Text zu Erikson - Ploecher.de
Text zu Erikson - Ploecher.de
Text zu Erikson - Ploecher.de
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
Dr. C. George Boeree<br />
Erik <strong>Erikson</strong><br />
Überset<strong>zu</strong>ng ins Deutsche: Diana Wieser<br />
Intro<br />
Bei <strong>de</strong>n Oglala Lakota war es Tradition, dass ein adoleszenter<br />
Junge ganz allein auf die Suche nach einem Traum machte, ohne<br />
Waffen und nur mit einem Len<strong>de</strong>nschurz und Mokassins beklei-<br />
5 <strong>de</strong>t. Hungrig, durstig und hun<strong>de</strong>mü<strong>de</strong> sollte <strong>de</strong>r Junge am vierten<br />
Tag einen Traum haben, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Pfad seines Lebens klar<br />
machen wür<strong>de</strong>. Wenn er dann nach Hause <strong>zu</strong>rückkehrte, erzählte<br />
er <strong>de</strong>n Ältesten <strong>de</strong>s Stammes seinen Traum, damit sie ihn gemäß<br />
<strong>de</strong>r uralten Tradition interpretieren wür<strong>de</strong>n. Und sein Traum gab<br />
10 <strong>de</strong>m Jungen Aufschluss darüber, ob er ein guter Jäger wer<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>, o<strong>de</strong>r ein großer Krieger, ein Experte in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>stehlens,<br />
o<strong>de</strong>r ob er sich auf die Waffenherstellung spezialisieren<br />
sollte, ein spiritueller Führer, ein Priester o<strong>de</strong>r ein Medizinmann<br />
wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />
15 In manchen Fällen wür<strong>de</strong> ihn sein Traum in das Reich kontrollierter<br />
Deviationen führen, die die Oglala pflegten. Spielte im Traum<br />
ein Thun<strong>de</strong>rbird eine Rolle, konnte das für <strong>de</strong>n Jungen be<strong>de</strong>uten,<br />
dass er eine Zeit als Heyoka verbringen wür<strong>de</strong>, das be<strong>de</strong>utete,<br />
dass er sich wie ein Clown o<strong>de</strong>r wie ein Verrückter verhalten wür-<br />
20 <strong>de</strong>. O<strong>de</strong>r die Vision <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r eines weißen Büffels konnte<br />
<strong>zu</strong> einem Leben als Berdache führen, als ein Mann, <strong>de</strong>r sich verhält<br />
und klei<strong>de</strong>t wie eine Frau.<br />
Doch die Anzahl <strong>de</strong>r Rollen, in die ein Mann schlüpfen konnte, waren<br />
extrem limitiert, für die Frauen gilt dies umso mehr. Die meis-<br />
25 ten Menschen waren Generalisten; nur wenige konnten es sich<br />
leisten, Spezialisten auf einem Gebiet <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n. Diese Rollen<br />
wur<strong>de</strong>n ganz einfach dadurch erlernt, dass man Zeit mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Angehörigen <strong>de</strong>s Stammes und <strong>de</strong>r Familie verbrachte. Die<br />
Rollen wur<strong>de</strong>n erlernt, in<strong>de</strong>m man lebte.<br />
30 Als Erik <strong>Erikson</strong> die Oglala Lakota besuchte, hatten sich die Umstän<strong>de</strong><br />
ziemlich verän<strong>de</strong>rt. Sie waren im Zuge einiger Kriege und<br />
unglücklicher Verträge in ein großes aber unfruchtbares Reservat<br />
gedrängt wor<strong>de</strong>n. Der Büffel – ihre Hauptnahrungsquelle und auch<br />
Quelle von Kleidung, Schutz und allem an<strong>de</strong>ren – war inzwischen<br />
35 längst so weit bejagt wor<strong>de</strong>n, dass er nahe<strong>zu</strong> ausgerottet war. Am<br />
schlimmsten war es, dass ihnen die Muster ihres Lebens genommen<br />
wor<strong>de</strong>n waren, nicht von <strong>de</strong>n weißen Soldaten, son<strong>de</strong>rn von<br />
<strong>de</strong>n stillen Bemühungen <strong>de</strong>r Regierung, die die Lakota in Amerikaner<br />
verwan<strong>de</strong>ln wollte!<br />
40 Kin<strong>de</strong>r mussten die meisten Zeit <strong>de</strong>s Jahres in Internaten verbringen,<br />
im festen Glauben daran, dass Erziehung Zivilisation und<br />
Wohlstand bringt. In <strong>de</strong>n Internaten lernten sie vieles, was im Gegensatz<br />
<strong>zu</strong> <strong>de</strong>m stand, was sie <strong>zu</strong> Hause lernten: Man brachte ihnen<br />
die weißen Standards von Sauberkeit und Schönheit bei, die<br />
45 <strong>zu</strong>m Teil <strong>de</strong>m Stammesverständnis von Beschei<strong>de</strong>nheit <strong>zu</strong>wi<strong>de</strong>rliefen.<br />
Man brachte ihnen das Wettstreiten bei, das gegen die<br />
Lakota-Tradion <strong>de</strong>r Gleichheit verstieß. Man lehrte sie, lauter <strong>zu</strong><br />
sprechen, während die Tradition von ihnen erwartete, ruhig <strong>zu</strong><br />
sein. Kurz, die weißen Lehrer befan<strong>de</strong>n es als unmöglich, mit <strong>de</strong>n<br />
50 Kin<strong>de</strong>rn <strong>zu</strong> arbeiten, und ihre Eltern empfan<strong>de</strong>n ihre Kin<strong>de</strong>r als<br />
durch eine frem<strong>de</strong> Kultur verdorben.<br />
Mit <strong>de</strong>r Zeit verschwand ihre ursprüngliche Kultur, doch die neue<br />
Kultur konnte <strong>de</strong>n notwendigen Ersatz nicht bereitstellen. Es gab<br />
keine Traumsuche mehr, und in welche Rollen konnten sich die<br />
55 Adoleszenten noch hineinträumen?<br />
<strong>Erikson</strong> war von <strong>de</strong>n Schwierigkeiten sehr berührt, mit <strong>de</strong>nen die<br />
Kin<strong>de</strong>r und Adoleszenten <strong>de</strong>r Lakota, die er erforscht hatte, <strong>zu</strong><br />
kämpfen hatten. Doch das Erwachsenwer<strong>de</strong>n, einen Platz in <strong>de</strong>r<br />
Welt für sich selbst <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n, ist auch für viele an<strong>de</strong>re Amerikaner<br />
60 nicht einfach. Afro-Amerikaner bemühen sich, aus vergessenen<br />
afrikanischen Wurzeln, <strong>de</strong>r Kultur von Machtlosigkeit und Armut,<br />
und <strong>de</strong>r sie umgeben<strong>de</strong>n Kultur <strong>de</strong>r weißen Mehrheit eine I<strong>de</strong>ntität<br />
<strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>setzen. Amerikaner asiatischer Abstammung wer<strong>de</strong>n<br />
in ähnlicher Weise zwischen <strong>de</strong>r asiatischen und <strong>de</strong>r amerikani-<br />
65 schen Tradition hin und her gezogen. Amerikaner aus <strong>de</strong>n ländlichen<br />
Bereichen erkennen, dass die Kulturen ihrer Kindheit sich in<br />
<strong>de</strong>r größeren Gesellschaft nicht durchsetzen wer<strong>de</strong>n. Und auch<br />
die große Mehrheit <strong>de</strong>r Amerikaner europäischer Abstammung<br />
haben im Grun<strong>de</strong> nur noch wenig von ihren kulturellen Ursprüngen<br />
70 übrig behalten! Gera<strong>de</strong> weil die amerikanische Kultur die Kultur<br />
<strong>de</strong>r Vielen ist, ist sie im Grun<strong>de</strong> genommen nieman<strong>de</strong>s Kultur.<br />
Genau wie die Ureinwohner haben auch an<strong>de</strong>re Amerikaner viele<br />
ihrer Rituale verloren, die uns früher durch das Leben geleiteten.<br />
Wann bist du ein erwachsener Mensch? Wann befin<strong>de</strong>st du dich<br />
75 in <strong>de</strong>r Pubertät? Feierst du Konfirmation o<strong>de</strong>r Bar Mitzvah? Deine<br />
ersten sexuellen Erfahrungen? Deine Sweet Sixteen party? Dein<br />
Learner's Permit? Deinen Führerschein? Deinen High School Abschluss?<br />
Das erste Mal, dass du <strong>de</strong>ine Stimme in einer politischen<br />
Wahl abgeben kannst? Dein erster Job? Das gesetzliche Alter, in<br />
80 <strong>de</strong>m du Alkohol trinken darfst? Der Hochschulabschluss? Wann<br />
genau behan<strong>de</strong>lt dich je<strong>de</strong>r wie einen erwachsenen Menschen?<br />
Be<strong>de</strong>nken wir nur die Wi<strong>de</strong>rsprüche: Du kannst alt genug sein, einen<br />
Wagen <strong>zu</strong> fahren, aber noch nicht alt genug, um <strong>zu</strong>r Wahl <strong>zu</strong><br />
gehen; Du kannst alt genug sein, im Krieg für <strong>de</strong>in Land <strong>zu</strong> ster-<br />
85 ben, aber noch nicht alt genug, ein Bier <strong>zu</strong> bestellen.<br />
In traditionellen Gesellschaften (auch unserer eigenen vor nur 50<br />
o<strong>de</strong>r 100 Jahren), sah ein junger Mann o<strong>de</strong>r eine junge Frau <strong>zu</strong><br />
<strong>de</strong>n Eltern, Verwandten, Nachbarn und Lehrern auf. Sie waren<br />
anständige hart arbeiten<strong>de</strong> Menschen (<strong>zu</strong>min<strong>de</strong>st die meisten von<br />
90 ihnen) und wir wollten genau so sein wie sie.<br />
Lei<strong>de</strong>r beziehen heute die meisten Kin<strong>de</strong>r ihre Rollenmo<strong>de</strong>lle aus<br />
<strong>de</strong>n Massenmedien, beson<strong>de</strong>rs aus <strong>de</strong>m Fernsehen. Warum das<br />
so ist, ist leicht nach <strong>zu</strong> vollziehen: Die Menschen im Fernsehen<br />
sind gutaussehen<strong>de</strong>r, reicher, schlauer, geistreicher und glückli-<br />
95 cher als jemand aus unserer eigenen Nachbarschaft! Nur sind<br />
diese Menschen lei<strong>de</strong>r nicht real. Ich bin immer überrascht, wie<br />
viele neue Collegestu<strong>de</strong>nten schnell davon enttäuscht sind, dass<br />
ihr Fach ein hohes Maß and Arbeit und Lernen erfor<strong>de</strong>rt. Im Fernsehen<br />
ist das nicht so. Später dann sind viele Menschen glei-<br />
100 chermaßen überrascht, dass die Jobs, für <strong>de</strong>ren Erlangung sie so<br />
hart gearbeitet haben, längst nicht so kreativ, glorreich und erfüllend<br />
ist, wie sie erwartet hatten.<br />
Auch das ist im Fernsehen an<strong>de</strong>rs. Angesichts <strong>de</strong>ssen sollte uns<br />
nicht überraschen, dass junge Menschen von <strong>de</strong>n Abkür<strong>zu</strong>ngen<br />
105 angezogen wer<strong>de</strong>n, die die Kriminalität verspricht, o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m<br />
Fantasieleben, das Drogen versprechen.<br />
