die Aufklärung kann entweder durch den Film selbst oder externe Quelle vor oder nach der<br />
Rezeption erfolgen.<br />
13
seit seinen Anfängen von einem ‚Spiel mit der Wirklichkeit‘ beherrscht [wird], das mal offener,<br />
mal verdeckter zutage tritt.“ (Borstnar et. al. 2008, 42; Erg. d. V.).<br />
2.3 Der mündige Zuschauer<br />
Zur Kunst gehört daher immer auch die Suche nach einer Aussage sowie deren Interpretation,<br />
die jedoch allein vom Rezipienten ausgehen kann. So sehr sich ein Dokumentarist auch<br />
bemühen mag einen Sachverhalt wahrheitsgemäß künstlerisch wieder zugeben, letztlich<br />
obliegt es dem Zuschauer den Film einzuordnen, seine Aussagen herauszufiltern und zu<br />
interpretieren.<br />
Aufgrund gemachter Rezeptionserfahrungen mit verschiedenen Medien, in der etablierte<br />
inhaltliche wie formale Konventionen fiktionale von non-fiktionalen Filmen relativ klar<br />
unterscheidbar machen (vgl. Borstnar et. al. 2008, 43), könnte der Zuschauer erwarten,<br />
dass dargestellte Ereignisse in einem Dokumentarfilm mit der Wirklichkeit gleichzusetzen<br />
sind (vgl. Sextro 2009, 30).<br />
Damit einher geht ein Vertrauensvorschuss und eine Erwartungshaltung an den Dokumentarfilm,<br />
die Nichols (1991, 27) wie folgt beschreibt:<br />
„Our fundamental expectation of documentary is that its sounds and images bear indexical<br />
relation to the historical world. As viewers we expect that what occurred in front of<br />
the camera has undergone little or no modification in order to be recorded on film and<br />
magnetic tape.“<br />
Die von Nichols angeführte Erwartungshaltung des Zuschauers verleiht Dokumentaristen<br />
wie z.B. Schadt, die Motivation, ihre dokumentarische Arbeit der Wahrhaftigkeit zu<br />
verschreiben. Der postulierte „mündige“ Zuschauer erteilt also einen Auftrag, Wirklichkeit<br />
wahrheitsgemäß filmisch wiederzugeben, dem sich die meisten Dokumentaristen verpflichtet<br />
fühlen. Bei aller Subjektivität, künstlerischer Gestaltung und medialer Selektion können<br />
so Filme entstehen, welche aufgrund einer geteilten dokumentarischen Vision die historisch<br />
reale Welt sinn- und wahrheitsgemäß für ein Publikum darstellen.<br />
Mal werden ihre Zusammenhänge sehr unverfälscht wiedergegeben, mal etwas freier<br />
interpretiert. Doch da sich Dokumentaristen und Zuschauer auf eine Lesart von Dokumentarfilmen<br />
im Laufe seiner Geschichte implizit geeinigt haben, können diese Filme<br />
mehrheitlich adäquat rezipiert werden. Mit den pointierenden Worten von Schadt (2012,<br />
23) sollen für diese Arbeit die dargelegten Überlegungen zur definitorischen Eingrenzung<br />
der Filmgattung Dokumentarfilm abgeschlossen werden:<br />
„Ich will Realität so dokumentieren, dass sie authentisch und deshalb für den Zuschauer<br />
glaubwürdig erscheint. Aus Realität leitet sich Authentizität ab, aus dokumentierter Authentizität<br />
wiederum Glaubwürdigkeit. Und da fast alle Dokumentarfilmer glaubwürdig<br />
14
sein wollen, ist in dieser Aktionsfolge meiner Ansicht nach der eigentliche Auftrag festgeschrieben.<br />
[...] Der eigentliche Auftraggeber ist der Zuschauer. [...] Sein Auftrag lautet:<br />
Zeig mir ein Stück Realität in der Art, dass ich sowohl dir als auch deiner dokumentierten<br />
Realität glaube, oder noch besser: dass ich dir glaube und deshalb auch deiner dokumentierten<br />
Realität. Seinem geradezu naiven Glauben an das Dokumentarische als Abbild von<br />
etwas Realem fühle ich mich verbunden, verpflichtet. Deshalb unterwerfe ich alle Aspekte<br />
meiner Arbeit dem Ziel, am Ende glaubhaft zu sein, das mir entgegengebrachte Vertrauen<br />
nicht zu (ent-) täuschen.“ (Ausl. d. V.).<br />
2.4 Dokumentar-filmische Gestaltung<br />
2.4.1 Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion<br />
Ob mit oder ohne Kamera, alle Momente im Leben sind geprägt von Einzigartigkeit. Zwar<br />
wiederholen sich bestimmte Umstände oder Situationen sogar täglich, aber nie sind sie<br />
identisch, obgleich sie subjektiv als auswechselbar erlebt werden (vgl. Kuhn 2011, 229). So<br />
eröffnet sich auch dem Dokumentaristen jede Wirklichkeits-Konstellation, die er mit der<br />
Kamera dokumentieren möchte, als unverwechselbarer einmaliger Moment. Diese Einzigartigkeit<br />
der Wirklichkeit führt folglich dazu, dass auch jeder Dokumentarfilm als medialer<br />
Repräsentant jenes Weltausschnitts stets unter einmaligen Umständen vorbereitet, gedreht<br />
und fertiggestellt werden muss. Entsprechend dieser jeweils einmaligen Produktionsbedingungen<br />
können keine (verbindlichen) Gestaltungsregeln aufgestellt werden. Jede<br />
Wirklichkeit und so auch jeder Film bedarf einer individuellen Herangehensweise, welche je<br />
nach Thema und Motiv sogar von Projekt zu Projekt gegensätzlich gehandhabt werden<br />
können. Schadt (2012, 76) bringt die Einmaligkeit der Dokumentarfilm-Produktion wie folgt<br />
auf den Punkt:<br />
„Je mehr man über das Wesen des Dokumentarischen nachdenkt, desto schwieriger wird<br />
es, so etwas wie allgemein gültige (Spiel-) Regeln für dokumentarisches Arbeiten zu formulieren.<br />
Was soll gelten, wenn richtige Bilder falsch und falsche Bilder richtig sein können,<br />
wenn keine Wahrheit verbindlich, aber alle Wirklichkeiten möglich sind, wenn Widersprüchliches<br />
wie Distanz und Nähe gleichermaßen benötigt werden, und darüber hinaus<br />
keine formalen Verbindlichkeiten oder Identifikationen mehr existieren, wenn gleiche<br />
formale Kriterien für gegensätzliche Inhalte stehen können?“.<br />
Doch können nach Rabiger (2008, 60 ff.) zumindest grundlegende Gestaltungselemente<br />
bzw. Prinzipien abgeleitet und erörtert werden, die häufig bei der Dokumentarfilm-<br />
Produktion zum Einsatz kommen, sich bewährt haben oder sogar einer gewissen „Schule“<br />
oder Stilart zugeordnet werden können. Diese werden in den Kapiteln 3, 4 und 5 dargelegt.<br />
15
2.4.2 Identifizierte Ebenen der dokumentar-filmischen Gestaltung<br />
„Beim Filmemachen ereignen sich in jeder Phase immer mehrere Dinge gleichzeitig, finden<br />
ständig auf parallelen Ebenen Prozesse statt, die von den Beteiligten teils bewusst<br />
teils unbewusst wahrgenommen oder ausgeführt werden. […] Die Aufgabe des Regisseurs<br />
besteht darin, sein Handwerk auf all diesen unterschiedlichen Ebenen gleich gekonnt<br />
auszuführen, sich als verantwortlicher Katalysator und Zentrum des Ganzen zu begreifen,<br />
um das komplexe und sensible Unternehmen Film steuern zu können. Dabei sollte<br />
er seine filmische Vision nie aus den Augen bzw. aus dem Sinn verlieren.“ (Schadt<br />
2012, 15; Ausl. d. V.).<br />
Schadt gelingt es mit dieser Feststellung, das Wesen der dokumentarischen Gestaltung<br />
auf den Punkt zu bringen. Obwohl er von „all diesen unterschiedlichen Ebenen“<br />
spricht, soll dem Begriff „Ebene“ im Rahmen dieser Arbeit eine übergeordnete Bedeutung<br />
in dreifacher Hinsicht zukommen: 14<br />
So gilt es in den nachfolgenden Kapiteln noch zu zeigen (s. Kap. 3, 4 u. 5), dass der<br />
dokumentarische Schaffensprozess in drei komplexe Gestaltungsebenen eingeteilt werden<br />
kann, die, wie Schadt feststellt, tendenziell parallel existieren. In diesen primären Gestaltungsräumen<br />
bewegt sich der Dokumentarist während des gesamten Produktionsprozesses<br />
und trifft ständig implizite oder explizite Entscheidungen. Die Ebenen sind miteinander<br />
stark verflochten und die auf ihnen getroffenen Entscheidungen beeinflussen bzw. bedingen<br />
sich teils gegenseitig. Die Qualität und Stärke ihrer Wechselwirkung hängt von vielen<br />
Faktoren ab, die der Dokumentarist in dem Stück Welt, welches er dokumentarisch darstellen<br />
möchte, vorfindet. Gleichwohl kann in diesem wechselwirkenden Beziehungsgeflecht<br />
eine Hierarchie der Ebenen festgestellt werden, die zum einen den Abstraktionsgrad (von<br />
hoch zu niedrig) als auch den Wirkungsgrad jeder Ebene (von global zu punktuell) berücksichtigt.<br />
Einer „dokumentarischen Bürde“ gleichend, obliegt es dem Dokumentaristen, die in<br />
der Welt vorgefundenen Zusammenhänge und Konstellationen im Sinne seines Filmprojektes<br />
zu ordnen, zu gewichten, Alternativen abzuwägen und letztlich entsprechend auf den<br />
drei Gestaltungsebenen auf sie zu reagieren. Mit dem dokumentarischen Auftrag im Hinterkopf<br />
gilt es also, der historisch realen Welt so angemessen wie möglich in jedem Gestaltungsraum<br />
zu begegnen und Entscheidungen zu treffen, die auf fundamentale Weise den<br />
finalen Dokumentarfilm prägen. Diese drei Ebenen sollen hier kurz skizziert werden, um sie<br />
in den nachfolgenden Kapiteln ausführlicher darzulegen:<br />
• Regie: Ein Dokumentarist übernimmt je nach Größe eines Projekts mehrere Rollen<br />
und Tätigkeiten während einer Produktion, ist aber immer in erster Linie Re-<br />
14 Auch kann sinngemäß von Gestaltungsräumen gesprochen werden.<br />
16
gisseur. Er hat in dieser Rolle bzw. auf dieser Ebene alle relevanten Faktoren die<br />
die Produktion betreffen, zu identifizieren, zu bewerten und entsprechend zu<br />
behandeln. Hierzu zählen neben konkreten Faktoren wie dem extern oder intern<br />
festgelegten Produktionsauftrag, einer strategisch-redaktionellen Erfassung des<br />
Themenfelds, auch weichere, vagere Faktoren, wie die innere Haltung des Filmemachers<br />
zum Thema und zu den Protagonisten. Ebenso wie die eben benannten<br />
Elemente muss er auch seinen subjektiven Einfluss auf die Wirklichkeit reflektieren.<br />
• Die konzeptionell-narrative Ebene: Hier bestimmt der Dokumentarist den Aufbau<br />
seiner Erzählung sowie deren dramaturgische Struktur. Dies bewerkstelligt er<br />
vor allem durch die Wahl der erzählerischen Perspektive und den entsprechenden<br />
Protagonisten. Diese Ebene besteht vor allem aus den Säulen der Konstitution,<br />
Perspektivierung und Strukturierung der Erzählung. Teilweise können diese<br />
Entscheidungen sogar erst nach dem eigentlichen Dreh in der Montage entschiedenen<br />
werden.<br />
• Die formal-kinematografische Ebene: Konkrete formale Aspekte der Filmgestaltung<br />
müssen auf dieser Ebene bestimmt werden. Hier manifestiert sich auch<br />
erstmals die filmische Erzählung, die auf den beiden anderen Ebenen geplant und<br />
konstruiert wurde. Das, was „hinter den Kulissen“ entschieden wurde, findet nun<br />
seinen Weg in den eigentlichen Film. Dabei wird außerhalb der filmischen Wirklichkeit<br />
(extradiegetisch) wie auch innerhalb der konkreten filmischen Erzählung<br />
(intradiegetisch) gestaltet.<br />
Jede dieser Ebenen besteht aus einer Vielzahl Ebenen-spezifischer Elemente, die ihrerseits<br />
eine Bandbreite an jeweils möglichen Ausprägungen aufweisen. Dabei können Elemente<br />
auch gleich mehrere Ausprägungen annehmen was bedeutet, dass ein einzelnes<br />
Element in etlichen Varianten gleichzeitig zur dokumentarischen Gestaltung beitragen<br />
kann. 15 Die Bestimmung und handwerklich-fachliche Ausarbeitung dieser Element-<br />
Ausprägung stellt den eigentlichen Akt der Gestaltung dar. 16<br />
15 Betrachtet man beispielsweise die Kameraarbeit beim Dreh als Element, so kann diese für einen<br />
Protagonisten sehr ruhig und statisch ausfallen. Um den Charakter eines anderen Protagonisten<br />
zu unterstreichen, könnte sie eher hektisch und dynamisch ausfallen. Ein Element, die<br />
Kameraarbeit, kommt so in einem Film in zweifacher Ausprägung zum Einsatz.<br />
16 Je nach fachlicher Perspektive auf die Thematik der dokumentarischen Gestaltung werden<br />
gleichsam andere Terminologien, Definitionen und Abgrenzungen in Bezug auf die (dokumentar-)<br />
filmische Gestaltung verwendet. In dieser Arbeit soll eine möglichst prägnante Erörterung der<br />
dokumentarischen Gestaltung anhand der fachlichen Diskurse der betroffenen Themenfelder<br />
durchgeführt werden.<br />
17
Abbildung 1 stellt die drei primären Gestaltungsebenen samt ihrer Hauptbereiche dar<br />
und setzt sie sogleich in eine hierarchische Beziehung. Die Regie-Ebene durchdringt und<br />
umfasst alle weiteren Ebenen. Die konzeptionell-narrative Ebene bedingt die Wahl der eigentlichen<br />
kinematografischen Erzählmittel:<br />
Abbildung 1: Gestaltungsebenen des Dokumentarfilms. 17<br />
Besonders relevant für den dokumentarischen Kreationsprozess ist, dass die Elemente<br />
in Relation zu anderen Komponenten und Elementen anderer Ebenen stehen und sich,<br />
wie oben mit Bezug auf die Ebenen bereits erwähnt, untereinander beeinflussen bzw. bedingen.<br />
So definiert beispielsweise die Distanz oder Nähe des Dokumentaristen zu einem<br />
Protagonisten (Ebene Regie – Strategisch-redaktionelle Erfassung + Reflexion) größtenteils<br />
auch die Kameraarbeit (Formal-Kinematografische Ebene – intradiegetische Erzählmittel),<br />
ist aber gleichzeitig auch ein Element welches konzeptionell-narrativ erfasst und strukturiert<br />
werden kann (Konzeptionell-Narrative Ebene – Perspektivierung).<br />
Letztlich besteht jeder Dokumentarfilm aus einer einmaligen Konstellation bestimmter<br />
Ausprägungen und Gewichtungen der einzelnen Elemente dieser drei Gestaltungsebenen.<br />
Bei jedem Film werden vor dem Hintergrund der Umstände und Situationen alle Elemente<br />
durch den Dokumentaristen bewusst oder auch unbewusst beeinflusst. Dies ist der<br />
Grund für die Komplexität einer Dokumentarfilmproduktion. Alles will bedacht und gestaltet<br />
werden. Nicht umsonst kann der Dokumentarfilm auch als eine lange Verkettung von<br />
getroffenen Entscheidungen begriffen werden.<br />
17 Quelle: Verfasser dieser Arbeit<br />
18
3 Die Regie-Ebene<br />
Wie von Schadt (vgl. 2012, 15) bereits angeführt wurde, bildet die Regieführung das eigentliche<br />
Zentrum des komplexen Produktionsprozesses, aus dem ein (Dokumentar-) Film entsteht.<br />
Dabei muss aufgrund des speziellen Produktionsvorhabens, „echte“ Menschen in<br />
einem Stück Welt abbilden zu wollen, die Dokumentarfilmregie breiter gefasst werden als<br />
ihr, allgemein eher klassisch verstandenes Pendant, die Spielfilmregie. Die Regieführung bei<br />
fiktionalen Filmen kann nämlich frei von den diktierten Bedingungen der Wirklichkeit agieren.<br />
Beide Gattungen haben freilich gemein, einen Sachverhalt inszenatorisch darstellen zu<br />
wollen (vgl. Rabiger 2008, 103 f.). Die Regie beim Dokumentarfilm fußt vornehmlich auf vier<br />
Komponenten, welche maßgeblich alle weiteren Gestaltungsmöglichkeiten des Filmemachens<br />
beeinflussen.<br />
Die Regie bedingt die ihr untergeordneten primären Ebenen und schließt diese in ihren<br />
Wirkungsbereich mit ein (vgl. Abb. 1). Sie beinhaltet aber auch einige von anderen Gestaltungsbereichen<br />
klar differenzierbare Aspekte. Dies zeigen sowohl der Konsens des fachliterarischen<br />
Diskurses als auch eigens gemachte Erfahrungen des Verfassers. Auf der abstrakten,<br />
teils nur intuitiv-gedanklich bzw. emotional zu bewältigenden Ebene der Regie<br />
können daher vier Gestaltungskomponenten identifiziert werden, die wiederum in eine<br />
Vielzahl von Elementen aufgeteilt werden können, wie Abbildung 2 darstellt: 18<br />
Abbildung 2: Komponenten der abstrahierten Regie-Ebene. 19<br />
18 Gleichwohl besteht diese Einteilung nicht auf eine vollständige Abbildung sondern soll die<br />
wichtigsten Bereiche hervorheben.<br />
19 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
19
In Anbetracht der Fragestellung dieser Arbeit, soll dem Leser nachfolgend ausschließlich<br />
ein kompakter Überblick über die relevantesten Komponenten der Regiearbeit gegeben<br />
werden. Dies entspricht einer prägnanten Zusammenfassung der von verschiedenen Autoren,<br />
teils gleich und teils anders aufgefassten Aspekte der Regiearbeit.<br />
3.1.1 Auftrag und Vision<br />
Jedes neue Dokumentarfilm-Projekt erwächst aus einem Auftrag. Dieser kann sich der Dokumentarist<br />
selbst stellen, beispielsweise wenn er als freischaffender Produzent arbeitet.<br />
Der Auftrag kann aber auch – und das ist oftmals der Fall – extern entstehen. Durch die<br />
Arbeit mit Redaktionen oder Produktionsfirmen kann zum Beispiel an den Dokumentaristen<br />
mit einer Auftragsstellung herangetreten werden.<br />
20<br />
Auf dieser Basis bildet sich bei jedem Projekt eine dokumentarische Vision, die in Abhängigkeit<br />
zum (internen/ externen) Auftrag freier entstehen kann oder aber bereits enger<br />
vorgefasst wurde. Die Vision definiert bestimmte Anforderungen, die auf den nachfolgenden<br />
Ebenen umgesetzt werden. Die Vision des Filmemachers impliziert auch eine persönliche<br />
Erwartungshaltung, die sehr stark den motivatorischen Fokus des gesamten Projektes<br />
festlegt, wie Schadt (2012, 77) beschreibt:<br />
„Ich halte es für absolut notwendig, die zentrale Frage zu einem Filmprojekt, wenn möglich,<br />
gleich zu Beginn klar zu formulieren. Darin liegt eine wesentliche Überlebensstrategie,<br />
während einer Dokumentarfilmproduktion das Zentrum nicht aus den Augen zu verlieren.<br />
Was ist der Auftrag? Zum einen ist es das Thema in seiner äußeren Erscheinung<br />
[…]. [Es] ist das Motiv, der Raum, in dem ich mich bewege. Zum anderen ist es jedoch das<br />
Thema dahinter, die persönliche Motivation, die eigene, übergeordnete Fragestellung,<br />
die weit über das bloße Motiv hinausgeht.“ (Ausl. d. V.; Erg. d. V.).<br />
3.1.2 Haltung<br />
Mit der Vision und der zentralen Frage zu einem dokumentarisches Thema geht auch eine<br />
Grundhaltung des Dokumentaristen einher, die er gegenüber dem zu dokumentierenden<br />
Stück Welt, dessen Protagonisten, der vorgefundenen potenziellen Geschichte(n) und der<br />
darin verborgenden Wahrheit entwickelt (vgl. Abb. 2). Eine Grundhaltung bildet sich wie bei<br />
vielen Dingen im Leben oftmals erst unbewusst und intuitiv. Erst in einem zweiten Schritt<br />
der Reflexion wird sie bewusst. Schadt (2012, 76) sieht in der persönlichen Haltung des<br />
Dokumentaristen einen wesentlichen Ausgangspunkt für ein Projekt:<br />
„Was ist für einen Dokumentarfilmregisseur der Ausgangspunkt, der Ansatz und Einstieg<br />
in ein Projekt, wenn jeder Film eigene und von Film zu Film bisweilen ganz unterschiedliche,<br />
ja augenscheinlich widersprüchliche Mittel und Regeln benötigt, um als Produkt qualitativ<br />
erfolgreich sein zu können? Was ist der Ausgangspunkt für die passende, ein Filmprojekt<br />
umfassende Dramaturgie? Es ist die innere Haltung des Dokumentaristen zu seinem<br />
Thema, zu seinen Protagonisten, zu seiner filmischen Methode. Und die gilt es gleich
zu Beginn des Projektes so klar wie möglich zu entwickeln und zu formulieren. Ausgangspunkt<br />
aller formalen und inhaltlichen Überlegungen muss die Frage sein: Warum mache<br />
ich diesen Film, was ist mein – über das bloße Thema hinausragendes – Interesse? Und:<br />
Was ist der Auftrag, was das Ziel?“.<br />
Die Haltung eines Regisseurs zu seinem Thema ist nach Schadt also maßgebend für<br />
alle kreativen Schritte in einer Dokumentarfilmproduktion und konstituiert die eigentliche<br />
grundlegende Annäherung an die Wirklichkeit, welche mit dem Thema verbunden ist.<br />
Gleichzeitig weist Rabiger (2008, 17) darauf hin, dass der Dokumentarfilm ein „echtes soziales<br />
Kunstwerk“ sei, da die „Haltung eines Autors durch die Individuen, die den Film drehen<br />
[und] schneiden […] kollektiv erarbeite[t] [wird].“ (Umst. u. Ausl. d. V.).<br />
Es ist nachvollziehbar, dass eine (Grund-) Haltung im Sinne Schadts (2012) durchaus<br />
zu Beginn einer Produktion durch den Regisseur gefunden werden muss – alleine oder im<br />
Team –, um sich auf ein Thema einlassen zu können. Gleichzeitig ist jedoch auch anzunehmen,<br />
dass im Sinne Rabigers (2008, 242) diese Haltung im Laufe des Produktionsprozesses<br />
geschärft und flexibel ergänzt bzw. verändert werden kann. Die Kernhaltung wird jedoch<br />
nur in seltenen Fällen, z.B. bei der Erschließung gänzlich neuer Erkenntnisse, eine grundlegende<br />
Veränderung erfahren.<br />
3.1.3 Strategisch-redaktionelle Erfassung<br />
Im Gegensatz zu Vision und Haltung, welche beide zunächst intuitiv und teils unbewusst<br />
entstehen, findet die Regie in ihrer strategisch-redaktionellen Ausprägung einen durchaus<br />
bewusst bestimmbaren Gestaltungsraum, der sich stark durch rationale Planung und Überlegungen<br />
definiert. Ist ein Thema erfasst worden, muss eine Strategie entwickelt werden,<br />
wie sich diesem am besten zu nähern ist. Dabei sind nahezu immer mehrere Optionen gegeben,<br />
welche abgewogen und bewertet werden wollen. Vision und Haltung haben hier<br />
entscheidenden Einfluss auf die strategische Herangehensweise an ein Thema. Ausgehend<br />
von der Fragestellung kann aufgrund erster redaktioneller Arbeiten, aber auch spontaner<br />
inhaltlicher Schwerpunkte – einhergehend mit einer ersten Arbeitshypothese – herausgearbeitet<br />
werden, was die Thematik im Sinne des Dokumentaristen adäquat wiederspiegeln<br />
kann (vgl. Rabiger 2008, 214 und 242 ff.). Diese inhaltliche Annäherung an die gegebenen<br />
Wirklichkeitszusammenhänge mündet dann in der konkreten redaktionellen Recherchearbeit,<br />
in der Fragen nach Orten und Protagonisten, aber auch nach Zusammenhängen des<br />
betroffenen Ausschnitts der historisch realen Welt nach und nach beantwortet werden.<br />
Somit beginnt die konzeptionelle Erfassung des Themenkomplexes, die sich mit konkreten,<br />
bereits filmspezifischen Fragen auseinandersetzt (vgl. Rabiger 2008, 214 ff. sowie Schadt<br />
2012, 108 ff.). (s. Kap. 4).<br />
21
3.1.4 Reflexion<br />
Wie Vision und Haltung, entspricht auch die reflexive Wahrnehmung einem nur schwer<br />
rational fassbaren Bereich, der aber dennoch große Auswirkungen auf die restlichen Arbeitsbereiche<br />
hat. Bei Dokumentarfilmproduktionen gilt es ständig die Handlung des Teams<br />
sowie der Außenwelt wahrzunehmen und zu reflektieren. Mit seinem weit gefassten Begriffsverständnis<br />
der Dramaturgie behauptet Schadt (2012, 16), dass „zur Dramaturgie eines<br />
Dokumentarfilms weiterhin […] menschliche Verhaltensweisen [gehören].“ (Umst. u.<br />
Ausl. d. V.). Beispielsweise wirken sich zwischenmenschliche Aspekte in der Beziehung zu<br />
den Protagonisten stark auf das Verhältnis von Distanz und Nähe aus und beeinflussen in<br />
elementarer Weise das Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren, was sich merklich auf<br />
den eigentlichen Film auswirken kann (vgl. Schadt 2011, 57).<br />
Zudem wird auch die Rolle des Dokumentaristen samt seines Teams im Zusammenspiel<br />
mit den Protagonisten, vor allem in Hinsicht auf die Dreharbeiten beeinflusst. Die<br />
„Macht“ der Kamera muss mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein eingesetzt werden<br />
(vgl. Schadt 2012 42 ff.). Ferner muss sich der Dokumentarist mit seiner eigenen Subjektivität,<br />
dem Verhältnis von angetroffener Wirklichkeit und darzustellender Wahrheit<br />
sowie seiner inneren Haltung gegenüber der Thematik bewusst werden, um für die nachfolgenden<br />
Ebenen entsprechende Entscheidungen treffen zu können. Rabiger (2008, 21)<br />
beschreibt diese reflexive Wahrnehmungsfähigkeit der dokumentarischen Regiearbeit zusammenfassend<br />
wie folgt:<br />
„Gut Regie zu führen verlangt eine hoch entwickelt dreifache Bewusstwerdung.<br />
Sie müssen kritisch in Betracht ziehen:<br />
• alle Aspekte der Welt, die Sie filmen.<br />
• wie sich Ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle entwickeln während Sie diese<br />
Welt erkunden.<br />
• die besonderen Merkmale des Mediums mit dem Sie ihre eigene Reise durch die<br />
Welt wiedergeben wollen.“.<br />
Es bleibt festzustellen, dass die Regieführung zwar „kein mystischer Vorgang“ (Rabiger<br />
2008, 20) ist, aber dennoch in weiten Teilen einer handwerklichen Arbeit „aus einer<br />
intuitiven Wahrnehmung heraus [gleicht], die in Wirklichkeit ein Prozess verinnerlichter<br />
Logik ist.“ (ebd.; Erg. d. V.). Reflexion, die Fähigkeit aus Distanz kritisch die eigene Haltung<br />
und das eigene Handeln sowie die Bezehiehungsverhältnisse und die Sinnhaftigkeit von<br />
getroffenen Entscheidungen im Produktionsprozess betrachten zu können, stellt hierbei<br />
unbestritten eine wichtige Kernkompetenz dar. Um der Welt einen Spiegel vorhalten zu<br />
können, ist es essentiell, sie und sich selbst in ihr richtig einordnen zu können.<br />
22
4 Die konzeptionell-narrative Ebene<br />
4.1 Erzählung im Dokumentarfilm<br />
4.1.1 Die Natur der filmischen Erzählweise<br />
Durchgehend beeinflusst durch die Ausprägung der sozio-empathisch reflexiven Komponenten<br />
der vorhergehend erörterten Regie-Ebene werden auf der konzeptionell-narrativen<br />
Ebene alle Entscheidungen hinsichtlich der eigentlichen dokumentarischen Erzählung getroffen.<br />
Auf der konzeptionell-narrativen Ebene geht es darum, den inhärenten wirklichkeitsspezifischen<br />
Inhalt eines Themas bzw. einer Fragestellung in Form von „Ereignis[sen],<br />
Akteur[en], Zeit und Raum“ (Grassl 2007, 66; Erg. d. V.) in verdichtend-erzählerischer Weise<br />
mit den narrativen Möglichkeiten des Mediums Dokumentarfilm strukturell zu ordnen und<br />
aufzubereiten. Die Wirklichkeit medial abbilden zu wollen, bedeutet immer auch, von ihr zu<br />
erzählen oder noch konkreter, sie, die Wirklichkeit, zu erzählen. Mediale Darstellung impliziert<br />
immer die Erzählung einer gewissen Wirklichkeitskonstellation bewusst zu gestalten –<br />
und zwar hinsichtlich der medial-strukturellen Gegebenheiten des Mediums Film und der<br />
inhaltlichen Fokussierung.<br />
Die narrativen Gestaltungsmöglichkeiten des Dokumentarfilms sind dabei rahmengebend<br />
für den Dokumentaristen. Alles, was er seinem Zuschauer mitteilen möchte, muss<br />
in die konstitutive Gussform der filmischen Erzählweise gegossen werden. Grassl (2007, 48)<br />
schreibt dazu, dass „ein Film eine Realität nie so zeigen [kann], wie sie tatsächlich ist, sondern<br />
nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise welche dem Medium Film inhärent ist.“.<br />
Dem stimmt Lipp (2012, 40) zu, wenn er schreibt, „[…] dass die Art und Weise des Geschichtenerzählens,<br />
also die dabei zum Einsatz kommenden narrativen Strukturen, zu einem ganz<br />
erheblichen Teil durch die Art des Mediums selbst bestimmt werden.“ (Ausl. d. V.).<br />
Darüber hinaus muss bei der filmischen Erzählweise der Zusammenhang zwischen<br />
der Erzählung und der Geschichte beachtetet werden. Denn eine Geschichte wird erzählt<br />
und handelt von etwas. Diese narratologische Feststellung veranlasst Kuhn (2011, 65 ff.)<br />
dazu, das Erzählen an sich, in Ebenen zu unterteilen. Im Rahmen dieser Arbeit wird diese<br />
grundlegende Differenzierung immer wieder von entscheidender Bedeutung sein. In Anlehnung<br />
an Kuhn (ebd.) soll für den dokumentar-filmischen Bereich eine leicht modifizierte<br />
Unterteilung vorgenommen werden:<br />
23
• Die erzählte Welt: Sie stellt die erzählerische Rahmenwelt dar, in der die eigentliche<br />
Geschichte samt ihrer Protagonisten angesiedelt ist. Sie wird auch Diegese<br />
genannt. Sie entspricht einem Abbild unserer historisch realen Welt. Da im Dokumentarfilm<br />
immer nur bestimmte Zusammenhänge der omnipräsenten Wirklichkeit<br />
dargestellt werden, bezieht sich die Diegese in diesem Kontext auf die<br />
verfilmten Wirklichkeitszusammenhänge – ein Stück Welt oder einem Ausschnitt<br />
der Wirklichkeit – in die die Protagonisten und Ereignisse innerhalb ihrer Lebenswelt<br />
verortet werden.<br />
• Die Geschichte: Laufen Ereignisse innerhalb der Diegese in einer bestimmten<br />
chronologischen Reihenfolge ab und stehen sie in einer kausalen Beziehung zu<br />
einander, bedingen sie sich also, spricht man von einer Geschichte (entspricht<br />
dem Plot). Protagonisten sind in einzelne Ereignis-Ketten, in Handlungsstränge,<br />
maßgebend verflochten und stellen somit das Ensemble der Geschichte dar. Hier<br />
kann von einer einmaligen Verschränkung von realen Gegebenheiten gesprochen<br />
werden, die in ihrer Konstellation ein bestimmtes Stück der Welt definieren.<br />
• Die Erzählung: Erst durch die Erzählung wird die Geschichte, die innerhalb der<br />
Diegese existiert, dem Zuschauer vermittelt. Dabei stellt sie mehr dar, als eine<br />
bloße chronologische Rekonstruktion der Geschichte. Die Erzählung beinhaltet<br />
auch die konzeptionell-narrative Gestaltung sowie die zeitliche (Um-) Strukturierung<br />
der Geschichte. 20<br />
4.1.2 Konzeptionell-narrative Komponenten der filmischen Erzählweise<br />
