Vortragstext - Arbeitskreis Geschichte der Geographie
Vortragstext - Arbeitskreis Geschichte der Geographie
Vortragstext - Arbeitskreis Geschichte der Geographie
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Doch obwohl das Chinawerk zu Richthofens Lebzeiten ein Torso blieb, hat es wie kaum<br />
ein zweites Werk dieser Zeit die Ausformung einer gesamten Fachdisziplin geprägt.<br />
Denn es zeigte zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, was eine auf eigenen<br />
wissenschaftlichen Beobachtungen aufbauende wissenschaftliche Landeskunde leisten<br />
konnte. So enthielt das Chinawerk nicht nur die berühmte Theorie des Lößes als eines<br />
vom Wind und nicht vom Wasser verfrachteten Sediments. Es enthielt auch die<br />
Aufdeckung <strong>der</strong> großen Leitlinien, die für den Bau und die Oberflächenstruktur großer<br />
Teile des asiatischen Kontinents maßgeblich sind. Beson<strong>der</strong>s beeindruckend war die<br />
von Richthofen zum ersten Mal in aller Schärfe hervorgehobene Diskrepanz zwischen<br />
den abflusslosen Steppengebieten Zentralasiens einerseits und den wasserreichen<br />
Gebieten an ihrer Peripherie, in denen ein an<strong>der</strong>es Regime bei <strong>der</strong> aktuellen Bildung von<br />
Oberflächenformen vorherrscht. Schließlich hat er durch seine Beobachtungen auch die<br />
Theorie <strong>der</strong> Abrasion ein großes Stück vorangebracht, indem er zeigen konnte, dass<br />
sogenannte Rumpfgebirge das Ergebnis einer durch die Meeresbrandung entstandenen<br />
Abtragung sind und aufgrund dieses Mechanismus aus einst hoch aufragenden<br />
Faltengebirgen nur noch flachwellige, beinahe als Ebenen erscheinende<br />
Oberflächenformen übrig bleiben. Doch trotz <strong>der</strong> geologisch-geomorphologischen<br />
Schwerpunkte enthält das Chinawerk Richthofens zahlreiche kultur- und<br />
gesellschaftswissenschaftliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen, die sich zum<br />
Teil auch heute noch mit Gewinn lesen lassen. Für Generationen von Geographen wurde<br />
Richthofens „China“ zum Leitbild einer auf naturwissenschaftlicher Basis verfassten<br />
Län<strong>der</strong>kunde. 23<br />
Daneben ist <strong>der</strong> Name Richthofen aber auch eng mit <strong>der</strong> deutschen Kolonialgeschichte<br />
verbunden. Denn auf Richthofen ist es letztlich zurückzuführen, dass Kiautschou zum<br />
deutschen Schutzgebiet erklärt wurde. 24 Als man nämlich nach dem Frieden von<br />
Schimonoseki 1895 im Reichsmarineamt Pläne für einen deutschen Stützpunkt an <strong>der</strong><br />
chinesischen Küste Gestalt annahmen, fasste man dafür auch die Kiautschou-Bucht ins<br />
Auge. Die Vorzüge dieses Hafens für die deutsche Flotte hatte Richthofen seit 1868<br />
mehrfach betont. Nachdem sich auch die militärischen Berater für diesen Stützpunkt<br />
ausgesprochen hatten, folgte schließlich Kaiser Wilhelm II. <strong>der</strong>en Vorschlag. Er nahm,<br />
wie er sich später erinnerte, „das Werk von Freiherrn v. Richthofen mit <strong>der</strong> Karte von<br />
China vor“ und entschied sich „nach Durchlesung seines Aufsatzes über Schantung … für<br />
den Hafen von Kiautschou … da Richthofens Urteil so ungemein günstig für das<br />
Hinterland lautete“. 25<br />
Soweit zur großen Chinareise und ihrer Wirkungsgeschichte. Die Bedeutung Ferdinand<br />
von Richthofens für die geographische Disziplingeschichte basiert in hohem Maße auf<br />
diesem Auslandsaufenthalt, ähnlich wie für Alexan<strong>der</strong> von Humboldt dessen fünfjährige<br />
Amerikareise. Aber im Unterschied zu Humboldt, <strong>der</strong> sein Leben lang Privatgelehrter<br />
blieb, wurde Richthofen nach seiner Rückkehr zur bestimmenden Persönlichkeit<br />
innerhalb <strong>der</strong> sich gerade formierenden Hochschuldisziplin <strong>Geographie</strong>.<br />
23 Vgl. Wardenga, Ute: Ferdinand von Richthofen als Erforscher Chinas. Ein Beitrag zur Entstehung und<br />
Verarbeitung von Reisebeobachtungen im Zeitalter des Imperialismus. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte<br />
13, 1990, S. 141–155.<br />
24 Vgl. Zögner, Lothar: Ferdinand von Richthofen, neue Sicht auf ein altes Land. In: Hinz, Hans-Martin / Lind,<br />
Christoph (Hrsg.): Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897–1914.<br />
Ausstellungskatalog. Berlin 1998, S. 72–76.<br />
25 Zitiert nach einer Mitteilung von Alexan<strong>der</strong> Freiherr von Danckelmann: Die deutsche Eroberung von<br />
Kiautschou. In: Petermanns Mitteilungen 61, 1915, S. 147.<br />
6