Manche von Ihnen wer<strong>de</strong>n das als eine Übertreibung auffassen,<br />
o<strong>de</strong>r als ein Stereotyp mo<strong>de</strong>rner Adoleszenz. Natürlich hoffe ich,<br />
dass Ihr Übergang von Kindheit <strong>zu</strong>m Erwachsensein ein weicher<br />
110 Übergang war. Doch viele Menschen – eingeschlossen meiner<br />
selbst und <strong>Erikson</strong> – hätten eine Traumsuche sehr gut gebrauchen<br />
können.<br />
Biographie<br />
Erik <strong>Erikson</strong> ist am 15 Juni 1902 in Frankfurt, Deutschland, gebo-<br />
115 ren. Seine Abstammung umgibt ein kleines Geheimnis: Sein biologischer<br />
Vater war ein namenloser Däne, <strong>de</strong>r Eriks Mutter vor <strong>de</strong>r<br />
Geburt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s verließ. Seine Mutter, Karla Abrahamsen, war<br />
eine junge Jüdin, die ihn die ersten drei Jahre seines Lebens alleine<br />
großzog. Dann heiratete sie Dr. Theodor Homberger, Eriks<br />
120 Kin<strong>de</strong>rarzt, und die Familie zog nach Karlsruhe im Sü<strong>de</strong>n<br />
Deutschlands.<br />
Wir können dieses biographische Detail nicht kommentarlos übergehen:<br />
Die Entwicklung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität scheint eine <strong>de</strong>r größten Fragen in<br />
125 <strong>Erikson</strong>s Leben wie auch in seiner Theorie gewesen <strong>zu</strong> sein.<br />
Während seiner Kindheit und <strong>de</strong>r frühen Erwachsenenjahre, war<br />
er Erik Homberger, seine Eltern hielten die Details seiner Geburt<br />
noch geheim. Er war ein großer blon<strong>de</strong>r blauäugiger jüdischer<br />
Junge. In <strong>de</strong>r Schule <strong>de</strong>r Synagoge neckten ihn die an<strong>de</strong>ren Kin-<br />
130 <strong>de</strong>r wegen seines nordischen Aussehens; am Gymnasium neckten<br />
sie ihn, weil er Ju<strong>de</strong> war.<br />
Nach <strong>de</strong>m Abitur wollte Erik Künstler wer<strong>de</strong>n. Wenn er keine Kurse<br />
besuchte, bereiste er Europa, besuchte Museen, schlief unter<br />
Brücken. Er lebte das Leben eines sorgenfreien Rebellen.<br />
135 Als er 25 Jahre alt war, schlug ihm sein Freund Peter Blos – auch<br />
ein Künstler und später Psychoanalytiker – vor, er solle sich um<br />
eine Lehrerstelle an einer experimentellen Schule für Amerikanische<br />
Schüler bewerben, die von Dorothy Burlingham, eine Freundin<br />
von Anna<br />
140 Freud, geleitet wur<strong>de</strong>. Er unterrichtete nicht nur Kunst, son<strong>de</strong>rn<br />
erhielt ein Zertifikat für Montessori Erziehung und eines von <strong>de</strong>r<br />
Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft. Er unterzog sich einer<br />
Psychoanalyse durch Anna Freud höchstpersönlich.<br />
Während dieser Zeit lernte er auch Joan Serson, eine kanadische<br />
145 Tanzlehrerin an <strong>de</strong>r Schule kennen. Sie hatten drei Kin<strong>de</strong>r, von<br />
<strong>de</strong>nen ein Sohn Soziologe wur<strong>de</strong>.<br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 1 von 6
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
Als die Nazis die Macht übernahmen, verließ die Familie Wien<br />
und zog erst nach Kopenhagen, dann nach Bosten. <strong>Erikson</strong> wur<strong>de</strong><br />
eine Stelle an <strong>de</strong>r Harvard Medical School angeboten, und privat<br />
150 praktizierte er als Kin<strong>de</strong>rpsychoanalytiker. Während dieser Zeit<br />
traf er Psychologen wie <strong>zu</strong>m Beispiel Henry Murray und Kurt Lewin,<br />
sowie Anthropologen wie Ruth Benedict, Margaret Mead und<br />
Gregory Bateson. Ich <strong>de</strong>nke, man kann sagen, dass diese Anthropologen<br />
einen ebenso großen Einfluss auf <strong>Erikson</strong> hatten wie<br />
155 Sigmund und Anna Freud!<br />
Später dann unterrichtete er in Yale, und darauf an <strong>de</strong>r University<br />
of California at Berkeley. Während dieser Zeit entstan<strong>de</strong>n auch<br />
seine berühmten Untersuchungen <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Lebens unter<br />
<strong>de</strong>n Lakota und <strong>de</strong>n Yurok.<br />
160 Als er die Amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, än<strong>de</strong>rte er<br />
seinen Namen offiziell um in Erik <strong>Erikson</strong>. Niemand scheint <strong>zu</strong><br />
wissen, woher er diesen Namen hatte!<br />
1950 schrieb er Childhood and Society, worin Zusammenfassungen<br />
seiner Untersuchungen unter <strong>de</strong>n amerikanischen Ureinwoh-<br />
165 nern enthielt, daneben auch Analysen <strong>zu</strong> Maxim Gorki und Adolf<br />
Hitler, eine Diskussion <strong>de</strong>r American personality und ein Abriss<br />
seiner Version <strong>de</strong>r Freudschen Theorie. Diese Themen – <strong>de</strong>r Einfluss<br />
<strong>de</strong>r Kultur auf die Persönlichkeit und ie Analyse historischer<br />
Gestalten – wie<strong>de</strong>rholten sich in an<strong>de</strong>ren Werken, von <strong>de</strong>nen ei-<br />
170 nes, Gandhi's Truth, ihm <strong>de</strong>n Pulitzer Prize sowie <strong>de</strong>n National<br />
Book Award einbrachte.<br />
1950 verließ <strong>Erikson</strong> während <strong>de</strong>r Terrorherrschaft <strong>de</strong>s Senators<br />
Joseph McCarthy Berkeley, weil die Professoren aufgefor<strong>de</strong>rt<br />
wur<strong>de</strong>n, sogenannte loyalty oaths <strong>zu</strong> unterzeichnen. Er verbrachte<br />
175 zehn Jahre in Massachussets, wo er an einer Klinik arbeitete und<br />
unterrichtete, dann zehn weitere Jahre wie<strong>de</strong>r in Harvard. Nach<strong>de</strong>m<br />
er sich 1970 <strong>zu</strong>r Ruhe gesetzt hatte, schrieb und forschte er<br />
weiterhin <strong>zu</strong>sammen mit seiner Frau. Erik <strong>Erikson</strong> starb 1994.<br />
Theorie<br />
180 <strong>Erikson</strong> ist ein freudianischer ego-psychologist (Ichpsychologe).<br />
Das be<strong>de</strong>utet, dass er davon ausgeht, dass Freuds Theorien<br />
grundsätzlich korrekt sind, eingeschlossen <strong>de</strong>r eher kontroversen<br />
I<strong>de</strong>en wie etwa <strong>de</strong>r Ödipuskomplex, aber er akzeptiert auch die<br />
Theorien über das Ich, welche an<strong>de</strong>re Freudianer wie etwa Heinz<br />
185 Hartmann und, natürlich Anna Freud hin<strong>zu</strong>gefügt haben.<br />
Doch <strong>Erikson</strong> orientiert sich weit mehr an <strong>de</strong>r Gesellschaft und <strong>de</strong>r<br />
Kultur als die meisten Freudianer, wie von einem Forscher mit<br />
anthropologischen Interessensschwerpunkten auch nicht an<strong>de</strong>rs<br />
<strong>zu</strong> erwarten, und oft schiebt er die Instinkte und das Unbewusste<br />
190 gera<strong>de</strong><strong>zu</strong> aus <strong>de</strong>m Bild hinaus. Vielleicht aber liegt hierin <strong>de</strong>r<br />
Grund dafür, dass <strong>Erikson</strong> sowohl unter Freudianern als auch unter<br />
Nicht-Freudianern außeror<strong>de</strong>ntlich populär ist!<br />
Das epigenetische Prinzip (The epigenetic principle)<br />
<strong>Erikson</strong> ist berühmt dafür, dass er Freuds Theorie <strong>de</strong>r Entwick-<br />
195 lungsstadien neu <strong>de</strong>finiert und erweitert hat. Die Entwicklung läuft<br />
ihm <strong>zu</strong>folge nach <strong>de</strong>m epigenetischen Prinzip ab. Dieses Prinzip<br />
besagt, dass wir uns durch eine festgelegte Entwicklung unserer<br />
Persönlichkeit in acht Stadien entwickeln. Das Fortschreiten von<br />
einem Stadium <strong>zu</strong>m an<strong>de</strong>ren ist <strong>zu</strong>m Teil durch unseren Erfolg,<br />
200 o<strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Mangel an Erfolg, in allen vorangegangenen Stadien<br />
bestimmt. Ähnlich wie das Entfalten einer Rosenknospe, öffnet<br />
sich je<strong>de</strong>s Blatt <strong>zu</strong> einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten<br />
Reihenfolge, wie sie die Natur durch Genetik vorbestimmt hat.<br />
Wenn wir in die natürlichen Ordnungsprinzipien <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
205 eingreifen, in<strong>de</strong>m wir ein Blütenblatt <strong>zu</strong> früh hervorziehen, zerstören<br />
wir die Entwicklung <strong>de</strong>r ganzen Blume.<br />
Je<strong>de</strong> Stufe umfasst bestimmte Entwicklungsaufgaben psychosozialer<br />
Natur. Obwohl <strong>Erikson</strong> Freuds Theorie darin folgt, dass er<br />
diese als Krisen bezeichnet, sind sie doch ausge<strong>de</strong>hnter und we-<br />
210 niger spezifisch als <strong>de</strong>r Begriff nahe legt. Zum Beispiel muss ein<br />
Kind im Gymnasium lernen, <strong>zu</strong> dieser Phase eifrig <strong>zu</strong> sein, und<br />
dieser Eifer wird durch die komplexen sozialen Interaktionen in<br />
Schule und Familie erlernt.<br />
Die verschie<strong>de</strong>nen Aufgaben wer<strong>de</strong>n mit zwei Begriffen bezeich-<br />
215 net. Die Aufgabe <strong>de</strong>s Kleinkinds wir <strong>zu</strong>m Beispiel als trustmistrust,<br />
Vertrauen-Misstrauen bezeichnet. Zunächst scheint es<br />
offenkundig, dass ein Kleinkind Vertrauen, und nicht Misstrauen<br />
erlernen muss. Doch <strong>Erikson</strong> machte <strong>de</strong>utlich, dass wir eine Balance<br />
lernen müssen: Wir müssen sicherlich <strong>zu</strong>meist Vertrauen<br />
220 lernen; doch wir müssen auch Misstrauen erlernen, damit wir nicht<br />
<strong>zu</strong> leichtgläubigen Idioten wer<strong>de</strong>n!<br />
Je<strong>de</strong> Stufe hat ihre optimale Zeit. Es ist sinnlos, Kin<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> früh ins<br />
Erwachsenenalter <strong>zu</strong> treiben, wie es bei Menschen vorkommt, die<br />
vom Erfolg gera<strong>de</strong><strong>zu</strong> besessen sind. An<strong>de</strong>rsherum ist es nicht<br />
225 möglich, das Entwicklungstempo <strong>zu</strong> drosseln, um die Kin<strong>de</strong>r von<br />