Kuhn (2011, 367) hat im deutschsprachigen Raum ein umfassendes „filmnarratologisches<br />
Modell“ durch die Übertragung der anerkannten narratologischen Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft<br />
von Genette auf das Medium des „narrativen Films“ 21 erarbeitet. Auf der<br />
20 Kuhn (2011, 66) unterscheidet außerdem noch zwischen Erzählung und Narration. Mit letzterer<br />
meint er die Präsentation einer Erzählung durch „bestimmte Sprachen, Medien […] und<br />
Darstellungsverfahren“ (Ausl. d. V.). Im Rahmen dieser Arbeit soll diese zusätzliche<br />
Unterscheidung zwischen Erzählung und Narration nicht getroffen werden, da sich zumeist auf die<br />
spezifische Erzählweise des Mediums Film, wie oben erörtert, bezogen wird.<br />
21 Obwohl Kuhn sein filmnarratologisches Modell vornehmlich auf fiktionale Filme anwendet<br />
schreibt er (2011, 69): „Grundsätzlich gilt: Das narratologische Modell der vorliegenden Arbeit<br />
[die Arbeit Kuhns] lässt sich auf sämtliche filmische Werke anwenden, die weitgehend oder in<br />
Teilen narrativ sind bzw. der weiten und engen Definition der Narrativität genügen, unabhängig<br />
vom Dispositiv und unabhängig davon, ob sie durch immanente oder kontextuelle Merkmale als<br />
fiktional oder faktual gekennzeichnet sind. Es ist für die Analyse eines Films nicht irrelevant, ob er<br />
fiktional oder faktual ist, aber unter der Annahme bestimmter Grundprämissen kann auch ein<br />
faktuales Werk mit narratologischen Kategorien untersucht werden, die anhand fiktionaler Werke<br />
entwickelt worden sind.“. (Anm. d. V.).<br />
24
konzeptionell-narrativen Ebene spricht er von drei fundamentalen Komponenten: der<br />
Stimme, dem Modus und der Zeit. Kuhn (2011, 72) erklärt:<br />
„Unter dem Aspekt der Stimme modelliert Genette Instanzen-, Ebenen- und Beziehungsfragen<br />
(Zeit der Narration, narrative Ebene, Person), d.h. die ‚narrative Situation oder Instanz‘<br />
im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich<br />
hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat, unter Modus Perspektiv- und Informationsvermittlungsfragen<br />
sowie Aspekte der Redewiedergabe (Fokalisierung, Distanz) und<br />
unter Zeit verschiedene Aspekte der Zeitgestaltung (Ordnung, Dauer, Frequenz).“.<br />
Denn „um das Zusammenwirken der unterschiedlichen Erzählebenen im Dokumentarfilm<br />
zu erfassen und die komplexen Beziehungen der narrativen Ebenen zu verstehen, ist es<br />
notwendig, einzelne Elemente des zusammenhängenden narrativen Gefüges, die in einer<br />
Erzählung gleichzeitig wirken, zu separieren und in Kategorien einzuteilen.“ (Grassl 2007,<br />
73). Den nachfolgenden Erörterungen sollen diese drei von Kuhn dargelegten Komponenten<br />
(Stimme (Konstitution), Modus (Perspektivierung), Zeit (Strukturierung)) zum einen als<br />
Begriffe zu Grunde liegen. Zum anderen soll auf diese im Hinblick auf eine Verortung relevanter<br />
Aspekte im Dokumentarfilm in einem adäquaten Detailgrad eingegangen werden.<br />
Abbildung 3 gibt eine Übersicht über die drei Komponenten dieser Ebene, samt den wichtigsten<br />
Gestaltungselementen:<br />
4.2 Konstitution der Erzählung<br />
Abbildung 3: Komponenten der konzeptionell-narrativen Ebene. 22<br />
4.2.1 Diegetische Erzählebenen<br />
In Bezug auf die Erkenntnisse der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung kann ein erzählendes<br />
Werk, wie beispielsweise ein Roman oder aber auch ein Film, in mehrere Kom-<br />
22 Quelle: Verfasser dieser Arbeit mit Bezug auf das filmnarratologische Modell von Kuhn (2011).<br />
25
munikationsebenen oder auch Erzählebenen aufgeteilt werden. Diese Erkenntnisse sind im<br />
Dokumentarfilmbereich relevant, da besonders in dieser Filmgattung oftmals parallel auf<br />
mehreren Erzählebenen eine Geschichte wiedergegeben wird. So unterscheidet man in der<br />
Erzähltheorie grundlegend:<br />
• Extradiegetische Erzählebene: Betrifft innerhalb der Erzählung alles, was außerhalb<br />
der filmischen Welt liegt, die in einem Dokumentarfilm dargestellt wird. Also<br />
„Kommentarstimme, Untermalungsmusik, Titel, Grafiken, Fremdmaterial (z.B.<br />
Archivbilder) und Effekte, die vom Kameraverhalten, der Tonbearbeitung und der<br />
Montage herrühren.“ (Kiener 1999, 238). Dennoch liegt auch alles Extradiegetische<br />
innerhalb des narrativen Werkes und ist demnach Werks-intern zu verorten.<br />
• Intradiegetische Erzählebene: Betrifft alles, was tatsächlicher Bestandteil der<br />
Diegese, also der erzählten Welt, ist. „Die Ebene [besteht] aus den Elementen<br />
Bildinhalt und Originalton (Dinge und Sachverhalte, auf die Kamera und Mikrophon<br />
gerichtet werden).“ (ebd.). Dies ist im Regelfall die Ebene, auf der die Erzählung<br />
in Form der filmischen Handlungen stattfindet. Auch diese Ebene ist als<br />
Werks-intern anzusehen.<br />
• Metadiegetische Erzählebene: Betrifft eine erzählte Welt in der eigentlichen dokumentarisch<br />
abgebildeten Welt. „Die Metadiegese ist eine durch eine oder<br />
mehrere (intra)diegetische Instanz(en) eröffnete ‚Diegese innerhalb der Diegese‘;<br />
[…].“ (Kuhn 2011, 103; Ausl. d. V.). Im einfachsten Fall handelt es sich zum Beispiel<br />
um einen Film im Film.<br />
Filmemacher konstituieren die dokumentar-filmische Erzählung hauptsächlich auf den<br />
extradiegetischen und intradiegetischen Ebenen – in Ausnahmen auch auf der metadiegetischen<br />
Ebene. Auf diesen Ebenen wird die gefilmte Wirklichkeit dargestellt und dem Zuschauer<br />
unidirektional kommuniziert. Hier laufen tatsächlich alle Erzählprozesse eines Dokumentarfilms<br />
durch die jeweils angesiedelten Erzählinstanzen ab. Grundsätzlich kann vorausgesetzt<br />
werden, dass jede Erzählung über diese Ebenen-Schachtelung verfügt und<br />
durch sie eine einmalige erzählerische Struktur erhält.<br />
Aus narratologischer Sicht wird grundsätzlich angenommen, dass ein Erzähler auf<br />
diesen Erzählebenen als vermittelnde Instanz zwischen Zuschauer und Geschichte agiert. Er<br />
berichtet, erzählt also einem postulierten Adressaten von Ereignissen innerhalb der Diegese,<br />
die wiederum im dokumentar-filmischen Bereich von der Wirklichkeit abstammen. Der<br />
Erzähler fungiert als alles kontrollierender Gestalter dieser Erzählung. Denn „dem filmischen<br />
Medium [ist] prinzipiell eine diegetische Erzählerrede gegeben.“ (Kiener 1999, 176;<br />
26
Umst. d. V.), und somit „[bedingt] die narrative Form [des Films] die Position eines Erzählers.“<br />
(Kiener 1999, 149; Umst. d. V.; Erg. d. V.).<br />
Das non-fiktionale Wesen der Erzählung im Dokumentarfilm bedingt, dass der reale<br />
Autor/ Regisseur des Films der narrativen Instanz des Erzählers gleichzusetzen ist, der immer<br />
eine filmische Erzählungssituation durch seine Autorenschaft initiiert und kontrolliert.<br />
Jedoch lässt er in bewusstem Maßen auch andere Akteure (innerhalb der Diegese) zu Wort<br />
kommen. Ein Dokumentarist nimmt also immer die Position des vermittelnden initiierenden<br />
Erzählers (im Folgenden initiierender Erzähler genannt) ein. Denn er erzählt auf seine individuelle<br />
Weise von Geschehnissen und Ereignissen der Welt, und „[übernimmt] die volle<br />
Verantwortung für die Behauptungen seiner Erzählung und [billigt] infolge dessen keinem<br />
[impliziten] Erzähler irgendeine Autonomie zu.“ (Genette zit. n. Kiener 1999, 175; „implizit“<br />
kann hier als diegetisch verstanden werden).<br />
Akteure entsprechen diegetischen Erzählern und können Protagonisten gleichgesetzt<br />
werden (z.B. Personen im Interview, Voice-Over-Kommentare etc.). Ihre Erzählung innerhalb<br />
des Films entspricht der von Kiener oben erwähnten „diegetischen Erzählrede“. Das<br />
bedeutet zusammengefasst: Der initiierende Erzähler bedient sich für seine Erzählung den<br />
intra- und extradiegetischen Mitteln der formal-kinematografischen Ebene, auf denen unter<br />
anderem auch Protagonisten zu Wort kommen. Abbildung 4 fasst diese narratologischen<br />
Zusammenhänge für den Dokumentarfilm zusammen:<br />
Abbildung 4: Narrative Kommunikationsebenen im Dokumentarfilm. 23<br />
23 Quelle: Verfasser dieser Arbeit in Anlehnung an Kuhn (2011, 85, Abb. 7).<br />
27
4.2.2 Erzählinstanzen im Dokumentarfilm<br />
Unter Berücksichtigung der medienspezifischen Eigenheiten der Gattung Film konstatiert<br />
Kuhn eine audiovisuell narrative Erzählinstanz 24 sowie eine informierende fakultative (optionale)<br />
sprachliche Erzählinstanz (vgl. 2011, 84 – 86). Mit Blick auf den narrativen Spielfilm<br />
nennt Kuhn (vgl. 2011, 95) sie fakultativ, da eine sprachliche narrative Instanz nicht notwendiger<br />
Weise im Film vorkommen muss. So konstatiert er (2011, 95): „Im Film kann ohne<br />
Sprache erzählt werden. So gibt es Stummfilme, die mit wenigen oder keinen Schrifttafeln<br />
auskommen. Bezüglich des Kommunikationsmodells wären das Filme, in denen es einzig<br />
eine visuelle Erzählinstanz (kurz VEI) auf extradiegetischer Ebene gibt.“. Die sprachliche<br />
Erzählinstanz gewinnt im Dokumentarfilm im Gegensatz zum Spielfilm jedoch eine besonders<br />
wichtige Stellung<br />
Kuhn (2011, 95 f.) sieht in dieser fakultativ sprachlichen Erzählinstanz sprachliche<br />
Kommunikation, welche sowohl schriftlicher als auch verbaler Natur sein kann.<br />
„Von einer sprachlichen Erzählinstanz (SEI) im Film kann man immer dann sprechen,<br />
wenn auf irgendeine Weise sprachlich mindestens eine Minimalgeschichte erzählt<br />
wird. Das heißt, sprachliches Erzählen ist im Film fakultativ, während visuelles bzw.<br />
kinematographisches Erzählen den narrativen Film notwendig erst als solchen hervorbringt<br />
und definiert, sofern dabei eine Minimalgeschichte gezeigt wird.“<br />
Dies verhält sich im Dokumentarfilm anders. Zwar kann auch hier je nach Spielart ohne<br />
Kommentar oder Interview von einer Realität erzählt werden (z.B. im nonverbalen Dokumentarfilm<br />
wie BERLIN, DIE SINFONIE DER GROßSTADT (D, 1927), vgl. Lipp 2012, 63 ff.), jedoch<br />
sehen die überwiegenden Formen des Dokumentarfilms einen Sprecher, Interviews oder<br />
zumindest Texteinblendungen (usw.). vor (vgl. Lipp 2012). Um eine dokumentar-filmische<br />
Geschichte der historisch realen Welt zu erzählen, muss man dem Zuschauer durch verbalsprachlich<br />
verortete diegetische Erzählinstanzen Zusammenhänge näherbringen. So handelt<br />
es sich bei ihnen um ein quasi-fundamentales – jedoch nicht obligatorisches – Gestaltungsinstrument<br />
des Dokumentarfilms, dass dazu dient, dem Zuschauer – abgesehen vom<br />
nonverbalen Film – im üblichen Fall die dargestellten Wirklichkeitszusammenhänge näher<br />
zu erläutern, tieferes Verständnis zu bilden und vor allem auch Identifikationsmöglichkeiten<br />
zu bieten.<br />
So können bestimmte „stilistische Kennzeichen der dokumentarischen Form“ (Grassl<br />
2007, 75) im Umgang mit der Funktion und Rolle der verbal-sprachlichen Erzählung ausgemacht<br />
werden, „die es uns Zuschauern erlauben, schon noch [!] wenigen Sekunden, sozu-<br />
24 Die audiovisuelle narrative Erzählinstanz wird in Kapitel 5 ausführlich erörtert, da sie als<br />
audiovisuelle Komponente in der formal-kinematografischen Ebene aufgeht (s. Kap. 5.1).<br />
28
sagen auf den ersten Blick, einen Dokumentarfilm als solchen zu erkennen.“ (Kiener 1999,<br />
176). Hier handelt es sich also um wichtige Authentizitätssignale.<br />
Grassl (2007, 75) schlussfolgert, dass<br />
„die diegetische Erzählrede des Dokumentarfilms auf der Mittelbarkeit [beruht], d.h. sie<br />
wird von jemandem geäußert. Jede Darstellung einer Gegebenheit, eines Ereignisses in<br />
Form einer Geschichte braucht einen Erzähler. So auch die Darstellung mittels realer Bilder<br />
und Töne. […] Ein Erzähler nimmt dabei die Position des Vermittlers im Kommunikationsprozess<br />
[zwischen diegetischen Erzählern und Zuschauern] ein. Trotz diegetischem<br />
Charakter des filmischen Mediums gibt es viele Möglichkeiten, wie die Erzählfigur im Dokumentarfilm<br />
eingesetzt wird. Diese Situation bestimmt die Kommunikationssituation, in<br />
der Inhalte vermittelt bzw. erzählt werden.“ (Umst., Ausl. u. Anm. d. V.).<br />
Dies kann ein körperloser Kommentar als „Stimme Gottes“ sein oder aber Interviews mit<br />
Protagonisten vor der Kamera (vgl. Rabiger 2008, 66 f.). Viele Mischformen sind denkbar.<br />
Kiener (vgl. 1999, 238) schlüsselt auf, dass ein audiovisuell in Erscheinung tretender<br />
diegetischer Erzähler im Dokumentarfilm durch drei Eigenschaften in Relation zum Film<br />
verortet werden kann. Diese Kriterien entsprechen den wie von Kuhn (2011) bereits angeführten,<br />
Eigenschaften der von Genette postulierten narratologischen Analyseklasse Stimme:<br />
• Ebene: Ein extradiegetischer Erzähler konstruiert nur die Rahmenhandlung<br />
(durch Off-Kommentare), hinterlässt aber keine Spuren und nimmt keinen Einfluss<br />
in der Diegese selbst. Entsprechend als intradiegetisch wird er bezeichnet,<br />
wenn er als Akteur merklich audiovisuell in Erscheinung tritt (z.B. als Experte, Reporter<br />
oder Protagonist) und somit zum diegetischen Bestandteil der erzählten<br />
Welt wird. (vgl. Grassl 2007, 76).<br />
• Person: Der diegetische Erzähler kann homodiegetisch sein, d.h. er ist Bestandteil<br />
der erzählten Geschichte (z.B. ein Protagonist oder Zeitzeuge). Er kann aber auch<br />
heterodiegetisch sein und ist entsprechend in die erzählten Handlungen nicht integriert<br />
(z.B. Interview mit einem außenstehenden Experten).<br />
• Zeitverhältnis: Dieses Kriterium bezieht sich auf die zeitliche Stellung des Erzählers<br />
zu den Ereignissen der Geschichte, welche er in seiner Erzählung schildert.<br />
Das Zeitverhältnis kann jedoch vernachlässigt werden, denn das „filmische[…] Erzählen<br />
[ist] ohne zeitliche Markierungen möglich. So ist der häufigste Fall in der<br />
Erzählliteratur die spätere Narration im Präteritum, während dem Film eine Zeitlosigkeit<br />
eingeschrieben ist, die eine Tendenz zur gleichzeitigen Narration hat,<br />
zumindest so lange keine weiteren sprachlichen oder nicht-sprachlichen Markierungen<br />
auf einen anderen Typus verweisen.“ (Kuhn 2011, 243, Umst. u. Ausl. d.<br />
29
Verfassers). Der Erzähler bezieht sich im Dokumentarfilm immer auf vergangene<br />
oder gegenwärtige Ereignisse.<br />
Ausgehend von diesen filmnarratologischen Kriterien, die als einzelne Gestaltungselemente<br />
der konzeptionell-narrativen Ebene gelten können, kann ein Dokumentarist sich<br />
selbst, seine Protagonisten und andere Akteure im Film verorten bzw. als erzählende Instanzen<br />
positionieren. „Dadurch ist der Status des [diegetischen] Erzählers einerseits durch<br />
die Ebene festgelegt, auf der er sich befindet […], und weiteres [!] durch seine Beziehung<br />
zur Erzählrealität […].“ (Grassl 2007, 76; Ausl. u. Anm. d. V.). Dieser Status des/ der diegetischen<br />
Erzähler(s) wirkt sich direkt auf die Atmosphäre, Dramaturgie und auch auf das Identifikationspotenzial<br />
eines Dokumentarfilms aus.<br />
Es macht einen großen Unterschied -ob ein Dokumentarist in moderatorischexploratorischer<br />
Funktion durch einen Dokumentarfilm führt (wie z.B. Michael Moore in<br />
BOWLING FOR COLUMBINE (USA, 2002)) oder er sich eher zurückhaltend ausschließlich auf der<br />
extradiegetischen Ebene bewegt, wie in DER GROßE AUSVERKAUF (D, 2006) – und seine Protagonisten<br />
die Geschichte erzählen lässt. Auf kinematografischer Ebene ergeben sich durch<br />
diese konzeptionell-narrativen Überlegungen viele Möglichkeiten, verbal-sprachliche Erzählinstanzen<br />
im Dokumentarfilm einzusetzen.<br />
4.2.1 Dramaturgie als rhetorisches Mittel der Erzählung<br />
Eine Geschichte kann auf unterschiedliche Arten erzählt werden. Dabei gibt es eine Vielzahl<br />
von Ausprägungsformen und Möglichkeiten, wie im vorausgegangenen Kapitel bereits angebracht<br />
wurde. Doch aus Sicht der Rezipienten könnte man gewiss annehmen, dass es vor<br />
allem wichtig ist, dass eine Geschichte spannend und interessant ist.<br />
„Die Aufgabe der Dramaturgie ist einerseits die positive Lenkung des/der Zuschauerin,<br />
um ihn zu einem Punkt zu führen, wo Zusammenhänge und somit die Geschichte verstanden<br />
wird, und andererseits den/die Zuschauerin emotional an den Film zu binden.<br />
Oft hat man es mit einem nichtspezialisierten Publikum zu tun, das einen Dokumentarfilm<br />
mit einer Erwartungshaltung rezipiert, die sich aus einfachen Erzählstrukturen des<br />
Fernsehens und des Spielfilms gebildet hat. Die Herausforderung an den/die Filmemacherin<br />
besteht darin, eine langweilige Abfolge oder ein alltägliches Phänomen spannend<br />
zu gestalten, weshalb dramaturgische und ästhetische Fragen für den Dokumentarfilm<br />
umso bedeutender sind.“ (Grassl 2007, 87).<br />
Dramaturgie dient also dazu – vor allem im Dokumentarfilm – die beobachtete Wirklichkeit<br />
so aufzubereiten, dass Sie auf den Zuschauer attraktiv wirken und er dem Filmverlauf<br />
interessiert, im Idealfall gar gefesselt folgt. Möglichst soll das Publikum die beabsichtigten<br />
Aussagen und Gedankenanstößen aus einem Film im Sinne der Vision und Haltung des<br />
Dokumentaristen extrahieren. Dramaturgie kann als konzeptionell-narrative Technik zur<br />
30
Förderung eines immersiven Erlebnisses des Zuschauers verstanden werden. Je besser die<br />
dramaturgische Steigerung der filmischen Geschehnisse ist, desto höher Fällt der Grad der<br />
Immersion aus. Entsprechend stark ist der Rezipient auf den Filmverlauf fokussiert und<br />
kann sich auf die filmische Erzählung einlassen (vgl. Curtis u. Voss 2008, 11 ff.). 25<br />
Dem Dokumentaristen stehen zur Erzeugung dieser Rezeptionserlebnisse verschiedene<br />
erzählerische Strukturen zur Verfügung, welche sich im Laufe der Zeit bewährt haben.<br />
Beim Spielfilm wie auch beim Dokumentarfilm dient hierzu üblicher Weise die aristotelische<br />
Dramaturgie, deren Ursprünge bekanntlich über 2000 Jahre zurückreichen und die ursprünglich<br />
für die dramatische Darstellung im Theater entwickelt wurde (@1). Dabei folgt<br />
die aristotelische Form der Geschichtenpräsentation beim Spiel- wie Dokumentarfilm normalerweise<br />
der Drei- bzw. Fünf-Akt-Dramaturgie, die Hant verdeutlicht: „Die Grundstruktur<br />
jeder Geschichte ist einfach: Anfang, Mitte und Ende. Wir können diese drei Abschnitte<br />
auch als drei Akte bezeichnen…“ (Hant zit. n. Mangeot 2012, 39). Implizit setzt Rabiger<br />
(2008, 91) die Drei-Akt-Struktur für den Dokumentarfilm voraus, und erklärt sie wie folgt:<br />
„I. Akt Exposition: Die Figuren, ihre Beziehungen zueinander sowie die Situation und<br />
das Kernproblem der Hauptfigur(en) werden eingeführt.<br />
II. Akt Die Lage spitzt sich zu, während die Hauptfigur mit Hindernissen kämpft, die<br />
ihn davon abhalten, das Hauptproblem zu lösen.<br />
III. Akt Die Spannung steigert sich zum Höhepunkt, bis die Hauptfigur das Problem auf<br />
eine emotional befriedigende Weise löst.“<br />
Einhergehend mit dem Einsatz dramaturgischer Strukturen müssen auch entsprechende<br />
zeitliche Verdichtungen der historisch realen Ereignisse zum Zuge kommen. In Abhängigkeit<br />
des zu dokumentierenden Themas können so relevante Dinge ausführlicher behandelt<br />
werden, weniger relevante beiläufige Sachverhalte tendenziell verkürzter und<br />
prägnanter dargestellt oder gar gänzlich weggelassen werden.<br />
„Viele Elemente nehmen Einfluss darauf, wie Sie Ihren Film strukturieren. Im Dokumentarfilm<br />
gibt es oft das Problem, ein angemessenes Gefühl für die Weiterentwicklung des<br />
Dargestellten zu vermitteln. Deshalb ist es wichtig zu verkürzen und einen Vergleich zwischen<br />
Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen, wenn Sie zeigen wollen, dass sich tatsächlich<br />
etwas verändert. […] Jede befriedigende Geschichte braucht ein Gefühl von Bewegung,<br />
von Fortschreiten. Dazu bedarf es eines Organisationsprinzips, das man gewöhnlich<br />
im Stoff des Themas findet.“ (Rabiger 2008, 91).<br />
25 Hier ergänzt Mangeot (2012, 33): „Nach der Dramentheorie beruht die Kunst des Erzählens auf<br />
der Nachahmung (Mimesis), eine archetypische Darstellung von Realität – eine idealisierte<br />
Realität. Für Aristoteles hat das Drama die Funktion der Reinigung (Katharsis) durch Erleben von<br />
negativen Gefühlszuständen (Aggressionen, Angst). Der Rezipient soll eine Läuterung erfahren<br />
und gereinigt aus der Rezeption hervorgehen.“. Menschen beschäftigen sich demnach schon sehr<br />
lange mit der Rhetorik der Erzählung, also der Art und Weise des Vortragens von Geschichten.<br />
Ursprung und Entwicklung der Dramaturgie, Unterschiede zwischen Epik und Drama usw. sollen in<br />
dieser Arbeit aber nicht weiter Gegenstand des Diskurses sein.<br />
31
In Hinblick auf derartige Organisationsprinzipien im Dokumentarfilm erörtert Grassl<br />
(2007, 90) die Rolle des filmenden Dokumentaristen sowie der von ihm besetzbaren erzählenden<br />
Akteure (vgl. Kap. 4.2.2):<br />
„Im Unterschied zum Spielfilm und zu anderen Erzählungen spiegeln die Ereignisse im<br />
Dokumentarfilm immer auch die Anwesenheit eines/r Autorin wider, der selbst Teil des<br />
Geschehenen war. Somit setzt der Dokumentarfilm ein ‚Subjekt der epischen Form‘ oder<br />
ein ‚episches ich‘, einen Erzähler, einen Kommentator einen Begleiter des Geschehens<br />
voraus. Dieser reflektiert, schildert und beurteilt das Geschehen aus seiner eigenen subjektiven<br />
Sichtweise. Nicht nur die Erzählerstimme, auch Statements und Interviews der<br />
Protagonistinnen werden im Dokumentarfilm oft als strukturierendes Mittel eingesetzt<br />
und bestimmen so den roten Faden.“. 26<br />
Wie von Schadt (2012) bereits angeführt wurde, bedarf jedes Thema also einer eigenen,<br />
vom Dokumentaristen in der Rolle des initiierenden Erzählers individuell angepassten<br />
dramaturgischen Strukturierung. Somit kann die klassische Akt-Struktur nur als Orientierungspunkt<br />
des Dokumentaristen dienen, wie auch abschließend Grassl (2007, 99) resümiert:<br />
„Grundsätzlich sind die vorgestellten narrativen Modelle, Elemente, Abläufe und<br />
Analyseelemente nur theoretische Modelle, an die sich in der Praxis kein/e Filmemacherin<br />
eins zu eins halten wird. Viel wichtiger ist die Haltung des/der Filmemacherin aus der heraus<br />
der Film gemacht wird.“<br />
Die Ausprägungen der Dramaturgie schlagen sich ausgesprochen stark auf die zeitliche<br />
Re-Strukturierung der filmischen Erzählweise nieder (s. Kap. 4.4). Es erscheint jedoch<br />
im dokumentar-filmischen Bereich naheliegend, die Dramaturgie eher als ein rhetorisches<br />
Mittel der Erzählung anzusehen, als bloßes Instrument zur Strukturierung der Erzählung in<br />
starre Akte. Denn durch den kontrollierten Einsatz von diegetischen Erzählern respektive<br />
intra- und extradiegetischer Erzählmittel wird die diegetische Erzählrede des Dokumentarfilms<br />
erheblich geprägt. Die Grenzen sind hier teils unscharf. Die Rhetorik der dokumentarfilmischen<br />
Erzählung ist komplex und umfasst im Grunde genommen alle hier aufgeführten<br />
Gestaltungsebenen. In den Worten Schadts (2012, 16) ausgedrückt: „[…] die Suche nach der<br />
richtigen Dramaturgie beginnt für den Regisseur spätestens bei der Frage, ob es besser ist,<br />
mit geputzten oder nicht geputzten Schuhen aufzutreten. Anders formuliert: Alles ist Dramaturgie<br />
und Dramaturgie ist alles.“<br />
26 Hinsichtlich des strukturalistischen Organisationsprinzips der Erzählung im Dokumentarfilm<br />
unterscheidet Hohenberger nach Kiener zwischen kontinuierlicher und diskontinuierlicher<br />
Darstellungsweisen. Bei der kontinuierlichen Variante wird dem Zuschauer ein in sich<br />
geschlossenes Sinngefüge präsentiert, dass allein durch seine filmische Abfolge (vgl. Kap. 4)<br />
bereits alle nötigen Informationen enthält, um dem Geschichtsverlauf in Gänze folgen zu können.<br />
Dem entgegen wird bei der diskontinuierlichen Erzählweise zwischen einzelnen Erzählsequenzen<br />
eine weitere Erzählebene eingeschoben, auf der weitere Informationen und Auskünfte erteilt<br />
werden, um die zum Verständnis der Erzählsequenzen benötigt werden (vgl. Kiener 1999, 33).<br />
32
4.3 Perspektivierung der Erzählung<br />
4.3.1 Fokalisierung und Point-of-View<br />
Sobald Personen als Protagonisten eine Rolle spielen, muss sich ein Filmemacher fragen,<br />
wie wichtig die Erlebnisse und Wahrnehmungswelten dieser Menschen innerhalb des betroffenen<br />
Ausschnitts der Wirklichkeit für seinen Film sind – und wie umfangreich er diese<br />
filmisch nachvollziehen bzw. darstellen sollte. Diese Überlegungen werden umso wichtiger,<br />
wenn mehrere Personen in dem zu filmenden Wirklichkeitsausschnitt involviert sind und<br />
potenziell als tragende Figuren bzw. erzählende Akteure in Frage kommen. Denn je nachdem,<br />
wessen Perspektive filmisch nachgezeichnet wird, ändert sich entsprechend auch der<br />
Fokus des gesamten Films und somit letztlich das Rezeptionserlebnis für den Zuschauer<br />
(vgl. Kap. 4.2.3). Ausgehend von der Haltung und Vision des Dokumentaristen, bildet sich<br />
für ihn eine Tendenz heraus, von welchem Standpunk aus, der Dokumentarfilm seine Geschichte<br />
erzählen soll. Dies wird meistens durch einen Selektionsprozess entschieden, der<br />
oftmals eher intuitiv als rational geplant abläuft (vgl. Rabiger 2008, 75 f. sowie Kap. 3.1.1 u.<br />
3.1.2). Die filmische Perspektivierung bzw. der Point-of-View (POV) 27 stellt daher einen<br />
elementaren Aspekt bei der konzeptionell-narrativen Gestaltung eines (Dokumentar-) Filmes<br />
dar. In der Narratologie wird demnach mit dem erzähltheoretischen Begriff der Fokalisierung<br />
auf analytischer Ebene gefragt:<br />
„Aus dem Erlebnisbereich welcher Figur wird eine ‚Geschichte’ gezeigt und wie tief ist der<br />
Zugang zu ihren Wahrnehmungen und Gedanken? Anders gesagt: auf wen und in welcher<br />
Weise ist die Erzählung fokussiert? Diejenige Figur, von deren physischem wie auch psychologischem<br />
Wahrnehmungsstandpunkt aus Situationen und andere Figuren geschildert<br />
werden, bildet das Zentrum der Perspektive. Sie ist die Quelle der Informationen. Von<br />
manchen Autoren wird sie bildhaft ‚Reflektor-Figur’ genannt.“ (Kiener 1999, 208).<br />
Für einen Dokumentaristen als gestaltende und vermittelnde narrative Instanz ergeben<br />
sich sehr viele Möglichkeiten die Fokalisierung zu gestalten. Je nach den von ihm vorgefundenen<br />
Umständen in der realen Welt kann der Informationsfluss eventuell durch eine<br />
einzelne Reflektor-Figur nicht hinreichend über gewisse Aspekte der Diegese oder aber<br />
über die eigentliche Thematik bzw. die gewünschte filmische Aussage informieren und somit<br />
die Erzählung konstituieren. In einem solchen Fall kann ggf. erst die Wahrnehmungsvermittlung<br />
mehrerer Reflektor-Figuren ausreichen, um eine adäquate Erzählung zu konstruieren.<br />
Zum Beispiel baut der Regisseur im Dokumentarfilm DER GROßE AUSVERKAUF eine<br />
filmische Erzählung über die zunehmende Privatisierung der Welt auf, indem er unter ande-<br />
27 POV kann neben der Bedeutung einer gewissen, physischen Kameraeinstellung vornehmlich auch<br />
als Synonym für den „emotionalen und psychologischen Standpunkt gebraucht“ (Rabiger 2008,<br />
75) werden.<br />
33
em gleich mehrere Ausschnitte der Welt durch die Perspektive eines jeweils anderen Protagonisten<br />
beschreiben lässt. Durch die Kombination mehrerer Fokalisierungen ergibt sich<br />
so seine episodische Erzählweise innerhalb der etablierten Diegese. 28<br />
Kuhn sowie Kiener erörtern die drei Grundtypen des von Genette etablierten Fokalisierungs-Konzeptes<br />
sowohl filmnarratologisch (Kuhn 2011) als auch mit starkem dokumentar-filmischen<br />
Bezug (Kiener 1999). Dabei setzt Kiener den Ausdruck Fokussierung dem<br />
narratologischen Begriff Fokalisierung gleich. Rabiger verfolgt einen durchweg praxisorientierten<br />
Ansatz aus Sicht des Dokumentarfilmregisseurs und benutzt daher durchgehend den<br />
Begriff Point-of-View, der aber ebenfalls wie Kieners Fokussierung der Fokalisierung gleichzusetzen<br />
ist. Kiener (1999, 209) stellt alle drei Grundtypen wie folgt vor:<br />
„1. „Übersicht“, oder Nullfokussierung [bzw. Nullfokalisierung]: „wo der Erzähler<br />
also mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der<br />
Figuren weiß; anders dargestellt: Erzähler > Figur.<br />
2. „Innensicht“, oder interne Fokussierung: „der Erzähler sagt nicht mehr, als die<br />