<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Lebens <strong>zu</strong> beschützen. Für je<strong>de</strong> Entwicklungsaufgabe<br />
gibt es eine Zeit.<br />
Wenn eine Stufe gut abgeschlossen wur<strong>de</strong>, behalten wir eine gewisse<br />
Tugend o<strong>de</strong>r psychologische Stärke, die uns durch die fol-<br />
230 gen<strong>de</strong>n Stufen unseres Lebens begleitet. Schließen wir dagegen<br />
eine Stufe weniger gut ab, kann es vorkommen, dass wir Fehlanpassungen<br />
(maladaptions) und Malignitäten (malignities) entwickeln<br />
und auch unsere weitere Entwicklung gefähr<strong>de</strong>n. Eine Malignität<br />
ist die schlimmere Auswirkung von bei<strong>de</strong>n, weil <strong>zu</strong> wenig<br />
235 positive und <strong>zu</strong> viele negative Aspekte <strong>de</strong>r jeweiligen Aufgabe gezogen<br />
wur<strong>de</strong>n; wie <strong>zu</strong>m Beispiel bei einer Person, die an<strong>de</strong>ren<br />
Menschen nicht vertrauen kann. Eine Verhaltensstörung ist nicht<br />
ganz so gravierend, und umfasst <strong>zu</strong> viel <strong>de</strong>r guten und <strong>zu</strong> wenige<br />
schlechte Aspekte; wie bei einer Person, die an<strong>de</strong>ren <strong>zu</strong> sehr ver-<br />
240 traut.<br />
Kin<strong>de</strong>r und Erwachsene<br />
Eine <strong>de</strong>r vielleicht größten Innovationen war es, dass <strong>Erikson</strong><br />
nicht fünf Entwicklungsstufen postulierte, wie Freud es tat, son<strong>de</strong>rn<br />
acht. <strong>Erikson</strong> führte Freuds genitale Phase bis in die Adoles-<br />
245 zenz plus drei Phasen <strong>de</strong>s Erwachsenseins weiter. Mit Sicherheit<br />
hören wir nicht auf, uns – insbeson<strong>de</strong>re psychologisch – auch<br />
nach unserem zwölften o<strong>de</strong>r dreizehnten Geburtstag weiter <strong>zu</strong><br />
entwickeln; es scheint also logisch, je<strong>de</strong> Theorie <strong>de</strong>r Entwicklungsstadien<br />
auch auf spätere Entwicklungen aus<strong>zu</strong><strong>de</strong>hnen!<br />
250 <strong>Erikson</strong> hat sich <strong>zu</strong><strong>de</strong>m auch über die Interaktion <strong>de</strong>r Generationen<br />
geäußert, er bezeichnete diese Interaktion als Gegenseitigkeit<br />
(mutuality). Freud hat sehr <strong>de</strong>utlich herausgestellt, dass die Eltern<br />
einen dramatischen Einfluss auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s haben.<br />
<strong>Erikson</strong> fügte hin<strong>zu</strong>, dass auch die Kin<strong>de</strong>r die Entwicklung<br />
255 <strong>de</strong>r Eltern beeinflussen. Zum Beispiel än<strong>de</strong>rn Kin<strong>de</strong>r das Leben<br />
eines bislang kin<strong>de</strong>rlosen Paares nachhaltig und führt die neuen<br />
Eltern weiter auf ihrem Entwicklungspfad voran. So ist es auch<br />
angemessen, eine dritte (und in manchen Fällen auch vierte) Generation<br />
ins Licht <strong>zu</strong> rücken: Viele von uns wur<strong>de</strong> von ihren Groß-<br />
260 eltern beeinflusst und umgekehrt.<br />
Ein beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utliches Beispiel <strong>de</strong>r Gegenseitigkeit kommt in<br />
<strong>de</strong>n Schwierigkeiten einer sehr jungen Mutter <strong>zu</strong>m Tragen. Obwohl<br />
Mutter und Kind ein schönes Leben führen, ist die Mutter<br />
noch immer mit <strong>de</strong>n Entwicklungsaufgaben <strong>de</strong>r Adoleszenz be-<br />
265 schäftigt, sie muss herausfin<strong>de</strong>n, wer sie ist und wie sie ihren<br />
Platz in <strong>de</strong>r großen Gesellschaft fin<strong>de</strong>t. Die Beziehung, die sie mit<br />
<strong>de</strong>m Vater <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s hat o<strong>de</strong>r hatte, mag auf bei<strong>de</strong>n Seiten eher<br />
unreif gewesen sein, und wenn sie nicht heiraten, wird die Mutter<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s sich auch mit <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen, eine Beziehung<br />
270 auf<strong>zu</strong>bauen und <strong>zu</strong> pflegen auseinan<strong>de</strong>rsetzen müssen. Das Kind<br />
hat hingegen die klaren und ein<strong>de</strong>utigen Bedürfnisse, die Kin<strong>de</strong>r<br />
eben haben, von diesen Bedürfnissen ist das wichtigste das Bedürfnis<br />
nach einer Mutter, mit <strong>de</strong>n reifen Fähigkeiten und <strong>de</strong>r sozialen<br />
Unterstüt<strong>zu</strong>ng, die eine Mutter haben sollte. Wenn die Eltern<br />
275 <strong>de</strong>r jungen Mutter unterstützend eingreifen, wie man das vielleicht<br />
erwarten wür<strong>de</strong>, dann wer<strong>de</strong>n auch sie auf ihrem Entwicklungspfad<br />
durcheinan<strong>de</strong>rgeraten und <strong>zu</strong>rück in eine Lebensweise geführt,<br />
die sie bereits hinter sich hatten, und die sie möglicherweise<br />
als unglaublich anstrengend empfin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Und so weiter....<br />
280 Die Leben <strong>de</strong>r Menschen sind in hochkomplexer Weise miteinan<strong>de</strong>r<br />
verwoben, was für <strong>de</strong>n Theoretiker sehr frustrierend sein kann.<br />
Doch wenn wir diese Verwobenheit nicht beachten, ignorieren wir<br />
einen lebenswichtigen Bestandteil unserer Entwicklung und unserer<br />
Persönlichkeit.<br />
285 Die erste Stufe<br />
Die erste Stufe, infancy o<strong>de</strong>r die oral-sensorische Phase, umfasst<br />
etwa das erste Jahr o<strong>de</strong>r die ersten an<strong>de</strong>rthalb Jahre <strong>de</strong>s Lebens.<br />
Die Aufgabe ist die Entwicklung von Vertrauen, ohne die Fähigkeit<br />
<strong>zu</strong> misstrauen völlig <strong>zu</strong> eliminieren.<br />
290 Wenn Mutter und Vater <strong>de</strong>m Neugeborenen ein gewisses Maß an<br />
Vertrautheit, Konsistenz und Kontinuität vermitteln können, wird<br />
das Kind das Gefühl entwickeln, dass die Welt – insbeson<strong>de</strong>re die<br />
soziale Welt – ein sicherer Ort ist, dass die Menschen verlässlich<br />
und liebevoll sind. Das Kind lernt durch das Verhalten <strong>de</strong>r Eltern<br />
295 ihm gegenüber auch, <strong>de</strong>m eigenen Körper und <strong>de</strong>n da<strong>zu</strong> gehören<strong>de</strong>n<br />
biologischen Bedürfnissen <strong>zu</strong> vertrauen.<br />
Sind die Eltern nicht verlässlich und inadäquat, wenn sie das Baby<br />
ablehnen o<strong>de</strong>r ihm etwas antun, wenn an<strong>de</strong>re Interessen da<strong>zu</strong><br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 2 von 6
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
führen, dass die Eltern sich von <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s Babys ab-<br />
300 wen<strong>de</strong>n, um statt <strong>de</strong>ssen die eigenen Bedürfnisse <strong>zu</strong> befriedigen,<br />
dann wird das Baby Misstrauen entwickeln. In Anwesenheit an<strong>de</strong>rer<br />
wird es besorgt und misstrauisch sein.<br />
Bitte verstehen Sie, dass das nicht be<strong>de</strong>utet, die Eltern müssten<br />
perfekt sein. Tatsächlich ist es so, dass bei Eltern, die übermäßig<br />
305 besorgt um ihr Kind sind, die sofort hinlaufen, sobald es <strong>zu</strong><br />
Schreien beginnt, die Möglichkeit besteht, dass das Kind eine<br />
Fehlanpassung entwickelt, die <strong>Erikson</strong> als sensorische Fehlanpassung<br />
(sensory maladjustment): Übermäßig vertrauensselig,<br />
kann das Kind nicht glauben, dass irgendjemand ihm etwas Böses<br />
310 antun könnte, und es wird alle möglichen Abwehrmechanismen<br />
da<strong>zu</strong> verwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n unverbesserlichen Optimismus aufrecht erhalten<br />
<strong>zu</strong> können.<br />
Schlimmer ist es natürlich, wenn die Balance <strong>de</strong>s Babys <strong>zu</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Seite in Misstrauen umschlägt: Die Kin<strong>de</strong>r entwickeln die<br />
315 malignante Neigung <strong>zu</strong>r Zurückgezogenheit, charakterisiert durch<br />
Depression, Paranoia und möglicher Psychose.<br />
Wird die richtige Balance erreicht, entwickelt das Kind die Tugend<br />
Hoffnung, <strong>de</strong>n starken Glauben, dass alles letztlich gut wird, auch<br />
wenn es manchmal nicht so rosig ausschaut. Eines <strong>de</strong>r Anzeichen<br />
320 dafür, dass ein Kind die erste Stufe gut meistert, ist wenn es nicht<br />
übermäßig aus <strong>de</strong>r Fassung gerät, weil es einen Moment auf die<br />
Befriedigung seiner Bedürfnisse warten muss: Mama und Papa<br />
müssen nicht perfekt sein; ich vertraue darauf, dass sie bald hier<br />
sein wer<strong>de</strong>n, auch wenn sie nicht sofort auftauchen; das mag eine<br />
325 harte Situation sein, aber es wird alles gut. Dies ist genau die Fähigkeit,<br />
die uns im späteren Leben über Enttäuschungen in <strong>de</strong>r<br />
Liebe, <strong>de</strong>r Karriere und so manchem an<strong>de</strong>rem Lebensbereich<br />
hinweghilft.<br />
Die zweite Stufe<br />
330 Die zweite Stufe ist die anal-muskuläre Stufe <strong>de</strong>s Kleinkindalters,<br />
etwa zwischen 18 Monaten und vier Jahren. Die Entwicklungsaufgabe<br />
besteht darin, ein gewisses Maß an Autonomie <strong>zu</strong> erreichen,<br />
während Scham und Zweifel minimiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Wenn Mama und Papa (und die an<strong>de</strong>ren Menschen, die jetzt ins<br />
335 Bild kommen) <strong>de</strong>m Kind erlauben, seine Umgebung <strong>zu</strong> erkun<strong>de</strong>n<br />
und auf sie ein<strong>zu</strong>wirken, kann das Kind einen Sinn für Autonomie<br />
o<strong>de</strong>r Unabhängigkeit entwickeln. Die Eltern sollten das Kind we<strong>de</strong>r<br />
entmutigen noch vorantreiben. Eine Balance ist erfor<strong>de</strong>rlich. Oft<br />
gibt man jungen Eltern <strong>de</strong>n Rat, in dieser Phase „streng aber tole-<br />
340 rant“ <strong>zu</strong> sein, und das ist ein guter Hinweis. Auf diese Weise wird<br />
das Kind sowohl Selbstkontrolle als auch Selbstwertgefühl entwickeln.<br />
An<strong>de</strong>rerseits aber ist es eher einfach für das Kind, statt <strong>de</strong>ssen<br />
einen Sinn für Scham und Zweifel <strong>zu</strong> entwickeln. Wenn die Eltern<br />
345 je<strong>de</strong>m Versuch, auf Erkundungstour <strong>zu</strong> gehen und sich unabhängig<br />
<strong>zu</strong> bewegen, hart entgegenwirken, wird das Kind bald aufgeben<br />
und das Gefühl haben, dass es nicht eigenständig han<strong>de</strong>ln<br />
kann und darf. Wir sollten im Hinterkopf behalten, dass auch unser<br />
unschuldiges Gelächter über die ersten Unternehmungen <strong>de</strong>s<br />
350 Kleinkin<strong>de</strong>s <strong>zu</strong> einem tiefen Schamgefühl und <strong>de</strong>m Zweifel an <strong>de</strong>n<br />
eigenen Fähigkeiten führen können.<br />
Und es gibt weitere Wege, die <strong>zu</strong>r Entwicklung von Scham und<br />
Zweifel beitragen: Wenn man Kin<strong>de</strong>rn uneingeschränkte Freiheit<br />
lässt, ohne einen Sinn für Grenzen, o<strong>de</strong>r wenn man versucht, Kin-<br />
355 <strong>de</strong>rn bei Dingen <strong>zu</strong> helfen, die sie selbst <strong>zu</strong> erledigen lernen sollten,<br />
auch dann gibt man ihnen <strong>de</strong>n Eindruck, dass sie nicht wirklich<br />
<strong>zu</strong> etwas gut sind. Wenn man nicht die Geduld aufbringt, <strong>zu</strong><br />
warten, bis das Kind seine Schuhe selbst <strong>zu</strong>gebun<strong>de</strong>n hat, wird es<br />
nie lernen, sich die Schuhe <strong>zu</strong> bin<strong>de</strong>n, und wird statt <strong>de</strong>ssen an-<br />
360 nehmen, es sei <strong>zu</strong> schwierig <strong>zu</strong> lernen!<br />
Dennoch ist ein wenig “Scham und Zweifel” nicht nur unvermeidlich,<br />
son<strong>de</strong>rn auch nützlich. Ohne ein wenig Scham und ein wenig<br />
Zweifel entwickelt das Kind eine Neigung, die <strong>Erikson</strong> Impulsivität<br />
(impulsiveness) nennt, eine Art schamloser Starrsinn. In <strong>de</strong>r spä-<br />
365 teren Kindheit und sogar im Erwachsenenalter führt dies da<strong>zu</strong>,<br />
dass man sich einfach in etwas stürzt, ohne die eigenen Fähigkeiten<br />
<strong>zu</strong> be<strong>de</strong>nken.<br />
Schlimmer ist natürlich <strong>zu</strong> viel Scham und Zweifel, was <strong>zu</strong> einer<br />
Entwicklung führt, die <strong>Erikson</strong> als Zwanghaftigkeit<br />
370 (compulsiveness) bezeichnet. Ein zwanghafter Mensch meint,<br />
seine gesamte Existenz hänge von <strong>de</strong>m ab, was er o<strong>de</strong>r sie tut,<br />
und so muss immer alles perfekt gemacht wer<strong>de</strong>n. Wenn man alle<br />
Regeln präzise befolgt, macht man keine Fehler, und Fehler sind<br />
um je<strong>de</strong>n Preis <strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n. Viele von uns wissen, wie man sich<br />
375 fühlt, wenn man sich fortwährend schämt und an sich selbst zweifelt.<br />
Ein wenig mehr Geduld und Toleranz im Umgang mit <strong>de</strong>n eigenen<br />
Kin<strong>de</strong>rn kann da<strong>zu</strong> beitragen, dass sie nicht <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>r<br />
Eltern einschlagen.<br />
Gelingt die korrekte positive Balance von Autonomie und Scham<br />
380 und Zweifel, entwickelt das Kind die Tugend Willenskraft o<strong>de</strong>r<br />
Entschlossenheit. Eine <strong>de</strong>r bewun<strong>de</strong>rnswertesten – und<br />
frustrierendsten – Seiten eines zwei o<strong>de</strong>r drei Jahre alten Kin<strong>de</strong>s<br />
ist ihre Entschlossenheit. "Ich kann das!" ist ihr Motto. Wenn es<br />
uns gelingt, diese "ich kann das"-Einstellung (mit angemessener<br />
385 Beschei<strong>de</strong>nheit, um sie aus<strong>zu</strong>balancieren) <strong>zu</strong> bewahren, dann<br />
geht es <strong>de</strong>m Kind als Erwachsener später viel besser.<br />
Die dritte Stufe<br />
Stufe drei ist die genital-lokomotorische Stufe o<strong>de</strong>r das Spielalter.<br />
Zwischen drei o<strong>de</strong>r vier und fünf o<strong>de</strong>r sechs Jahren ist je<strong>de</strong>s Kind<br />
390 mit <strong>de</strong>r Aufgabe konfrontiert, Initiative ohne <strong>zu</strong> viel Schuld <strong>zu</strong> lernen.<br />
Initiative be<strong>de</strong>utet eine positive Reaktion auf die Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>r Welt, Verantwortung <strong>zu</strong> übernehmen, ein paar Fähigkeiten<br />
da<strong>zu</strong><strong>zu</strong>lernen, sich nützlich <strong>zu</strong> fühlen. Eltern können Initiative<br />
395 för<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m sie die Kin<strong>de</strong>r ermuntern, ihre eigenen I<strong>de</strong>en aus<strong>zu</strong>probieren.<br />
Wir sollten Fantasie, Neugier<strong>de</strong> und Vorstellungskraft<br />
akzeptiere und ermutigen. Dies ist die Zeit <strong>de</strong>s Spielens,<br />
nicht <strong>de</strong>r Erziehung. Wie nie <strong>zu</strong>vor ist ein Kind jetzt fähig, sich eine<br />
<strong>zu</strong>künftige Situation vor<strong>zu</strong>stellen, eine Situation, die keine Rea-<br />
400 lität ist. Initiative ist <strong>de</strong>r Versuch, eine solche Nicht-Realität <strong>zu</strong>r<br />
Realität <strong>zu</strong> machen.<br />
Doch wenn Kin<strong>de</strong>r sich die Zukunft vorstellen können, wenn sie<br />
planen können, dann können sie auch verantwortlich sein, und<br />
schuldig. Wenn mein zweijähriges Kind meine Armbanduhr in die<br />
405 Toilette wirft und hinunterspült, kann ich davon ausgehen, dass da<br />
keine "bösen Absichten" dahinterstecken. Es war nur <strong>de</strong>r Reiz, ein<br />
glänzen<strong>de</strong>s Objekt dabei <strong>zu</strong> beobachten, wie es in <strong>de</strong>r Toilette<br />
herumgewirbelt wird und schließlich verschwin<strong>de</strong>t. Welch ein<br />
Spass! Doch wenn mein fünfjähriges Kind das selbe tut, ... nun,<br />
410 sie sollte wissen, was mit <strong>de</strong>r Uhr geschehen wird, was mit Papas<br />
Laune geschehen wird und was mit ihr geschehen wird! Sie kann<br />
für ihr Han<strong>de</strong>ln verantwortlich gemacht wer<strong>de</strong>n, und sie kann sich<br />
schuldig fühlen. Die Fähigkeit <strong>zu</strong> moralischem Urteil ist entwickelt.<br />
Als Freudianer bezieht <strong>Erikson</strong> natürlich die Ödipale Erfahrung in<br />
415 diese Stufe ein. Aus seiner Sicht be<strong>de</strong>utet die ödipale Krise, dass<br />
das Kind die Nähe <strong>zu</strong>m Elternteil <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts nicht<br />
aufgeben will. Als Elternteil hat man die soziale Verantwortung,<br />
das Kind <strong>zu</strong> ermutigen "du bist kein Baby mehr!". Doch wenn dieser<br />
Prozess <strong>zu</strong> grob und <strong>zu</strong> abrupt verläuft, lernt das Kind, ange-<br />
420 sichts seiner Gefühle Schuld <strong>zu</strong> empfin<strong>de</strong>n.<br />
Zu viel Initiative und <strong>zu</strong> wenig Schuld mün<strong>de</strong>t laut <strong>Erikson</strong> in eine<br />
Neigung <strong>zu</strong>r Rücksichtslosigkeit (ruthlessness). Die rücksichtslose<br />
Person ergreift die Initiative; sie hat ihre Pläne, etwa im Bereich<br />
von Schule o<strong>de</strong>r Liebesbeziehungen o<strong>de</strong>r Politik o<strong>de</strong>r Karriere.<br />
425 Nur ist es ihr egal, auf wem sie herumtrampeln, um ihre Ziele <strong>zu</strong><br />
erreichen. Diese Ziele be<strong>de</strong>uten ihr alles, Schuldgefühle sind eine<br />
Sache für Schwächlinge. Die extreme Ausprägung von Rücksichtslosigkeit<br />
ist Soziopathie.<br />
Rücksichtslosigkeit ist schlecht für die an<strong>de</strong>ren, doch aus <strong>de</strong>r<br />
430 Sicht <strong>de</strong>r rücksichtslosen Person relativ leicht. Schlimmer für die<br />
betreffen<strong>de</strong> Person ist die Entwicklung von <strong>zu</strong> viel Schuld, die<br />
<strong>Erikson</strong> als Hemmung (inhibition) bezeichnet. Die gehemmte Person<br />
probiert etwas gar nicht erst aus, frei nach <strong>de</strong>m Motto "nothing<br />
ventured, nothing lost" (nichts gewagt, nichts verloren), und insbe-<br />
435 son<strong>de</strong>re kann so nichts entstehen, angesichts <strong>de</strong>ssen man sich<br />
schuldig fühlen müsste. Auf sexueller, ödipaler, Seite, mag die<br />
gehemmte Person impotent o<strong>de</strong>r frigi<strong>de</strong> sein.<br />
Eine gute Balance führt <strong>zu</strong> <strong>de</strong>r psychosozialen Stärke von Zielgerichtetheit.<br />
Ein Sinn für Ziele ist etwas, nach <strong>de</strong>m viele Menschen<br />
440 ihr Leben nach suchen, doch viele merken nicht, dass sie selbst<br />
diese Ziele schaffen müssen, durch Imagination und Initiative. Ein<br />
wie ich fin<strong>de</strong> besserer Ausdruck für diese Tugend wäre Mut, die<br />
Kapazität für Handlung, trotz <strong>de</strong>s klaren Verständnisses <strong>de</strong>r eigenen<br />
Grenzen und vergangener Misserfolge.<br />
445 Die vierte Stufe<br />
Stufe vier ist die Latenzphase, o<strong>de</strong>r das Schulkind im Alter von<br />
etwa sechs bis zwölf Jahren. Die Entwicklungsaufgabe ist es, eine<br />
Kapazität für Fleiß <strong>zu</strong> entwickeln und <strong>zu</strong>gleich ein exzessives<br />
Empfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r eigenen Unterlegenheit <strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n. Kin<strong>de</strong>r<br />
450 müssen "die Imagination zähmen" und sich Erziehung und <strong>de</strong>m<br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 3 von 6
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
Erlernen <strong>de</strong>r sozialen Fähigkeiten widmen, die die Gesellschaft<br />
von ihnen verlangt.<br />
Hier kommt eine viel breiter angelegte soziale Sphäre <strong>zu</strong>m Tragen:<br />