Figur weiß“, was die Formel symbolisiert: Erzähler = Figur.<br />
3. „Außensicht“, oder externe Fokussierung: „der Erzähler sagt weniger, als die<br />
Figur weiß“, dafür gilt: Erzähler < Figur.“ (Anm. d. V.).<br />
Kuhn (2011, 123) merkt an, dass „[sich] das Konzept der Fokalisierung auf eine relationale<br />
Informationsselektion [bezieht], genauer: Die Informationsrelation zwischen narrativer<br />
Instanz [dem vermittelnden initiierenden Erzähler] und Figur.“ (Umst. u. Anm. d. V.).<br />
Grassl (vgl. 2007, 80) weist darauf hin, dass in vielen Filmen eine konsequente Verfolgung<br />
eines einzelnen Fokalisierungs-Typus nicht möglich oder gewollt ist und es daher zu<br />
sog. „Alterationen“, also dynamischen Veränderungen innerhalb des filmischen Fokalisierungs-Konzeptes<br />
kommen kann. Denn „oft wird ein Thema durch eine alternierende Fokalisierung<br />
erst interessant“ (ebd.).<br />
4.3.2 Distanz und Nähe als narratives Konzept<br />
Kiener (vgl. 1999, 209 f.) resümiert, dass die Fokalisierungs-Konzepte sich nicht nur durch<br />
die Quantität der vermittelten Informationen auszeichnen, sondern vor allem auch durch<br />
die Qualität des Informationsflusses. Das qualitative Spektrum der Fokalisierung „reicht von<br />
allgemeinen, jedermann zugänglichen Beobachtungen bis zu intimen Gedanken und persönlichen<br />
Gefühlen.“ (ebd.). Es hängt also von dem spektralen Tiefgang in der filmischen<br />
28 Interessanterweise baut der Regisseur zudem Interviews mit Experten ein, die kein Bestandteil<br />
der Erlebniswelten der Protagonisten sind, und auf einer quasi-unabhängigen Ebene Kommentare<br />
zu den Phänomenen abgeben, die den eigentlichen Protagonisten wiederfahren. Hier kann<br />
festgestellt werden, dass die filmischen Indizien darauf hindeuten, dass die Protagonisten homodiegetischen<br />
Erzählern und die Experten hetero-diegetischen Erzählern gleichen.<br />
34
Nachzeichnung der protagonistischen Erlebniswelten ab, wie der Zuschauer einen Dokumentarfilm<br />
erlebt und rezipiert. So fällt es dem Zuschauer leichter sich mit Figuren identifizieren<br />
bzw. deren Handeln nachvollziehen zu können, wenn ihm ein Zugang mittels qualitativ<br />
tiefgehender Interviewsituationen zur Erlebniswelt der Protagonisten gewährt wird. Je<br />
mehr man über einen Protagonisten erfährt und entdeckt, desto leichter fällt es, sich ein<br />
Urteil über die dargestellte Person zu bilden, Gemeinsamkeiten, Gegensätzlichkeit und<br />
Sympathie oder Antipathie bzw. Verständnis und Empathie festzustellen.<br />
Dies fördert letztlich – und das ist die konzeptionell-narrativ relevante Erkenntnis –<br />
die Identifikationsfähigkeit des Zuschauers mit einem Protagonisten. Diese emotionalempathische<br />
Lenkung des Rezipienten hängt von der Vision, Haltung und verfolgter Fokalisierungs-Strategie<br />
des Regisseurs ab. Dadurch verändert sich das Verhältnis von Distanz<br />
und Nähe im erzähltheoretischen Kontext zwischen Zuschauer und Protagonisten.<br />
So wirkt sich die Qualität im Sinne der filmisch nachvollzogenen Wahrnehmungsebene<br />
der Protagonisten vor allem auf den Rezeptionsmodus des Zuschauers aus, aus welcher<br />
Motivation heraus er der filmischen Erzählung folgt.<br />
Nach Kiener (vgl. 1999, 210) könnten diese Rezeptionsmodi unter Berücksichtigung<br />
der verschiedenen Fokalisierungs-Typen wie folgt aufgeschlüsselt werden:<br />
• Engagierter Beobachter; Motivation: Voyeuristisch, spekulierend. Mutmaßend;<br />
Wo: Externe Fokalisierung.<br />
• Kritischer Beobachter; Motivation: Neugierig, genau informierend.<br />
Wo: Nullfokalisierung.<br />
• Emotionaler Beobachter; Motivation: Emotionale Anteilnahme, identifizierend;<br />
Wo: Interne Fokalisierung.<br />
Diese Aufschlüsselung soll exemplarisch die möglichen Unterschiede im Rezeptionsverhalten<br />
der Zuschauer in Relation zu den möglichen Fokalisierungen andeuten und bedürfte<br />
zur Validierung einer nähergehenden empirischen Untersuchung.<br />
4.4 Strukturierung der Erzählung<br />
Der Begriff „Zeit“ kann im Zusammenhang mit dem Medium Film auf mehrere Arten gedeutet<br />
werden und muss daher vor einer näheren narratologischen Analyse im dokumentarischen<br />
Kontext definiert werden. Es gilt in einem ersten Schritt zwischen der erzählten bzw.<br />
dargestellten Zeit und der Erzähl- bzw. Darstellungszeit zu unterscheiden. Der erste Begriff<br />
bezieht sich auf die Zeit, welche innerhalb eines Filmes abgebildet wird. Dabei wird vor<br />
35
allem die umfasste Zeitspanne innerhalb der Diegese gemeint. So kann ein Dokumentarfilm<br />
theoretisch einige Ereignisse innerhalb weniger Stunden bis hin zu Prozessen über mehrere<br />
Jahre darstellen. Es wird noch zeigen, dass die erzählte Zeit unter Umständen durch transmediale<br />
Erweiterungen erheblich beeinflusst werden kann (s. Kap. 8.1.1.2).<br />
Dabei spielt die o.g. zweite Deutungsweise hinsichtlich der Rezeption eine entscheidende<br />
Rolle. Ein Film diktiert wie jedes andere Medium, eine spezifische Rezeptionsweise<br />
und vor allem Rezeptionszeit aufgrund seiner medialen Beschaffenheit (vgl. Kap. 4.1.1).<br />
Filmische Einstellungen zeigen – im sog. Normalfall (s.u.) – Ereignisse in Echtzeit. Ohne weitere<br />
Manipulationen entspricht eine dargestellte Sekunde innerhalb einer filmischen Einstellung<br />
genau einer Sekunde in der realen Welt des Rezipienten und ist somit zeitlich identisch.<br />
Mahne (2007, 78) spricht hier von der „Gleichzeitigkeit von Erzählung und Handlung“<br />
und spezifiziert (ebd.):<br />
„Die Erzählzeit und die erzählte Zeit verhalten sich zeitdeckend, d.h. die Kamera bildet<br />
die Handlung in Echtzeit ab. Der Zuschauer erlebt die Kontinuität der Handlungszeit im<br />
gleichen Maße wie die beteiligten Figuren. Szenisches Erzählen bleibt im Roman ein hypothetisches<br />
Konstrukt, während es im Film eine medienspezifische Notwendigkeit ist.“<br />
Film besteht also aus einzelnen, zeitlich geschlossenen Segmenten, innerhalb derer<br />
die Kamera an die zeiträumlichen Gegebenheiten gebunden ist, welche im Dokumentarfilm<br />
der real verstrichenen Zeit entspricht. Diese Segmente, innerhalb derer ein „zeiträumliches<br />
Kontinuum“ (Lohmeier zit. n. Kiener 1999, 185) herrscht, entsprechen exakt den aus der<br />
Filmpraxis und Filmwissenschaft geläufigen Szenen, welche wiederum aus den o.g. einzelnen<br />
zeitdeckenden Einstellungen bestehen. „Das zeitstrukturelle Grundmuster ist also klar<br />
und bei jedem Film dasselbe: Es zeigt eine Kette unterschiedlicher langer szenischer Einheiten,<br />
die durch unterschiedlich starke Zeitsprünge getrennt sind.“ (ebd.).<br />
Ein Film bietet dem Dokumentaristen durch seine medienspezifische Zeitstrukturierung<br />
vielseitige Möglichkeiten Sachverhalte zu erzählen, hervorzuheben oder wegzulassen.<br />
Im Nachfolgenden sollen die für den dokumentarischen Kontext dieser Arbeit relevanten<br />
Eigenschaften nähergehend analysiert werden. 29<br />
29 Neben Ordnung und Dauer gehört auch die Frequenz zu den Komponenten der erzählerischen<br />
Strukturierung (s. Abb. 3). Die Frequenz beschreibt, in welcher Beziehung ein diegetisches Ereignis<br />
zu einer wiederholten Erzählung steht. Es kann angenommen werden, dass im Dokumentarfilm<br />
der „Regelfall“ des filmischen Erzählens eintritt: ein einmaliges Ereignis wird einmal hinreichend<br />
filmisch dargestellt. Mit seltenen Ausnahmen stellt die singulative Erzählform (einmal wird<br />
erzählt, was einmal passierte; vgl. Kuhn 2011, 229) die dominante narrative Form dar – aufgrund<br />
der Einmaligkeit historisch realer Momente. Daher soll sich mit der Frequenz nicht nähergehend<br />
beschäftigt werden (vgl. Kun 2011, xxx).<br />
36
4.4.1 Ordnung<br />
Nimmt man den „gleichmäßigen, chronologisch-linearen Zeitablauf“ (Kiener 1999, 182) des<br />
filmischen Erzählflusses als medial-narrativen Grundzustand, so bezeichnet man Abweichungen<br />
von dieser sog. „Basiserzählung“ (ebd.) als Anachronien. Diese stellen „Umstellungen<br />
im chronologischen [diegetischen Handlungs-] Ablauf [dar], so dass Einschübe in der<br />
„Erzählung“ sich mit Ereignissen beschäftigen, die aus der Erzählgegenwart der Basiserzählung<br />
(auch ‚Haupterzählung’) herausfallen und die entfernte oder nähere Vergangenheit,<br />
beziehungsweise Zukunft, evozieren.“ (ebd.; Anm. d. V.). Es gibt zwei grundsätzliche Arten<br />
von Anachronien im narratologischen Kontext 30 :<br />
• Prolepsen: Auch Vorausblenden, Prospektiven oder Flash-Forwards genannt.<br />
Prolepsen stellen einen Einschub in die Basiserzählung dar, in der zukünftige respektive<br />
erst später erfolgende Ereignisse der Geschichte vorweg genommen<br />
werden. Es handelt sich also in Relation zur Chronologie der geschichtlichen Ereignisse<br />
um eine erzählerische Vorschau.<br />
• Analepsen: Entsprechen Rückblenden, Retroperspektiven oder Flashbacks. Analepsen<br />
stellen in die Basiserzählung eingeschobene erzählerische Rückgriffe auf<br />
bereits vergangene, geschehene Ereignisse innerhalb der eigentlichen Geschichte<br />
dar.<br />
Beide anachronischen Kategorien lassen sich durch „Reichweite“ und „Umfang“ charakterisieren:<br />
„Eine Anachronie kann sich […], mehr oder weniger weit vom „gegenwärtigen“ Augenblick<br />
entfernen, d.h. von dem Augenblick der Geschichte, wo die Erzählung unterbrochen<br />
wird, um ihr Platz zu machen: Wir werden diese zeitliche Distanz die Reichweite der Anachronie<br />
nennen. Diese kann wiederum eine mehr oder weniger lange Dauer der Geschichte<br />
abdecken: was wir ihren Umfang nennen werden.“ (Genette zit. n. Kuhn 2011,<br />
196).<br />
Sowohl Pro- als auch Analepsen beinhalten verschiedene Unterkategorien, die sich<br />
durch ihre Ausprägung von Reichweite und Umfang beschreiben lassen können. Für diese<br />
Arbeit ist es jedoch zielführend einen prägnanten Überblick über die Formen von Anachronien<br />
zu bieten, ohne spezifische Unterkategorien in die Erörterung mit einzubeziehen.<br />
Temporale Verschachtelungen tragen dazu bei, den chronologischen Aufbau einer<br />
Erzählung hinsichtlich der Dramaturgie attraktiver und interessanter respektive weniger<br />
vorhersehbar zu gestalten. So kann ein zukunftsgewandter Ausblick für den Zuschauer die<br />
30 Grundsätzlich gilt: „… fiktionale und faktuale Erzählungen unterscheiden sich grundlegend weder<br />
durch den Gebrauch von Anachronien, noch durch die Weise, sie zu bezeichnen [im Film kenntlich<br />
zu machen].“ (Genette zit. n. Kiener 1999, 182; Anm. d. V.).<br />
37
Frage aufkommen lassen „Wie wird es dazu kommen?“. Eine Prolepse stellt unter gestalterischen<br />
Gesichtspunkten unter anderem also einen motivatorischen Appell an die Neugierde<br />
des Rezipienten dar, die geschichtliche Entwicklung weiter verfolgen zu wollen. Gleichwohl<br />
müssen Prolepsen mit Bedacht eingesetzt werden, um nicht zu viel Spannung im Voraus<br />
aus der Erzählung zu nehmen, wie Kiener (1999, 206) folgerichtig bemerkt: „Von der<br />
großen Erwartung: ‚was wird passieren‘, bliebe beim Zuschauer […] nichts mehr übrig und<br />
die ‚Erzählung‘ müsste [!] allein mit der Frage ‚wie ist es passiert‘ Spannung erzeugen, was<br />
ungleich schwieriger zu handhaben ist.“ (Ausl. d. V.).<br />
Analepsen können dem gleichen, spannungserzeugenden Zwecke dienen. Bewusst in<br />
die Erzählung gesetzte Auslassungen bilden beim Zuschauer Wissenslücken, zu deren Befriedigung<br />
(motiviert die Neugierde) spätere Rückblenden als aufklärende Segmente dienen<br />
können. Gleichzeitig können Analepsen auch den informativen Hintergrund bzw. Unterbau<br />
zu einem gewissen Sachverhalt bilden.<br />
4.4.2 Dauer<br />
Wie in Kapitel 4.4 angedeutet, beschreibt das zweite Element narrative Dauer der Gestaltungskomponente<br />
„Zeit“, eine Klasse von sog. Anisochronien, welche auf das Verhältnis<br />
zwischen dargestellter Zeit und Darstellungszeit wirken. 31 Kuhn (2011, 213) übernimmt<br />
leicht modifiziert eine Übersicht auf die fünf anisochronischen Grundtypen von Martinez<br />
/Scheffel, die auch für den dokumentarischen Kontext, leicht ergänzt, übernommen werden<br />
kann. Hierbei ist zum Verständnis wichtig, dass die verwendeten Begriffe „discours“ und<br />
„histoire“ den hier etablierten Begriffen Erzählung und Geschichte entsprechen (vgl. Kap.<br />
4.1.1)<br />
„1. Zeitdeckendes Erzählen (szenisches Erzählen; Szene) liegt vor, wenn die dargestellte<br />
Zeit ungefähr der Darstellungszeit entspricht. (Darstellungszeit ≈ dargestellte Zeit).<br />
2. Zeitdehnendes Erzählen (Dehnung) liegt vor, wenn die Darstellungszeit größer ist als<br />
die dargestellte Zeit; der discours ist länger als die histoire. (Darstellungszeit > dargestellte<br />
Zeit)<br />
3. Zeitraffendes Erzählen (Raffung; summarisches Erzählen; Summary) liegt vor, wenn die<br />
Darstellungszeit kleiner ist als die dargestellte Zeit; der discours ist kürzer als die histoire.<br />
(Darstellungszeit < dargestellte Zeit)<br />
4. Eine Ellipse (Zeitsprung; Auslassung) liegt vor, wenn ein beliebig großer Teil der histoire<br />
übersprungen wird; der discours steht still, die histoire geht weiter. (Darstellungszeit = 0;<br />
dargestellte Zeit beliebig groß)<br />
31 Sie stellen ein zu erörterndes Gestaltungselement dar, aber eine tiefergehende narratologische<br />
Erörterung im Kontext dieser Arbeit erscheint nicht zielführend, da bereits eine prägnante<br />
Darstellung zum ausreichenden Verständnis beiträgt.<br />
38
5. Eine (deskriptive) Pause liegt vor, wenn der discours weitergeht, während die histoire<br />
stillsteht. (Darstellungszeit beliebig groß; dargestellte Zeit = 0)“.<br />
Der Einsatz dieser Grundtypen entspricht einer Modulation des Erzählrhythmus und<br />
der Erzählgeschwindigkeit, ist also vor allem auf konzeptionell-narrativer Ebene von entscheidender<br />
Bedeutung zur Strukturierung der Erzählung. Der Dokumentarist kann mit ihrem<br />
Einsatz relevante Sachverhalte und Ereignisse durch eine längere Darstellungszeit intensiver<br />
behandeln und demnach in Relation zur Gesamtspiellänge des Films betonen.<br />
Durch die sinnvolle Aufteilung der Darstellungszeit setzt er einen inhaltlichen Fokus;<br />
Ihm wichtig erscheinende Dinge erhalten mehr Zeit, unwichtigere Dinge weniger. Praktisch<br />
setzt ein Filmemacher diese Fokussierungen innerhalb der Montage um.<br />
39
5 Die formal-kinematografische Ebene<br />
Trotz der vielen Unvorhersehbarkeiten die dem dokumentarischen Arbeiten aus Sicht des<br />
Dokumentaristen innewohnen, steht ihm auf der konkretesten aller Gestaltungsebenen,<br />
der formal-kinematografischen, ein definierbares Set audiovisueller Gestaltungsprinzipien<br />
zur Verfügung. Auf diese kann er im Sinne seines narrativ-dramaturgischen Konzeptes zurückgreifen.<br />
Denn „obwohl eine umfassende Definition des Dokumentarfilms kaum zu finden<br />
ist, gibt es doch eine Anzahl von allgemeinen Feststellungen, die wir heranziehen können,<br />
beginnend mit den Techniken und Konstruktionsmethoden, die den ästhetischen Umriss<br />
eines Dokumentarfilms bestimmen.“ (Rabiger 2008, 62; Einf. d. V.).<br />
Die formalen Gestaltungsprinzipien beruhen dabei auf den medienspezifischen Eigenheiten<br />
des Films. Neben der reinen Bildgestaltung gilt es ebenso die auditive Ebene zu<br />
gestalten. Alle im Vorfeld der Produktionsphase getroffenen Entscheidungen auf Regie- und<br />
konzeptionell-narrativer Ebene manifestieren sich letztlich in den Bildern und Tönen, die in<br />
der Drehphase „gesammelt“ bzw. gedreht wurden. In der finalen Montage in einer einmaligen<br />
Konstellation komponiert, stellen sie für den Zuschauer das einzig nachvollziehbare<br />
Zeugnis des dokumentarischen Entscheidungsprozesses dar.<br />
5.1 Intradiegetische kinematografische Erzählmittel<br />
Bevor nachfolgend im Detail erörtert wird, welche intradiegetische Gestaltungs- Elemente<br />
dem Dokumentaristen zur Verfügung stehen soll Abbildung 5 einen Überblick über diese<br />
geben:<br />
Abbildung 5: Intradiegetische Gestaltungskomponenten und ihre Elemente. 32<br />
32 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
40
Es wird deutlich, dass die Gestaltungsmöglichkeiten auf der intradiegetischen Ebene<br />
fast ausschließlich auf das Aufnahmeverfahren mittels Kamera und Mikrofon fokussiert<br />
sind. Der Gestaltungskanon öffnet sich erst durch den Sprung von dieser zur extradiegetischen<br />
Erzählebene. Gleichzeitig stellt jedoch die filmtechnische Aufnahme das Basiskonstrukt<br />
eines Dokumentarfilms dar.<br />
5.1.1 Dokumentarisches Filmen als narratives Basiskonstrukt<br />
5.1.1.1 Die Kamera-Arbeit<br />
Allen voran stellt die mit Kamera und Mikrofon aufgezeichnete historisch reale Wirklichkeit<br />
und deren anschließende Strukturierung des gefilmten Materials in der Montage die elementare<br />
Erzählebene bzw. die Basiserzählung (vgl. Kap. 4.4.1) des fertigen Films dar. Kamera<br />
und Tonequipment dienen als technische Hilfsmittel um die vorgefundenen Umstände<br />
der Wirklichkeit zu konservieren.<br />
In diesen Situationen steht ebenfalls stark die Regiearbeit des Dokumentaristen im<br />
Vordergrund. Es gilt die richtige Balance zwischen dem filmtechnischen Aufnahmeprozess<br />
und dem gleichzeitigen Umgang mit den Protagonisten, welche Teil der dokumentierten<br />
Realität sind, zu finden. Anders ausgedrückt muss der Dokumentarist den Stil, wie er sein<br />
Team mit den Protagonisten „vor der Kamera“ arbeiten lässt, von seinem Konzept ableiten<br />
und entsprechend anwenden. So kann Wirklichkeit mittels Kamera und Mikrofon eher partizipatorisch-beobachtend<br />
(Stilrichtung direct cinema) oder aber inszenatorisch-evozierend<br />
(Stilrichtung camera veritè) dokumentar-filmisch festgehalten werden. Diese Stilausrichtung<br />
hat grundlegenden Einfluss darauf, wie der Zuschauer später das gezeigte aufnimmt. 33<br />
Entgegen der Vorgehensweise im Spielfilm ist es im Dokumentarfilm häufig nicht<br />
möglich, im Vorfeld ein Story-Board mit klaren Kameraeinstellungen zu erstellen und dieses<br />
dann „abzudrehen“. Denn zum einen existiert oftmals nur eine grobe Vorstellung von den<br />
zu dokumentierenden Ereignissen und zum anderen kann die angetroffene Realität je nach<br />
Stilrichtung eben nicht wie im Spielfilm choreografiert werden. Diese Wissenslücken und<br />
die Unplanbarkeit der Realität können durch handwerkliche Erfahrung und eine intuitive<br />
Kameraarbeit kompensiert werden. Grassl (2007, 99) zitiert dazu aus einem Interview mit<br />
Husman sehr treffend:<br />
33 Zwar spielen die Stilrichtungen eine entscheidende Rolle im Dokumentarfilm, allerdings soll mit<br />
dem in dieser Arbeit verfolgten, stilübergreifenden Ansatz eine detaillierte Ausdifferenzierung der<br />
einzelnen Stilrichtungen und dokumentarischen Spielarten bewusst vermieden werden. Lipp<br />
(2012) und Rabiger (2008) werden hier dem interessierten Leser für eine vertiefende Lektüre<br />
empfohlen.<br />
41
„Ein guter Dokumentarfilmkameramann ist so sensibel [!] dass er sich ohne Regieanweisungen<br />
intuitiv der Realität, die er vorfindet, anpasst. Er muss sensibel sein für dass [!]<br />
was die Wirklichkeit ausstrahlt. Diese Ausstrahlung der Wirklichkeit ist dann durch einen<br />
bestimmten Rhythmus und eine Perspektive in den Bildern zu erkennen“.<br />
Der Dokumentarist muss sich entsprechend (ggf. mit seinem Kameramann) überlegen,<br />
welche Ästhetik die Bildgestaltung mit der Kamera erzielen soll. Dabei stellt die aktive<br />
Gestaltung des Bildausschnittes und verschiedener anderer technischer Parameter während<br />
des Drehens eine klare Reaktion auf die in der Realität vorgefundenen situativen Gegebenheiten<br />
dar, wie mit Husman bereits gesagt wurde. 34 Das eigentliche Motiv, die Wirklichkeit<br />
ist maßgebend für die filmische Gestaltung. Am Drehort ablaufende Ereignisse,<br />
Menschen respektive Protagonisten, kleine gegenständliche Details und auch die Lichtverhältnisse,<br />
müssen in den konzeptionellen Kontext eingeordnet, gewichtet und entsprechend<br />
filmtechnisch behandelt werden. Die natürlich vorgefundene „Mise-en-scène“ prägt<br />
also auch in formal-ästhetischer Hinsicht die intradiegetische Erzählebene des Dokumentarfilms.<br />
5.1.1.2 Original-Ton-Aufnahmen<br />
Die auditiven Gestaltungselemente innerhalb der intradiegetischen Erzählebene verhalten<br />
sich analog zu den visuellen Elementen, genauso wie das Mikrofon das komplementäre<br />
Pendant der Kamera ist. Der originale Synchronton während einer Aufnahme stellt ein<br />
wichtiges Element für die Wiedergabe eines gefilmten Motivs dar. Er lässt die dargestellte<br />
Welt für den Zuschauer erklingen, macht sie hörbar. Wie im Beispiel der ersten, einleitenden<br />
Szene von WORKINGSMAN‘S DEATH (D/A, 2005) kann der Synchronton sogar zum dominierenden<br />
intradiegetischen Element avancieren. Dann etwa, wenn auf der visuellen Ebene<br />
durch die Kamera bestimmte Dinge bewusst ausgelassen werden, aber gleichzeitig doch zu<br />
hören sind. Dies regt die Vorstellungskraft des Zuschauers an und kann dargestellte Ereignisse<br />
sogar verstärken. Schadt (2012, 83) beschreibt diese Art der audiovisuellen Komposition<br />
wie folgt:<br />
„Nichts ist für den Zuschauer langweiliger und ermüdender, als alles im On gezeigt oder<br />
erklärt zu bekommen. Identifikation und Spannung werden im Gegenteil dadurch erzeugt,<br />
dass man dem Zuschauer (Bild-) Informationen bewusst vorenthält damit er, der<br />
alles verstehen will, sie dann selbst kombinieren muss. Dramaturgie heißt vor allem, die<br />
Fantasie des Zuschauers exakt dahingehend zu aktivieren Neugierde zu wecken, indem<br />
man genau überlegt und entscheidet, was im On ist und was im Off. Das betrifft gleichermaßen<br />
Ton und Bild […]“ (Ausl. d. V.).<br />
34 Die Erörterung dieser Parameter im Detail bildet einen eigenen Bereich innerhalb der<br />
Filmwissenschaft und würde demnach den Rahmen dieser Arbeit überschreiten.<br />
42
Zu dieser auditiven Kategorie des Original-Tons müssen auch Gespräche gezählt werden,<br />
die mitunter wichtige Informationen über die Handlung im Film preisgeben können.<br />
Sie werden nicht evoziert, sondern ergeben sich beim dokumentarischen Filmen als situatives<br />
Ereignis.<br />
5.1.2 Verbalsprachliche Erzählung im „On“<br />
Eine ausgesprochen wichtige Komponente auf der intradiegetischen Erzählebene sind verbalsprachliche<br />
Erzählungen, vornehmlich in Form von On-Kommentaren und eingerichteten<br />
Interviewsituationen. Bei beiden Elementen handelt es sich – im Unterschied zu rein situativ<br />
entstandenen Gesprächen zwischen verschiedenen Protagonisten vor der Kamera – um<br />
interaktive Situationen zwischen Protagonisten und Filmemachern, welche derartigen Situationen<br />
bewusst evoziert haben. Zum einen wird dadurch natürlich der stattfindende Akt<br />
des dokumentarischen Filmens „enttarnt“. Zum anderen bieten diese gestalteten Situationen<br />
dem Dokumentaristen die Möglichkeit, innerhalb der Diegese authentische, oftmals<br />
unverfälschte Kommentare von den Protagonisten einzuholen. Die beiden beschriebenen<br />
Situationen stellen die originärsten Möglichkeiten für den Protagonisten dar, durch verbalsprachliche<br />
Kommunikation direkt mit den Zuschauern respektive mit dem Dokumentaristen<br />
als deren moderierende Stellvertreter in Kontakt zu treten und Gedanken, Meinungen<br />
und Gefühle zum Ausdruck zu bringen.<br />
On-Kommentare können vom Dokumentaristen evoziert werden, wenn er während<br />
des dokumentarischen Filmens an einen Punkt gelangt, an dem er es für sinnvoll erachtet,<br />
den Protagonisten zu bitten, die aktuelle Situation zu kommentieren. Was folgt, ist eine<br />
Kommentierung der jeweiligen Umstände, Handlungen und Ereignisse spontan und unverfälscht<br />
durch den gefilmten Menschen vor der Kamera. Derartige Einstellungen wirken dynamisch<br />
und „filmisch“ (Schadt 2012, 168) – allerdings sind sie auch für das Filmteam anspruchsvoller,<br />
weil sie komplexer in der Vorbereitung und Durchführung sind.<br />
Aus narrativ-konzeptioneller Sicht sind On-Kommentare durch ihren deskriptivsituativen<br />
Charakter in der erzählerischen Gegenwart eines Films verankert. Sie beschreiben<br />
oftmals das, was „jetzt“ für den Zuschauer innerhalb der Szenerie zu sehen ist. Allerdings<br />
sind durchaus Szenen denkbar, in denen der Protagonist vor der Kamera einer Tätigkeit<br />
nachgeht, diese verbalsprachlich beschreibt und innerhalb dieser Beschreibung Rückbezüge<br />
zu vergangenen oder in der Zukunft liegenden Ereignissen herstellt, welche nicht<br />
mit der Kamera gefilmt wurden bzw. werden können.<br />
Dem entgegen gibt es eine zweite Variante, die oftmals mit dem Begriff Talking<br />
Heads beschrieben wird: Die klassische vorbereitete Interviewsituation in der sich der Pro-<br />
43
tagonist statisch vor der Kamera befindet und mit dem Dokumentaristen spricht, welcher<br />
selbst nicht sichtbar hinter/neben der Kamera sitzt oder auch im Bild zu sehen ist.<br />
„Kritisiert wird dabei mitunter, diese sogenannten Talking Heads seien unfilmisch, da oft<br />
zu statisch und im Bildaufbau nur wenig attraktiv. Das mag in vielen Fällen richtig sein,<br />
doch ich persönlich finde, die Priorität während eines Interview liegt zuerst einmal auf<br />
dem, was der Protagonist wie erzählt.“ (Schadt 2012, 168).<br />
Eingerichtete Interviewsituationen bieten dem Dokumentaristen, stärker noch als<br />
On-Kommentare, die Möglichkeit bereits vergangene Sachverhalte, welche nicht mit der<br />
Kamera dokumentarisch eingefangen werden konnten, aufzuarbeiten und in die Gegenwart<br />
des dokumentarischen Erzählstrangs zu holen. „So kann die Darstellung von wichtigen Ereignissen<br />
[in der nicht gefilmten Vergangenheit der Diegese] nachgeholt werden.“ (Grassl<br />
2007, 97; Erg. d. V.).<br />
Die verbal-sprachliche Erzählung stellt in Hinsicht auf die Konstitution der filmischen<br />
Erzählung einen wichtigen – oft fundamentalen – Bestandteil der diegetischen Erzählrede<br />
dar.<br />
5.2 Extradiegetische kinematografische Erzählmittel<br />
Auf der extradiegetischen Erzählebene, also der Ebene die nicht Bestandteil der erzählten<br />
Welt ist, stehen folgende in der Übersichtsgrafik aufgereihten Erzählmittel zur Verfügung:<br />
Abbildung 6: Kinematografische Erzählmittel auf der extradiegetischen Ebene 35<br />
35 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
Auf den komplexen Bereich der extradiegetischen Musikuntermalung im Dokumentarfilm soll in<br />
Anbetracht des Rahmens dieser Arbeit nicht eingegangen werden.<br />
44
5.2.1 Visuelle extradiegetische Erzählmittel<br />
5.2.1.1 Fremd- und Archivmaterial<br />
Unter Fremd- und Archivmaterial können wie Abbildung 6 zeigt, weitgehend alle<br />
Formen filmischen oder fotografischen Materials verstanden werden, das nicht vom Dokumentaristen<br />
selbst hergestellt wurde, von diesem aber für die Fortführung der diegetischen<br />
Erzählrede in der Montage zum eigens gedrehten Material hinzugezogen wird. Hierunter<br />
kann man beispielsweise Einspieler von Nachrichten, TV-Beiträgen und generell Bewegt-<br />
Bildmaterial der verschiedensten Epochen und Quellen verstehen. Bei Personenportraits<br />
bietet sich so zum Beispiel auch die Verwendung von privaten Videoaufnahmen des Protagonisten<br />
an. Aber auch Fotografien jedweder Art und Dokumente (Papiere, Magazin-Cover,<br />
Zeitungsartikel etc.) können die Erzählung im Detail pointieren, ergänzen und mit „narrativer<br />
Substanz“ unterfüttern.<br />
Oftmals wird solches Material „mit einer Kamera abgefilmt, die sich auf das Foto<br />
[bzw. das Material] zu, von ihm weg oder quer darüber bewegt, um es lebendiger zu machen.“<br />
(Rabiger 2008, 63; Erg. d. V.). Auch eine simple Montierung zwischen verschiedene<br />
Szenen oder Sequenzen selbstgedrehten Materials der Basiserzählung ist eine gängige<br />
Möglichkeit zur Einbindung: Zum Beispiel spricht ein Protagonist und währenddessen wird<br />
Videomaterial aus seiner Jugend, von der er erzählt, eingeblendet. 36<br />
Es wird deutlich: Die Verwendungsmöglichkeiten von externen Materialquellen sind<br />
nahezu unbegrenzt. Alles was in einen Film (audio-) visuell montiert werden kann, ist theoretisch<br />
verwendbar. Der damit einhergehende potenzielle narrative Mehrwert ist im dokumentarischen<br />
Kontext sehr hoch. Dies liegt in der Natur des Dokumentarfilms: Eine Filmgattung,<br />