Zu <strong>de</strong>n Eltern und an<strong>de</strong>ren Familienmitglie<strong>de</strong>rn kommen nun<br />
455 auch die Lehrer und Peers sowie an<strong>de</strong>re Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />
insgesamt. Sie alle machen ihren Beitrag: Eltern ermutigen,<br />
Lehrer kümmern sich, Peers akzeptieren. Kin<strong>de</strong>r müssen lernen,<br />
dass es nicht nur vergnüglich ist, sich einen Plan aus<strong>zu</strong><strong>de</strong>nken,<br />
son<strong>de</strong>rn ihn auch in die Tat um<strong>zu</strong>setzen. Sie lernen das Gefühl<br />
460 von Erfolg kennen, ob in <strong>de</strong>r Schule o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Spielplatz, aka<strong>de</strong>misch<br />
o<strong>de</strong>r sozial.<br />
Ein gutes Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Kind in <strong>de</strong>r<br />
dritten und einem Kind in <strong>de</strong>r vierten Phase ist die Art, wie sie<br />
spielen. Vierjährige lieben das Spielen, doch sie haben nur ein<br />
465 vages Verständnis <strong>de</strong>r Regeln, sie än<strong>de</strong>rn die Regeln mehrfach<br />
während <strong>de</strong>s Spiels und wer<strong>de</strong>n das Spiel auch nicht unbedingt<br />
<strong>zu</strong>en<strong>de</strong> führen, es sei <strong>de</strong>nn sie been<strong>de</strong>n das Spiel, in<strong>de</strong>m sie ihre<br />
Mitspieler mit <strong>de</strong>n Spielsteinen bewerfen. Ein Siebenjähriger hingegen<br />
achtet auf die Regeln, halt sie sogar für gera<strong>de</strong><strong>zu</strong> heilig,<br />
470 und er wird sich auch furchtbar aufregen, wenn das Spiel gestört<br />
wird und nicht <strong>zu</strong> <strong>de</strong>m vorgesehenen Abschluss kommt.<br />
Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Kind <strong>zu</strong> wenige Erfolgserlebnisse ermöglicht, etwa<br />
wegen grober Lehrer o<strong>de</strong>r ablehnen<strong>de</strong>r Peers, dann wird das Kind<br />
statt <strong>de</strong>ssen ein Gefühl <strong>de</strong>r Unterlegenheit o<strong>de</strong>r Inkompetenz ent-<br />
475 wickeln. Zusätzliche Quellen für Min<strong>de</strong>rwertigkeit sind <strong>Erikson</strong> <strong>zu</strong><br />
Folge Rassismus, Sexismus und an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r Diskriminierung:<br />
Glaubt ein Kind nämlich, Erfolg hänge davon ab, wer man<br />
ist, statt davon, wie sehr man sich bemüht, warum sollte es sich<br />
dann noch bemühen?<br />
480 Zu viel Eifer führt <strong>zu</strong> <strong>de</strong>r Neigung, die als niedrige Virtuosität<br />
(narrow virtuosity) bezeichnet werd. Wir sehen so etwas bei Kin<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>de</strong>nen es nicht erlaubt ist, "Kin<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> sein", diejenigen, die<br />
von Eltern o<strong>de</strong>r Lehrern in eine bestimmten Kompetenzbereich<br />
gedrängt wer<strong>de</strong>n, ohne dass Raum bliebe, breiter angelegte Inte-<br />
485 ressen <strong>zu</strong> entwickeln. Diese Kin<strong>de</strong>r haben kein Leben: Kin<strong>de</strong>rschauspieler,<br />
Kin<strong>de</strong>rathleten, Kin<strong>de</strong>rmusikvirtuosen, Wun<strong>de</strong>rkin<strong>de</strong>r<br />
je<strong>de</strong>r Art. Wir bewun<strong>de</strong>rn alle ihren Eifer, doch wenn wir etwas<br />
genauer hinsehen, steht all dies für ein eher leeres Leben.<br />
Weit verbreiteter ist die Neigung, die als Trägheit (inertia) be-<br />
490 zeichnet wird. Darin sind all die von uns eingeschlossen, die an<br />
"Min<strong>de</strong>rwertigkeitskomplexen" lei<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen Alfred Adler gesprochen<br />
hat. Wenn du nicht auf Anhieb erfolgreich bist, versuchst<br />
du es nie wie<strong>de</strong>r! Zum Beispiel waren viele von uns in Mathematik<br />
nie beson<strong>de</strong>rs gut, also wären wir lieber gestorben, als<br />
495 <strong>zu</strong>sätzliche Kurse <strong>zu</strong> belegen. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum fühlten sich im<br />
Sport ge<strong>de</strong>mütigt, folglich interessieren sie sich nie wie<strong>de</strong>r für eine<br />
Sportart. An<strong>de</strong>re haben nie soziale Fähigkeiten entwickelt – die<br />
wichtigsten aller Fähigkeiten – folglich gehen sie nie in die Öffentlichkeit.<br />
Wir wer<strong>de</strong>n träge.<br />
500 Gesün<strong>de</strong>r ist es, eine Balance von Eifer und Unterlegenheit <strong>zu</strong><br />
entwickeln – <strong>de</strong>nn ein hohes Maß an Eifer mit einer Prise Min<strong>de</strong>rwertigkeit,<br />
damit wir vernünftig und beschei<strong>de</strong>n bleiben. Dann haben<br />
wir eine Tugend erreicht, die Kompetenz genannt wird.<br />
Die fünfte Stufe<br />
505 Stufe fünf ist die Adoleszenz, beginnend in <strong>de</strong>r Pubertät und en<strong>de</strong>nd<br />
zwischen 18 und 20 Jahren. Die Entwicklungsaufgabe <strong>de</strong>r<br />
Adoleszenz ist es, eine Ichi<strong>de</strong>ntität <strong>zu</strong> erreichen und Rollenverwirrung<br />
<strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n. Für die Adoleszenz hat sich <strong>Erikson</strong> als erstes<br />
und am intensivsten interessiert, und die Muster, die er hier er-<br />
510 kannte, waren legten die Basis für sein Denken über alle übrigen<br />
Stufen.<br />
Ichi<strong>de</strong>ntität (ego i<strong>de</strong>ntity) meint das Wissen darüber, wer man<br />
selbst ist und wie man in die umgeben<strong>de</strong> Gesellschaft hineinpasst.<br />
Es erfor<strong>de</strong>rt, dass man all das, was man über das Leben<br />
515 und sich selbst gelernt hat, <strong>zu</strong>sammennimmt und daraus ein einheitliches<br />
Selbstbild formt, eines, das die Gemeinschaft als be<strong>de</strong>utsam<br />
anerkennen kann.<br />
Eine Reihe von Faktoren macht diese Aufgabe einfacher: Zunächst<br />
sollten wir eine mainstream Kultur <strong>de</strong>r Erwachsenen ha-<br />
520 ben, die <strong>de</strong>n Respekt <strong>de</strong>r adoleszenten Person verdient, eine Kultur<br />
mit guten Rollenmo<strong>de</strong>llen für Erwachsene sowie offenen<br />
Kommunikationslinien.<br />
Hin<strong>zu</strong> kommt, dass die Gesellschaft klare Riten <strong>de</strong>s Übergangs<br />
bereithalten muss, also bestimmte Leistungen und Rituale, die die<br />
525 Erwachsenen von <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn unterschei<strong>de</strong>n helfen. In primitiven<br />
und traditionellen Gesellschaften wird <strong>zu</strong>m Beispiel von einem<br />
adoleszenten Jungen erwartet, dass er das Dorf für eine Weile<br />
verlässt und alleine lebt, dass er ein symbolisch be<strong>de</strong>utsames<br />
Tier jagt, o<strong>de</strong>r nach einer inspirieren<strong>de</strong>n Vision sucht. Jungen und<br />
530 Mädchen müssen vielleicht einige Tests ablegen, in <strong>de</strong>nen ihre<br />
Lei<strong>de</strong>nsfähigkeit geprüft wird, symbolische Zeremonien o<strong>de</strong>r erzieherische<br />
Aufgaben. Auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise wird die<br />
Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>r Zeit als machtlosem Kind ohne<br />
Verantwortung und <strong>de</strong>r zeit als mächtigere und verantwortliche<br />
535 erwachsene Person <strong>de</strong>utlich gemacht.<br />
Ohne diese Markierungen wer<strong>de</strong>n die Rollen leicht vermischt und<br />
verwechselt (role confusion), es entsteht eine Unsicherheit darüber,<br />
wo unser Platz in <strong>de</strong>r Gesellschaft und in <strong>de</strong>r Welt ist. Wenn<br />
für eine adoleszente Person die Rollen vermischt sind, so lei<strong>de</strong>t<br />
540 sie nach <strong>Erikson</strong> an einer I<strong>de</strong>ntitätskrise. Eine verbreitete Frage,<br />
die sich adoleszente Mitglie<strong>de</strong>r unserer Gesellschaft fragen ist die<br />
Frage nach <strong>de</strong>r eigenen I<strong>de</strong>ntität: "Wer bin ich?".<br />
<strong>Erikson</strong> schlägt für die Adoleszenz in unserer Gesellschaft ein<br />
psychosoziales Moratorium vor. Er meint, du sollst ein kurzes "ti-<br />
545 me out" in Anspruch nehmen. Wenn du genug Geld hast, geh<br />
nach Europa. Wenn nicht, bereise die Vereinigten Staaten. Brich<br />
die Schule ab und such dir einen Job. Schmeiß’ <strong>de</strong>n Job und geh<br />
<strong>zu</strong>r Schule. Mach eine Pause, nimm <strong>de</strong>n Duft <strong>de</strong>r Rosen wahr und<br />
lerne dich selbst kennen. Wir neigen da<strong>zu</strong>, so schnell wie möglich<br />
550 "Erfolge" <strong>zu</strong> erzielen, doch nur wenige von uns haben sich jemals<br />
die Zeit genommen, heraus<strong>zu</strong>fin<strong>de</strong>n, was Erfolg eigentlich für uns<br />
be<strong>de</strong>utet. Wie bei <strong>de</strong>n jungen Stammesmitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Oglala<br />
Lakota müssen wir vielleicht einfach ein wenig träumen.<br />
Es gibt auch so etwas wie <strong>zu</strong> viel "Ichi<strong>de</strong>ntität", wenn eine Person<br />
555 in einer bestimmten Gesellschaft o<strong>de</strong>r Subkultur so sehr in einer<br />
bestimmten Rolle aufgeht, dass kein Raum für Toleranz bleibt.<br />
<strong>Erikson</strong> nennt dies die Neigung <strong>zu</strong> Fanatismus. Ein Fanatiker<br />
glaubt, sein Weg sei <strong>de</strong>r einzige Weg. Adoleszente sind natürlich<br />
für ihren I<strong>de</strong>alismus berühmt, und auch für ihre Neigung, die Din-<br />
560 ge nur schwarzweiß <strong>zu</strong> sehen. Solche Menschen scharen Gleichgesinnte<br />
um sich und verbreiten ihre Überzeugungen und Lebensgewohnheiten,<br />
ohne auf das Wi<strong>de</strong>rspruchsrecht an<strong>de</strong>rer<br />
Menschen <strong>zu</strong> achten.<br />
Der Mangel an I<strong>de</strong>ntität ist vielleicht noch schwieriger, <strong>Erikson</strong> be-<br />
565 zeichnet diese Fehlentwicklung als Zurückweisung (repudiation).<br />
Menschen mit dieser Neigung ziehen sich als Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Erwachsenenwelt<br />
<strong>zu</strong>rück und negieren sogar ihr Bedürfnis nach einer<br />
I<strong>de</strong>ntität. Manche Adoleszente erlauben sich, mit einer Gruppe<br />
<strong>zu</strong> "verschmelzen", insbeson<strong>de</strong>re mit einer Gruppe, die bemüht<br />
570 ist, dir eine <strong>de</strong>taillierte I<strong>de</strong>ntität bereit<strong>zu</strong>stellen: religiöse Kulte, militaristische<br />
Organisationen, Gruppen, die auf Hass aufgebaut<br />
sind, Gruppen, die sich von <strong>de</strong>n schmerzlichen Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
mainstream-Gesellschaft getrennt haben. Diese Menschen verhalten<br />
sich möglicherweise auch <strong>de</strong>struktiv, tendieren <strong>zu</strong> Drogen<br />
575 o<strong>de</strong>r Alkohol, o<strong>de</strong>r ziehen sich in ihre eigenen psychotischen Fantasien<br />
<strong>zu</strong>rück. Für sie ist es letztlich besser, "böse" o<strong>de</strong>r "niemand"<br />
<strong>zu</strong> sein, als gar nicht <strong>zu</strong> wissen, wer man ist!<br />
Wenn diese Phase erfolgreich ausbalanciert wird, erreicht man eine<br />
Tugend, die <strong>Erikson</strong> als Glaubwürdigkeit (fi<strong>de</strong>lity) bezeichnet.<br />
580 Damit ist Loyalität gemeint, die Fähigkeit also, gemäß gesellschaftlicher<br />
Standards <strong>zu</strong> leben, trotz ihrer Unvollkommenheiten<br />
und trotz ihrer Unvollständigkeit und Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit. Wir<br />
sprechen hier nicht von blin<strong>de</strong>r Loyalität, und auch nicht davon,<br />
dass die Unvollkommenheiten hingenommen wer<strong>de</strong>n sollen. Denn<br />
585 wenn du <strong>de</strong>ine Gemeinschaft liebst, willst du, dass sie so gut wird<br />
wie nur möglich. Doch Glaubwürdigkeit be<strong>de</strong>utet, dass du einen<br />
Platz in dieser Gemeinschaft gefun<strong>de</strong>n hast, einen Platz, <strong>de</strong>r es<br />
dir erlaubt, <strong>de</strong>inen Beitrag <strong>zu</strong> leisten.<br />
Die sechste Stufe<br />
590 Wenn du so weit gekommen bist, befin<strong>de</strong>st du dich in <strong>de</strong>r Phase<br />
<strong>de</strong>s frühen Erwachsenenalters, etwa vom 18. bis <strong>zu</strong>m 30. Lebensjahr.<br />
In <strong>de</strong>n Stufen <strong>de</strong>s Erwachsenenalter sind die Übergänge<br />
nicht mehr so präzise <strong>zu</strong> bestimmen, und auch die Menschen sind<br />
sehr viel unterschiedlicher. Die Entwicklungsaufgabe besteht da-<br />
595 rin, ein gewisses Maß an Intimität <strong>zu</strong> erreichen, statt isoliert <strong>zu</strong><br />
bleiben.<br />
Intimität ist die Fähigkeit, an<strong>de</strong>ren nahe <strong>zu</strong> sein, als Geliebte/r,<br />
Freund/in und als Mitglied <strong>de</strong>r Gesellschaft. Weil du jetzt weißt,<br />
wer du bist, musst du nicht mehr fürchten, dich selbst <strong>zu</strong> "verlie-<br />
600 ren", wie es manche Adoleszente empfin<strong>de</strong>n. Die "Furcht, sich für<br />
etwas ein<strong>zu</strong>setzen", sie manche Menschen <strong>zu</strong> haben scheinen, ist<br />
in dieser Phase ein Zeichen für Unreife. Diese Furcht ist nicht immer<br />
so offensichtlich.<br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 4 von 6
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
Heute schieben <strong>zu</strong>m Beispiel viele Menschen die Weiterentwick-<br />
605 lung ihrer Beziehung vor sich her: Ich wer<strong>de</strong> heiraten (o<strong>de</strong>r eine<br />
Familie grün<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r mich für wichtige soziale Aufgaben engagieren),<br />
sobald ich mit <strong>de</strong>r Schule fertig bin, sobald ich einen Job<br />
gefun<strong>de</strong>n habe, sobald ich ein Haus habe, sobald ... Wenn du<br />
schon seit zehn Jahren verlobt bist, was hält dich dann noch <strong>zu</strong>-<br />
610 rück?<br />
Der junge Erwachsene sollte sich auch nicht mehr beweisen müssen.<br />
Eine Teenager-Beziehung ist oft ein Versuch, I<strong>de</strong>ntität durch<br />
"Paarbindung" <strong>zu</strong> erreichen. Wer bin ich? Ich bin ihr Freund. Eine<br />
Beziehung zwischen jungen Erwachsenen sollte eine Beziehung<br />
615 zwischen zwei unabhängigen Egos sein, die etwas erschaffen wollen,<br />
was größer ist als sie selbst. Wir nehmen das intuitiv wahr,<br />
wenn wir angesichts einer Beziehung zwischen einem Teenager<br />
und einem jungen Erwachsenen die Stirn runzeln: Wir ahnen,<br />
dass die jüngere Person möglicherweise von <strong>de</strong>r älteren Person<br />
620 manipuliert wer<strong>de</strong>n könnte.<br />
Doch unsere Gesellschaft hat nicht viel für junge Erwachsene getan.<br />
Die Betonung liegt auf Karrieren, <strong>de</strong>r Isolation <strong>de</strong>s städtischen<br />
Lebens, die Trennung von Beziehungen, weil Mobilität verlangt<br />
wird, und dann das generell unpersönliche mo<strong>de</strong>rne Leben – all<br />
625 dies steht <strong>de</strong>r natürlichen Entwicklung intimer Beziehungen entgegen.<br />
Ich <strong>zu</strong>m Beispiel habe wie viele an<strong>de</strong>re Menschen auch<br />
mehrere Dutzend Umzüge hinter mir. Ich habe keine Ahnung, was<br />
aus <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn gewor<strong>de</strong>n ist, mit <strong>de</strong>nen ich aufgewachsen bin,<br />
o<strong>de</strong>r was aus meinen College-Freun<strong>de</strong>n gewor<strong>de</strong>n ist. Meine äl-<br />
630 testen Freun<strong>de</strong> leben Tausen<strong>de</strong> Meilen weit entfernt, ich lebe hier<br />
aus Karrieregrün<strong>de</strong>n und empfin<strong>de</strong> nicht wirklich ein Gefühl von<br />
Gemeinschaft.<br />
Bevor das alle <strong>zu</strong> <strong>de</strong>primierend wird, sollte erwähnt wer<strong>de</strong>n, dass<br />
viele von uns diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Wenn du<br />
635 in <strong>de</strong>iner Gemeinschaft aufgewachsen und auch dort geblieben<br />
bist, insbeson<strong>de</strong>re dann, wenn es sich um eine ländliche Gemeinschaft<br />
han<strong>de</strong>lt, dann konntest du mit großer Wahrscheinlichkeit<br />
tiefe, langanhalten<strong>de</strong> Freundschaften aufbauen, du hast vielleicht<br />
<strong>de</strong>ine High-School-Liebe geheiratet und fühlst dich <strong>de</strong>iner Ge-<br />
640 meinschaft liebevoll verbun<strong>de</strong>n. Doch dieser Lebensstil wird bereits<br />
schnell <strong>zu</strong> einem Anachronismus.<br />
<strong>Erikson</strong> bezeichnet die Fehlanpassung in dieser Stufe als Promiskuität,<br />
insbeson<strong>de</strong>re bezogen auf die Neigung, sich <strong>zu</strong> leicht auf<br />
Intimitäten ein<strong>zu</strong>lassen wobei es sich nicht um ausgesprochen tie-<br />
645 fe Intimität han<strong>de</strong>lt. Dies kann sich auf Beziehungen <strong>zu</strong> Freun<strong>de</strong>n<br />
und Nachbarn sowie auf Beziehungen <strong>zu</strong>r gesamten Gemeinschaft<br />
beziehen, aber auch auf Liebesbeziehungen.<br />
Die Malignität bezeichnet <strong>Erikson</strong> für diese Stufe als Ausschluss<br />
(exclusion), dies bezieht sich auf die Neigung, sich selbst von Lie-<br />
650 be, Freundschaft und Gemeinschaft <strong>zu</strong> isolieren, und gleichzeitig<br />
eine gewisse hasserfüllte Ten<strong>de</strong>nz <strong>zu</strong> entwickeln, um die eigene<br />
Einsamkeit <strong>zu</strong> kompensieren.<br />
Wird in dieser Phase eine Balance erreicht, erlangt die Person für<br />
<strong>de</strong>n Rest ihres Lebens die Tugend o<strong>de</strong>r psychosoziale Stärke, die<br />
655 <strong>Erikson</strong> als Liebe bezeichnet. Im Kontext dieser Theorie be<strong>de</strong>utet<br />
Liebe die Fähigkeit, Unterschie<strong>de</strong> und Antagonismen durch "gegenseitige<br />
Hingabe" beiseite <strong>zu</strong> schieben. Damit ist nicht nur die<br />
Liebe gemeint, die wir in einer guten Ehe fin<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn auch die<br />
Liebe zwischen Freun<strong>de</strong>n, die Liebe <strong>zu</strong> Nachbarn, Mitarbeitern<br />
660 und Landsleuten.<br />
Die siebte Stufe<br />
Die siebte Stufe ist die Zeit <strong>de</strong>s mittleren Erwachsenenalters.<br />
Auch hier ist es schwierig, einen exakten Zeitrahmen <strong>zu</strong> bestimmen;<br />
gemeint ist die Phase, in <strong>de</strong>r wir uns aktiv um die Erziehung<br />
665 unserer Kin<strong>de</strong>r kümmern. Für die meisten Menschen unserer Gesellschaft<br />
liegt diese Phase also ungefähr ab Mitte <strong>de</strong>r 20er bis <strong>zu</strong><br />
<strong>de</strong>n späten 50er Jahren. Die Entwicklungsaufgabe ist hier, die<br />
richtige Balance zwischen Generativität und Stagnation <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n<br />
und aufrecht <strong>zu</strong> erhalten.<br />
670 Generativität meint die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Liebe in die Zukunft hinein.<br />
Sie umschließt die Sorge um die nachfolgen<strong>de</strong> Generation<br />
sowie alle <strong>zu</strong>künftigen Generationen. Somit ist diese Phase weit<br />
weniger "selbstbezogen" als die Frage <strong>de</strong>r Intimität in <strong>de</strong>r vorangehen<strong>de</strong>n<br />
Phase. Intimität als die Liebe zwischen Lieben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />
675 Freun<strong>de</strong>n, ist eine Liebe zwischen Gleichen, somit ist sie notwendigerweise<br />
reziprok. Oh, natürlich: Wir lieben einan<strong>de</strong>r ohne<br />
Selbstbezogenheit, doch die Realität sieht so aus, dass wir die<br />
jeweilige Beziehung nicht als wahre Liebesbeziehung betrachten,<br />
wenn unsere Liebe nicht erwi<strong>de</strong>rt wird. Im Falle <strong>de</strong>r Generativität<br />