die einen historisch realen Sachverhalt zu dokumentieren versucht, kann jedwede<br />
Form historisch realen Materials hinzuziehen, um die relevanten Zusammenhänge der<br />
Wirklichkeit glaubhaft darzustellen sowie die eigene Filmthese und Argumentation untermauern<br />
zu können. Rabiger (2008, 68 ff.) benutzt eine einprägsame Analogie, in der er den<br />
36 Ein Beispiel: Im Dokumentarfilm WAR PHOTOGRAPHER (CH, 2001) befindet sich auf der Kamera des<br />
im Mittelpunkt des Films stehenden Kriegsfotografen James Nachtwey eine Minikamera, die die<br />
Arbeit Nachtweys aus der subjektiven Ich-Perspektive darstellt. Aus dieser Perspektive kann der<br />
Zuschauer immer wieder im Film sehen, wie Nachtwey den Auslöser der Kamera drückt,<br />
woraufhin das gerade „live“ geschossene Foto filmtricktechnisch vor schwarzem Hintergrund in<br />
seiner finalen Gestalt eingeblendet wird. Hier findet eine Transformation statt. Intradiegetisch<br />
konstituiertes Fotomaterial wird vom Erzähler der Geschichte, also dem Dokumentaristen, auf<br />
einer nur für das Publikum einsehbaren, extradiegetisch Ebene eingebunden. Somit wird das<br />
intradiegetisch produzierte Foto zu einem extradiegetisch-homodiegetischen Erzählmittel (vgl.<br />
Kap. 4.3.2).<br />
45
Dokumentarfilm mit einem Gerichtsprozess vergleicht. Hierbei weist er auf die notwendige<br />
„Qualität von Beweismitteln“ (2008, 68) hin:<br />
„Die Vokabeln, mit denen Historiker und Kritiker oft über den Dokumentarfilm sprechen<br />
– „Zeugnis ablegen“, „dokumentieren“, „aussagen“, „beweisen“ – legen die Vermutung<br />
nahe, dass ein Dokumentarfilm einem Publikum zur Beurteilung vorgelegt wird wie Beweismittel<br />
einem Gericht.“.<br />
Dies stellt für Rabiger einen großen Anspruch an den Dokumentaristen in der „Beweisführung“<br />
dar, die eine selbstkritische Betrachtung der „Beweise“ erfordert: 37<br />
„Wie authentisch und glaubhaft sind die Dokumente, Bilder, Erinnerungen oder Aufzeichnungen,<br />
die bei der Beweisführung verwendet werden (sind z.B. die Dokumente<br />
Originale oder Fotokopien).“. (2008, 70).<br />
Die Verwendung von Fremd- und Archivmaterialien kann also je nach Thematik des Dokumentarfilms<br />
sowie der Vision und Haltung des Regisseurs ausgesprochen sinnvoll sein.<br />
Es gibt zudem noch eine weitere Form der Materialverwendung, welche aufgrund ihrer<br />
filmischen Einbindung komplexer einzuordnen ist.<br />
5.2.1.2 Grafische Elemente<br />
Hauptunterscheidungskriterium von grafischen Elementen zu Fremd- und Archivmaterial<br />
ist, dass diese Komponenten filmtricktechnisch erstellt werden. Das heißt, sie abstrahieren<br />
die historisch reale Welt und spiegeln sie in Form virtueller Bilder wieder. Obwohl hier die<br />
Deutungs- und Definitions-Linien teilweise unscharf werden, kann davon ausgegangen<br />
werden, dass das Archivmaterial die gefilmte, historisch reale Welt darstellt und Animationen<br />
einen abstrakteren Sachverhalt deskriptiv abbilden. Auch Untertitel oder Titeleinblendungen<br />
zählen zu dieser Form der visuellen extradiegetischen Erzählmittel.<br />
So werden zum Beispiel im Dokumentarfilm GOD GREW TIRED OF US (USA, 2006) sowohl<br />
Archivbilder als auch Animationen verwendet, um die dramatische Flucht der verfolgten<br />
„Lost Boys“ aus dem Süd-Sudan nach Äthiopien und anschließend nach Kenia nachzuzeichnen.<br />
Ursachen des sudanischen Bürgerkrieges in den 1980er Jahren werden weitgehend<br />
in einer Kombination aus Off-Kommentaren (vgl. Kap. 5.2.2) und Archivmaterial erklärt.<br />
Um die aus der kriegerischen Auseinandersetzung resultierende Flucht der „Lost<br />
Boys“ zu verbildlichen, werden zu den beiden Erzählmitteln Animationen hinzugezogen, die<br />
von den Dokumentaristen augenscheinlich nur für diesen Zweck produziert wurden. Die<br />
37 Zugleich hat sich der Dokumentarist laut Rabiger (ebd.) auch seiner eigenen Haltung gegenüber<br />
kritisch zu positionieren. Für ihn gelte, alle Seiten zu berücksichtigen und nicht nur die eigene<br />
Meinung mit Beweisen zu unterfüttern: „Da der Filmemacher zugleich Anklage, Verteidigung und<br />
Richter repräsentiert, ist es wichtig, dass Sie alle relevanten Informationen und Standpunkte<br />
wiedergeben und nicht nur diejenigen, die Ihre eigenen Vermutungen bestätigen, vor allem dann,<br />
wenn Sie komplexe und widersprüchliche Sachverhalte schildern.“.<br />
46
Animationen zeichnen prägnant den zurückgelegten Fluchtweg der „Lost Boys“ nach und<br />
bieten dem Zuschauer somit eine wichtige Orientierung, um die extradiegetisch nacherzählte,<br />
intradiegetische Flucht der Protagonisten nachvollziehen zu können.<br />
Ihre Verwendung richtet sich direkt an den Zuschauer und dient vornehmlich zur<br />
Vereinfachung der Rezeption. So kann der Rezipient auf einen Blick einen abstrakten Zusammenhang<br />
verstehen (Infografiken etc.) sowie Sprachbarrieren in Kommentar- und Interviewsituationen<br />
überwinden (Untertitel). Hier dient die extradiegetische Erzählebene<br />
dem erzählenden Dokumentaristen als Basis für den Einsatz von Hilfsmitteln, die den Erzählfluss<br />
für den Zuschauer zugänglicher gestalten. Sie ergänzen, erörtern oder vereinfachen<br />
narrative Elemente, um eine insgesamt flüssigere Narration zu ermöglichen.<br />
5.2.2 Off-Kommentare als extradiegetisches Erzählmittel<br />
Im dokumentarischen Kontext unterteilen sich Off-Kommentare in zwei Kategorien. Zum<br />
einen werden Voice-Off-Kommentare eingesetzt, deren Ursprung intradiegetisch ist. Es<br />
wurden also Protagonisten durch die dokumentarischen Filmarbeiten zumindest auditiv<br />
aufgenommen. Jedoch ist die Quelle des Kommentars zum Zeitpunkt ihrer auditiven Einspielung<br />
nicht im Bild oder gar in der aktuellen Szene zu verorten.<br />
Zum anderen gibt es Voice-Over-Kommentare, deren Ursprung klar außerhalb der<br />
Diegese liegt, vornehmlich also durch die Filmemacher konstituiert wurde. Den Kommentarformen<br />
ist gemein, dass „in beiden Fällen […] der Ursprung der Stimme in dem Moment<br />
nicht zu sehen ist (≈ off-screen), in dem die Stimme zu hören ist. Letzteres Faktum unterscheidet<br />
beide Formen von szenischem Voice-on [≈ On-Kommentar, s. 5.1.2] bzw. inszeniertem<br />
Sprechen.“ (Kuhn 2011, 188; Ausl. u. Einf. d. V.).<br />
Der Einsatz von Voice-Off- bzw. Voice-Over-Kommentaren bedingt ihre Kombination<br />
mit Material, welches nicht Quelle ihres Ursprungs ist. Dies impliziert, dass entweder ein<br />
Kommentar die zu sehenden Bilder (dokumentarische Aufnahmen, Fremdmaterialien o.<br />
grafische Elemente) ergänzend mit Informationen anreichern soll oder aber, dass die Bilder<br />
als Visualisierung des gesprochenen Textes zu interpretieren sind.<br />
Ob generell das Verhältnis zwischen Bild- und Ton-Ebene komplementär, kontrapunktierend<br />
oder paraphrasierend ist, hängt von der Intention des Erzählers sowie seiner<br />
Vision und Haltung zur Thematik ab. Satirische Off-Kommentare von Michael Moore in seinem<br />
Film BOWLING FOR COLUMBINE (USA, 2001) zur widersprüchlichen US-Waffenpolitik erzielen<br />
eine gänzlich andere Wirkung als sehr ernste Protagonisten-Kommentare aus dem Off,<br />
wenn es im Film WAR PHOTOGRAPHER um die Erlebnisse Nachtweys in Süd-Afrika geht, wo ein<br />
Kollege quasi in seinen Armen starb.<br />
47
5.2.3 Montage<br />
Wie in Kapitel 4 bereits angedeutet wurde, konstituiert der Dokumentarist erst in der Montage<br />
die eigentliche filmische Erzählung. In dieser Phase der Postproduktion organisiert,<br />
selektiert, strukturiert und kombiniert er die gefilmten bzw. von externen Quellen bezogenen<br />
Materialschnipsel und formt aus diesen die konkreten Bestandteile seines Dokumentarfilms.<br />
Dabei stellen alle zusammengetragenen visuellen, wie auditiven Elemente, komplexe<br />
Bausteine sowohl in inhaltlicher wie auch kinematografischer Hinsicht dar. Aus Sicht<br />
des Dokumentaristen gilt es, sie in einen adäquaten semantischen Zusammenhang nach<br />
syntaktisch-formalen Regeln der Filmgestaltung zu bringen. Wie ein Romanautor, der aus<br />
einzelnen Wörtern inhaltliche Bedeutungseinheiten kreiert, bildet auch der Dokumentarist<br />
aus einzelnen Einstellungen und Tonaufnahmen ein höheres, sinnergebendes Ganzes. Denn<br />
„Bilder wie Worte erhalten ihre Bedeutung erst im Kontext“ (Krieg zit. n. Grassl 2007, 70), in<br />
den sie vom initiierenden Erzähler gebracht werden. Gibt es beim Konstruieren einer belletristischen<br />
Erzählung „nur“ die Zeichenebene der Wörter und ihrer unzähligen semantischen<br />
Kombinationsmöglichkeiten, stehen dem Autor eines (Dokumentar-) Films gleich zwei<br />
komplexe kinematografische Zeichensysteme auf visueller sowie auditiver Ebene zur Verfügung.<br />
Die Formen ihres möglichen Wechselspiels steigern zusätzlich die Komplexität. „Die<br />
Montage ist demnach eine weitere vermittelnde kommunikative [extradiegetische] Handlung<br />
des Erzählers, die alle kinematografischen Elemente des Films zu einem Werk bzw.<br />
einer Geschichte vereint […]“ (Grassl 2007, 101; Ausl. u. Anm. d. V.).<br />
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich der Dokumentarist als Regisseur<br />
selbstkritisch mit seiner Film-Idee als auch mit dem Material auseinandersetzt.<br />
„Um herauszufinden, welcher Film im Material verborgen liegt, wie das Gesetz des Materials<br />
lautet, müssen Grundsatzfragen beantwortet werden: Was will ich erzählen? Was<br />
kann ich – in genauer Kenntnis des Materials – überhaupt erzählen? Das muss nicht unbedingt<br />
identisch sein. Deshalb muss weitergefragt werden: Was kann das Material erzählen,<br />
was kann es nicht erzählen, was will es erzählen?“ (Schadt 2012, 192).<br />
Diese selbstkritische Prüfung der eigenen Vision als auch der Möglichkeiten, die das Material<br />
bietet – sowie die Relation zwischen den beiden Polen – ist entscheidend um „den<br />
bestmöglichen Film“ (Schadt 2012, 193) aus dem vorhanden Material „extrahieren“ zu können.<br />
48
6 Im Netz der Medienkonvergenz<br />
6.1 Definitorische Einordnung<br />
„’Why do we have to define it yet?’ asks indie filmmaker Lance Weiler. ‘Why can`t we just<br />
continue to experiment?’ Because, says TV writer-producer Jesse Alexander (Lost and<br />
Heroes) ‘You have to give it a name so people can talk about it. Isaac Newton didn’t discover<br />
gravity, he named it.’” (@3).<br />
Ebenso wie im eben angeführten Zitat ist Jenkins (2006) der Auffassung, die <strong>Transmedia</strong>lität<br />
nicht „entdeckt“, sondern dieses Phänomen und seine möglichen Implikationen<br />
und Potenziale zum ersten Mal beschrieben zu haben (vgl. Kap. 1.1). So definierte er 2006<br />
(97-98) zum ersten Mal den Kern der transmedialen Erzählung: 38<br />
„A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making<br />
a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedia storytelling,<br />
each medium does what it does best — so that a story might be introduced in a<br />
film, expanded through television, novels, and comics; its world might be explored<br />
through game play or experienced as an amusement park attraction. Each franchise entry<br />
needs to be self-contained so you don’t need to have seen the film to enjoy the game,<br />
and vice versa.”<br />
Dabei konnte er gleichzeitig eine erste Unterscheidung zwischen den bis dato vorherrschenden<br />
crossmedialen Medienprojekten in der elektronischen Unterhaltungsindustrie<br />
ziehen. Im Gegensatz zu transmedialen Erzähltechniken stellen diese Produktionstechniken<br />
mit jeder hinzukommenden medialen Erzähleinheit keinen neuen narrativen Inhalt<br />
bereit und erweitern demnach auch nicht die diegetische Welt. In crossmedialen Medienproduktionen<br />
wird der gleiche Inhalt auf mehrere Medien projiziert. Die Geschichte wird<br />
also lediglich auf mehreren Plattformen adaptiert (vgl. Kap. 1.4). So hält Iacobacci (@6)<br />
fest: „In a crossmedia environment, content is repurposed, diversified and spread across<br />
multiple devices to enhance, engage und reach as many users/viewers as possible. It is<br />
common to call crossmedia ‚content 360‘”.<br />
Auch Jenkins (@10) unterscheidet klar zwischen crossmedialen und transmedialen<br />
Produktionen in der Unterhaltungsindustrie:<br />
„We need to distinguish between adaption, which reproduces the original narrative with<br />
minimum changes into a new medium and is essentially redundant to the original work,<br />
and extensions, which expands our understanding of the original by introducing new elements<br />
into the fiction“.<br />
38 Bereits 2003 notierte Jenkins: “This past month, I attended a gathering of top creatives from<br />
Hollywood and the games industry, hosted by Electronic Arts; they were discussing how to<br />
collaboratively develop content that would play well across media. This meeting reflected a<br />
growing realization within the media industries that what is variously called transmedia,<br />
multiplatform, or enhanced storytelling represents the future of entertainment.” (@4).<br />
49
Was jedoch crossmediale und transmediale Erzählungen gemeinsam haben, ist, laut<br />
Iacobacci, ihr multimedialer „Charakter. „Both crossmedia and transmedia are obviously<br />
multimedia approaches, using largely of any available channel, tool and media to tell a story.“<br />
(@6). Es kann also für die Erörterungen in dieser Arbeit festgehalten werden:<br />
• Crossmediale Medienproduktionen transportieren denselben narrativen Inhalt<br />
medienspezifisch auf mehreren Medien verteilt. Die gleiche Geschichte, der gleiche<br />
Content wird auf verschiedenen Medientypen aufbereitet. Dabei kommt es<br />
nur zu minimalen narrativen Abweichungen von der ursprünglichen Diegese. Es<br />
handelt sich also um eine Adaption.<br />
• Beide Ansätze, crossmedial und transmedial, sind multimediale Phänomene der<br />
Medienkonvergenz. Die Grenzen zwischen beiden Narrations-Formen ist oftmals<br />
noch unscharf und die Übergange weitgehend fließend. Dies liegt am noch experimentellen<br />
Stadium solcher Produktionen (vgl. Kap. 1.3).<br />
• In rein transmedialen Medienproduktionen werden hingegen etablierte Geschichten<br />
und die sie umrahmenden Welten (Diegese) durch jedes hinzukommende<br />
Medium narrativ erweitert oder ergänzt.<br />
6.2 Vorbedingungen für eine sinnvolle <strong>Transmedia</strong>lisierung<br />
Bedenkt man, dass bereits THE MATRIX (USA, 1999) vor mehr als 12 Jahren eine diegetische<br />
Welt etablierte, die beispielsweise durch Spiele, kurze Animationsfilme und eine lebhafte<br />
Web-Community transmedial erweitert wurde (vgl. Jenkins 2006, 103 ff.), ist diese Entwicklung<br />
im dokumentarischen Kontext vergleichsweise jung. Selbst im fiktionalen Filmbereich<br />
konnten sich nur wenige Story-Welten etablieren, die durch transmediale Erzählungen immer<br />
weiter ausgebaut wurden. So merkt Bordwell kritisch an:<br />
„There aren’t that many films/franchises that generate profoundly devoted fans on a<br />
large scale: The Matrix, Twilight, Harry Potter, The Lord of the Rings, Star Wars, Star Trek,<br />
maybe The Prisoner. These items are a tiny portion of the total number of films and TV<br />
series produced. It’s hard to imagine an ordinary feature, let alone an independent film,<br />
being able to motivate people to track down all these tributary narratives. There could be<br />
a lot of expensive flops if people tried to promote such things.” (@9).<br />
Bei den von Bordwell erwähnten, transmedial ausgebauten Story-Universen handelt es sich<br />
fast nur um Vertreter des Fantasy- oder Science-Fiction-Genres. Das heißt, dass nicht nur<br />
diese Genres die Möglichkeit für transmediale Narrationen bieten. Jenkins bemerkt: “[the<br />
transmedia] approach lends itself to a broader array of genres than simply the fantasy and<br />
science fiction franchises that have been its primary home to date.” (@11; Erg. d. V.).<br />
50
Bekanntlich beruhen die Filmereihen von TWILIGHT (USA, 2008), HARRY POTTER<br />
(USA/UK, 2001) und THE LORD OF THE RINGS (USA/NZ, 2001) auf mehreren Romanen, welche<br />
anschließend verfilmt wurden. Obwohl sie ihren Ursprung in der Literatur haben, erlangten<br />
diese Story-Welten erst über das Medium Film einen hohen Bekanntheitsgrad innerhalb<br />
der Popkultur und begeisterten Millionen Menschen. Hinter THE MATRIX (USA, 1999 - 2003)<br />
oder STAR WARS (USA, 1977 - 2005) stehen sogar bekannte Story-Universen, die einem rein<br />
(TV-) filmischen Ursprung entwachsen sind.<br />
Es kann daher konstatiert werden, dass erst das Aufkommen filmischer Ableger den<br />
bis dahin nicht sehr populären Story-Welten zu einem derart breiten Publikum verholfen<br />
haben. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass (Kino-)Filme im Rahmen einer<br />
transmedial erzählten Story-Welt eine Schlüsselrolle einnehmen. Es liegt die Vermutung<br />
nahe, dass sie über das Potenzial verfügen, eine populäre Basis zu schaffen, auf der transmediale<br />
Erzählungen aufbauen können. In dieser Rolle agieren sie als initiierende Primärwerke,<br />
die eine Geschichte öffentlichkeitswirksam etablieren. 39<br />
Jenkins zufolge liegt Bordwells Beobachtung, es gäbe nicht viele erfolgreiche transmedialer<br />
Story-Welten, zu Grunde, dass nur wenige Filme auch eine komplexe, faszinierende<br />
diegetische Welt ausbreiten und erzählen, sondern sich vielmehr eher auf charakter-<br />
oder handlungsorientierte Geschichten konzentrieren:<br />
„For me, the core aesthetic impulses behind good transmedia works are world building<br />
and seriality. For this reason, the transmedia approach enhances certain kinds of works<br />
that have been udged [!] harshly by traditional aesthetic criteria because they are less<br />
concentrated on plot or even character than more classically constructed narratives.”<br />
(@11).<br />
Aus diesen von Jenkins formulierten Kerneigenschaften und der zuvor getroffenen Feststellung,<br />
dass Filmen in vielen populären Fällen eine etablierende Schlüsselrolle zukommt –<br />
auch Jenkins bezieht sich öfters auf ein solches „mother ship, the primary work which anchors<br />
the franchise“ (@10; Herv. d. V.) – kann für die nachfolgenden Betrachtungen geschlussfolgert<br />
werden:<br />
• Als Ausgangspunkt für eine <strong>Transmedia</strong>lisierung einer dokumentarischen Erzählung,<br />
sollte ein Primärwerk eine Thematik unserer Wirklichkeit in Form einer ver-<br />
39 Aus dieser Schlussfolgerung sowie den angeführten Betrachtungen Bordwells und Jenkins ergibt<br />
sich so folgendes Kriterium für transmediale Erweiterungen von Dokumentarfilmen, dass<br />
besonders im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der deutschen Branche relevant ist (vgl.<br />
Kap. 1.2): Je größer die generierte „Fanbasis“ eines Filmprojektes ist, desto niedriger sind die<br />
ökonomischen Barrieren, die etablierte diegetische Welt transmedial zu erweitern und zu<br />
ergänzen. Das Risiko „expensive flops“ zu erzeugen, könnte daher sinken. Trotz seiner großen<br />
Bedeutung soll dieser Punkt im Rahmen dieser Arbeit ausgeklammert werden. Stattdessen soll<br />
sich auf zwei weitere sehr relevante gestaltungsorientierte Kriterien konzentriert werden, die aus<br />
der Diskussion von Bordwell und Jenkins abgeleitet werden können.<br />
51
dichteten Diegese konstruieren und etablieren, die genügend Anknüpfungspunkte<br />
für weitere transmediale Erzählungen bereithält („world building“; s. Kap. 7.2).<br />
• Im Sinne der von Jenkins erwähnten „seriality“ müssen Aspekte dieser Thematik<br />
fragmentierbar sein. Das heißt, es müssen sich einzelne sinnvolle narrative Einheiten<br />
bilden lassen, welche allein für sich stehend eine Geschichte erzählen<br />
können (s. Kap 8).<br />
6.3 <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Kontext<br />
Die zeitlichen Möglichkeiten, einen Dokumentarfilm mit transmedialen Erzählmitteln zu<br />
kombinieren, sind theoretisch unbegrenzt. Long (2007, 165) weist jedoch zu Recht<br />
daraufhin, dass<br />
„when evaluating a transmedia franchise, it’s important to consider when the transmediation<br />
began. If a story wasn’t intended to spawn other stories, then it might have been<br />
written as a ‘closed’ world and later extensions may feel artificial. […] Storytellers and<br />
producers working on transmedia franchises may want to keep this distinction in mind<br />
when either beginning a new project or joining an existing one to determine the difficulty<br />
of adding further extensions.”<br />
Daraus kann abgeleitet werden, dass es sehr sinnvoll ist, transmediale Erweiterungen bereits<br />
zu Beginn einer Dokumentarfilmproduktion einzuplanen. Um Wechselwirkungen zwischen<br />
den dokumentarischen und den transmedialen Gestaltungsebenen prägnanter aufzeigen<br />
zu können, soll in dieser Arbeit daher angenommen werden, dass die transmediale<br />
Erweiterung der dokumentar-filmischen Erzählung bereits von vorneherein miteingeplant<br />
wird. 40 Aufgrund der Filmgattungs-spezifischen Beziehung zur Realität (vgl. Kap. 2.1) existieren<br />
in den meisten Fällen keine literarischen Vorlagen, auf denen eine dokumentarfilmische<br />
Betrachtung aufbauen kann. Vielmehr stellt es sich so dar, dass der Dokumentarfilm<br />
durch seine Funktion als Repräsentant der Wirklichkeit fast immer zum ersten Mal<br />
bestimmte Zusammenhänge der historisch realen Welt extrahiert und filmisch darstellt.<br />
Daher kann er als primäre narrative Einheit gesehen werden, die den Anstoß einer parallel<br />
stattfindenden transmedialen Erzählung gibt. In dieser Rolle führt er als „Ur-Werk“ erstmals<br />
in eine Thematik ein und generiert Aufmerksamkeit. Als ein solches initiatives Primärwerk<br />
etabliert er die diegetisch verdichtete Wirklichkeit. So werden die relevanten Protagonisten,<br />
Orte, Umstände und Sachverhalte in Beziehung zueinander gestellt und für das Publi-<br />
40 Der sinnvollste Zeitpunkt hängt allgemein von der Intention des Dokumentaristen und seines<br />
Auftrages ab (vgl. Kap. 3.1.1). Auch die Thematik des zu dokumentierenden Wirklichkeits-<br />
Ausschnittes hat Einfluss.<br />
52
kum vorgestellt. Daran anknüpfend können dann bereits parallel mitentwickelte transmediale<br />
Erweiterungen anknüpfen. 41<br />
Im Zuge dieser abgeleiteten – möglichen – Verschränkung von Dokumentarfilm und<br />
transmedialer Narration können die medialen Erweiterungen eines Films auch als transmediale<br />
(Erweiterungs-) Kampagne bezeichnet werden. 42 Eine derartige Erzähl-Kampagne<br />
impliziert, dass die Diegese des Dokumentarfilms transmedialisiert wird. Durch den Prozess<br />
der <strong>Transmedia</strong>lisierung erwächst aus der dokumentar-filmischen Diegese eine diegetische<br />
Welt, die durch die werks-internen Diegesen aller transmedialen Erzählungen repräsentiert<br />
wird. Die Geschichte des Dokumentarfilms bildet also den Keim für einen transmedial aufgezogenen<br />
„Geschichten-Baum“. Die Werks-interne Diegese des Dokumentarfilmes geht<br />
somit in der diegetischen Welt auf. Der Begriff „diegetische Welt“ kann als dokumentarisches<br />
Pendant zu den Begrifflichkeiten „story world“, „Story-Welt“ oder „Story-Universum“<br />
verstanden werden.<br />
Es könnte argumentiert werden, dass eine diegetische Welt nur innerhalb des Primärwerkes<br />
und allen transmedialen Erzählungen existiert: Alles was nicht in der transmedialen<br />
Kampagne dargestellt wurde, existiert bisweilen auch nicht. Erst wenn dieser Erzählkanon<br />
erweitert wird, erweitert sich auch die diegetische Welt. Vor allem bei fiktionalen Werken,<br />
die von einer fiktionalen Welt erzählen, ist dieses Argument sicher zutreffend. Bei<br />
ihnen lebt die Story-Welt nur in den einzelnen Werken.<br />
Doch da es sich bei einem Dokumentarfilm immer um die verdichtete Abbildung der<br />
Welt handelt, welche über die transmediale Erzählkampagne hinaus weiterhin existiert,<br />
spielt der Aspekt einer unabhängigen – weil in der Wirklichkeit verankerten – diegetischen<br />
Welt eine zusätzliche Rolle. Mit jeder transmedialen Erweiterung wird zwar die diegetische<br />
Welt weiter narrativ ausgebaut, jedoch stellt dies die Beleuchtung bislang nicht im Fokus<br />
gestandener Bestandteile der realen Welt dar. Es handelt sich also nicht um eine rein narrative<br />
Konstruktion wie bei fiktionalen Werken. Mit jeder hinzukommenden transmedialen<br />
Erweiterung wird ein weiterer, kleiner Wirklichkeits-Ausschnitt erzählerisch verdichtet und<br />
41 Die Aufmerksamkeitsgenerierung durch das Primärwerk bietet sich an, ist jedoch im Zweifelsfall<br />
optional anzusehen. Es hängt sehr stark von der behandelten Thematik ab, ob ein<br />
Dokumentarfilm in der Form eines Flaggschiffes öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen soll. Es<br />
würde zudem auch die Möglichkeit bestehen, eine integrierte dokumentarische Kampagne, in der<br />
der Dokumentarfilm nicht mehr als Primärwerk auszumachen ist zu planen. Doch für diese<br />
transmediale dokumentarische Narration bedarf es einer eigenständigen umfangreichen Analyse,<br />
die in dieser Arbeit nicht durchgeführt werden kann.<br />
42 Der Begriff Kampagne soll in diesem Zusammenhang den Kanon transmedialer Erweiterungen<br />
beschreiben, der sich um ein Primärwerk gebildet hat. Er ist in erster Linie als Erzähl-Kampagne zu<br />
verstehen. Mit dem Begriff Kampagne ist nicht die strategische Platzierung medialer Inhalte im<br />
Sinne einer PR-Kampagne gemeint, obwohl diese Assoziationen in Abhängigkeit eines<br />
dokumentarischen Themas sicherlich zutreffend wären.<br />
53
der bereits bestehenden diegetischen Welt zugeführt. Diese fortführende dokumentarische<br />
Verdichtung stellt einen wesentlichen Unterschied zur ergänzenden Dichtung im fiktionalen<br />
Bereich dar.<br />
Diese Feststellung bedeutet, dass ein Themenkomplex in einer transmedialen Kampagne<br />
theoretisch immer weiter beleuchtet werden könnte, da er in unserer Wirklichkeit<br />
verankert ist und dementsprechend in ein sehr komplexes Netz aus weltlichen Zusammenhängen<br />
und Faktoren eingebettet ist. Hier muss also die Fokussierung und vorausgehende<br />
Definition einer potenziellen diegetischen Welt die Grenzen des Erweiterungs-Kanons setzen,<br />
wie im nachfolgenden Kapitel erörtert wird.<br />
Abbildung 7 zeigt übersichtlich das Verhältnis zwischen Primärwerk, transmedialer<br />
Kampagne, sowie dokumentar-filmischer Diegese und diegetischer Welt im Kontext der<br />
Wirklichkeit: 43 Abbildung 7: Relationaler Zusammenhang in einer transmedialen Kampagne. 44<br />
43 Dabei wird auf den Begriff der „narrativen Lücken“ zu einem Späteren Zeitpunkt noch näher<br />
eingegangen, da dieser in einem anderen Kontext sehr relevant ist (s. Kap. 7.3):<br />
44 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
54
7 Der Dokumentarist als Weltenbauer<br />
7.1 Die Thematik wird zum Franchise<br />
Mit der <strong>Transmedia</strong>lisierung der dokumentar-filmischen Erzählung geht zwangsweise eine<br />
Wahrnehmungsveränderung bezüglich der Diegese einher, auf die sich der Dokumentarist<br />
einlassen muss, um die Sinnhaftigkeit der transmedialen Narration möglichst konkret fassen<br />
zu können. Die „richtige Denke“ ist Voraussetzung für das effiziente, sinnvolle Ausschöpfen<br />
der transmedialen Erzählung und ihrer Möglichkeiten.<br />
Im Hinblick auf die bereits erwähnten fiktionalen Beispiele in Kapitel 6.2, die von<br />
Jenkins und Bordwell als Franchise bezeichnet wurden, stellt sich die Frage, welche Motivation<br />
hinter einer <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentar-filmischen Bereich stehen könnte?<br />
Warum sollte dieser Aufwand betrieben werden und wo liegt der Mehrwert für den Zuschauer?<br />
Denn der findet bei den fiktionalen <strong>Transmedia</strong>lisierungen zumindest die Möglichkeit,<br />
noch tiefer in fantastische Welten einzutauchen, um sich so mitunter hervorragend<br />
unterhalten lassen zu können.<br />
Diese Fragen stellt sich auch Merin (@15) und kommt mit einem gelungenen Beispiel<br />
zu einer klaren Antwort:<br />
„But when it comes to transmedia branding of a documentary, the task isn't that simple.<br />
Turn to the example of Garbage Dreams [Dokumentarfilm 45 ], which has successfully<br />
made its mark on multiple platforms. Just what is the brand that identifies and unifies<br />
Garbage Dreams’ multiplatform campaign? It's not the film itself, although the title is<br />
used as the game's name. It isn't the director, Mai Iskander -- and, if it were, the multiplatform<br />
model might well collapse under the weight of what might well be perceived as<br />
filmmaker egocentricity. It isn't the three 'zeballeen' teens, although they are characters<br />
who face dramatic and gripping life-threatening challenges and are, in their way, as engaging<br />
as Harry Potter.<br />
The Garbage Dreams multiplatform brand is the film's issue. More specifically, the brand<br />
is the issue of waste disposal, recycling and how all that effects human life on Earth.<br />
That's what the film's about. That's what the game's about. That's what the discussion is<br />
about. The issue is the brand.” (Anm. u. Herv. d. V.).<br />
Passend resümiert Merin (@15): „Basically, it [transmedia storytelling] is a marketing<br />
approach.” (Anm. u. Umst. d. V). Damit hält sie einen wichtigen Gedanken fest, der mit der<br />
<strong>Transmedia</strong>lisierung von Story-Welten einhergeht: „Marjor studios and distributors have<br />
successfully used transmedia marketing to promote narrative blockbusters – the ‘Harry<br />
Potter’ franchise is an obviously successful mainstream example.“ (ebd.). Es gibt viele Formen,<br />
wie transmediale Narration genutzt werden kann. Die Verwandtschaft zwischen<br />
transmedia storytelling und transmedia branding kann daher schlüssig erklärt werden. Bei<br />
45 Für weitere Informationen siehe: www.garbagedreams.com (letzter Aufruf 12.11.12).<br />
55
der <strong>Transmedia</strong>lisierung von Inhalten in unserer Zeit haben sich stetig Strategien, Methoden<br />
und geeignete Instrumente weiter entwickelt und gegenseitig beeinflusst. Der methodische<br />
Kanon kann entsprechend vielseitig eingesetzt werden, um Markenwelten oder<br />
eben fiktionale respektive faktuale diegetische Welten zu etablieren – dies kann mitunter<br />
sogar dasselbe sein. Jenkins (@7) macht deutlich:<br />
„<strong>Transmedia</strong>, used by itself, simply means “across media.” <strong>Transmedia</strong>, at this level, is<br />
one way of talking about convergence as a set of cultural practices. […] <strong>Transmedia</strong> storytelling<br />
describes one logic for thinking about the flow of content across media. We might<br />
also think about transmedia branding, transmedia performance, transmedia ritual,<br />
transmedia play, transmedia activism, and transmedia spectacle, as other logics.” (Ausl.<br />
d. V.).<br />
In Hinblick auf große Filmstudios liegt die Vermutung nahe, dass der tiefere Sinn von<br />
„transmedia storytelling“ darin besteht, möglichst viele Menschen auf möglichst vielen<br />
Plattformen mit ihrer Story-Welt anzusprechen, sie eintauchen zu lassen, um somit Synergie-Effekte<br />
zwischen den einzelnen narrativen Einheiten entstehen zu lassen. Denn umso<br />
mehr Menschen sich mit einer diegetischen Welt beschäftigen, desto höher ist die Chance,<br />
dass sie auch weitere Medien und Geschichten, die in der Diegese angesiedelt sind, konsumieren,<br />
um mehr über die erzählte Welt zu erfahren. Letztlich stellt dies eine weitere Säule<br />
im Gebäude der Profitmaximierung dar.<br />
Aus Sicht der Verbraucher ein wünschenswerter Zustand. So bieten mehr transmediale<br />
Erzählungen auch mehr Berührungspunkte für Fans, sich mit seinem Lieblings-Story-<br />
Universum auf unterschiedle Weise auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel anhand von<br />
STAR WARS oder HARRY POTTER nachvollziehbar ist. Neben den Filmen können Bücher gelesen<br />
oder auch Videospiele gespielt werden, die im selben – mitunter faszinierenden – Story-<br />
Universum angesiedelt sind.<br />
Im Hinblick auf eine Dokumentarfilmproduktion bietet es sich an, die in der Diegese<br />
manifestierten Thematiken zu „branden“, das heißt sie zu einer Marke auszubauen. Ein<br />
durch ein Primärwerk erschlossenes Themenfeld wird so zu einer Markenwelt, einem Franchise<br />
46 weiterentwickelt und transmedial erzählt. Hier stellt sich die Motivationslage auf<br />
Seiten des Dokumentaristen jedoch etwas komplexer dar. Zum einen – das wurde in Kapitel<br />
1.2 und 1.3 dargelegt – wird in der transmedialen Erzählung eine Möglichkeit gesehen, Profite<br />
zu steigern, um so einen Ausweg aus der gegenwärtig kritischen Lage der gesamten<br />
46 Obgleich die Idee des Franchise relativ bekannt ist, soll sie hier noch einmal aufgeführt werden:<br />
„Franchise bezeichnet im Medienbereich das geistige Eigentum (z. B. für Bücher, Filme,<br />
Handlungsrahmen, Figuren, Schauplätze, Warenmuster), das über mehrere Produkte und<br />
meistens auch über mehrere Medien (z. B. Film, Literatur, Fernsehen, Videospiele) hinweg<br />
entwickelt und verwendet wird. Eine der bekanntesten Personen dieses Marketing-Konzepts war<br />
Walt Disney, dessen Name zum Synonym für Franchise wurde.“ (@16).<br />
56
Dokumentarfilm-Branche zu finden. Jedoch ermöglicht <strong>Transmedia</strong>lisierung im dokumentarischen<br />
Kontext auch die Generierung von Aufmerksamkeit auf bestimmte Thematiken und<br />
Sachverhalte unserer Welt. Ganz im Sinne vieler Dokumentaristen kann die Welt dargestellt<br />
und aufgeklärt werden (vgl. Kap. 2). Für den mündigen Zuschauer bietet dies die entsprechende<br />
Gelegenheit, sich umfassend über bestimmte Zusammenhänge seiner eigenen<br />
Wirklichkeit aufklären zu lassen. Statt des Dokumentarfilms als einziger Spiegel der Welt<br />
kann das Publikum im Falle einer transmedialen Kampagne in einen Kanon von Spiegeln<br />
eintauchen, die jeweils kleine Facetten der gleichen Wirklichkeit beleuchten.<br />
Die Idee, dokumentarische Thematiken zu Marken auszubauen, soll nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, dass es sich bei der transmedialen Erweiterung von dokumentarischer<br />
Narration im Sinne Jenkins um „transmedia storytelling“ und nicht „transmedia branding“<br />
handelt:<br />
„We might also draw a distinction between transmedia storytelling and transmedia<br />
branding, though these can also be closely intertwined. So, we can see something like<br />
Dark Lord: The Rise of Darth Vader as extension of the transmedia narrative that has<br />
grown up around Star Wars because it provides back story and insights into a central<br />
character in that saga. […] By comparsion, Star Wars breakfast cereal may enhance the<br />
franchise’s branding but it may have limited contribution to make to our understanding<br />
of the narrative or the world of the story.” (@10).<br />
Insofern liegt nach Jenkins Definition eine begriffliche Unschärfe bei Merins Feststellung<br />
vor. Trotzdem wurde ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit transmedialer Narration<br />
benannt.<br />
Ein anschauliches Beispiel für eine transmediale Kampagne mitsamt dem Thema als<br />
Franchise bietet der Oskar-prämierte Dokumentarfilm THE COVE (USA, 2009). „[The movie]<br />
follows an elite team of activists, filmmakers and freedivers as they embark on a covert<br />
mission to penetrate a remote and hidden cove in Taijii, Japan, shining a light on a dark and<br />
deadly secret” (@12; Erg. d. V.) – nämlich der alljährlichen Tötung hunderter Quecksilber<br />
kontaminierter Delfine, deren Fleisch anschließend als Walfleisch in Japan angeboten wird.<br />
Auf einer dazugehörigen Webseite 47 erhält das Publikum Zugang zu Hintergrundinformationen,<br />
zu den Protagonisten sowie vertiefende Erörterungen des Sachverhaltes in<br />
Text- und Videoform. Dazu gibt es themenrelevante Informationen in Form von Studien<br />
und Publikationen zu den Themenbereichen „genießbare Fischsorten“ und „Quecksilber-<br />
Vergiftung“ – beides Aspekte der Thematik bzw. der Diegese, welche hier unabhängig von<br />
der Erzählung des Films vertieft werden.<br />
47 www.thecovemovie.com (letzter Aufruf 11.11.12).<br />
57
Gleichzeitig geht die <strong>Transmedia</strong>lisierung noch ein Stück weiter und versucht die<br />
Wahrnehmung des Publikums über den Film hinaus zu sensibilisieren und sein Engagement<br />
zu fördern. Dafür gibt es auf der Homepage eine Kategorie „What Can You Do?“ (vgl. @12).<br />
Diese führt umgehend zu einer neuen Webseite 48 , auf der die einleitende Überschrift „The<br />
Secret Is Out. Spread the Word“ (@13) die Intention der Macher aufzeigt. Hier werden dem<br />
interessierten Publikum weitere Hinweise darauf gegeben, wie sie sich aktiv an der sogenannten<br />
„Social Action Campaign“ (@13) beteiligen können. Neben der Möglichkeit zur<br />
Spende kann auch an einer Petition teilgenommen werden „to Help Save Japan’s Dolphins“<br />
(@14). Zudem werden sehr viele Artikel, Fotos und Videos zu den etablierten Themenfeldern<br />
angeboten. Hierzu werden dann auch kleine Ausspielungen des eigentlichen Films<br />
(crossmedial) eingesetzt.<br />
Ganz klar tritt der angesprochene transmediale Franchise-Gedanke zu Tage. Die vom<br />
Film behandelte Thematik wird unter dem etablierten Marken-Namen „The Cove“ zu einem<br />
Franchise weiterentwickelt. Es wird damit begonnen, letztlich auch losgelöst von den Protagonisten<br />
des Films, über verschiedene Ausschnitte der – auf der Wirklichkeit beruhenden<br />
– Thematik, zu berichten. Die in der Diegese dargestellten thematischen Aspekte werden<br />
einzeln aufgegriffen und unabhängig von der eigentlichen Erzählung weiter vertieft. Eine<br />
transmediale Kampagne kann also auch neben der erzählenden Funktion eine informierende<br />
haben. 49 Der Franchise-Gedanke geht bei THE COVE soweit, dass auch Kleidungsstücke,<br />
Wein und Musik gekauft werden können, auf denen „The Cove“ draufsteht bzw. die vom<br />
Film inspiriert wurden. Die transmediale Kampagne wird zur Markenwelt.<br />
Das Beispiel verdeutlicht auch weitere bemerkenswerte Punkte. Zum einen dient der<br />
Dokumentarfilm als initiatives Primärwerk für eine transmediale Erzählung. Die diegetische<br />
Welt, wurde durch den Film erstmals als filmische Diegese konstituiert. Die mit dem Film<br />
einhergehende transmediale Erzählung dieses Welt-Ausschnitts weist genau genommen<br />
auch crossmediale adaptive Anteile auf. Sie liefert zum einen, wie oben bereits beschrieben,<br />
Hintergrundinformationen. Der Dokumentarfilm dient also im Sinne der Kampagne zur<br />
Generierung von Aufmerksamkeit, quasi als „Eyecatcher“, der das interessierte Publikum in<br />
die transmediale Kampagne einführt.<br />
Die Kampagne ermöglicht dem Zuschauer zum anderen aktiv die thematischen Sachverhalte<br />
der Diegese (Delfinschlachten in der Bucht Taijin) mithilfe der Petition zu beeinflussen.<br />
Hier findet also durch transmediale Narration eine Rückkopplung mit der filmischen<br />
48 www.takepart.com/cove (letzter Aufruf 11.11.12).<br />
49 Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlich eingegangen (s. Kap. 8.1.1.1).<br />
58
Diegese statt: Der Zuschauer wird als aktiver Akteur zu einem unterstützenden Bestandteil<br />
der Kampagne der Filmemacher (s. Kap. 9.2).<br />
7.2 Vermessung geeigneter Ausschnitte der Welt<br />
„When I first started you would pitch a story because without a good story, you didn’t<br />
really have a film. Later, once sequels started to take off, you pitched a character because<br />
a good character could support multiple stories. And now, you pitch a world because a<br />
world can support multiple characters and multiple stories across multiple media.” (u.V.<br />
zit. n. Jenkins 2006, 116).<br />
Wie Jenkins mit dem Zitat betont, sollten grundlegend bestimmte Punkte hinsichtlich<br />
der zu dokumentierenden Thematik beachtet werden, um mit einem Dokumentarfilm als<br />
Primärwerk möglichst erfolgreich ein Themenfeld als Franchise zu etablieren und transmedial<br />
erzählen zu können. Welche Eigenschaften eine dokumentarische Thematik aufweisen<br />
sollte um die daraus verdichtete Diegese optimal für alle nachfolgenden transmedialen<br />
Schritte ausrichten zu können. Was ist für transmediale Erzählungen geeignet?<br />
Moloney (2010, 89) kommt hier zu dem Schluss:<br />
„Jenkins' principle of worldbuilding is of significant importance in a transmedia entertainment<br />
production. When imagining a new world for a fictional story, all the complexities<br />
and nuances must be imagined and created as well. However, journalism and documentary<br />
stories already exist within a preexisting world notable for its complexity, nuance<br />
and unpredictability. It is not the task of a journalist to build that world, but to explore<br />
its many possible stories in the most enlightening way — or to facilitate the public<br />
doing that for itself.”<br />
Hierzu nimmt Moloney (2010, 12) an, dass vor allem „ [the] coverage of a complex<br />
and ongoing issue – immigration, the aftermath of war, social struggle – lends itself perfectly<br />
to a considered approach and complex delivery”. Die Logik hinter seiner Annahme ist<br />
nachvollziehbar: Komplexe gesellschaftliche Themen, die multifaktoriellen Einflüssen unterliegen<br />
und eine Vielzahl an Parteien involvieren bzw. tangieren, scheinen potenziell mehr<br />
Anknüpfungsmöglichkeiten für ergänzende und weiterführende Erzählungen auf transmedialer<br />
Ebene zu bieten, als vielleicht bei Charakter-orientierten Themen angenommen werden<br />
könnte. 50 Dies wurde auch bereits mit Jenkins (vgl. @11) in Kapitel 6.2 angedeutet.<br />
Letztlich kommt es auf die erzählerische Aufbereitung der Thematik an. Es liegt im Geschick<br />
des Dokumentaristen das Thema derart strategisch-redaktionell zu erfassen, dass es genügend<br />
Potenzial für eine transmediale Erzählung bietet.<br />
50 Nichtsdestotrotz kann unterstellt werden, dass auch Charakter-orientierte Dokumentarfilme mit<br />
ihrer Diegese als Basis für eine transmediale Erweiterung dienen können. Die Lebenswelt<br />
einzelner Protagonisten könnte transmedial aufbereitet werden.<br />
59
60<br />
So fragen Klastrup und Tosca (2004, 4) „Which core features can we find in all transmedial<br />
worlds?“. Wohlbemerkt, ihre Frage bezieht sich vor allem auf eine fiktional-virtuelle<br />
Welt, wie sie in Multiplayer-Videospielen angesiedelt ist, in die Spieler mit einem Avatar<br />
eintauchen und auch einander begegnen können. Ihre selbstgegebene Antwort fällt eindeutig<br />
aus. Sie schlagen drei Dimensionen vor, in denen eine transmedialisierte (fiktionale)<br />
Diegese möglichst substanzielle Ausprägungen aufweisen sollte: 51<br />
• Mythos: Die alles umgebende große Rahmenhandlung/ Hintergrundgeschichte.<br />
Sie evoziert Konflikte und Ereignisse und stellt Protagonisten einen Handlungsraum<br />
zur Verfügung. Diese Elemente reihen sich in Geschehnisse ein und entfalten<br />
somit einzelne Geschichten (vgl. Kap. 4.1.1). „One could say that the mythos<br />
of the word is the backstory of all backstories – the central knowledge one needs<br />
to have in order to interact with or interpret events in the word successfully.”<br />
(ebd.).<br />
• Topos: Das Setting der Welt bezüglich Raum und Zeit. Wo und wann ereignen<br />
sich die einzelnen Geschichten? Was sind die zentralen Schauplätze? Welche<br />
ortsbedingten oder zeitlich bedingten Besonderheiten herrschen? Welche kulturell-<br />
gesellschaftlichen Bedingungen wurden vorgefunden? „[…] we can say that<br />
knowing the topos is knowing what is to be expected from the physics of and navigation<br />
in the world.“ (ebd.; Ausl. d. V.).<br />
• Ethos: Die ethische Grundstrukturierung der erzählten Welt. Sie beinhaltet implizite<br />
und explizite moralische Kodizes, nach denen sich die Charaktere ausrichten.<br />
52<br />
Diese drei Dimensionen stellen die Substanz einer diegetischen Welt dar. Je ausgeprägter<br />
sie sind, desto vielfältiger und substanzieller können auch transmediale Erzählungen<br />
ausfallen. Bei der Auswahl einer potenziellen Thematik müssen sich also Mythos, Topos<br />
und Ethos in einem Ausschnitt der Wirklichkeit wiederfinden lassen. Das heißt in einem<br />
Stück Welt sollten die Zusammenhänge derart verschränkt sein, dass sie im Sinne der drei<br />
51 Trotz der fiktionalen Ausrichtung ihres Ansatzes können die von Klastrup und Tosca aufgestellten<br />
Attributfelder nachfolgend in adäquater Weise für den faktualen Bereich des Dokumentarfilms<br />
adaptiert werden.<br />
52 Long (2007, 61 ff.) identifiziert sechs hermeneutische Klassen, die eine diegetische Welt<br />
substanziell für transmediale Fortführungen und Erweiterungen vorbereitet: „A storyteller looking<br />
to craft a potential transmedia narrative should carefully craft the world in which that story exists,<br />
and then make passing references to other cultures, characters, events, places, sciences or<br />
philosophies of that world during the course of the narrative to simultaneously spark audience<br />
imaginations through negative capability and provide potential openings for future migratory<br />
cues.“ Die von ihm genannten Attribute finden sich jedoch allesamt in den Dimensionen Mythos,<br />
Topos und Ethos wider und werden daher nicht weiter berücksichtigt.
Dimensionen vermuten lassen können, dass die spätere diegetische Welt entsprechend<br />
interessant ausfallen kann. 53<br />
Und genau dies ist eine positive Grundvorrausetzung für die transmediale Narration<br />
einer dokumentar-filmischen Thematik. Jeder hinzukommende erzählerische Baustein kann<br />
eine sinnvolle Fortführung oder Ergänzung zur etablierten diegetischen Welt des Primärwerks<br />
leisten und stellt nicht bloß oberflächliches Beiwerk dar. Jenkins (2006, 116) schreibt<br />
hierzu:<br />
„More and more, storytelling has become the art of world building, as artists create<br />
compelling environments that cannot be fully explored or exhausted within a single work<br />
or even a single medium. The world is bigger than the film, bigger even than the franchise<br />
– since fan speculations and elaborations also expand the world in variety of directions”.<br />
Im dokumentar-filmischen Kontext wird klar, dass der Mythos eine grundlegend tragende<br />
Rolle bei der Eingrenzung eines Themenfeldes hat, respektive diese sogar definiert.<br />
Er spiegelt den eigentlichen Sachverhalt und die damit verbundenen Zusammenhänge wieder,<br />
die sich hinter einer Thematik verbergen. Im Falle von THE COVE könnte man den Mythos<br />
als „Delfin-Schlachtung in Japan“ benennen. Er stellt den rahmengebenden Kontext<br />
dar und bedingt den großen Konflikt zwischen Tierschützern und japanischen Fischern. Aus<br />
deren Reihen stellt der Film einzelne Protagonisten (Richard O’Barry und das Filmteam) und<br />
Antagonisten (Fischer sowie die Delfinarium-Industrie) heraus. Teilaspekte dieser Rahmenhandlung<br />
stellen die Basis für einzelne Geschichten dar:<br />
• Massenschlachtung von Delfinen in einer abgesperrten, nicht einsehbaren Bucht<br />
im Ort Taiji. Konflikt: Protagonisten möchten herausfinden, was Antagonisten<br />
dort genau machen.<br />
53 Interessanterweise schlägt Ryan (@18) unabhängig von Long (2007) vor “to define storyworlds<br />
through a static component that precedes the story, and a dynamic component that captures its<br />
unfolding.” Und führt dann aus:<br />
“1. An inventory of existents, comprising (a) the kinds of species and objects that populate the<br />
storyworld; (b) the cast of individual characters who act as protagonists<br />
2. A folklore relating to the existents (backstories, legends, rumors)<br />
3. A space with certain geographic features<br />
4. A set of natural laws<br />
5. A set of social rules and values<br />
Dynamic component:<br />
6. Physical events that bring changes to the existents<br />
7. Mental events that gives significance to the physical events (i.e. the motivations of the<br />
agents and the emotional reactions of both agents and patients), affect the relations between<br />
characters, and occasionally alter the social order”. Ryan bietet eine weitere, detaillierte<br />
Aufschlüsselung der relevanten Elemente einer potenziellen Story-Welt. Jedoch findet sich<br />
dies ebenfalls auch in den drei Dimensionen wider.<br />
61
• Mit Quecksilber kontaminiertes Delfin-Fleisch wird als Wal-Fleisch deklariert und<br />
in Supermärkten verkauft. Konflikt: Protagonisten möchten Öffentlichkeit aufklären<br />
und Antagonisten somit am Verkauf hindern.<br />
• Die boomende Delfinarien-Industrie bietet finanzielle Anreize für das Fortführen<br />
des Schlachtens in der Taiji-Bucht. Das profitable Geschäft weist eine Doppel-<br />
Moral auf (familiengerechte Shows mit Delfinen vor dem Hintergrund blutiger<br />
Massenschlachtungen). Konflikt: Protagonisten kämpfen gegen die kommerzielle<br />
Ausnutzung der überlebenden Delfine durch Delfinarien.<br />
• Japan weigert sich an Wal-Schutz-Abkommen teilzunehmen und erwirbt durch<br />
finanzielle Anreize die Gunst kleinerer Staaten um bei Abstimmungen auf internationalen<br />
Konferenzen Mehrheiten zu erlangen. Konflikt: Protagonisten wollen<br />
auf diese Missstände aufmerksam machen.<br />
Die von Klastrup und Tosca angeführte Dimension Topos ist am einfachsten auf faktuale<br />
Erzählungen übertragbar. Ort und Zeit können aufgrund ihres Ursprungs in der historisch<br />
realen Welt immer eindeutig bestimmt werden.<br />
Ihre Ausprägungen können grob oder detailliert ausfallen. Wichtig sind nur bestimmte<br />
Bezugspunkte, damit der Zuschauer das Gezeigte in Relation zu sich selbst stellen und<br />
sich somit orientieren kann. Beispiel:<br />
• Raum/ Ort: Asiatischer Kulturraum, Times Square in New York City, der<br />
Schwarzwald.<br />
• Zeit/ Epoche: Deutschland im zweiten Weltkrieg, Mauerfall, Zur Zeit der Pharaonen.<br />
• Im Beispiel THE COVE: Japan im hier und jetzt; genauer: Taiji 2009, als Ort des<br />
zentralen Geschehens.<br />
Komplexer erscheint hingegen die Verortung des Ethos im dokumentarischen Kontext.<br />
Die genannten moralischen Kodizes beinhalten die Wertevorstellungen der verschiedenen<br />
Charaktere sowie ihre daraus resultierenden Motivationen. Nach welchen ethischen<br />
Vorstellungen sich Protagonisten und Antagonisten ausrichten, definiert auch, wie sehr sie<br />
sich überhaupt voneinander unterscheiden lassen. Es kann eine Herausforderung für den<br />
Dokumentaristen darstellen, diese Werte freizulegen, um damit das Handeln der verschiedenen<br />
Protagonisten tiefergehend ergründen zu können. Im Falle von THE COVE werden die<br />
Wertevorstellungen der einzelnen Parteien augenscheinlich eindeutig bestimmt, wodurch<br />
auch ihre Motivationen für ihre jeweiligen Handlungen leicht nachvollziehbar werden.<br />
62
Dadurch lassen sie sich (vermeintlich) sehr leicht in Protagonisten und Antagonisten aufteilen.<br />
• Protagonisten: Tierschutz, Bewahrung eines gerechten Umgangs mit Tieren, Vereitelung<br />
von Ungerechtigkeit.<br />
• Antagonisten: Berufung auf japanische Traditionen, Profitgier, Grausamkeit.<br />
Die Aufschlüsselung des Ethos muss sorgfältig und differenziert erfolgen, um stereotype<br />
Darstellungen zu vermeiden.<br />
Für den Dokumentaristen bedeutet dies im Rückschluss, eine umfangreiche Sondierung<br />
der Themenstellungen vor dem Beginn einer Produktion. Hier ist er vor allem auf Regie-Ebene<br />
gefordert, Auftrag und Vision (vgl. Kap. 3.1.1) entsprechend zu hinterfragen und<br />
strategisch-redaktionell (vgl. Kap. 3.1.3) potenzielle Anknüpfungspunkte und Anwendungsmöglichkeiten<br />
transmedialer Erzählung zu recherchieren. Denn es bietet sich nicht<br />
jeder Sachverhalt unserer Welt an, transmedial erzählt zu werden, obwohl er vielleicht für<br />
einen Dokumentarfilm funktionieren würde. <strong>Transmedia</strong>le Erzählung bedingt, zusätzliche<br />
Faktoren bei der Entwicklung eines dokumentarischen Stoffes zu berücksichtigen.<br />
Das entscheidende Kriterium stellt hier das potenzielle Publikum dar. Denn wenn sich<br />
eine Thematik unter erfahrenen dokumentarischen Augen als uninteressant oder nicht<br />
ansprechend genug darstellt, wird es schwieriger finanzielle Mittel für eine transmediale<br />
Kampagne zu akquirieren. Entgegen der (evtl. kostengünstigen) dokumentar-filmischen<br />
Darstellung von jedem erdenklichen Ereignis in unserer Welt impliziert eine transmediale<br />
Erzählung eines beliebigen Inhalts jedoch einen zeitlichen und finanziellen Mindestaufwand,<br />
der allein schwierig zu tragen ist. Eine gewisse Grundrelevanz innerhalb unserer Welt<br />
sollte daher von einem potenziellen Thema empfehlenswerter Weise ausgehen.<br />
7.3 Narrative Lücken als transmediale Anknüpfungspunkte<br />
Als Erzähler muss der Dokumentarist seiner Verantwortung nachkommen und einzelne des<br />
definierten Aspekte dieser Wirklichkeits-Zusammenhänge adäquat in einen Film zu übersetzen.<br />
Doch stellt sich die Frage, nach welchen strategisch-gestalterischen Kriterien im<br />
Hinblick auf die transmediale Kampagne die dokumentar-filmische Erzählung des ausgewählten<br />
Ausschnittes der Welt konstituiert werden sollte.<br />
An diese anspruchsvolle Arbeit auf konzeptionell-narrativer Ebene kommen spezifische<br />
Aspekte in Hinblick auf eine weiterführende und ergänzende transmediale Kampagne<br />
hinzu. Long (2007, 165) beobachtet hierzu: „a more ‘open’ world is easier to extend.“. Denn<br />
63
würde ein Film einen Sachverhalt zu geschlossen abhandeln und kaum Raum für erzählerische<br />
Ergänzungen oder Fortführungen bieten, hätte es eine transmediale Kampagne vergleichsweise<br />
schwer an das Primärwerk „stimmig“ anzuschließen. Eine allzu umfassende<br />
Abhandlung eines Themas würde weitere Erzählungen innerhalb der gleichen diegetischen<br />
Welt redundant werden lassen.<br />
64<br />
Im simplen Umkehrschluss ergibt sich daraus eine Grundeigenschaft, welche die Geschichte<br />
eines Dokumentarfilms – ob Themen-orientiert oder Charakter-orientiert – zu erfüllen<br />
hat, um Raum für transmediale Narrationen zu bieten: Narrative Lücken. So würde<br />
ein Dokumentarfilm beispielsweise dann narrative Lücken aufweisen, wenn er die diegetische<br />
Welt einführt, gleichzeitig aber dem Publikum (implizit oder explizit) vermittelt, dass<br />
nur ein Teilaspekt (evtl. als Sinnbild für das große Ganze) eines größeren Zusammenhangs<br />
abgebildet wird und andere Aspekte nicht thematisiert werden. Sie dienen also als diegetische<br />
Sollbruchstellen für die Fragmentierung der erzählten Welt in einzelne Geschichten,<br />
die sich zwar überlappen können, aber dennoch einzigartig sind.<br />
Long (2007, 53) bezeichnet dies mit Bezug auf Keats 54 als „negative capability“. Damit<br />
meint er die Kunst solche Lücken zu installieren und die damit einhergehende Fähigkeit des<br />
Publikums mit dem Nichtwissen umgehen zu können:<br />
„When applied to storytelling, negative capability is the art of building strategic gaps into<br />
a narrative to evoke a delicious sense of 'uncertainty, Mystery, or doubt' in the audience.<br />
Simple references to people, places or events external to the current narrative provide<br />
hints to the history of the characters and the larger world in which the story takes place.<br />
This empowers audiences to fill in the gaps in their own imaginations while leaving them<br />
curious to find out more.“.<br />
Diese These bekräftigt auch Jenkins (@17), wenn er mit Bezug auf fiktionale Geschichten,<br />
schreibt:<br />
„We are drawn to master what can be known about a world which always expands beyond<br />
our grasp. This is a very different pleasure than we associate with the closure found<br />
in most classically constructed narratives, where we expect to leave the theatre knowing<br />
everything that is required to make sense of a particular story.”<br />
Konkret könnten narrative Lücken wie folgt umgesetzt werden: Ein Dokumentarfilm<br />
soll als Primärwerk die Problematik, dass Bootsflüchtlinge von Afrika nach Europa „drängen“,<br />
etablieren. Dafür könnte er in seiner Exposition mithilfe extradiegetischer Erzählmittel<br />
und eines Off-Kommentars die großen geo-politischen Zusammenhänge auf einer Europa-Karte<br />
erläutern, um dann auf Malta, als ein Hauptschauplatz in diesem Kontext, zu<br />
„zoomen“. Anschließend könnte ein Flüchtling als intradiegetischer Protagonist eingeführt<br />
und im direct-cinema-Stil beobachtend begleitet werden. Mithilfe des Protagonisten als<br />
54 Long (2007, 53) zitiert Keats wie folgt: „I mean Negative Capability, that is when man is capable of<br />
being in uncertainties, Mysteries, doubts without any irritable reaching after fact and reason...“.