680 gibt es diese implizite Erwartung von Gegenseitigkeit nicht, o<strong>de</strong>r<br />
<strong>zu</strong>min<strong>de</strong>st weit weniger ausgeprägt. Nur wenig Eltern erwarten,<br />
dass ihre Kin<strong>de</strong>r ihnen "die Investitionen <strong>zu</strong>rückerstatten", die sie<br />
im Laufe ihrer Erziehung erhalten haben; und wenn Eltern <strong>de</strong>rgleichen<br />
erwarten, halten wir sie gemeinhin nicht für beson<strong>de</strong>rs gute<br />
685 Eltern!<br />
Obgleich die Mehrzahl <strong>de</strong>r Menschen Generativität im Zuge <strong>de</strong>s<br />
Aufziehens von eigenen Kin<strong>de</strong>rn praktizieren, gibt es durchaus<br />
auch an<strong>de</strong>re Ausprägungen. <strong>Erikson</strong> bezieht auch das Unterrichten,<br />
Schreiben, Erfin<strong>de</strong>n, die Künste und Wissenschaften, sozia-<br />
690 les Engagement sowie allgemeine Beiträge <strong>zu</strong>m Whole <strong>zu</strong>künftiger<br />
Generationen in <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Generativität ein – im Grun<strong>de</strong><br />
also alle Handlungen, die das alte need to be nee<strong>de</strong>d (Bedürfnis,<br />
gebraucht <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n) befriedigen.<br />
Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite ist Stagnation das vollkommene<br />
695 Vertieftsein in sich selbst, man kümmert sich um nieman<strong>de</strong>n. Eine<br />
solche Person hört auf, ein produktives Mitglied <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
<strong>zu</strong> sein. Es mag schwierig vorstellbar sein, dass wir in unserem<br />
eigenen Leben <strong>de</strong>rartige Stagnationsphasen erleben, doch die<br />
Fehlanpassung dieser Phase, die <strong>Erikson</strong> als "overextension" be-<br />
700 zeichnet, macht das Problem <strong>de</strong>utlich: Manche Menschen bemühen<br />
sich so sehr um Generativität, dass sie sich keinen Raum<br />
mehr für sich selbst einräumen, etwa für Entspannung und Ruhepausen.<br />
Wer sich so verausgabt, kann keinen guten Beitrag mehr<br />
leisten. Mit Sicherheit kennt je<strong>de</strong>r von uns jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r so vielen<br />
705 Vereinen angehört, sich für so viele Aktionen engagiert, o<strong>de</strong>r so<br />
viele verschie<strong>de</strong>ne Jobs ausführt, dass ihm o<strong>de</strong>r ihr kaum mehr<br />
Zeit für sich selbst bleibt!<br />
Die malignante Neigung <strong>de</strong>r rejectivity ist hingegen leichter erkennbar.<br />
Ein <strong>zu</strong> niedriges Maß an Generativität gepaart mit <strong>zu</strong> viel<br />
710 Stagnation und man nimmt nicht mehr wirklich am gesellschaftlichen<br />
Leben teil, beziehungsweise leistet keinen eigenen Beitrag<br />
mehr. Das, was wir gemeinhin als <strong>de</strong>n "Sinn <strong>de</strong>s Lebens" bezeichnen,<br />
beinhaltet die Frage, wie wir partizipieren und was wir<br />
selbst beitragen.<br />
715 Hier fin<strong>de</strong>n wir die Phase <strong>de</strong>r “Midlife Crisis“. Manche Menschen<br />
blicken an einem gewissen Punkt <strong>zu</strong>rück auf ihr Leben und stellen<br />
sich diese große böse Frage „wo<strong>zu</strong> mache ich das überhaupt?“<br />
Wenn man sich diese Frage einmal genauer anschaut, wird <strong>de</strong>utlich,<br />
dass sie nicht fragen, für wen sie es tun, son<strong>de</strong>rn wo<strong>zu</strong> – weil<br />
720 sie sich selbst fokussieren. Weil sie älter wer<strong>de</strong>n und nicht das erreicht<br />
haben, was sie sich früher vorgestellt hatten, geraten sie in<br />
Panik und versuchen, ihre Jugend wie<strong>de</strong>r<strong>zu</strong>erlangen.<br />
Männer sind oftmals die prächtigsten Beispiele: Sie verlassen ihre<br />
Ehefrauen, schmeißen ihre langweiligen Jobs, kaufen sich hippe<br />
725 neue Klamotten und hängen in Single-Bars ab. Natürlich fin<strong>de</strong>n<br />
sie eher selten, wonach sie suchen, weil sie das Falsche suchen!<br />
Doch bewältigt man diese Phase erfolgreich, hat man die Kapazität<br />
<strong>de</strong>s Sich Kümmerns erlangt, die für <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>s Lebens Bestand<br />
hat.<br />
730 Die achte Stufe<br />
Diese Phase wird vorsichtig als spätes Erwachsenenalter o<strong>de</strong>r<br />
Reife bezeichnet, weniger galant kann man auch von Alter sprechen.<br />
Diese Phase beginnt, wenn man kurz vor <strong>de</strong>r Pensionierung<br />
steht, die Kin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Haus sind - also ungefähr um das<br />
735 sechzigste Lebensjahr herum. Manch ältere Person wird jetzt protestieren<br />
und einwerfen, dass man alt ist, wenn man sich alt fühlt<br />
und so weiter, aber dies ist eher eine Auswirkung unserer Kultur,<br />
die Jugend verherrlicht, im Zuge <strong>de</strong>ssen vermei<strong>de</strong>n es alte Menschen<br />
oft, das Alter als solches an<strong>zu</strong>erkennen. In <strong>Erikson</strong>s Theo-<br />
740 rie ist das Erreichen dieser Phase positiv, erreicht man sie nicht,<br />
weist das eher darauf hin, dass frühere Schwierigkeiten eine Retardierung<br />
<strong>de</strong>r eigenen Entwicklung <strong>zu</strong>r Folge hatten!<br />
Die Entwicklungsaufgabe besteht darin, Ichintegrität sowie ein Minimum<br />
an Verzweiflung <strong>zu</strong> entwickeln.<br />
745 Beson<strong>de</strong>rs aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Jugend erscheint diese Phase<br />
die schwierigste von allen. Zunächst kommt für die meisten Menschen<br />
unserer Kultur die Ablösung von <strong>de</strong>r Gesellschaft, von <strong>de</strong>m<br />
Eindruck, gebraucht <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n. Manche Menschen wer<strong>de</strong>n pensioniert,<br />
üben nicht länger <strong>de</strong>n Beruf aus, <strong>de</strong>m sie jahrelang nach-<br />
750 gegangen sind; an<strong>de</strong>re stellen fest, dass ihre Pflichten und Aufgaben<br />
als Eltern nicht länger gefor<strong>de</strong>rt sind; die meisten sehen <strong>de</strong>r<br />
Tatsache ins Auge, dass ihr Beitrag nicht länger angefor<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r<br />
benötigt wird.<br />
Hin<strong>zu</strong> kommt <strong>de</strong>r Eindruck biologischer Nutzlosigkeit, da <strong>de</strong>r eige-<br />
755 ne Körper nicht länger all dies tun kann, was er sonst immer tat.<br />
Frauen durchleben eine oftmals dramatische Menopause; Männer<br />
stellen fest, dass ihr Erektionsvermögen schwächer wird. Dane-<br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 5 von 6
Fach: Pädagogik Erik <strong>Erikson</strong> LK 12<br />
ben treten Alterserkrankungen auf, wie <strong>zu</strong>m Beispiel Arthritis, Diabetes,<br />
Herzkrankheiten, die Sorge um Brust-, Eierstock- und Pros-<br />
760 tatakrebs. Es tauchen plötzlich Ängste auf, die man <strong>zu</strong>vor nie<br />
kannte – plötzlich fürchtet man, eine Grippe <strong>zu</strong> bekommen, o<strong>de</strong>r<br />
<strong>zu</strong> stürzen.<br />
Neben <strong>de</strong>n Krankheiten drängt auch <strong>de</strong>r Gedanke an <strong>de</strong>n Tod in<br />
<strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Freun<strong>de</strong> sterben. Verwandte sterben. Der Ehe-<br />
765 partner stirbt. Es ist natürlich klar, dass man selbst auch sterben<br />
wird. Ist man mit all diesen Gedanken konfrontiert, wird wohl je<strong>de</strong>n<br />
von uns das Gefühl <strong>de</strong>r Verzweiflung beschleichen.<br />
Als Reaktion auf die Verzweiflung, beschäftigen sich viele alte<br />
Menschen hauptsächlich nur noch mit <strong>de</strong>r Vergangenheit. Damals<br />
770 war nämlich alles noch besser als heute. Manche erinnern sich<br />
vornehmlich an ihr Versagen, die Fehlentscheidungen, die sie getroffen<br />
hatten; sie bereuen, nun nicht mehr die Zeit o<strong>de</strong>r Energie<br />
<strong>zu</strong> haben, um ihre Fehler wie<strong>de</strong>r gut <strong>zu</strong> machen. Einige ältere<br />
Menschen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>primiert, boshaft, paranoid, hypochondrisch<br />
775 o<strong>de</strong>r sie entwickeln Anzeichen für Senilität – mit o<strong>de</strong>r ohne physische<br />
Grundlage.<br />
Die Ichintegrität nun be<strong>de</strong>utet, dass man mit seinem Leben ins<br />
Reine und damit auch mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s eigenen Lebens <strong>zu</strong>recht<br />
kommt. Wenn man in <strong>de</strong>r Lage ist, <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>schauen und <strong>de</strong>n<br />
780 Lauf <strong>de</strong>r Dinge <strong>zu</strong> akzeptieren, die Entscheidungen, die man getroffen<br />
hat, das eigene Leben, so wie man es gelebt hat, wenn<br />
man erkennt, dass alles notwendig und gut war, dann braucht<br />
man <strong>de</strong>n Tod nicht mehr <strong>zu</strong> fürchten. Obwohl viele <strong>de</strong>r Leser diesen<br />
Punkt <strong>de</strong>s Lebens noch nicht erreicht haben wer<strong>de</strong>n, ist es<br />
785 vielleicht möglich, sich in die Situation hinein<strong>zu</strong>versetzen, in<strong>de</strong>m<br />
man das eigene Leben bis jetzt be<strong>de</strong>nkt. Wir haben alle Fehler<br />
gemacht, manche davon sind sogar ziemlich üble Fehler gewesen;<br />
doch hätten wir genau diese Fehler nicht gemacht, wären wir<br />
heute nicht, wer wir sind. Hätte man immer nur Glück gehabt, o<strong>de</strong>r<br />
790 wäre man nie Risiken eingegangen, um möglichst keine Fehler <strong>zu</strong><br />
machen, dann wäre das eigene Leben längst nicht so reich an Erfahrungen.<br />
Bei einer Fehlanpassung in dieser Phase entsteht eine Neigung<br />
<strong>zu</strong> Anmaßung (presumption).<br />
795 Damit ist gemeint, dass eine Person sich Ichintegrität "anmaßt",<br />
ohne sich tatsächlich mit <strong>de</strong>n Schwierigkeiten <strong>de</strong>s Alters auseinan<strong>de</strong>r<strong>zu</strong>setzen.<br />