homo-intradiegetische Erzählinstanz und seinen verbal-sprachlichen Interviews könnte der<br />
Dokumentarist die komplexe Flüchtlingsproblematik anhand eines einzelnen Menschen und<br />
seines individuellen Schicksals exemplifizieren. Gleichzeitig wäre es wahrscheinlich, dass<br />
der Protagonist auf weitere Flüchtlinge trifft (soziales Umfeld) oder in Berührung mit der<br />
maltesischen Gesellschaft kommt (Arbeitsstelle, evtl. Engagement in Vereinen). 55<br />
So könnte<br />
im Sinne der Dramaturgie des Dokumentarfilms ein Handlungsbogen hinreichend erzählt<br />
werden. Gleichzeitig würden genügend nicht abgedeckte diegetische Bestandteile in der<br />
filmischen Erzählung offen bleiben, damit weitere transmediale Erweiterungen daran anknüpfen<br />
könnten.<br />
So entsteht mithilfe des Primärwerks die Basis für ein Geflecht von Geschichten, die<br />
sich gegenseitig zwar teilweise überschneiden können, aber jede für sich genommen einen<br />
individuellen Beitrag zum Verständnis der diegetischen Welt leistet.<br />
Die Möglichkeiten, gezielt Aspekte einer diegetischen Welt anzudeuten, sie jedoch<br />
dann bewusst nicht zu vertiefen, sind fast unbegrenzt. Dem Publikum kann dies explizit<br />
durch extradiegetische Hinweise des Dokumentaristen erfolgen, oder subtiler durch die<br />
intradiegetische Handlung (selbsterklärend) erfolgen. Für den Zuschauer kann dies im Sinne<br />
Jenkins eine Motivationsförderung bedeuten, sich auch über den Dokumentarfilm hinaus<br />
mit der dargestellten Thematik im Allgemeinen oder natürlich mit weiteren transmedialen<br />
Angeboten der diegetischen Welt des Dokumentarfilms zu beschäftigen. So resümiert Long<br />
(2007, 60):<br />
„A storyteller looking to craft a potential transmedia narrative should carefully craft the<br />
world [hier: dokumentarische Thematik] in which that story [hier: Primärwerk] exists, and<br />
then make passing references to elements in that world during the course of the narrative<br />
to simultaneously spark audience imaginations through negative capability and provide<br />
potential openings for future migratory cues.” (Anm. u. Herv. d. V.). 56<br />
Im Hinblick auf die etablierende Funktion des dokumentarischen Primärwerks ist das<br />
Anlegen narrativer Lücken besonders relevant für die Anknüpfung transmedialer Erweiterungen.<br />
Doch auch für diese hinzukommenden narrativen Bausteine auf anderen Medien<br />
stellt das Prinzip der narrativen Lücken einen relevanten Faktor dar, um narrative Anknüpfungspunkte<br />
für Fortführungen oder Ergänzungen zu setzen. Durch inhärente andeutende<br />
Aussparungen in ihren Geschichten beziehen sie sich auf andere Bestandteile der transmedialen<br />
Kampagne. So kann ein dichtes Geflecht aus einzelnen Werk-Diegesen entstehen,<br />
55 Das aufgestellte dokumentar-filmische Beispiel bezieht sich auf eine aktuelle Dokumentarfilm-<br />
Produktion des Verfassers dieser Arbeit mit dem Namen STEPPING FORWARD (M, 2011- ).<br />
56 Mit „migratory cue bezieht sich Long (2007, 166) auf ein narratives Konzept Ruppels: „the ability<br />
for these gaps [narrative Lücken] to function as directional pointers for intertextual connections is<br />
what Marc Ruppel called ‘migratory cues’“ (Anm. d. V.).<br />
65
das in seiner Gesamtheit die diegetische Welt repräsentiert. Abbildung 8 verdeutlicht abschließend<br />
diesen größeren Zusammenhang:<br />
Abbildung 8: Aufbau einer transmedial erzählten diegetischen Welt. 57<br />
57 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
66
8 <strong>Transmedia</strong>le Extension dokumentar-filmischer Narration<br />
8.1 Funktionen transmedialer Erweiterungen<br />
Fortführende transmediale Erzählungen, die an den narrativen Lücken des Primärwerks<br />
anknüpfen, erfüllen nach Jenkins beim Spielfilm vor allem drei Eigenschaften:<br />
„<strong>Transmedia</strong> extensions, then, may focus on unexplored dimensions of the fictional<br />
world, […] and expands upon what was depicted in the films. <strong>Transmedia</strong> extensions may<br />
broaden the timeline of the aired material, as happens when we rely on comics to fill in<br />
back story or play out the long term ramifications of the depicted events […]. A third<br />
function of transmedia extensions may be to show us the experiences and perspectives<br />
of secondary characters.” (@19; Ausl. d. V.).<br />
Übertragen auf den dokumentarischen Kontext können transmediale Erweiterungen<br />
also folgende Funktionen erfüllen:<br />
• Ausdehnung: Fortführung und Ausbau von bereits bestehenden Geschichten.<br />
• Ergänzung: Punktuelle Vertiefung dargestellter Aspekte; Ausfüllen vorhandener<br />
narrativer Lücken.<br />
• Subjektivierung: Ausbau und Integration weiterer subjektiver Perspektiven auf<br />
die Sachverhalte in der diegetischen Welt. Die Subjektivierung stellt eine – nach<br />
Jenkins – sehr wichtige Funktion dar. Obwohl sie mit den beiden vorherigen<br />
Funktionen oftmals einhergeht, ist sie so wesentlich für den dokumentarischen<br />
Kontext, dass sie gesondert betrachtet wird (s. Kap. 8.1.2).<br />
• Rezipienten Aktivierung: Engagement des Publikums im Hinblick auf Aspekte der<br />
Welt fördern und die Intensität der Erfahrbarkeit sowie die konkrete Miteinbeziehung<br />
zu steigern (s. Kap. 9) 58 .<br />
In individuellen Kombinationen definieren diese vier Funktionen jede transmediale<br />
Narration. Wie diese funktionalen Zusammensetzungen letztlich aussehen, wird von der<br />
Intention bestimmt, die ein Dokumentarist mit einer spezifischen Erweiterung verfolgt (vgl.<br />
Kap. 3). Wohlgemerkt können sie sich auch überschneiden, d.h. ihre Grenzen sind teils unscharf.<br />
An dieser Stelle soll explizit darauf hingewiesen werden, dass transmediale Erweiterungen<br />
nicht nur für Erzählungen von Geschichten einer diegetischen Welt funktionieren,<br />
sondern auch der reinen Informationsvermittlung dienen können. Dies ist natürlich besonders<br />
im dokumentarischen Kontext von Bedeutung.<br />
58 Diese Funktion führt zu einer ganzen Reihe wichtiger Implikationen, die in einem gesonderten<br />
Kapitel 9 ausgeführt werden.<br />
67
Zudem ist es relevant zu unterscheiden, ob sich eine transmediale Erweiterung auf<br />
die Erzählung oder Fakten eines einzelnen bestehenden (Primär-) Werkes bezieht oder aber<br />
auf die gesamte diegetische Welt an sich. Eine Unterscheidung kann wie folgt vorgenommen<br />
werden:<br />
• Makro-diegetische Erweiterung: Die Funktion der transmedialen Erweiterung<br />
bezieht sich auf die gesamte diegetische Welt. Die transmedial konstituierte Meta-Diegese<br />
wird erweitert.<br />
• Mikro-diegetische Erweiterung: Die Funktion der transmedialen Erweiterung bezieht<br />
sich auf eine Geschichte eines bestehenden Werkes.<br />
Zum einen kann nun eine diegetische Welt makro-diegetisch erweitert werden, das<br />
heißt, dass der Kanon an bereits bestehenden Werken um neue, relativ unabhängige Geschichten<br />
und informative Aspekte bereichert wird. Diese hinzukommenden Erweiterungen<br />
stehen mit den bereits bestehenden zwar in einer inhaltlichen Beziehung zum Beispiel<br />
durch narrative Lücken, decken aber noch unbehandelte Aspekte der diegetischen Welt ab.<br />
Zum anderen können aber auch einzelne Geschichten innerhalb der großen diegetischen<br />
Welt transmedial erweitert werden. Hier werden dann bestimmte narrative oder<br />
informative Aspekte einer einzelnen Geschichte aufgegriffen. Daher kann in diesem Zusammenhang<br />
von mikro-diegetischen Erweiterungen gesprochen werden. Die diegetische<br />
Welt wird zwar erweitert, aber in einer kleineren Größenordnung. Abbildung 8 verdeutlicht<br />
diesen Zusammenhang:<br />
Abbildung 9: Erweiterung der diegetischen Welt auf mikro- und makro-diegetischer Ebene. 59<br />
59 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
68
Die nachfolgenden Erörterungen können sowohl für die makro- also auch die mikrodiegetische<br />
Ebene gelten. Auf eventuelle Abweichungen oder Besonderheiten von diesem<br />
Grundsatz wird spezifisch eingegangen.<br />
8.1.1 Erweiternde und Ergänzende Funktion<br />
8.1.1.1 Funktionen auf inhaltlicher Ebene<br />
Eine Ausdehnung liegt vor, wenn ein Handlungsstrang eines Protagonisten oder die Erörterung<br />
eines Sachverhalts erweitert wird. In diesem Zusammenhang trifft der Begriff „transmediale<br />
Erweiterung“ wohl am ehesten zu. Bestehende Facetten narrativen oder informativen<br />
Charakters werden ausgebaut, um auf sie einen umfangreicheren Blick zu gewähren.<br />
Eine ergänzende Funktion liegt vor, wenn (bislang nur am Rande) dargestellte oder<br />
komplett ausgelassene Aspekte und Zusammenhänge einer Geschichte in den Mittelpunkt<br />
einer transmedialen Erweiterung rücken. Wie in Kapitel 7.1 beschrieben, wurden die filmischen<br />
Erörterungen des Films THE COVE bezüglich der Quecksilber-Kontaminierung durch<br />
Studien, die sich der interessierte Zuschauer auf der Webseite des Films herunterladen<br />
kann, ergänzt. Ein im Film bereits dargestellter Aspekt wird somit tiefergehend durch die<br />
Darstellung von extradiegetischem Fremdmaterial dargestellt. Dementgegen läge eine intradiegetische<br />
Erweiterung vor, wenn auf der Homepage zusätzliche Interviews von Experten,<br />
die auch im Film zu Worte kamen, angeboten würden.<br />
Sowohl die erweiternden als auch die ergänzenden Funktionen werden auf der narrativ-konzeptionellen<br />
Ebene, um sie dann sowohl mit intradiegetischen als auch extradiegetischen<br />
Erzählmitteln konstruierten. Dies kann beispielsweise über On- oder Off-<br />
Kommentaren oder durch Hinzufügen von Fremdmaterialien (Fotos, Videos, Dokumente)<br />
erfolgen.<br />
8.1.1.2 Zeitliche Evolution durch Erweiterung und Ergänzung<br />
Es muss sich aber nicht nur um eine inhaltlich-erzählerische Ausdehnung oder Ergänzung<br />
einer Diegese oder Geschichte handeln. Eine weitere Kerneigenschaft der transmedialen<br />
Erzählung im dokumentarischen Kontext kann darüber hinaus auch die zeitliche Erweiterung<br />
und Ergänzung einer diegetischen Welt darstellen.<br />
So kann eine transmediale Kampagne nur den narrativen „Ist“-Zustand erzählerisch<br />
erweitern, den ein Primärwerk filmisch abgebildet hat. Denn obwohl ein Dokumentarfilm<br />
mitunter auch einen langjährigen Prozess filmisch verdichten kann, gewährt er nach seiner<br />
Fertigstellung stets nur einen Blick auf die Vergangenheit. Eine komplexe Wirklichkeit wird<br />
69
eingefroren und ist fortan unveränderlich „auf Film gebannt“. Auf dieser Basis kann eine<br />
transmediale Kampagne zwar ansetzen und inhaltliche Aspekte vertiefen und ausdehnen,<br />
verharrt dabei jedoch immer in dem zeitlichen Rahmen, den das Primärwerk konstituiert<br />
hat (vgl. Kap. 4.4).<br />
Mithilfe transmedialer Erweiterungen kann die Wirklichkeit jedoch auch über diesen<br />
„Ist“-Zustand hinaus in einer zeitlichen Dimension abgebildet werden. So können themenrelevante<br />
Veränderungen innerhalb der behandelten Sachverhalte und Zusammenhängen,<br />
die erst nach der Fertigstellung des Dokumentarfilms eingetreten sind, weiterhin in die<br />
diegetische Welt integriert werden. Der vom Primärwerk konstituierte „Ist“-Zustand tritt<br />
sodann als „War“-Zustand in den Hintergrund. Fortan bildet er innerhalb der transmedialen<br />
Kampagne eine historische diegetische Basis. Darauf aufbauend können nachträgliche Entwicklungen<br />
immer wieder durch neue, aktuellere Abbildungen des gegenwärtigen „Ist“-<br />
Zustandes der Wirklichkeit etabliert werden bis diese wiederum abgelöst werden usw. Es<br />
kann so mitunter eine dokumentarische narrative Evolution stattfinden die im Rahmen<br />
einer transmedialen Kampagne nachgezeichnet wird. Auch die zeitlichen Grenzen können<br />
also neben den narrativen Grenzen eines Primärwerkes durch transmediale Erweiterungen<br />
durchbrochen werden.<br />
Im Beispiel von THE COVE (Fertigstellung 2009) könnte dies bedeuten, dass ein bestimmter<br />
Fischer zu den Tierschützern im Jahre 2011 „überläuft“, um Sachverhalte der Gegenseite<br />
aufzudecken. Ein etwas entfernteres Beispiel: Es könnte durch die transmedial<br />
angestoßene Petition ein Umdenken bei den Fischern eintreten. So etabliert sich die bislang<br />
dargestellten Fronten aufweichen und beide Parteien im Jahre 2013 in einem neuen Verhältnis<br />
zueinander stehen. Durch eine kurze Video-Dokumentation könnte diese neuzeitliche<br />
Entwicklung in die transmediale Kampagne mit aufgenommen werden, so dass sich<br />
abermals ein neuer „Ist“-Zustand innerhalb der diegetischen Welt etabliert.<br />
Natürlich hängt diese zeitdurchdringende Funktion vom geplanten Umfang einer<br />
transmedialen Erzähl-Kampagne insgesamt ab. Eine längerfristig angelegte Erweiterung<br />
kann ein Themenfeld innerhalb der konstituierten diegetischen Welt adäquater verfolgen,<br />
als eine, die nur den „Schnappschuss“ des Primärwerkes erweitern soll. Dies ist vor allem<br />
abhängig von der Intention einer dokumentarischen transmedialen Narration. Auch die<br />
Produktionskosten (länger = teurer) haben sicher Einfluss auf die zeitliche Ausprägung.<br />
Mit der Dauer einer Kampagne geht auch die Anzahl der Menschen einher, die erreicht<br />
werden können. Je länger eine transmediale Narration aufrechterhalten wird, desto<br />
mehr Rezipienten können an ihr teilhaben. Doch in diesem speziellen Kontext der „Reichweite“<br />
einer Kampagne spielt die chronologische Funktion nur eine untergeordnete Rolle.<br />
70
Sie kann zwar damit einhergehen, dies muss aber nicht der Falls sein. So kann auch ein zeitlich<br />
eingefrorener Sachverhalt durch eine einmalig aufgebaute narrative Kampagne mehrere<br />
Jahre bestehen, wodurch stets die Möglichkeit gegeben ist, noch mehr Menschen erreichen<br />
zu können. 60<br />
8.1.2 Subjektivierung<br />
Subjektivierung 61 stellt für Jenkins eine besonders wichtige Funktion für transmediale Erweiterungen<br />
dar. Seiner Meinung nach können Erweiterungen, die eine neue Perspektive<br />
innerhalb einer diegetischen Welt bzw. auf einen bestehenden Kontext einer Geschichte<br />
einnehmen, einen sinnvollen Beitrag im Kanon der transmedialen Narrationen leisten. Mit<br />
Blick auf eine fiktionale TV-Serie, die um Hintergrundgeschichten und Einblicke in die Welt<br />
einzelner (unwichtigerer) Charaktere durch Comics im Internet erweitert wurde, schreibt<br />
er: „[…] These kinds of extensions tap into longstanding readers interest in comparing and<br />
contrasting multiple subjective experiences of the same fictional events.” (@19; Ausl. d. V.).<br />
Neben Ausdehnungen und Ergänzungen stellt das Einnehmen einer neuen (erzählerischen)<br />
Perspektive einen wichtigen narrativen Mehrwert dar. Ein neuer Blickwinkel kann spannend<br />
wirken, Interesse fördern und die transmediale Kampagne substanziell bereichern. Im dokumentarischen<br />
Kontext gewährt die Darstellung eines Sachverhalts aus unterschiedlichen<br />
Blickwinkeln neben der qualitativen Bereicherung noch einen weiteren, entscheidenden<br />
Vorteil: der Repräsentation von Wirklichkeit ein Stück näher zu kommen.<br />
Die Verlagerung auf eine weitere subjektive Sichtweise kann einen sehr bereichernden<br />
Aufschluss über die individuellen Vorstellungen und Motivationen darstellen eines<br />
Protagonisten oder einer Partei geben. Konflikte, Sachverhalte und Umstände innerhalb der<br />
diegetischen Welt können mit dieser Perspektivenverlagerung umfangreicher erfasst werden,<br />
und dem Zuschauer letztlich mehr Raum für Verständnis bieten. Dies kann einer Steigerung<br />
der Glaubwürdigkeit sehr zu Gute kommen.<br />
Für den Dokumentaristen bedeutet dies, auf intradiegetischer Ebene weitere Erzählinstanzen<br />
zu identifizieren oder aber bestehende Instanzen modifiziert darzustellen (vgl.<br />
Kap. 4.2.2 u. 4.3.). Werden neue Protagonisten dem bestehenden Ensemble hinzugefügt, so<br />
wird automatisch auch deren neue Perspektive eingenommen. Somit erfolgt der substanzielle<br />
Ausbau automatisch.<br />
60 Der strategische Aspekt der Reichweite und die darauf ausgerichtete, zeitliche Taktung einzelner<br />
transmedialer Erweiterungen (um ständig Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten) ist für sich<br />
genommen ausgesprochen wichtig, doch würde eine adäquate Erörterung den Rahmen dieser<br />
Arbeit überschreiten.<br />
61 Im Original: „subjectivity” (@19).<br />
71
Bei bereits etablierten Protagonisten kann hingegen auch nur eine Modifikation der<br />
Fokalisierung und der Distanz erfolgen. Einem bislang nur marginal dargestellten Protagonisten<br />
kann mehr Raum eingeräumt werden, seinen Standpunkt darzulegen. Ein Beispiel<br />
wäre die Darstellung der Fischer in THE COVE. Ihre Sicht der Dinge, vor allem ihre Motivation,<br />
wird zwar durch die anderen Protagonisten erwähnt (Traditionen etc.), allerdings fokalisiert<br />
der Film eindeutig die Wahrnehmung des aktivistischen Filmteams. Dies erlaubt es<br />
dem Zuschauer einen emotionalen Standpunkt einzunehmen, wohingegen er über die tieferen<br />
Motivationen der einzelnen Fischer, die die Delfine massenweise schlachten, nur<br />
mutmaßen kann (vgl. Kap. 4.3.2).<br />
Das Konzept der Subjektivierung stellt in jedem Fall eine Erweiterung respektive eine<br />
Ergänzung vorhandener Geschichten (mikro-diegetisch) oder der diegetischen Welt insgesamt<br />
(makro-diegetisch) dar. Hier überschneiden sich also mehrere transmediale Funktionen.<br />
Trotzdem birgt das Integrieren neuer Perspektiven in eine bestehende Erzählung<br />
derart viel Potenzial, dass von einer eigenen, transmedial-narrativen Funktion – vor allem<br />
im dokumentarischen Kontext – gesprochen werden muss.<br />
8.2 Entstehungsmoment der transmedialen Erzählung<br />
8.2.1 Konstitution der transmedialen Erzählung<br />
Neben „world building“ (vgl. Kap.) stellt das Prinzip der „seriality“ für Jenkins (@11) den<br />
zweiten Baustein dar, auf der transmediale Erzählungen fußen (vgl. Kap. 6.2). 62 Seinen<br />
Überlegungen folgend kommt „seriality“ einer „Serialisierung“ narrativer Inhalte gleich. Im<br />
Grunde genommen bedeutet dies, die Segmentierung einer Geschichte in einzelne eigenständige<br />
Einheiten, wodurch erst die Möglichkeit entsteht, sie fortlaufend medial präsentieren<br />
zu können.<br />
72<br />
Dabei muss betont werden, dass dieser Vorgang im Sinne des hier aufgebauten dokumentarischen<br />
Kontextes sowohl eines Aufsplitterns der diegetischen Welt als auch der in<br />
ihr befindlichen einzelnen Geschichte bedeuten kann. Der Prozess kann sich demnach einerseits<br />
auf die makro- und andererseits auf die mikro-diegetische Ebene beziehen (vgl.<br />
Kap. 8.1). Zudem ist es möglich, dass eine Verschachtelung stattfindet, das heißt, erst werden<br />
einzelne Geschichten innerhalb der diegetischen Welt gebildet respektive identifiziert,<br />
um wiederum in einzelne narrative Segmente aufgeteilt zu werden. Anschließend können<br />
62 Dieses Konzept bezieht sich stark auf die narratologische Unterscheidung von Geschichte<br />
(diegetische Ereignisabfolge) und Erzählung (rhetorischer Prozess, die Ereignisse zu rekapitulieren<br />
um Rezipienten die Gelegenheit zu bieten, die Geschichte mental zu Restrukturierung) (vgl. Kap.<br />
4.3.1).
diese Einheiten in medialer Abfolge über ein oder mehrere Medien hinweg dem Publikum<br />
bereitgestellt werden (vgl. @19). 63 Sowohl die makro-diegetische Aufteilung als auch die<br />
mikro-diegetische Segmentierung finden durch den Dokumentaristen auf den Werksinternen<br />
Ebenen statt. Die mediale Verteilung stellt hingegen einen Werks-externen Gestaltungsprozess<br />
dar. Alle drei Prozesse stehen in enger Wechselwirkung, wie sich auch in Kapitel<br />
8.2.4 zeigen wird.<br />
• Makro-diegetische Aufteilung: Einordnung der diegetischen Welt in einzelne Geschichten,<br />
Handlungsstränge und informative Bestandteile (Werks-internen).<br />
• Mikro-diegetische Segmentierung: Einteilung einer Geschichte in sinnvolle narrative<br />
Segmente (Werks-internen). 64<br />
• Mediale Verteilung: Verteilung der makro-diegetischen oder mikro-diegetischen<br />
narrativen und informativen Einheiten auf einem Medium oder mehreren Medien<br />
(s. Kap. 8.2.4). Auf Seiten des Rezipienten ergibt eine Restrukturierung der<br />
einzelnen Einheiten in einer bestimmten Reihenfolge die ursprüngliche Geschichte<br />
oder Einheit wider.<br />
Diese Schemata vor Augen kommt Jenkins im Hinblick auf transmediale Narration zu<br />
dem Schluss, dass<br />
„[one] can think of transmedia storytelling then as a hyperbolic version of the serial,<br />
where the chunks of meaningful and engaging story information [narrative Segmente]<br />
have been dispersed not simply across multiple segments within the same medium [Mediale<br />
Verteilung], but rather across multiple media systems.”. (Ers. u. Anm. d. V.).<br />
Dies führt zu einer tieferen Erkenntnis, was transmediale Narration in der praktischen<br />
Umsetzung bedeutet: Das Definieren und Erschaffen einer (dokumentarisch erfassbaren)<br />
diegetischen Welt und deren anschließende Aufteilung und Segmentierung in einzelne<br />
narrative Einheiten, die seriell über mehrere Medien verteilt werden. Bis hierhin<br />
63 Jenkins schreibt dazu: „We might understand how serials work by falling back on a classic film<br />
studies distinction between story and plot. The story refers to our mental construction of what<br />
happened which can be formed only after we have absorbed all of the available chunks of<br />
information. The plot refers to the sequence through which those bits of information have been<br />
made available to us. A serial, then, creates meaningful and compelling story chunks [Story-<br />
Brocken; narrative Segmente] and then disperses the full story across multiple installments<br />
[serielle Verteilung]” (@19; Anm. d. V.).<br />
64 Im Beispiel von THE COVE wurde besonders die Segmentierung nicht derart explizit vorgenommen<br />
wie es hier beschrieben wird. Eine makro-diegetische Aufteilung in verschiedene – potenziell<br />
autonom ausbaubare – Handlungsstränge könnte trotzdem wie folgt aussehen: a)<br />
Massenschlachtung von Delfinen in Taiji b) Quecksilber-verseuchtes Fleisch wird als Walfleisch<br />
verkauft c) Delfinarien-Industrie bietet finanzielle Anreize für die weitere Schlachtung und<br />
Ausbeutung von Delfinen d) Japan erkauft sich die Gunst kleinerer Staaten um weiterhin Wale<br />
(und somit auch Delfine) fangen zu dürfen. Die Aspekte a) und d) wurden in Form der Petition<br />
eigenständig im Internet weitergeführt. Teil b) wurde durch angebotene Studien informativ<br />
Ausgebaut.<br />
73
konnte also bereits ein wichtiger Teil der von Jenkins aufgeführten Definition von <strong>Transmedia</strong>lität<br />
nachvollzogen werden (vgl. Kap. 6.1).<br />
8.2.2 Theoretische Betrachtungen<br />
8.2.2.1 Die Formel für <strong>Transmedia</strong>lität<br />
Im Hinblick auf die Bildung von einzelnen narrativen Einheiten und ihrer medialen Verteilung<br />
verlangt Jenkins drei Kriterien, die erfüllt werden müssen, damit tatsächlich eine Form<br />
der <strong>Transmedia</strong>lität entstehen kann: “For me, a work needs to combine radical intertextuality<br />
and multimodality for the purposes of additive comprehension to be a transmedia story.<br />
That’s why shortening transmedia to “a story across multiple media” distorts the discussion.“<br />
(@7).<br />
Mit dem Begriff „radical intertextuality“ bezieht er sich auf eine notwendige inhaltliche<br />
Verschränkung der einzelnen narrativen Einheiten. Das heißt, bestimmte Aspekte des<br />
einen Segments sollten sich auch in anderen Segmenten wiederfinden und umgekehrt. So<br />
entsteht eine Verflechtung aus narrativen Querverweisen, die überhaupt erst innerhalb<br />
einer transmedialen Erzählung eine diegetische Welt entstehen lassen würde. Durch diese<br />
Bezüge auf andere Aspekte und Facetten entsteht erst der diegetische Kontext. In Kapitel<br />
7.3. wurde mit dem Konzept der narrativen Lücken dieses notwendige Prinzip bereits für<br />
eine transmediale Erweiterung einer dokumentar-filmischen Erzählung implementiert.<br />
Im Beispiel von THE COVE beziehen sich die veröffentlichte Petition sowie alle weiteren<br />
audiovisuellen Inhalte der Internet-Seite auf Aspekte des Films. Auch die verfügbaren<br />
Studien zur Quecksilber-Kontamination und möglichen Gesundheitsschäden verweisen auf<br />
behandelte Thematiken des Dokumentarfilms. Zum Teil sind einzelne Erweiterungen daher<br />
auch untereinander verflochten da sie eine gemeinsame thematische Ausrichtung haben.<br />
Mit „multimodality“ bezieht sich Jenkins auf das Phänomen, dass jedes Medium einen<br />
narrativen Inhalt spezifisch strukturiert darstellt. Dies liegt an der Beschaffenheit der<br />
einzelnen Medien und in Kapitel 4.1.1 wurde es sinngemäß für den Dokumentarfilm erörtert.<br />
Mahne (2007, 126) schreibt dazu:<br />
„Auf der Grundlage ihrer möglichen Darstellungstechniken modelliert jede Erzählgattung<br />
[im Kontext sind die Medien gemeint] auch den Inhalt einer Geschichte. Ein verfilmter<br />
Roman weist unweigerlich Abweichungen zu seinem schriftsprachlichen Bezugsmedium<br />
auf. Unterschiede, die sich aus den medialen Differenzen heraus erklären.“ (Anm. d. V.).<br />
Die Darstellungstechnik hat dabei wiederum Rückwirkungen auf den Inhalt wie Jenkins<br />
ausführt:<br />
74
„The key point here is that different media involve different kinds of representation — so<br />
what Green Lantern looks like differs from a comic book, a live action movie, a game, or<br />
an animated television series. Each medium has different kinds of affordances — the<br />
game facilitates different ways of interacting with the content than a book or a feature<br />
film. A story that plays out across different media adopts different modalities. A franchise<br />
can be multimodal without being transmedia — most of those which repeat the same<br />
basic story elements in every media fall into this category.” (@7).<br />
Diese Feststellung erfordert demnach auch eine Berücksichtigung der Beziehung zwischen<br />
den narrativen Segmenten und ihrer medialen Darstellung. Ein konzeptionell-narrativ definiertes<br />
Segment erscheint nicht auf allen Medien gleich. Aufteilung und Segmentierung<br />
stehen also in enger Wechselwirkung mit ihren medialen Repräsentationen (s. Kap. 8.2.4).<br />
Multimodalität bedeutet in diesem Kontext also, dass erst die Verwendung mehrerer Medien<br />
und ihrer einzigartigen Darstellungspotenziale (Modalitäten) zur Darstellung von (möglichst<br />
komplementären) Inhalten zu einer <strong>Transmedia</strong>lität führt. <strong>Transmedia</strong>le Narration<br />
bedingt demnach einen Mindestgrad an Multimedialität (vgl. Kap. 6.1).<br />
Die beiden Konzepte „radical intertextuality“ und „multimodality“ sollen nach Jenkins<br />
dann im Sinne des Prinzips der „additive comprehension“ angewendet werden: „Ideally,<br />
each individual episode must be accessible on its own terms even as it makes a unique<br />
contribution to the narrative system as a whole. (@17). Jedes narrative Segment soll also<br />
mithilfe medialer Darstellungstechniken zum Verständnis des großen Ganzen, der Themen<br />
die in der diegetischen Welt abgebildet werden, beitragen. Dabei sollte jedes mediale Werk<br />
bzw. Segment so gestaltet sein, dass es eine sinnvolle Zugänglichkeit für den Rezipienten<br />
garantiert. Im Falle von TASTE THE WASTE kann das erwähnte Kochbuch auch von Menschen<br />
benutzt werden, die den eigentlichen Dokumentarfilm mitsamt seiner audiovisuell Präsentation<br />
der diegetischen Welt nicht gesehen haben.<br />
8.2.2.2 Notwendige Eigenschaften narrativer Einheiten<br />
Jenkins fordert zudem, dass transmediale Narrationen dem Publikum zum einen die Möglichkeit<br />
bietet, sich bei Interesse in Aspekte der Erzählung vertiefen zu können (Drillability)<br />
und zum anderen aber auch leicht die Möglichkeiten haben sollte, Inhalte verbreiten zu<br />
können, z.B. via sozialer Medien (Spreadability). Hierzu bemerkt Mittell an, dass beide Attribute<br />
„opposing vectors of cultural engagement“ (@20) darstellen.<br />
Auf der einen Seite erfordert „Drillability” eine ausreichend substanzielle Basis, um<br />
genügend informative Tiefe bieten zu können. Daraus folgt dann, dass „[Drillability] encourage[s]<br />
a mode of forensic fandom that encourages viewers to dig deeper, probing beneath<br />
the surface to understand the compleity of a sotry [!] and its telling. Such programs<br />
75
create magnets for engagement, drawing viewers into the storyworlds and urging them to<br />
drill down to discover more…” (ebd.; Erg. u. Anm. d. V.).<br />
Auf der anderen Seite bedingt “Spreadability”, dass ein transmediales Projekt auch<br />
derart aufbereitet wurde, dass es genügend Anreize schafft, damit Rezipienten es in sozialen<br />
Netzwerken weiter verbreiten (@10): „Spreadability refered to the capacity oft he<br />
public to engage actively in the circulation of media content through social networks and in<br />
the process expand is economic value and cultural worth.“ (@10). Obwohl Jenkins hier sehr<br />
vage bleibt – er schreibt selbst „more works need to be done to fully understand the interplay<br />
between these two impulses” (ebd.) – ist denkbar, dass Spreadability vor allem durch<br />
digitale Medien automatisch zu einer Eigenschaft von transmedialer Narration wird.<br />
8.2.3 Aufteilung und Segmentierung<br />
Sowohl makro-diegetische Aufteilungen als auch mikro-diegetische Segmentierungen stellen<br />
an den Dokumentaristen von Projekt zu Projekt sehr spezifische Anforderungen. Es gilt<br />
die Frage zu beantworten, wo diese Unterteilungen am besten vorgenommen werden können.<br />
Das Konzept der narrativen Lücken ist hier von entscheidender Bedeutung. Nun jedoch<br />
nicht mehr nur mit Bezug auf das etablierende Primärwerk, sondern als Prinzip auf die<br />
komplette makro- und mikrodiegetischen Bestandteile einer transmedialen Erzählung anzuwenden<br />
(vgl. Kap. 7.3 u. Abb. 7).<br />
Generell bringt die „Serialisierung“ einer Geschichte einige Forschungsfragen mit<br />
sich, die bislang noch nicht hinreichend geklärt wurden, wie dies Jenkins (@19) auf den<br />
Punkt bringt:<br />
„There still is a lot we don’t know about what will motivate consumers to seek out those<br />
other bits of information about the unfolding story [bestehend aus narrativen Segmenten]<br />
– ie. What would constitute the cliffhanger in a transmedia narrative – and we still<br />
know little about how much explicit instruction they need to know these other elements<br />
exist or where to look for them“. (Anm. d. V.).<br />
Auf mikro-diegetischer Ebene können für eine gegebene Geschichte bestimmte gestalterische<br />
Komponenten ausgemacht werden, die sich auf eine möglichst sinnvolle und<br />
ansprechende Segmentierung positiv auswirken. Allen voran stellt die inhärente Dramaturgie<br />
ihrer Erzählung (vgl. Kap. 4.1.1 u. 4.2.1) einen entscheidenden Orientierungsrahmen für<br />
ein Aufsplittern dar. Der Handlungsbogen eines Protagonisten erlaubt es an bestimmten<br />
Punkten einen Schnitt zu setzen. Im trivialsten Fall kann sich der Dokumentarist am Drei-<br />
oder Fünf-Akt-Model orientiert werden (vgl. 4.2.1). Hinter dem Ende eines jeden Aktes<br />
könnte eine Aufteilung erfolgen. Letztlich hängt dies vom individuellen Handlungsbogen<br />
eines Protagonisten ab. Die Kunst besteht darin, einzelne narrative Einheiten derart auszu-<br />
76
gestalten, dass sie für sich genommen einen runden dramaturgischen Bogen aufweisen,<br />
sich gleichzeitig aber auch in den größeren Handlungsbogen der ganzen Erzählung einfügen.<br />
Mit Blick auf fiktionale TV-Serien schreibt Jenkins (@19): „[…] there is a great deal we<br />
can learn by studying classic serial forms of fiction, such as the serial publication of novels<br />
or the unfolding of chapters in movie serials or even in comic book series.“. Im dokumentarischen<br />
Kontext ist die Dramaturgie jedoch immer auch von den real verlaufenden Ereignissen<br />
abhängig, auf die die eigentliche filmische Erzählung aufbaut. So fallen allgemeine gestalterische<br />
Faustformeln ausgesprochen klein aus (vgl. Kap. 2.4.1). Daher kann eine hundertprozentige<br />
Übernahme der seriellen Dramaturgie aus dem fiktionalen Bereich auch<br />
nicht erfolgen, ist jedoch der Orientierung des Dokumentaristen dienlich. Jedes Projekt<br />
bedarf hier einer eigenen Herangehensweise.<br />
8.2.4 Mediale Verteilung<br />
Die mediale Verteilung von zuvor definierten narrativen und informativen Einheiten stellt<br />
den eigentlichen Akt der transmedialen Erzählung dar. Mit diesem gestalterischen Schritt<br />
eröffnet der Dokumentarist auch erstmals dem Publikum in der Praxis die Möglichkeit teilzuhaben.<br />
Die Ausgestaltung der medialen Verteilung ist sehr stark an die Thematik gebunden.<br />
Doch kann festgehalten werden, über welche möglichen medialen Wege Inhalte verteilt<br />
werden können.<br />
Es sind viele mediale Kombinationen denkbar, hier definiert der Zweck einer narrativen<br />
Einheit die medialen Mittel zur Verteilung. Zudem rückt das Publikum erstmals in den<br />
Mittelpunkt des Gestaltungsraums. So macht Pratten (2011, 29) darauf aufmerksam:<br />
„Almost any technology, medium and place can be used to convey your story but think<br />
about your audience again – what’s their lifestyle? Where and how do they hang out? If<br />
you’ve got a story appealing to single-parent families is it likely they’re going to attend<br />
live events? Maybe if it’s during the day and they can bring their babies but most likely<br />
not in the evenings – they have problems with babysisters, cash and free time. Which<br />
platforms will appeal to this audience?”.<br />
Letztlich stehen fast alle möglichen medialen Darstellungsformen in enger Verbindung<br />
mit den gewählten intra- und extradiegetischen Erzählmitteln des primären Dokumentarfilms.<br />
Dieser mediale Zusammenhang fördert demnach auch die Anknüpfungsfähigkeit<br />
transmedialer Erweiterungen an den Dokumentarfilm. Einzig die Interaktivität mancher<br />
Medienträger wie der PC oder spezifische Anwendungen im Internet stellen einen wirklichen<br />
Bruch mit den bislang erörterten Erzählmitteln dar (vgl. Kap. 5.1 u. 5.2).<br />
77
78<br />
Man kann zwischen Erzählmittel und Trägermedium unterscheiden. Die nachfolgende<br />
Auflistung soll einen beispielhaften Eindruck davon vermitteln, welche Erzählmittel für<br />
die transmediale Erzählung generell in Frage kommen: 65<br />
• Visuell: Bilder, Fotos, Grafiken, Illustrationen, Texte u.a.<br />
• Auditiv: Tonaufnahmen, Musik u.a.<br />
• Audiovisuell: Film und Video, Zeichentrick, Animationen u.a.<br />
• Interaktiv: Videospiele, interaktive Grafiken, Text-Foren, Chats u.a.<br />
Wohlbemerkt stehen diese Erzählmittel weitgehend losgelöst vom Trägermedium. So kann<br />
ein Bild sowohl mithilfe eines Bildschirms repräsentiert werden als auch als physisch vorhandene<br />
Entität für sich selbst stehen. Eine Tonaufnahme eines Protagonisten kann von<br />
einer Kassette repräsentiert werden oder aber von einer digitalen Aufnahme auf CD bzw.<br />
als Audiostream im Internet. Gleichsam können alle visuellen und auditiven Erzählmittel<br />
durch audiovisuelle Trägermedien wie TVs, Smartphones oder PCs dargestellt werden. Diese<br />
medientheoretische Betrachtung soll nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, ihre<br />
Andeutung soll aber bewusst machen, dass eine transmediale Kampagne ausgesprochen<br />
vielgestaltig im Hinblick auf ihre Multimedialität ausfallen kann.<br />
festhält:<br />
Hierbei werden aber auch explizit keine Medien zwingend benötigt, wie Jenkins (@7)<br />
„So far, nothing here implies that particular media need to be involved for something to<br />
become transmedia. One can construct a high end transmedia system (a major blockbuster<br />
movie or network television show and its extensions) and one can construct a low<br />
end transmedia system (a low budget and/or independent film, a comic book or web series<br />
as the spring board for something which might include live performance or oral storytelling…)<br />
Some have tried to argue that games are a key component of transmedia, but<br />
I do not want to prioritize digital media extensions over other kinds of media practices.”.<br />
Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass eine transmediale Erzählung tendenziell auch<br />
Massenmedien wie Radio, TV, Internet oder das Kino integriert, um mithilfe dieser Träger<br />
möglichst viele Menschen zu erreichen. Dies stellt aber natürlich kein Muss dar. Da das<br />
Internet aber als Katalysator der Medienkonvergenz stetig wichtiger in der Gesellschaft<br />
wird (vgl. Kap. 1.1), sieht auch Long einen Trend zur digitalen Distribution von narrativen<br />
Inhalten, mitunter aufgrund der mit ihnen einhergehenden Möglichkeiten zur einfachen<br />
Aus- und Ankoppelung von Inhalten (vgl. Long 2007, 141). So liegt es nahe, dass das Internet<br />
eine dominante Rolle bei der Distribution digitaler Inhalte spielt. Dies kann wiederum<br />
auch bedeuten, dass eine Projekt-Webseite als zentrale Anlaufstelle für eine komplette<br />
65 Natürlich stellt diese Auflistung keine umfassende Darstellung oder Vergleich aller möglichen<br />
Erzählmittel dar. Für einen tieferen Einblick in die narrativen Eigenschaften bestimmter Medien<br />
bietet Mahne 2007 eine Einführung an.