Die malignante Neigung wird als Verachtung<br />
(disdain) bezeichnet, <strong>Erikson</strong> meint damit eine verächtliche Einstellung<br />
<strong>de</strong>m Leben gegenüber – <strong>de</strong>m eigenen Leben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
800 Leben aller Menschen gegenüber.<br />
Wer <strong>de</strong>m Tod ohne Furcht entgegensieht, hat die Stärke erlangt,<br />
die Eriksom Weisheit (wisdom) nennt. Er bezeichnet es auch als<br />
ein Geschenk für Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn<br />
"healthy children will not fear life if their el<strong>de</strong>rs have integrity<br />
805 enough not to fear <strong>de</strong>ath" – gesun<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r fürchten das Leben<br />
nicht, wenn die älteren Menschen um sie herum über genügend<br />
Integrität verfügen, <strong>de</strong>n Tod nicht <strong>zu</strong> fürchten. Er geht davon aus,<br />
dass ein Mensch eine Gabe haben muss, um wirklich weise <strong>zu</strong><br />
sein, doch ich wür<strong>de</strong> eher davon ausgehen, dass man die "Gabe"<br />
810 allgemeiner als "Möglichkeit" versteht:<br />
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit eher beschei<strong>de</strong>nen<br />
Gaben mir sehr viel beigebracht haben, nicht durch ihre<br />
weisen Worte, son<strong>de</strong>rn vielmehr durch ihren eigenen schlichten<br />
und sanften Zugang <strong>zu</strong> Leben und Tod, durch ihre geistige Groß-<br />
815 herzigkeit.<br />
Diskussion<br />
Ich weiß abgesehen von Jean Piaget keinen an<strong>de</strong>ren <strong>zu</strong> nennen,<br />
<strong>de</strong>r die stufenförmige Entwicklung besser weiterentwickelt hat, als<br />
Erik <strong>Erikson</strong>. Und <strong>de</strong>nnoch sind Stufenmo<strong>de</strong>lle bei weitem kein<br />
820 populäres Konzept unter Persönlichkeitstheoretikern. Von allen<br />
Autoren, die hier vorgestellt wer<strong>de</strong>n, teilen nur Sigmund und Anna<br />
Freud seine Überzeugungen in vollem Umfang.<br />
Die meisten Theoretiker bevor<strong>zu</strong>gen einen graduellen Zugang <strong>zu</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen, sie sprechen von "Phasen" o<strong>de</strong>r<br />
825 "Transitionen" statt von klar umrissenen Stufen.<br />
Allerdings gibt es bestimmte Segmente <strong>de</strong>s Lebens, die recht einfach<br />
<strong>zu</strong> i<strong>de</strong>ntifizieren sind, die sogar die alle erfor<strong>de</strong>rlichen Qualitäten<br />
aufweisen, um eine biologisch bedingte Zeitangabe <strong>zu</strong> machen.<br />
Adoleszenz ist "vorprogrammiert" und fin<strong>de</strong>t dann statt,<br />
830 wenn sie eben stattfin<strong>de</strong>t, wie auch die Geburt und natürlicher<br />
Weise <strong>de</strong>r Tod. Das erste Lebensjahr hat einige bestimmte Fetusähnliche<br />
Qualitäten, ebenso wie das letzte Jahr <strong>de</strong>s Lebens einige<br />
“katastrophale” Qualitäten aufweist.<br />
Wenn wir die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Stufen noch ein wenig weiter aus-<br />
835 <strong>de</strong>hnen, so dass bestimmte logische Abfolgen darin einbezogen<br />
wer<strong>de</strong>n – also Dinge, die in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen,<br />
und zwar nicht, weil sie biologisch vorprogrammiert wären,<br />
son<strong>de</strong>rn weil sie an<strong>de</strong>rs keinen Sinn ergeben – dann können wir<br />
eine noch bessere Definition geben:<br />
840 Die Entwöhnung und das selbständige Aufsuchen <strong>de</strong>r Toilette<br />
müssen vor <strong>de</strong>r Unabhängigkeit von <strong>de</strong>r Mutter erreicht sein, wobei<br />
die Unabhängigkeit wie<strong>de</strong>rum die Vorausset<strong>zu</strong>ng für <strong>de</strong>n<br />
Schulbesuch ist; man muss normalerweise sexuell ausgereift<br />
sein, bevor man einen Sexualpartner sucht, normalerweise fin<strong>de</strong>t<br />
845 man einen Partner, bevor man Kin<strong>de</strong>r zeugt, und man muss notwendigerweise<br />
Kin<strong>de</strong>r haben, bevor man <strong>de</strong>ren Selbständigkeit<br />
genießen kann!<br />
Und wenn wir die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Stufen noch weiter aus<strong>de</strong>hnen,<br />
so dass auch soziale und biologische "Programmierung" mit ein-<br />
850 geschlossen sind, dann können wir auch Perio<strong>de</strong>n wie Schulausbildung,<br />
Arbeit und Ruhestand mit einbeziehen. Dann ist es kein<br />
schwieriges Unterfangen mehr, sieben o<strong>de</strong>r acht Stufen aus<strong>zu</strong>arbeiten;<br />
doch nun muss man <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Stufen verwen<strong>de</strong>n,<br />
nicht mehr <strong>de</strong>n Begriff "Phasen" o<strong>de</strong>r eine ähnlich vage Aus-<br />
855 drucksweise.<br />
Geht man von <strong>Erikson</strong>s Definiton <strong>de</strong>s Begriffs "Stufen" aus, ist es<br />
wirklich nicht einfach, seine acht-Stufen-Mo<strong>de</strong>ll <strong>zu</strong> verteidigen. In<br />
verschie<strong>de</strong>nen Kulturen, sogar innerhalb verschie<strong>de</strong>ner Kulturen,<br />
kann das Timing sehr unterschiedlich sein: In manchen Län<strong>de</strong>rn<br />
860 wer<strong>de</strong>n Babys mit sechs Monaten entwöhnt und lernen mit neun<br />
Monaten aufs Töpfchen <strong>zu</strong> gehen; in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n<br />
auch fünfjährige Kin<strong>de</strong>r noch gestillt, und statt aufs Töpfchen <strong>zu</strong><br />
gehen, müssen sie nur lernen, ihre Notdurft draußen <strong>zu</strong> verrichten.<br />
Früher wur<strong>de</strong>n Menschen in unserer Kultur im Alter von drei-<br />
865 zehn Jahren verheiratet und hatten mit 15 schon ein Kind. Heute<br />
hingegen neigen wir da<strong>zu</strong>, die Heirat auf<strong>zu</strong>schieben, bis wir etwa<br />
30 sind, dann beeilen wir uns, noch vor <strong>de</strong>m 40. Lebensjahr Kin<strong>de</strong>r<br />
<strong>zu</strong> bekommen. Wir freuen uns darauf, viele Jahre im Ruhestand<br />
<strong>zu</strong> verbringen; <strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren Zeiten und an an<strong>de</strong>ren Orten ist<br />
870 so etwas wie Ruhestand gar nicht bekannt.<br />
Aber trotz<strong>de</strong>m geben <strong>Erikson</strong>s Stufen uns offenbar einen gewissen<br />
Rahmen. So können wir von unserer eigenen Kultur im Vergleich<br />
<strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren sprechen, o<strong>de</strong>r das Heute mit <strong>de</strong>n Gegebenheiten<br />
vergleichen, die vor einigen Jahrhun<strong>de</strong>rten üblich waren, in-<br />
875 <strong>de</strong>m wir herausfin<strong>de</strong>n, inwieweit wir relativ <strong>zu</strong>m "Standard" seiner<br />
Theorie abweichen. <strong>Erikson</strong> und an<strong>de</strong>re Wissenschaftler haben<br />
herausgefun<strong>de</strong>n, dass das allgemeine Muster kultur- und zeitübergreifend<br />
Bestand hat, und viele von uns erkennen das Muster<br />
wie<strong>de</strong>r. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt, spiegelt seine Theorie einen <strong>de</strong>r<br />
880 wichtigsten Standards <strong>de</strong>r Persönlichkeitstheorie wi<strong>de</strong>r, einen<br />
Standard, <strong>de</strong>r manchmal noch wichtiger ist, als die "Wahrheit": Er<br />
ist nützlich.<br />
Zu<strong>de</strong>m eröffnet er uns Einsicht in Sachverhalte, die uns sonst<br />
nicht klar gewor<strong>de</strong>n wären. Zum Beispiel kann man davon ausge-<br />
885 gangen sein, dass seine acht Stufen eine Serie von Entwicklungsaufgaben<br />
darstellen, <strong>de</strong>nen keine beson<strong>de</strong>re logische Abfolge<br />
<strong>zu</strong>grun<strong>de</strong> liegt. Doch teilt man die Lebensspanne in zwei Abschnitte<br />
mit je vier Stufen, erkennt man ein wirkliches Muster: die<br />
eine Hälfte ist die Kindheitsentwicklung und die an<strong>de</strong>re Hälfte die<br />
890 Entwicklung <strong>de</strong>s erwachsenen Menschen.<br />
In Stufe I lernt das Baby, dass "es" (die Welt, beson<strong>de</strong>rs die Welt<br />
repräsentiert von Mama, Papa und <strong>de</strong>m Baby selbst) "okay" ist. In<br />
Stufe II lernt das Kleinkind "Ich kann das tun". Hier-und-Jetzt. In<br />
Stufe III lernt das Vorschulkind "ich kann planen", und entwirft sich<br />
895 selbst in die Zukunft. In Stufe IV lernt das Schulkind "ich kann diese<br />
Projektionen fertig stellen". In<strong>de</strong>m diese vier Stufen durchlaufen<br />
wer<strong>de</strong>n, entwickelt das Kind ein kompetentes Ego und ist bereit<br />
für die größere Welt.<br />
In <strong>de</strong>r Erwachsenenhälfte <strong>de</strong>s Schemas gehen wir über das Ego<br />
900 hinaus. In Stufe V geht es darum, wie<strong>de</strong>r etwas wie "es ist okay"<br />
<strong>zu</strong> erreichen: <strong>de</strong>r Adoleszente muss lernen "Ich bin okay", diese<br />
Schlussfolgerung baut auf die vorangegangenen vier Stufen auf.<br />
In Stufe VI muss <strong>de</strong>r junge Erwachsene lernen, <strong>zu</strong> lieben, das<br />
entspricht <strong>de</strong>r sozialen Ausprägung von "ich kann das tun" im<br />
905 Hier-und-Jetzt. In Stufe VII muss <strong>de</strong>r Erwachsene lernen, diese<br />
Liebe in die Zukunft hinein aus<strong>zu</strong><strong>de</strong>hnen, in Form von Kümmern.<br />
Und in Stufe VIII muss <strong>de</strong>r alte Mensch lernen, sich selbst als Ich<br />
"fertig <strong>zu</strong> stellen" und eine neue und breiter angelegte I<strong>de</strong>ntität<br />
auf<strong>zu</strong>bauen. Wir könnten die zweite Hälfte <strong>de</strong>s Lebens mit einem<br />
910 Ausdruck von Jung charakterisieren und sagen, in <strong>de</strong>r zweiten<br />
Hälfte <strong>de</strong>s Lebens geht es darum, das eigene Selbst <strong>zu</strong> erkennen.<br />
<strong>Erikson</strong>-gesamt.doc Erik <strong>Erikson</strong> Seite 6 von 6