Kampagne dienen kann. Auf alle digitalen Inhalte könnte direkt weitergeleitet werden und<br />
auf transmediale Erweiterungen auf anderen Trägermedien könnte zumindest hingewiesen<br />
werden (Bücher, DVDs, TV-Feature etc.).<br />
8.2.5 Beispiel einer transmedialen Erzählung<br />
Eine praxisnahe Verdeutlichung der bislang dargelegten Zusammenhänge und Überlegungen<br />
soll nun Abbildung 10 zusammenfassend bieten. Zu sehen ist ein Primärwerk dessen<br />
konstituierte diegetische Welt durch transmediale Erweiterungen substanziell bereichert<br />
wird. Dabei soll sich weniger auf ihre konkrete mediale Präsentationsform und mehr auf die<br />
eigentlichen Erzählmittel konzentriert werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass die meisten<br />
Erweiterungen zumindest im Internet vorzufinden wären. Hierzu soll an das Flüchtlings-<br />
Beispiel in Kapitel 7.3 angeknüpft werden:<br />
Abbildung 10: Beispielhafte transmediale Kampagne. 66<br />
In die Flüchtlingsthematik in Süd-Europa wird durch das Primärwerk eingeführt, das<br />
die dort vorherrschenden Zusammenhänge mithilfe einer Erzählung in eine diegetische<br />
Welt überführt. Mikro-diegetische Erweiterungen dieser erzählten Welt gehen nun vom<br />
Dokumentarfilm aus (dunkel- zu hellrot).<br />
66 Quelle: Verfasser dieser Arbeit in Anlehnung an Pratten (2011, 13, Abb. 10).<br />
79
• Die Videos im Internet beleuchten Perspektiven die zwar im Primärwerk angedeutet,<br />
aber nicht ausgeführt wurden. So können beispielsweise politische Gegner<br />
einer Einreise von afrikanischen Flüchtlingen nach Europa zu Wort kommen<br />
und ihre Perspektive darlegen. Gleichzeitig könnten aber auch im Film nur marginal<br />
dargestellte Menschenrechtler und Soziologen zu Wort kommen und von ihrem<br />
Standpunkt aus erklären, wieso Migrationswellen unabdingbar sind (Hinzufügen<br />
weiterer Erzählinstanzen oder Änderung des Distanz-Nähe-Verhältnisses).<br />
• Zudem können Interviews mit den Protagonisten in Videoform angeboten werden,<br />
die ihr Innenleben näher beleuchten (Verschiebung von Fokalisierung und<br />
Distanz). Es liegt nahe, dass diese im Internet angesiedelt sind. Die Interviews<br />
könnten aber auch als Bonus-Material auf einer entsprechenden Film-DVD präsentiert<br />
werden.<br />
• Eine nachträglich produzierte kurze Video-Dokumentation erörtert den sozialgeschichtlichen<br />
Hintergrund der Migrationswellen. Es werden die Ursachen und<br />
Zusammenhänge erklärt, wieso überhaupt Menschen in Afrika den Weg nach Europa<br />
suchen (Konstruktion einer makro-diegetischen Rückblendung).<br />
• Eine interaktive Animation soll die ergänzende Brücke zwischen der kurzen Hintergrunddokumentation<br />
und dem Handlungsbeginn des Primärwerks (Flüchtlinge<br />
bereits auf Malta) schlagen, in dem sie die eigentliche Reise der Menschen durch<br />
die Sahara, Nordafrika und das Mittelmeer darstellt. Zum Beispiel könnten Benutzer<br />
bei verschiedenen Stationen der Reisenden einen Einblick davon erhalten,<br />
welche Umstände hier herrschen und wie viele Menschen diese Station statistisch<br />
bereits durchquert haben (extradiegetisches Erzählmittel, Veränderung der<br />
Fokalisierung).<br />
• Nun könnte angenommen werden, dass eine Reportage aufgrund der öffentlichen<br />
Resonanz auf das Primärwerk und die bislang gestaltete transmediale Kampagne<br />
für einen TV-Sender produziert wird. Diese verfolgt im Anschluss an die<br />
Handlung des Primärwerks die weitere Entwicklung eines Protagonisten (makrodiegetische<br />
Erweiterung).<br />
• Zudem wird eine Studie erstellt, die sich der genauen Betrachtung eines Aspekts<br />
des Primärwerks widmet. Beispielsweise könnte untersucht werden unter welchen<br />
Bedingungen Flüchtlinge in Malta bereits zu Beginn ihres Aufenthaltes in<br />
Untersuchungshaft geraten sind und ob dies konform mit geltendem EU-Gesetz<br />
ist (mikro-diegetische Erörterung).<br />
80
• Die Webseite dient in diesem Beispiel als Dreh- und Angelpunkt der gesamten<br />
Kampagne. Es ist sinnvoll in Hinblick auf eine einheitlich wirkende und übersichtliche<br />
Gestaltung der Kampagnen ein zentrales Portal für die Thematik zu erstellen.<br />
So wird dem Rezipienten Orientierung und Übersicht über die verschiedenen<br />
Angebote gegeben. Zudem bietet die Webseite Kommunikationskanäle wie Foren,<br />
Live-Chats oder ähnliches. Hier können sich Rezipienten untereinander austauschen<br />
oder eventuell sogar mit den Filmemachern in Kontakt treten (z.B.<br />
durch einen angekündigten Termin, an dem Interessierte mit den Filmemachern<br />
chatten kann).<br />
8.3 Erzählerische Kohärenz<br />
Es geht bei transmedialer Kohärenz und Kontinuität um die Einhaltung gewisser Rahmencharakteristiken,<br />
Werte und Wiedererkennungsmerkmale. Diese Projekt-spezifischen<br />
Attribute gewährleisten, dass trotz unterschiedlicher medialer Erzählformen transmedialen<br />
Erweiterungen eindeutig einem bestimmten Primärwerk bzw. einer Kampagne zugeordnet<br />
werden können. Dies ist eine Konsequenz des Gedankens, dass sich eine diegetische Welt<br />
zu einem Franchise im Kontext der <strong>Transmedia</strong>lisierung weiterentwickelt. Jenkins schreibt<br />
hierzu: „It is certainly the case that many transmedia franchises do indeed seek to construct<br />
a very strong sense of ‘continuity’ which contributes to our appreciation of the ‘coherence’<br />
and ‘plausibility’ of their fictional worlds […]” (@10).<br />
Alle diegetischen Fragmente müssen, obgleich sie sich gegenseitig ergänzen oder erweitern,<br />
bestimmte inhaltliche Übereinstimmungen aufweisen. Erst so kann eine in sich<br />
stimmige diegetische Welt entstehen. Denn ohne einen Mindestgrad an inhaltlicher Kohärenz<br />
bei der transmedialen Aufbereitung einer Thematik würden die einzelnen Erweiterungen<br />
in Widerspruch zueinander stehen und einen inhaltlich fließenden Übergang zwischen<br />
den einzelnen medialen Komponenten einer Kampagne unmöglich machen. Dies wiederum<br />
würde dann zu einem Bruch in der Kontinuität der transmedialen Narration führen, was<br />
beim Rezipienten zu Irritationen führt, wodurch letztlich seine Aufnahme der einzelnen<br />
Erzählungen und Informationen gestört oder gar unterbrochen wird. 67<br />
67 Im fiktionalen Bereich kann transmediale Kontinuität beispielhaft damit beschrieben werden, dass<br />
die Comicfigur „Superman“ immer das gleiche Kostüm trägt, den gleichen Schwachpunkt aufweist<br />
(das Material „Kryptonit“) und über die gleichen übermenschlichen Fähigkeiten verfügt. Würde<br />
sich diese charakteristische Eckpunkt in verschiedenen Werken widersprechen, würde dies zu<br />
gravierenden Irritationen führen.<br />
81
Dabei müssen Kontinuität und Kohärenz sowohl auf makro- als auch mikrodiegetischer<br />
Ebene eingehalten werden. Auf globaler Ebene der diegetischen Welt müssen<br />
bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt werden. So sollte sich jede Erweiterung derart auf<br />
einen gewissen Aspekt einer diegetischen Welt beziehen, dass eindeutig ersichtlich wird,<br />
dass sie Teil einer bzw. der gleichen transmedialen Kampagne ist. So würde zum Beispiel<br />
die Darstellung einer gänzlich neuen Perspektive auf einen Sachverhalt, die jedoch in keinem<br />
Zusammenhang zu bereits aufgegriffenen Aspekten stehen würde, schlichtweg aus<br />
dem Rahmen der Kampagne fallen. Daher ist die Ausstrahlung gewisser Zugehörigkeits-<br />
Signale im Umkehrschluss ausgesprochen wichtig, damit Zuschauer die von ihnen rezipierten<br />
medialen Erzählungen zu einer größeren transmedialen Kampagne zuordnen können.<br />
In Hinblick auf den Franchise-Gedanken könnte dies zudem durch die schlichte Einblendung<br />
eines extra- oder intradiegetischen Hinweises geschehen (Name des Primärwerks<br />
oder der Kampagne; Hinweis auf die Webseite usw.) oder etwa durch die Markierung mit<br />
einem einheitlichen Logo erfolgen. Hier entsteht das eigentliche, dem Marketing sehr nahe<br />
stehende, „branding“ einer jeden dokumentarischen Erzähleinheit. Auf inhaltlicher Ebene<br />
hilft dann vor allem die Berücksichtigung des Konzepts der narrativen Lücken sowie die<br />
Einhaltung der von Jenkins geforderten Eigenschaften einzelner narrativer Einheiten (vgl.<br />
Kap. 8.2.2.1)<br />
Auf mikro-diegetischer Ebene spiegelt sich transmediale Kontinuität dahingehend<br />
wider, dass einzelne Sachverhalte und Aspekte gleichbleibend dargestellt werden. Dies soll<br />
nicht bedeuten, dass nicht mehrere Perspektiven auf einen Sachverhalt, die auch eine andere<br />
Wahrheit mitunter vertreten, erzählt werden können. Sofern dies transparent gemacht<br />
wird, entstehen beim Zuschauer keine Irritationen, sondern er kann das erzählte als<br />
eine von mehreren Sichtweisen einordnen.<br />
Vielmehr ist damit gemeint, dass zum Beispiel Fakten, Namen und Orte als auch erzählerische<br />
Funktionen der Protagonisten stets kontinuierlich dargestellt werden sollten.<br />
Diese „harten“ Eigenschaften und Elemente einer diegetischen Welt dienen als erzählerisches<br />
Stützkorsett und geben jeder transmedialen Erweiterung einen Orientierungsrahmen.<br />
Auch das Beziehungsgeflecht der einzelnen Protagonisten und Parteien kann als „harte“<br />
Komponente in Erscheinung treten, wie im Falle von THE COVE die Beziehung zwischen japanischen<br />
Fischern und den Tierschützern unverändert gegensätzlich ist. Doch da sich Verhältnisse<br />
und Relationen auch verändern können, müssen diese Veränderungen im Sinne<br />
einer kontinuierlichen Erzählung transparent gemacht werden. Hier spielt vor allem das<br />
zeitliche Verhältnis der transmedialen Kampagne zu den realen Zusammenhängen in der<br />
Wirklichkeit eine entscheidende Rolle (vgl. Kap. 8.1.1.2).<br />
82
9 Erweiterung des Handlungsraumes des Rezipienten<br />
Jenkins fordert von transmedialer Narration mitunter auch die Erfüllung des Prinzips der<br />
Performance. Darunter versteht er das Konzept, dass das Publikum nicht nur rezipiert, sondern<br />
auch Möglichkeiten geboten bekommt, aktiv an der diegetischen Welt teilnehmen zu<br />
können. Er beschreibt dies wie folgt:<br />
„[…] I introduced two related concepts – cultural attractors (a phrase borrowed from<br />
Pierre Levy) and cultural activators. Cultural attractors draw together a community of<br />
people who share common interests – even if it is simply the common interest in figuring<br />
out who is going to get booted from the island next. Cultural activators give that community<br />
something to do.”(@19; Ausl. d. V.).<br />
Dem stimmt Iacobacci zu, wenn sie schreibt: „Content spread across various media<br />
(crossmedia) is no longer satisfying enough, viewers wants [!] more, they are becoming<br />
VUPs and in viewing/using/playing want to participate, and to certain extent create, the<br />
story themselves.” (@6).<br />
Mit diesen Worten bringt sie auf den Punkt, welche Transformation ein Rezipient<br />
unweigerlich durchmacht, wenn er in eine entsprechend ausgestaltete transmedial erzählte<br />
Welt eintaucht. Sein Handlungsraum wird erweitert, so dass er zum „VUP“ wird, dem viewer/user/player<br />
(vgl. @22). Er stellt nicht länger nur einen (passiven) Empfänger dar, sondern<br />
kann aktiv werden, transmediale Erzählelemente selbst benutzen – in Abhängigkeit<br />
der medialen Form dieser einzelnen Erzählelemente. In den nachfolgenden Unterkapiteln<br />
sollen einzelne Facetten des VUP-Konzeptes erörtert werden, obgleich auch das Konzept an<br />
sich keiner näheren Analyse unterzogen werden soll. Es soll als Anlass dienen, die Erweiterungen<br />
des Handlungsraumes des Rezipienten zu untersuchen, ohne dabei selbst im Fokus<br />
zu stehen.<br />
9.1 Dimensionen der Rezeption<br />
9.1.1 Immersive Erfahrbarkeit<br />
Wurden die in den Kapiteln 6 bis 8 dargelegten, gestalterischen Konzepte der transmedialen<br />
Narration nach Möglichkeit eingehalten und umgesetzt, so wird dem Publikum dadurch<br />
die Möglichkeit geboten, einzutauchen in eine erzählende und informierende Welt. Rezipienten<br />
können so ein dokumentarisch aufbereitetes Thema durch verschiedene Mediengattungen<br />
audiovisuell, im Falle eines Buches sogar haptisch sinnlich wahrnehmen. Mitunter<br />
bieten ihnen auch digitale Anwendungen die Möglichkeiten, mit Aspekten der diegetischen<br />
Welt direkt zu interagieren. Diese Formen des medialen Erlebens sind Voraussetzungen<br />
83
dafür, dass Rezipienten in die diegetische Welt (mental) hineingleiten können. In manche<br />
Aspekte können sie während der Rezeption regelrecht versinken und sich durch das mediale<br />
Springen zu anderen Erzählbausteinen immer weiter in die Thematik vertiefen.<br />
Natürlich unterscheiden sich Projekte im Umfang und der medialen Aufbereitungen<br />
mitunter erheblich von anderen, so dass auch die Voraussetzungen für derartig intensive<br />
Erlebnisse von Projekt zu Projekt mal mehr und mal weniger gegeben sein können. Zudem<br />
müssen Rezipienten überhaupt Interesse an einer transmedialen dokumentarischen Narration<br />
haben, um bereit sein zu können, sich auf sie einzulassen.<br />
Ungeachtet dieser multi-faktoriellen Bedingungen bilden transmedial erzählte diegetische<br />
Welten gute Vorrausetzungen, um Rezipienten tendenziell die Möglichkeit zu bieten,<br />
sinnesumfassend in die diegetische Welt einzutauchen. Jenkins benutzt hierfür den Begriff<br />
Immersion, „the ability of consumers to enter into fictional worlds.” (@19). Ein weiteres<br />
Gestaltungsprinzip, das für ihn „transmedia storytelling“ mit definiert.<br />
Er bezieht sich hierbei, wie bei all seinen Äußerungen, auf fiktionale Story-Welten. Im<br />
Vergleich liegt es auf der Hand, dass die intensive Interaktion mit einem Videospiel, dass im<br />
STAR WARS-Universum angesiedelt ist, Benutzern ein stärkeres immersives Erlebnis bietet<br />
als die transmediale Erzählung von dokumentarischen Inhalten. Jenkins Verständnis von<br />
Immersion kann im hier behandelten transmedialen Kontext also vielmehr als die Möglichkeit<br />
angesehen werden, dokumentarisch erzählte und aufbereitete Sachverhalte Sinnesumfassender<br />
erleben zu können, als es ein reiner Dokumentarfilm ermöglichen könnte (vgl.<br />
Kap. 4.2.1). Durch immersives Erleben verschiedener Aspekte einer transmedialen Narration<br />
kann das Publikum auch die diegetische Welt insgesamt besser verstehen und nachvollziehen.<br />
Und diese intensive Erfahrbarkeit einer Thematik stellt einen wünschenswerten<br />
Zustand sowohl für den Dokumentaristen als für das Publikum dar (vgl. Kap. 2).<br />
9.1.2 Extraktion diegetischer Elemente<br />
Für Jenkins steht Immersion im Spannungsverhältnis mit „Extractability“, der Möglichkeit<br />
für den Rezipienten, gegenständliche Dinge oder informative Aspekte einer (fiktionalen)<br />
diegetischen Welt in die eigene reale Lebenswelt zu überführen. Beide Prinzipien bilden<br />
entgegengesetzte Ausprägung der gleichen Dimension: Erfahrbarkeit der diegetischen<br />
Welt.<br />
Bezieht sich Immersion jedoch auf die Möglichkeit mediale Inhalte präsenter zu erleben,<br />
meint Extractability das genaue Gegenteil. Die Extraktion einzelner Aspekte der diegetischen<br />
Welt wird in die konkrete Lebenswelt des Zuschauers (praktisch) überführt. Das<br />
84
Prinzip ist nicht neu, man denke an Merchandising im fiktionalen Bereich (z.B. Action-<br />
Figuren, Spielzeug, Schlafanzüge).<br />
Doch auch im dokumentarischen Kontext macht das Prinzip der Extractability durchaus<br />
Sinn. Möchte dokumentarische Erzählung dem Publikum ohnehin schon eine möglichst<br />
authentische Möglichkeit bieten, sich über die eigene reale Welt zu informieren, führt<br />
Extractability diese Intention konsequent weiter: Die Beeinflussung der Lebenswelt des<br />
Zuschauers durch nachhaltiges Informieren.<br />
Entsprechend der Thematik eines Projektes kann dies beispielsweise durch die Bereitstellung<br />
von zuschauerorientierten Informationen geschehen. Hinweise, Ratschläge,<br />
Methoden oder Anleitungen könnten so dem interessierten Zuschauer zur Hand gegeben<br />
werden. Ihm ist es also möglich, Aspekte zu extrahieren und in seiner eigenen Lebenswelt<br />
anzuwenden. Bemerkenswerter Weise stellt hier der erste Dokumentarfilm NANOOK, DER<br />
ESKIMO ein sogar außerordentliches Beispiel dar. Nach seinem Erscheinen löste er eine regelrechte<br />
Eskimo-Begeisterung aus. Unter anderem inspirierte der Film in den USA dazu, Eis<br />
am Stiel zu essen, das fortan „Eskimo Pies“ genannt und kommerziell vertrieben wurde.<br />
Eine Methodik der Inuit, Nahrung zu gefrieren, wirkte inspirierend und wurde in die Lebenswelt<br />
des Publikums extrahiert (vgl. @21).<br />
Derartige Beispiele verdeutlichen, dass durch Extractability die Wirklichkeit der Rezipienten<br />
nachhaltig durch die Rezeption medialer Inhalte verändert werden kann. Es handelt<br />
sich hierbei um eine Rückführung filmisch abstrahierter Zusammenhänge der Wirklichkeit<br />
in die individuelle Lebenswelt der Rezipienten – der Dokumentarfilm als Wirklichkeits-<br />
Spiegel beleuchtet für den Rezipienten nur schwer einsehbare Bereiche seiner Welt, woraufhin<br />
dieser sich das damit gewonnene Wissen zu Nutze macht.<br />
Dieser Prozess kann mal impliziter (wie im Falle von NANOOK, DER ESKIMO) und mal expliziter<br />
von den Filmemachern evoziert werden. So können im Beispiel von THE COVE, wie<br />
bereits erwähnt, Kleidungsstücke mit dem Aufdruck THE COVE sowie THE COVE-Wein und THE<br />
COVE-Musik gekauft werden. Zudem werden explizit verbraucherorientierte Informationen<br />
zu den Folgen von Quecksilber in Nahrung usw. angeboten. Die transmediale Kampagne<br />
möchte also nicht mehr nur den Rezipienten aufklären, sondern auch tatsächlich seine Lebenswelt<br />
durch die Veränderung seines Bewusstseins für bestimmte Sachverhalte, nachhaltig<br />
beeinflussen.<br />
85
9.2 Miteinbeziehung des Rezipienten<br />
9.2.1 Der Rezipient wird zum Partizipant<br />
Am Beispiel von THE COVE kann die Transformation durch eine Steigerung des Engagements<br />
des Publikums beobachtet werden. In Kapitel 6.3 wurde die von den Produzenten angestoßene<br />
„Social Action Campaign“ (@13) bereits kurz erörtert. Sie lädt das Publikum dazu ein,<br />
die im Film dargelegten Umstände aktiv zu beeinflussen. So wird der Zuschauer also nicht<br />
nur informiert, wodurch eventuell sein Verhalten nachhaltig verändert werden könnte,<br />
sondern darüber hinaus wird er zu aktivem Handeln, zur Einmischung in die dargestellten<br />
Zusammenhänge aufgefordert. Ihm wird die Möglichkeit geboten zusammen mit den Filmemachern<br />
(bzw. Protagonisten) „Seite an Seite“ gegen die gleichen antagonistischen Kräfte<br />
aus der diegetischen Welt zu kämpfen. Vom Rezipienten wandelt er sich so zum intervenierenden<br />
Partizipant. Der Rezipient „fasst“ sozusagen mit seiner Hand durch den dokumentarischen<br />
Wirklichkeits-Spiegel, um beleuchtete Bereiche seiner eigenen Welt zu berühren.<br />
Im Beispiel von THE COVE bietet sich ihm so beispielsweise die Gelegenheit mit seiner<br />
Teilnahme an einer Petition den politischen Druck auf die japanische Regierung zu erhöhen.<br />
Zudem können auch vorformulierte Briefe an Funktionäre in Japan geschickt werden. 68<br />
Auch wenn dies nur eine sehr abstrakte „Betretung“ der diegetischen Welt darstellt, kann<br />
dies definitiv als Involvieren in die dargestellten realen Konflikte gewertet werden.<br />
So könnte auch zu Spenden aufgerufen werden, wie im Falle von GARBAGE DREAMS<br />
(USA, 2009), um bei der Finanzierung von Schulen oder bestimmten Hilfeleistungen für die<br />
Protagonisten zu helfen. Durch die Verwendung von Massenmedien in der transmedialen<br />
Kampagne können entsprechend viele Menschen angesprochen werden. So liegt die Annahme<br />
nahe, dass die Möglichkeiten zur Intervention durch ein großes Publikum auf mediale<br />
Kanäle konzentriert werden, die von einer Vielzahl von Menschen gleichzeitig wahrgenommen<br />
werden können. Der einzelne Partizipant spielt dabei dann eine untergeordnete<br />
Rolle, vielmehr bildet er zusammen mit anderen Partizipanten einen Schwarm, dessen potenzielle<br />
„Wirkungsenergie“ von transmedialen Techniken katalysiert und anschließend in<br />
gelenkten Bahnen zielgerichtet kanalisiert wird.<br />
68 Zum Augenblick des letzten Aufrufs der Petitions-Seite: http://www.takepart.com/cove<br />
/takeaction am 25.11.12, konnte die Aktion 500000 Unterzeichner verbuchen, und erreichte nach<br />
eigenen Angaben 100% ihres Vorhabens.<br />
86
Sofern dieses Involvieren durch mediale Erzählbausteine dokumentiert und in den<br />
transmedialen Kanon aufgenommen wird, entwickelt sich ein Zuschauer so zu einem Element<br />
der diegetischen Welt. Denn zeitliche Entwicklungen dieser transmedial konstruierten,<br />
erzählten Abbildung der Wirklichkeit können nur durch Hinzufügen jüngerer narrativer<br />
Segmente in der diegetischen Welt verankert werden (vgl. Kap. 8.1.1.2). Somit findet eine<br />
Integration des partizipierenden Zuschauers in einem aktualisierten „Ist-Zustand“ der diegetischen<br />
Welt als marginaler Bestandteil statt.<br />
Wird die transmediale Erzählung als Meta-Werk begriffen und die diegetische Welt<br />
als die Diegese dieses erzählenden Meta-Werkes, so findet durch die mediale Integration<br />
des Zuschauers ein diegetischer Kurzschluss statt. Denn dadurch berührt er durch sein reales<br />
Engagement via transmedialer Hilfsmittel die eigentliche intradiegetische Ebene der<br />
Erzählung, wenn auch nur in der peripheren Rolle als „intervenierender Partizipant“.<br />
Kuhn (vgl. 2011, 357 ff.) bezeichnet narratologische Phänomene im fiktionalen filmischen<br />
Bereich, in dem eine Brücke zwischen verschiedenen Erzählebenen und –Instanzen<br />
geschlagen wird, als „Metalepsen“. Damit sind vor allem illusionsstörende Überschreitungen<br />
der Erzählebenen innerhalb eines narrativen Werkes gemeint wie zum Beispiel die<br />
überraschende direkte Ansprache des Zuschauers durch einen Schauspieler, der direkt in<br />
die Kamera spricht (vgl. Kuhn 2011, 113). Ursprünglich wurde dieser Begriff von Genette<br />
geprägt, der von Kuhn wie folgt zitiert wurde:<br />
„Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische<br />
Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.)<br />
oder auch […] das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal<br />
phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, daß er alle<br />
diese Transgressionen abdeckt.“ (Genette zit. n. Kuhn 2011, 357; Ausl. im Zitat).<br />
Zumindest für den Zuschauer findet hier ein Umbruch in der Wahrnehmung statt: Er<br />
kann sein eigenes Eindringen in die diegetische Welt erkennen, sieht sich im transmedialen<br />
„Meta-Werk“ also selbst.<br />
Dieses Konzept der transmedialen Metalepse ist nach Genette sehr weit gefasst.<br />
Der Zuschauer wird als peripherer Partizipant in die zeitlich fortgeführte Diegese integriert,<br />
genauso wie die bereits vorhandenen intradiegetischen Protagonisten. 69<br />
69 Das Verhältnis zwischen dem Begriff der Metalepse und dem transmedialen Phänomen der<br />
Miteinbeziehung von Zuschauern in die diegetische Welt könnte noch tiefergehend analysiert<br />
werden. Diese Analyse kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt werden.<br />
87
9.2.2 Bidirektionale Kommunikation<br />
Die meisten vorhergehend genannten Beispiele einer Miteinbeziehung des Zuschauers in<br />
die diegetische Welt oder die Erweiterung ihrer Erlebbarkeit basieren auf einem unidirektionalen<br />
Kommunikationskanal. Entweder fließen Informationen von den Filmemachern zum<br />
Publikum (Regelfall) oder die Zuschauer können als Partizipanten an gewissen Aktionen<br />
teilnehmen. Ein beidseitiger Austausch an Informationen besteht jedoch nicht (mit Ausnahme<br />
von interaktiven Anwendungen innerhalb des transmedialen Kanons, allerdings hier<br />
bisher nicht direkt zwischen Filmemachern und Publikum).<br />
Eine starke kommunikative Miteinbeziehung des Rezipienten kann durch die Etablierung<br />
bidirektionaler Kommunikationskanäle erfolgen. Vor allem mithilfe digitaler Kommunikationsplattformen<br />
im Internet können so Brücken zwischen dem Publikum und den Produzenten,<br />
oder dem Publikum und den Protagonisten geschlagen werden. 70 Als Beispiel könnten<br />
klassische Foren oder Chaträume genannt werden. Aber auch spezielle Veranstaltungen,<br />
in denen dann „ausgewählte“ Zuschauer die Möglichkeit erhalten, direkt mit den Produzenten<br />
und Protagonisten in persönlichen Kontakt zu treten sind denkbar (z.B. via Skype-<br />
Konferenzen 71 oder bei Podiumsdiskussionen). Die Qualität der Miteinbeziehung hängt<br />
hierbei dann von dem Zeitpunkt ab, an dem derartige Kommunikationskanäle eröffnet<br />
werden. So können die Produzenten beispielsweise Kommentare und Meinungen des Zuschauers<br />
einholen und evtl. in die weitere Arbeit mit einfließen lassen. Das Publikum wiederum<br />
könnte die Chance erhalten, Wissen aus erster Hand über die Thematik zu bekommen<br />
und Fragen zu stellen.<br />
Im Unterschied zum Konzept des intervenierenden Partizipanten wird der Zuschauer<br />
bei der Aufnahme einer bidirektionalen Kommunikation nicht unbedingt in die diegetische<br />
Welt involviert. Ein rein informativer Austausch mit den Protagonisten oder den Produzenten<br />
kann zwar mitunter Einfluss auf deren weiteres Verhalten haben, dieser Einfluss<br />
ist aber zu spekulativ und nicht messbar. Vielmehr steigert dieser kommunikative Miteinbezug<br />
aus Sicht des Zuschauers die immersive Erfahrbarkeit der diegetischen Welt sowie die<br />
Extrahierbarkeit bestimmter (informativer) diegetischer Elemente.<br />
Solange diese Kommunikation nicht dokumentiert wird, findet sie außerhalb der eigentlichen<br />
diegetischen Welt statt, quasi „hinter den Kulissen“. Erst wenn beispielsweise<br />
70 Natürlich könnten über diese Plattform auch die Produzenten mit den Protagonisten<br />
kommunizieren. Aufgrund der jedoch ohnehin bereits notwendigerweise bestehenden engen<br />
kommunikativen Verknüpfung beider Parteien, macht dies nur in Ausnahmefällen einen Sinn (z.B.<br />
bei bestimmten Veranstaltungen, Events usw.).<br />
71 Skype ist ein sehr verbreitetes Programm zur digitalen Videotelefonie über das Internet. Nähere<br />
Informationen unter www.skype.de (letzter Abruf 26.11.12).<br />
88
eine solche Kommunikation in die transmediale Kampagne aufgenommen, archiviert bzw.<br />
manifestiert wird, erweitert sie auch die diegetische Welt nachhaltig. Die genaue Ausprägung<br />
der bidirektionalen Kommunikation hat dabei starke Auswirkungen auf die Miteinbeziehung<br />
und die Rolle des Zuschauers, ist also ausgesprochen projektabhängig.<br />
9.2.3 Einbindung als Protagonist oder Produzent<br />
Die höchste Form der Partizipation basiert auf den vorhergehenden Konzepten und führt<br />
diese zu einer noch engeren Verflechtung von Publikum und transmedialer Narration zusammen:<br />
Der Miteinbeziehung in den eigentlichen Produktionsprozess als Produzent oder<br />
Protagonist.<br />
Dadurch wird der Handlungsraum des einfachen Rezipienten abermals erheblich<br />
erweitert. Über das VUP-Konzept hinaus kann er zum Produzenten oder Protagonisten<br />
werden. Demnach könnte das VUP-Konzept durch die Möglichkeiten transmedialer Narration<br />
zu einem erweiterten VUP³-Konzept ausgebaut werden, das folgender metaphorischer<br />
Gleichung entspricht: VUP + Produzent + Protagonist = VUP³.<br />
Vorbedingung für diesen höchsten Grad der Miteinbeziehung ist eine entsprechend<br />
frühzeitige Etablierung entsprechender Kommunikationskanäle und der Organisation von<br />
transmedialen Angeboten. Klar ist auch, dass diese intensive Miteinbeziehung des Publikums<br />
in den Kreationsprozess einer transmedialen Narration oder sogar des Primärwerks<br />
ein Projekt von vorneherein wesentlich prägt. Hier können sich mitunter die Konturen eines<br />
noch klar identifizierbaren Dokumentarfilms auflösen und mit anderen dokumentarischen<br />
Formaten oder transmedialen Erzähltechniken verschwimmen. Zudem müssen die Intention<br />
der Filmemacher als auch die Thematik der transmedialen Kampagne entsprechend<br />
ausgerichtet sein.<br />
9.2.3.1 Involvierung als Protagonist<br />
Die Mitgestaltung des Primärwerks anderer transmedialer Werke stellt einen konzeptionell-narrativen<br />
wie auch organisatorisch ausgesprochen anspruchsvollen Prozess dar. Ein<br />
Beispiel hierfür ist die Produktion des Dokumentarfilms 350 SOUTH (USA, 2012- ), in der zwei<br />
Iren von Nord-Alaska nach Süd-Argentinien mit dem Fahrrad in 350 Tagen fahren möchten.<br />
Ihre Unternehmung wird dabei von einem Kamerateam begleitet. Während dieser Zeit<br />
werden ihre Erlebnisse zudem mithilfe von sozialen Medien wie Facebook und Twitter als<br />
auch durch ein Video-Tagebuch, Fotoalben und schriftliche Blog-Einträge dokumentiert. Mit<br />
diesen transmedialen Erzählwerkzeugen, die zentralisiert vor allem auf der Webseite des<br />
89
Projektes dargestellt werden 72 , kann das Publikum vor der Fertigstellung des eigentlichen<br />
Primärwerks bereits den Produktionsprozess mit verfolgen und mit den Filmemachern als<br />
auch mit den Protagonisten in bidirektionalen Kontakt treten.<br />
Hinzu kommt – und dies ist entscheidend –, dass sich die Produzenten dazu entschlossen<br />
haben, die Protagonisten mit einem GPS-Sender auszustatten. Somit ist nicht nur<br />
die Verfolgung der kompletten Unternehmung nachvollziehbar, sondern in Echtzeit kann<br />
das Publikum einsehen, wo sich die Protagonisten gerade befinden. In Kombination mit der<br />
bidirektionalen Kommunikation wird es hierdurch den Zuschauern ermöglicht, sich aktiv an<br />
dem Vorhaben zu beteiligen und den beiden Fahrradfahrern während ihrer über 27300<br />
Kilometer langen Tour persönlich zu begegnen. So können Zuschauer aktiv den Verlauf des<br />
Primärwerks als Protagonisten mit beeinflussen, wenn ihre Begegnung in der finalen Montage<br />
in den Film geschnitten wird.<br />
Bernardo, einer der Produzenten dieser transmedialen Kampagne, erörtert die Intentionen<br />
der Filmemacher und des gesamten Projektes:<br />
„We wanted audiences to be part of the documentary. […] But we also created the right<br />
context so the documentary can be affected by audiences. We used Spot Adventures’<br />
GPS tracking service to enable everyone to know where Ian and his cycling partner, Lee,<br />
are at any given moment.<br />
Both Ian and Lee are available almost daily on social media, contacting viewers. And the<br />
results started to appear. Viewers that live near the route they established started to<br />
contact the adventurers, offering them a meal, a place to sleep or a pint in the nearest<br />
pub. They are physically interacting with the adventurers, and as everything is recorded<br />
on camera, they become part of the documentary. Audiences also unite in cycling events,<br />
helping the adventurers to overcome some challenges and also telling their own stories.<br />
Other adventurers doing similar routes found out about the documentary and approached<br />
Ian and Lee, becoming part of the experience too.” (@23).<br />
Durch die spezielle Auslegung des gesamten Produktionsprozesses auf die Teilnahme<br />
des Publikums werden einzelne Zuschauer zu echten Protagonisten des Films. Ihre eigene<br />
Lebenswelt wird zum Teil der diegetischen Welt.<br />
Ein diegetischer Kurzschluss bleibt aus, da durch die transmedialen Techniken die<br />
Zuschauer konkret zu Protagonisten gemacht werden. Der Zuschauer nimmt nicht mehr nur<br />
als einer von vielen Partizipanten an den Vorgängen teil, sondern er wird in die Diegese<br />
integriert.<br />
9.2.3.2 Miteinbeziehung in den Produktionsprozess<br />
Eine weitere Möglichkeit, dem Publikum eine beitragende Rolle zu bieten, ist die Aufforderung<br />
zur Ausgestaltung und Anreicherung der diegetischen Welt. Konkret können je<br />
72 www.350south.org (letzter Abruf 26.11.12).<br />
90
nach Themenstellung Aufgaben an die Benutzer einer transmedialen Kampagne herangetragen<br />
werden. Beispielsweise kann darum gebeten werden, selbst produzierte Inhalte wie<br />
Video-Clips, Fotos, Texte etc. einzusenden oder digital bereitzustellen. So könnte etwa ein<br />
Archiv aufgebaut werden, um Meinungen und Beispiele zu einem bestimmten Sachverhalt<br />
zu veröffentlichen, dass direkt von dem Publikum gestaltet wird.<br />
Der Zuschauer wird durch die Einbindung seines bereits gestellten, selbstproduzierten<br />
Inhaltes zu einem Protagonisten der transmedialen diegetischen Welt oder<br />
aber, wenn er nur als produzierendes Element des Inhaltes in Erscheinung trat, zu einem<br />
Mit-Produzenten der transmedialen Kampagne. Die diegetische Welt wird demnach um<br />
seinen produzierten Inhalt bereichert. Auch dies stellt eine hohe Form der Miteinbeziehung<br />
des Zuschauers in die transmediale Kampagne dar.<br />
Abschließend soll Abbildung 11 die zwei Dimensionen der Erweiterung des Handlungsraums<br />
des Zuschauers noch einmal zusammenfassen. Dabei soll für jede Dimension<br />
gelten: Je kleiner der Bereich, desto nachhaltiger ist die Wechselwirkung zwischen Rezipient<br />
und diegetischer Welt und je dunkler der Bereich eingefärbt ist, fällt das Erlebnis für<br />
den Rezipienten umso intensiver aus.<br />
Abbildung 11: Erweiterte Handlungsräume des Rezipienten. 73<br />
73 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
91
10 Abschließende Betrachtungen<br />
10.1 Gewonnene Erkenntnisse<br />
Zur Beantwortung der eingangs aufgestellten Kernfragen wurden in der vorliegenden Arbeit<br />
zwei ineinander greifende, interdisziplinäre Arbeitsschritte vollzogen:<br />
• Die Identifikation und Herleitung von Gestaltungsebenen, auf denen ein Dokumentarfilm<br />
gänzlich konstruiert wird (vgl. Kap. 2 bis 5).<br />
• Die umfassenden Verortung des Dokumentarfilmes im Kontext der transmedialen<br />
Narration und eine damit einhergehende Ableitung von gestalterischen<br />
Wechselwirkungen zwischen filmischer Gestaltung und transmedialen Erzählmitteln<br />
(vgl. Kap. 6 bis 9).<br />
Im Laufe der Abhandlung dieser beiden kapitelübergreifenden Groß-Komplexe konnten<br />
folgende relevante Erkenntnisse hinsichtlich der zentralen Fragen dieser Arbeit gewonnen<br />
werden:<br />
1. Dokumentaristen und ihr Publikum teilen eine gemeinsame dokumentarische Vision:<br />
Der Dokumentarfilm soll in der Funktion eines Repräsentanten der Wirklichkeit<br />
unsere Welt möglichst glaubwürdig wiedergeben. Dazu ist von Seiten des<br />
Dokumentaristen ein hoher Grad an Authentizität durch den Einsatz aller verfügbaren<br />
erzählerischen Mittel anzustreben. Trotzdem obliegt letztlich die Interpretation<br />
der dokumentarischen Darstellung dem mündigen Zuschauer (vgl. Kap. 2).<br />
2. Die dokumentar-filmische Erzählung wird auf drei Ebenen konstituiert. Dabei<br />
stehen die einzelnen Elemente auf diesen Ebenen miteinander in enger Wechselwirkung.<br />
Sie sind definiert durch eine Anzahl spezifischer Elemente, deren<br />
konkrete Ausprägung der Dokumentarist gestalten muss. Hierdurch entsteht ein<br />
Dokumentarfilm, der als Repräsentant der Wirklichkeit gelten kann. Die Ebenen<br />
unterscheiden sich durch ihren Abstraktionsgrad und lauten (vgl. Kap. 2.4.2):<br />
a. Die Regie-Ebene<br />
b. Die konzeptionell-narrative Ebene<br />
c. Die formal-kinematografische Ebene<br />
3. Ein Dokumentarfilm wird durch den Auftrag und die Vision des Dokumentaristen,<br />
Sachverhalte unserer Wirklichkeit filmisch abzubilden, initiiert. Dazu muss er die<br />
Zusammenhänge strategisch unter Zuhilfenahme redaktioneller Methoden erfassen<br />
und gleichzeitig selbstreflexiv seine Umwelt und sich verorten (vgl. Kap. 3).<br />
92
4. Es gilt eine ausgewählte Thematik – samt der mit ihr verbundenen Sachverhalte –<br />
erzählerisch zu verdichten und sie in die konstitutive Gussform der filmischen Erzählweise<br />
zu gießen. Aus Wirklichkeit wird so eine Diegese. Dabei muss sich drei<br />
konzeptionell-narratologischen Konzepten bedient werden (vgl. Kap. 4):<br />
a. Die Konstitution der Erzählung<br />
b. Die Perspektivierung der Erzählung<br />
c. Strukturierung der Erzählung<br />
5. Die Diegese manifestiert sich erst in einem Dokumentarfilm durch das Abbilden<br />
der Wirklichkeit mithilfe formal-kinematografischer intra- und extradiegetischer<br />
Erzählmittel. Die Montage stellt den konkreten Akt der filmischen Konstruktion<br />
dar (vgl. Kap. 6.3).<br />
6. Ein Dokumentarfilm ist prädestiniert dazu, als Primärwerk eine transmediale<br />
Kampagne zu initiieren. Er steht so in der Mitte eines narrativen Reigens aus<br />
transmedialen Erweiterungen. Dabei behält der Film an sich jedoch seine Integrität<br />
und bleibt als Werk bestehen (vgl. Kap. 6.3).<br />
7. Die Diegese eines Dokumentarfilmes wird zum initiierenden Kern einer transmedialen<br />
diegetischen Welt. Sie begründet mit ihrer Thematik den Rahmen, die Bedingungen<br />
und Regeln dieser Welt. Im Zuge ihrer narrativen <strong>Transmedia</strong>lisierung<br />
wird die in der Diegese verdichtete Thematik zum Kern einer Themen-Franchise.<br />
Der Dokumentarist wird so zum Weltenbauer (vgl. Kap. 6.3 u. 7.1).<br />
8. Die geplante Einbettung einer filmischen Diegese in eine transmedialsierte diegetische<br />
Welt bedingt, dass die in ihr verdichtete Thematik bereits im Vorfeld auf<br />
inhaltliche Substanz geprüft wird. Nur wenn diese gegeben ist, kann eine fruchtbare<br />
und sinnvolle diegetische Welt entstehen. Hierzu dienen die drei Dimensionen<br />
Mythos, Topos und Ethos, als Orientierungsrahmen bei der Erfassung einer<br />
Thematik. Eine derartige inhaltliche Vorprüfung findet auf der Regie-Ebene statt<br />
(vgl. Kap. 7.2).<br />
9. Damit transmediale Erweiterungen die dokumentar-filmische Narration ausdehnen,<br />
ergänzen und vertiefen können, sollten narrative Lücken in der filmischen<br />
Diegese implizit bzw. explizit installiert werden. Narrative Lücken entsprechen<br />
erzählerisch andeutenden Aussparungen in der Diegese. Sie bieten Anknüpfungspunkte<br />
für andere Werke, die entsprechend diese Lücken füllen können. Ihre<br />
narrative Installation findet gänzlich auf der konzeptionell-narrativen Ebene<br />
statt (vgl. Kap. 7.3). Narrative Lücken sollten darüber hinaus auch in jeder trans-<br />
93
medialen Erweiterung zu finden sein. Sie stellen kein Primärwerk-exklusives narratives<br />
Phänomen dar.<br />
10. <strong>Transmedia</strong>le Erweiterungen können sowohl intra- als auch extradiegetischer Natur<br />
sein. Sie können generell auf zwei Ebenen stattfinden:<br />
a. Makro-diegetisch: Meta-Ebene der diegetischen Welt<br />
b. Mikro-diegetisch: Narrative Ebene eines einzelnen Werkes<br />
11. Die Funktion von transmedialen Erweiterungen umfasst vornehmlich die Ausdehnung<br />
und Vertiefung bereits etablierter narrativer Inhalte. Ebenso kann sie<br />
aber auch die Ergänzung bzw. das Hinzufügen nur marginal etablierter oder gänzlich<br />
neuer narrativer Inhalte beinhalten (vgl. Kap. 8.1).<br />
12. <strong>Transmedia</strong>le Erweiterungen bieten die Möglichkeit, über den erzählerisch abgedeckten<br />
Zeitraum des Dokumentarfilmes hinaus die diegetische Welt immer weiter<br />
zu entwickeln. Der medial eingefrorene „Ist-Zustand“ der dokumentarfilmischen<br />
Diegese kann überwunden werden (vgl. Kap. 8.1.1.2).<br />
13. Der eigentliche Akt der transmedialen Erweiterung findet durch die inhaltliche<br />
Aufteilung und Segmentierung der diegetischen Welt statt. Dabei werden einzelne<br />
narrative Einheiten bzw. Segmente gebildet, die jeweils einen Aspekt, Sachverhalt<br />
oder Blickwinkel, der dokumentar-filmischen Diegese vertiefen und mit<br />
medienspezifischen Mitteln erzählen. Die einzelnen Werk-Diegesen dieser Teilerzählungen<br />
können sich gegenseitig überschneiden und beinhalten teilweise gleiche<br />
oder verwandte Ausprägungen hinsichtlich Konstitution, Perspektivierung<br />
und Strukturierung ihrer Erzählung. Aber im Idealfall liefert jedes narrative Segment<br />
einen einmaligen diegetischen Beitrag zur gesamten transmedialen diegetischen<br />
Welt. Insgesamt bilden sie so ein enges Netz aus gegenseitigen narrativen<br />
Verweisen und Rückbezügen, in das der Dokumentarfilm eingebettet ist (vgl. Kap.<br />
8.2).<br />
14. Der gesamte Prozess der narrativen Segmentierung wird mit den Konzepten, die<br />
auf der konzeptionell-narrativen Ebene vorgestellt wurden, durchgeführt. Anhaltspunkte<br />
für die Bildung einzelner Segmente ist zum einen die Orientierung an<br />
installierten narrativen Lücken. Zum anderen spielt die Dramaturgie einzelner<br />
Handlungsstränge eine ausgesprochen wichtige Rolle bei diesen als „Sollbruchstellen“<br />
(vgl. Kap. 8.2).<br />
15. Inhaltliche Kohärenz und Kontinuität sind wichtig, um eine in sich stimmige,<br />
transmediale diegetische Welt zu erschaffen. Da sie aus der komplexen Verschränkung<br />
der narrativen Segmente entsteht, müssen diese auf makro-<br />
94
diegetischer Ebene eine Mindest-Zugehörigkeit zur diegetischen Welt erfüllen.<br />
Auf der mikro-diegetischen Ebene müssen faktische Aussagen und faktuale Sachverhalte<br />
übereinstimmend dargestellt werden. Dies schließt nicht die transparente<br />
Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Meinungen aus. Wird die Kohärenz<br />
und Kontinuität nicht berücksichtigt, kann die Repräsentation der Wirklichkeit<br />
nicht glaubhaft vermittelt werden, was zu einer Irritation des Rezipienten<br />
führt (vgl. Kap. 8.3).<br />
16. In Anbetracht der transmedialen Erweiterung der dokumentar-filmischen Narration<br />
erfährt auch der mündige Zuschauer eine Erweiterung seines möglichen Rezeptions-<br />
und Handlungsraumes. So kann Immersion im Akt der Rezeption<br />
transmedial verstärkt werden. Zudem können mitunter diegetische Elemente in<br />
die eigene Lebenswelt extrahiert werden (vgl. Kap. 9.1).<br />
17. Das Maß einer direkten, aktiven Miteinbeziehung des Zuschauers in die diegetische<br />
Welt kann in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der transmedialen Narration<br />
in mehreren Stufen ansteigen (vgl. Kap. 9.2):<br />
a. Der Rezipient wird zum intervenierenden Partizipant. Mithilfe transmedialer<br />
Methoden kann er aktiv werden und auf die dargestellte Wirklichkeit<br />
hinter der diegetischen Welt einwirken. Diese „Wirkungsenergie“<br />
wird dabei oftmals von den Produzenten der diegetischen Welt kanalisiert.<br />
Hierbei entsteht für den Partizipant eine Rückkopplung zwischen<br />
diegetischer Welt und Wirklichkeit.<br />
b. Der Rezipient wird zum Produzenten. Er bereichert durch eigene narrative<br />
Segmente oder Inhalte die diegetische Welt.<br />
c. Der Rezipient wird zum Protagonisten. Er wird durch eine spezielle Verschränkung<br />
der transmedialen Narration mit den dokumentar-filmischen<br />
Produktionsprozessen in die Dreharbeiten involviert. In dieser Rolle verschwimmen<br />
die Grenzen zwischen seiner Lebenswelt und der diegetischen<br />
Welt.<br />
10.2 Schlussfolgerungen<br />
In Hinblick auf die zu Beginn formulierten Kernfragen kann abschließend festgehalten werden,<br />
dass die dokumentar-filmische Erzählung aus einem vielschichtigen Komplex miteinander<br />
verschränkter Gestaltungsebenen besteht. Diese konnten einzeln benannt und ihre<br />
Relationen untereinander aufgezeigt werden.<br />
95
Der Dokumentarfilm bzw. die von ihm konstituierte Erzählung kann als initiierender<br />
narrativer Grundstein einer fortführenden und ergänzenden transmedialen Erzählung begriffen<br />
werden. Die dokumentar-filmische Erzählung steht nicht mehr nur für sich alleine,<br />
sondern befindet sich in einem Geflecht von narrativen Erweiterungen. <strong>Transmedia</strong>le Narration<br />
bringt dabei eigene Gestaltungskomponenten mit sich die auf den drei dokumentarfilmischen<br />
Ebenen während der Dokumentarfilmgestaltung berücksichtigt werden müssen.<br />
So gehen Dokumentarfilm und transmediale Erweiterungen eine erzählerische Symbiose<br />
ein, in deren Folge narrative Synergie-Effekte auftreten. Jedes Element, sei es der Dokumentarfilm<br />
oder erweiternde mediale Erzählungen im Reigen der umfassenden transmedialen<br />
Narration, bereichert das Primärwerk durch seinen eigenständigen narrativen Mehrwert.<br />
Die Erzählung stellt dann mehr dar als die Summe ihrer narrativen Teile:<br />
• Eine dokumentarisch darzustellende Thematik kann viel vielschichtiger narrativ<br />
erschlossen werden.<br />
• Der dokumentarischen Vision von Glaubwürdigkeit und authentischer Repräsentation<br />
von Wirklichkeit kann stärker nachgekommen werden, als dies ein einzelnes<br />
Werk, der Dokumentarfilm, vollbringen könnte.<br />
Es konnte aufgezeigt werden, dass die aufgestellte Annahme, ein Dokumentarfilm<br />
könne als Primärwerk eine transmediale Erzählkampagne anstoßen, in keinem Widerspruch<br />
zu den per Definition notwendigen Eigenschaften von transmedialer Narration steht. Die<br />
Integrität der prozesshaften Gestaltung eines Dokumentarfilms als erzählendes Medium<br />
bleibt dabei erhalten. Sie wird zum einen um neu zu beachtende Gestaltungsaspekte bereichert.<br />
Zum anderen wird sie selbst, die dokumentar-filmische Gestaltung, in die Gussform<br />
der transmedialen Erzählweise überführt. Dem Produzenten des Repräsentanten der Wirklichkeit<br />
werden Grundregeln vorgegeben, wie die Welt hinsichtlich einer umfassenden<br />
transmedialen Erzählkampagne zu verdichten ist. Als initiierender Erzähler gilt es nun nicht<br />
mehr nur die Diegese des einzelnen faktualen Filmes abzuleiten, sondern im gleichen<br />
Atemzug will eine ganze diegetische Welt erschaffen werden. Es kommen neue Dimensionen<br />
und Aspekte hinzu, die der Dokumentarist während des Produktionsprozesses mitbedenken<br />
muss. Diese transmedialen Gestaltungskomponenten konnten in dieser Arbeit herausgearbeitet<br />
werden.<br />
Abbildung 12 soll in Anlehnung an Abbildung 1 die vollzogene Überführung der dokumentar-filmischen<br />
Gestaltungsebenen in den Kontext der transmedialen Narration zusammenfassend<br />
aufzeigen. Je umfassender die Ebene, desto grundlegender umrahmt sie<br />
die anderen Ebenen:<br />
96
74<br />
Abbildung 12: Gestaltungsebenen der transmedialen Erweiterung dokumentar-filmischer Erzählung.73F<br />
10.3 Ausblick<br />
Die im vorliegenden Arbeitsprozess vollzogene Eingrenzung der analytischen Perspektive<br />
auf den Dokumentarfilm als Primärwerk schloss die Betrachtung alternativer Modelle faktualer<br />
transmedialer Narrationen aus. Allen voran ist hier die transmediale dokumentarische<br />
Narration zu nennen, welche sich im Unterschied zu der hier betrachteten transmedialen<br />
Erweiterung dokumentar-filmischer Narration vollständig vom Dokumentarfilm abgelöst<br />
hat. Bei dieser Variante der transmedialen Narration wird gänzlich auf ein Primärwerk verzichtet.<br />
Die dokumentarische Erzählung wird durchweg nur noch durch eine „Wolke“<br />
transmedialer Erzähleinheiten konstituiert. Daher kann auch hier nicht mehr von einer narrativen<br />
<strong>Transmedia</strong>lisierung gesprochen werden, da diese Begrifflichkeit eine Überführung<br />
von diegetischen Inhalten von einem Medium (dem Primärwerk) in zusätzliche Medien<br />
impliziert. Die Grenzen zwischen beiden Formen können jedoch fließend sein. Dennoch ist<br />
auch der Unterschied klar erkennbar. Bei der transmedialen dokumentarischen Narration<br />
werden nur noch die vom Dokumentarfilm abstammenden charakteristischen Gestaltungsmittel<br />
verwendet, um faktuale Geschichten über reale Zusammenhänge multimedial<br />
zu erzählen.<br />
74 Quelle: Verfasser dieser Arbeit.<br />
97
Dabei ist zu vermuten, dass interaktive Erzähl-Elemente und damit einhergehende<br />
non-lineare Erzähl-Schemata einen höheren Stellenwert besitzen, als sie es in der hier untersuchten<br />
Form transmedialer Narration getan haben. Beispiele, wie die ambitionierten<br />
Projekte Collapsus 75 oder Prison Valley 76 deuten hierdrauf hin. Zudem geben die Bezeichnungen<br />
für solche Projekte, „interaktiver Dokumentarfilm“ oder „Web-Dokumentarfilm“,<br />
Anlass dazu, weitere Unterscheidungsmerkmale im Rahmen einer transmedialen dokumentarischen<br />
Narration herauszustellen.<br />
Die in dieser Arbeit herausgearbeitete Wechselwirkung zwischen Dokumentarfilm<br />
und narrativer <strong>Transmedia</strong>lisierung kann daher als Ausgangspunkt für eine umfassendere<br />
Untersuchung der transmedialen dokumentarischen Narration verwendet werden. Dafür<br />
können mehrere forschungsrelevante Anknüpfungspunkte aus den hieraus gewonnenen<br />
Erkenntnissen abgeleitet werden:<br />
• Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit auch ohne ein einführendes<br />
Primärwerk genügend Aufmerksamkeit und Interesse an der Thematik erzeugt<br />
wird?<br />
• Wie müssen narrative Eintrittspunkte gestaltet sein, um dem Publikum leicht zugängliche<br />
Einlässe zur diegetischen Welt zu gewähren?<br />
• Wie sehen geeignete Handlungsbögen und Formen der Dramaturgie aus, die in<br />
einer non-linearen narrativen Umgebung funktionieren können?<br />
• Welche Rolle spielen interaktive Elemente bei der Erzählung?<br />
• In welchem Verhältnis stehen Produzenten und Zuschauer in Bezug auf die Autorenschaft<br />
und Deutungshoheit der narrativen Inhalte? Bleibt das bekannte Rollenverhältnis<br />
„Erzähler – Rezipient“ bestehen oder löst es sich auf?<br />
Darüber hinaus erscheinen auch weiterführende Untersuchungen zwischen der formal-kinematografischen<br />
Gestaltung eines Dokumentarfilmes und der medienspezifischen<br />
Ausgestaltung transmedialer Erweiterungen sinnvoll. Im Einzelnen wurden die hier bestehenden<br />
Wechselwirkungen nicht betrachtet. Es stellt sich die Frage, welche narrativen Inhalte<br />
mit welchen Medien und welcher spezifischen Gestaltung vorzugsweise im Sinne des<br />
Rezipienten erzählt werden sollen.<br />
Des Weiteren kann auf Basis dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, mit welchen<br />
Faktoren auf die Gestaltung eines Dokumentarfilmes eingewirkt werden kann, wenn<br />
dieser nicht als Primärwerk – sondern erst im Laufe einer transmedialen Kampagne produ-<br />
75 http://www.collapsus.com/ (letzter Abruf 27.12.12).<br />
76 http://prisonvalley.arte.tv/?lang=de (letzter Abruf 27.12.12).<br />
98
ziert wird. Durch diese Umkehrung der in dieser Abhandlung erarbeiteten Konstellation fällt<br />
vor allem der konzeptionell-narrative Weltenbau weg. Der Verlust dieses initiierenden Status‘<br />
führt also zu einem neuen medientheoretischen Verhältnis zwischen transmedialer<br />
Narration und Dokumentarfilm. Es stellt sich die Frage, ob – und wenn ja –, welche dafür<br />
neu hinzukommenden gestalterischen Faktoren zu berücksichtigen sind.<br />
Zudem erscheint es lohnenswert in anknüpfenden Arbeiten die verschiedenen Spielarten,<br />
Sub-Genres und Formate, welche vom Dokumentarfilm abstammen, hinsichtlich<br />
ihrer spezifischen Eigenschaften im Kontext der transmedialen Narration zu untersuchen.<br />
Hier könnte man dem Aspekt nachgehen, welche Auswirkungen auf das Beziehungsgeflecht<br />
zwischen filmischer Erzählung und transmedialer Narration zu Tage treten, wenn anstatt<br />
eines Dokumentarfilmes eine dokumentarische Serie als Ausgangspunkt zugrunde gelegt<br />
wird. Auch können spezifische gestalterische Abweichungen in anderen dokumentarischen<br />
Genres Auswirkungen auf die Gestaltung der transmedialen Narration haben.<br />
10.4 Resümee<br />
Mit der vorliegenden Arbeit gelang eine umfassende Analyse der Gestaltung des Dokumentarfilmes.<br />
Auf deren Basis konnte eine narrative <strong>Transmedia</strong>lisierung eben jener aufgeschlüsselten<br />
dokumentar-filmischen Erzählung nachvollzogen werden. Durch eine umfassende<br />
Betrachtung und Herleitung vorhandener gestalterischer Beziehungen konnten die<br />
eingangs aufgestellten Fragen somit beantwortet werden.<br />
Die analytisch gewonnenen Erkenntnisse können als Gestaltungsmodell für transmediale<br />
Erweiterungen dokumentar-filmischer Narration dienen. Es beschreibt den zu beherrschenden<br />
gestalterischen Handlungsrahmen und bietet so Orientierung und Hinweise, um<br />
transmediale Narration zu konstituieren. Dabei könnte das Modell auch auf hier nicht berücksichtigte<br />
andere dokumentarische (Film-) Formate wie zum Beispiel Doku-Serien oder<br />
gar Doku-Soaps angewendet werden. Denn auch diese Formen dokumentarischer Narration<br />
bewegen sich auf den gleichen Gestaltungsebenen und Gestaltungselementen. Auch<br />
ihre Einbettung in den Kontext transmedialer Erzählungen basieren auf den gleichen Konzepten<br />
– wenngleich auch Genre-spezifische Eigenschaften zusätzlich berücksichtigt werden<br />
müssten.<br />
Die Erarbeitung dieses Modells basiert auf bestehenden filmnarratologischen und<br />
medientheoretischen Feststellungen, die im Kontext fiktionaler Spielfilme aufgestellt wurden.<br />
Daher war es notwendig, diese Erkenntnisse nach kritischer Auseinandersetzung auf<br />
den faktualen Dokumentarfilm zu übertragen. Während des Transferierungsprozesses wur-<br />
99
den aktuelle Ergebnisse des theoretischen Dokumentarfilm-Diskurses mitbedacht. Diese<br />
interdisziplinäre Basis bietet Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen und Analysen<br />
– unter Gesichtspunkten verschiedener Disziplinen. Die hier verfolgte erkenntnisorientierte<br />
Vorgehensweise sowie der vorgegebene Rahmen dieser Arbeit bedingten zudem, dass einige<br />
Aspekte im Detail nicht betrachtet werden konnten. Somit kann das in dieser Arbeit<br />
entwickelte Modell zwar im Sinne der aufgestellten Kernfragen und Zielsetzung als hinreichend<br />
entwickelt.<br />
Ob und in wie fern sich die transmediale Erweiterung dokumentar-filmischer Erzählung<br />
in der (deutschen) Dokumentarfilm-Branche durchsetzen kann, wird die Zukunft zeigen.<br />
In Hinblick auf die in der Einführung dargestellten Projekte deutscher Dokumentarfilm-<br />
Produzenten schreiben Mayer und Reschl, Führungspersönlichkeiten vom Haus des Dokumentarfilms:<br />
„Fast alle Hoffnungen richten sich aufs Internet, auf crossmediale Projekte.<br />
[…] Ohne solche Visionen wird der Filmemacher-Nachwuchs kaum auskommen […]“. (HdF<br />
2012, 3; Ausl. d.V.). Es bleibt abzuwarten, welche Projekte in den kommenden Jahren verwirklicht<br />
werden und ob sich durch sie die augenscheinlich verfahrene Situation der deutschen<br />
Dokumentarfilm-Branche bessern wird.<br />
Von einer solchen Entwicklung könnte der Zuschauer nach Auffassung des Verfassers<br />
dieser Arbeit nur profitieren. Die Welt würde dem Rezipienten durch jedes Projekt facettenreich<br />
und auf innovative Weise für eigene Entdeckungen zugänglich gemacht werden.<br />
Und darum geht es im Kern der dokumentarischen Verdichtung der Wirklichkeit. Letztlich<br />
wird es das Publikum sein, das die Entscheidung treffen wird, welche Formen medialer Erzählungen<br />
Erfolg haben werden.<br />
Dabei werden innovative Technologien, Methoden und Möglichkeiten der Medienkonvergenz<br />
zweitrangig bleiben. Es wird zuerst immer auf die Geschichte ankommen, die<br />
ein Dokumentarist von unserer Welt erzählen möchte. Welche Mittel er dafür einsetzt,<br />
hängt von der Wirklichkeit ab, obgleich sich nicht umsonst der Dokumentarfilm als gängiges<br />
Erzählmedium etabliert hat. Form folgt Funktion – dokumentarische Erzählung folgt Wirklichkeit.<br />
Daran soll abschließend mit den Worten Nichols (2010, 15) erinnert werden:<br />
„Documentaries adopt no fixed inventory of techniques, address no one set of issues,<br />
display no single set of forms or styles. Documentary film practice is an arena in which<br />
things change. Alternative approaches are constantly attempted and then adopted or<br />
abandoned. Prototypical works stand out that others emulate without ever being able to<br />
copy or reproduce entirely.”<br />
100
Literaturverzeichnis<br />
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@9 Bordwell, D.: Now leaving from platform 1. Datum: 19.08.2009 Online auf: david<br />
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@10 Jenkins, H.: The Revenge of the Origami Unicon: Seven Principles of <strong>Transmedia</strong><br />
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@12 Ohne Autor: Synopsis. Ohne Datum. Online auf: The Cove Movie. URL:<br />
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@13 Ohne Autor: The Secret Is Out. Spread the Word. Ohne Datum. Online auf: Take<br />
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@14 Ohne Autor: We're So Close! Ohne Datum. Online auf: Take Part. URL:<br />
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@16 Ohne Autor: Franchise (Medien). Datum: 15.11.2012. Online auf: Wikipedia. URL:<br />
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@19 Jenkins, H.: Revenge of the Origami Unicorn: The Remaining Four Principles of<br />
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@20 Mittell, J.: To Spread or To Drill? Datum: 25.02.2009. Online auf: Just TV. URL:<br />
http://justtv.wordpress.com/2009/02/25/to-spread-or-to-drill/. Letzter Abruf<br />
10.12.12.<br />
@21 Ohne Autor: Eskimo Pie Day. Datum: 12.03.2008. Online auf: Monts of Edible Celebrations.<br />
URL: http://monthsofediblecelebrations.blogspot.de/2008/03/eskimopie-day.html.<br />
Letzter Abruf 10.12.12.<br />
@22 Bernardo, N.: Nuno Bernardo: <strong>Transmedia</strong> in Documentary <strong>Storytelling</strong>. Datum:<br />
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Letzter Abruf 10.12.12.<br />
@23 Ohne Autor: Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Datum: 08.03.2012. Online<br />
auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/about/about. Letzter Abruf<br />
10.12.12.<br />
@24 Ohne Autor: Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Ohne Datum. Onli- ne<br />
auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/about/about. Letzter Abruf<br />
10.12.12.<br />
@25 Ohne Autor: Kreativität zum Dumpingpreis. Datum: 25.10.2012. Online auf:<br />
AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/politics/177089/hpg_detail. Letzter<br />
Abruf 10.12.12.<br />
@26 Ohne Autor: Gegen die Gummiwand der Ignoranz. Datum: 19.04.2012. Online<br />
auf: AGDOK. URL: http://www.agdok.de/de_DE/politics/167433/hpg_detail. Letzter<br />
Abruf 10.12.12.<br />
103
@27 Connor, A.: The WWW Info-Rainforest. Datum: 25.12.2007. Online auf: BBC Internet<br />
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In forainforest_1.html. Letzter Abruf 10.12.12.<br />
@28 Hayes, G.: Cross-Media. Datum: 2006. Online auf: Personalize Media. URL:<br />
http://www.personalizemedia.com/articles/cross-media/. Letzter Abruf 10.12.12.<br />
@29 Ohne, Autor.: Taste the Waste. Rezepte und Ideen für Essensretter. Ohne Datum.<br />
Online auf: Taste the Waste. URL: http://kochbuch.tastethewaste.com/. Letzter<br />
Abruf 10.12.12.<br />
Filmografie<br />
BERLIN, DIE SINFONIE DER GROßSTADT (Regie: Walther Ruttmann; Deutschland, 1927).<br />
BOWLING FOR COLUMBINE (Regie: Michael Moore; USA, 2002).<br />
DER GROßE AUSVERKAUF (Regie: Florian Opitz; Deutschland, 2006).<br />
FAHRENHEIT 9/11 (Regie: Michael Moore; USA, 2004).<br />
GOD GREW TIRED OF US (Regie: Christopher Dillon Quinn; USA, 2006).<br />
HARRY POTTER (Regie: Chris Columbus; USA/Großbritannien, 2001).<br />
NANOOK, DER ESKIMO (Regie: Robert J. Flaherty; USA 1922).<br />
STEPPING FORWARD (Regie: Benjamin Wiedenbruch, Casjen Ennen; Malta 2011-).<br />
THE LORD OF THE RINGS (Regie: Peter Jackson; USA/Neuseeland, 2001).<br />
THE MATRIX (Regie: Andy Wachowski u. Larry Wachsowki; USA, 1999).<br />
TWILIGHT (Regie: Catherine Hardwicke; USA, 2008).<br />
TASTE THE WASTE (Regie: Valentin Thurn; Deutschland, 2011).<br />
WAR PHOTOGRAPHER (Regie: Christian Frei; Schweiz, 2001).<br />
WORKINGSMAN‘S DEATH (Regie: Michael Glawogger; Deutschland/ Österreich,2005).<br />
104
Sachregister<br />
Additive comprehension ............................ 75<br />
Analepsen .................................................. 37<br />
Ausdehnung ............................................... 67<br />
Crossmedial ................................................ 50<br />
Diegese ....................................................... 24<br />
Drillability ................................................... 75<br />
Ergänzung ................................................... 67<br />
Erzählung .................................................... 24<br />
Ethos .......................................................... 60<br />
Extractability .............................................. 85<br />
Extradiegetisch ........................................... 26<br />
Extraktion diegetischer Elemente .............. 84<br />
Fokalisierung .............................................. 33<br />
Geschichte .................................................. 24<br />
Heterodiegetisch ........................................ 29<br />
Homodiegetisch ......................................... 29<br />
Immersion .................................................. 84<br />
Intervenierenden Partizipant ..................... 86<br />
Intradiegetisch ............................................ 26<br />
Kampagne ................................................... 53<br />
Makro-diegetische Aufteilung .................... 73<br />
Makro-diegetisch ........................................ 68<br />
Metadiegetisch ........................................... 26<br />
Mikro-diegetisch ......................................... 68<br />
Mikro-diegetische Segmentierung ............. 73<br />
Mythos ....................................................... 60<br />
Narrative Lücken ........................................ 64<br />
Prolepsen .................................................... 37<br />
Radical intertextuality ................................ 74<br />
Spreadability ............................................... 75<br />
Subjektivierung .......................................... 71<br />
Topos .......................................................... 60<br />
<strong>Transmedia</strong>le Kohärenz u. Kontinuität ....... 81<br />
<strong>Transmedia</strong>len Erzählung ........................... 49<br />
World building ............................................ 72<br />
105
Danksagung<br />
Mein spezieller Dank gilt Anne Pollakowski, die mich unermüdlich unterstützt, motiviert<br />
und mir den Rücken gestärkt hat! Mit Dir hat man bereits die halbe Miete – von Allem!<br />
Esther Pollakowski möchte ich für ihre bemerkenswert präzisen und gewissenhaften Beobachtungen<br />
bei der Lektüre des Manuskriptes danken! Ihre konstruktiven Vorschläge waren<br />
ausgesprochen hilfreich.<br />
Doris Pettkus gilt mein Dank für ihre Ratschläge und das tolle Engagement, mit der sie entschlossen<br />
mein Manuskript gegengelesen hat. Ihre Besonnenheit und Erfahrung waren sehr<br />
bereichernd.<br />
Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinen Eltern Brigitte und Volker Wiedenbruch für den grandiosen<br />
Job, den sie gemacht haben!<br />
106
Den Dokumentarfilmern dieser Welt gewidmet.<br />
Was kann schöner sein als zu entdecken?<br />
Wir bleiben am Ball!<br />
107