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Vortragstext - Arbeitskreis Geschichte der Geographie

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Ferdinand von Richthofen – Leben, Werk und Wirkungen 1<br />

Heinz Peter Brogiato (Leipzig)<br />

Ferdinand Paul Wilhelm Dieprand Freiherr von Richthofen wurde am 5. Mai 1833 im<br />

oberschlesischen Carlsruhe (Pokój), wo seine Mutter herstammte und Hofdame am Hofe<br />

des Herzogs von Württemberg-Oels gewesen war, geboren. Die Adelsfamilie Praetorius<br />

von Richthofen war bereits seit dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t in Schlesien zu Hause, das<br />

Stammgut lag zunächst in Royn (Ruja), später in Hertwigswaldau (Snowidza) nahe Jauer<br />

(Jawor). Ferdinand wuchs in Breslau (Wrocław) auf, nachdem die Familie 1844 in ein<br />

Haus auf <strong>der</strong> Dominsel gezogen war. Mit 17 Jahren legte er am katholischen Matthias-<br />

Gymnasium – sein Vater war mit seinen Söhnen 1838 zum katholischen Glauben<br />

konvertiert, während die Mutter mit den Töchtern altlutherisch blieb – das Abitur ab. Er<br />

studierte anschließend Naturwissenschaften, vor allem Geologie, zunächst in Breslau<br />

und seit 1852 in Berlin. Wie er selbst später berichtete, wurde er hierzu auf<br />

Wan<strong>der</strong>ungen angeregt, die er 1848 und 1850 in den Alpen unternommen hatte.<br />

Während seines Studiums 1853 folgte eine längere Reise durch Dalmatien und<br />

Montenegro. Zu seinen Lehrern in Berlin gehörten <strong>der</strong> Mineraloge Gustav Rose, <strong>der</strong><br />

Alexan<strong>der</strong> von Humboldt auf dessen Russlandreise 1829 begleitet hatte, <strong>der</strong> Physiker<br />

Heinrich Gustav Magnus, <strong>der</strong> Geologe Ernst Beyrich und <strong>der</strong> Geograph Carl Ritter, <strong>der</strong><br />

allerdings keinen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließ. Im Februar 1856 wurde<br />

v. Richthofen mit einer Arbeit über das vulkanische Gestein Melaphyr promoviert. 2 In<br />

seiner autobiographischen Erzählung glaubte er wohl sein „hohes“ Alter von fast 23<br />

Jahren entschuldigen zu müssen und führte als Begründung <strong>der</strong> „späten“ Promotion<br />

seine Reisen an! 3<br />

Im Unterschied zur <strong>Geographie</strong> stand die Geologie damals bereits in großer Blüte und<br />

war an den meisten deutschen Hochschulen mit Lehrstühlen und Instituten vertreten. 4<br />

Aber sie bot nicht nur die Möglichkeit eines akademischen Aufstiegs, son<strong>der</strong>n auch<br />

praktische Berufsfel<strong>der</strong>: Mehrere europäische Staaten begannen in <strong>der</strong> Mitte des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> geologischen Kartierung ihrer Territorien in großem Maßstab. Die<br />

Habsburger Doppelmonarchie spielte hierbei eine Vorreiterrolle. Sie hatte 1849 in Wien<br />

eine Geologische Reichsanstalt gegründet, in <strong>der</strong> die Durchführung <strong>der</strong> geologischen<br />

Landesaufnahme zahlreichen jungen Geologen eine anwendungsbezogene Arbeit bot. Zu<br />

ihnen zählte auch Ferdinand von Richthofen, <strong>der</strong> im Herbst 1856 nach Wien ging. Bis<br />

1860 wirkte er in verschiedenen Landesteilen <strong>der</strong> Donaumonarchie an <strong>der</strong> geologischen<br />

Detailkartierung mit: in Vorarlberg und Südtirol, in Siebenbürgen und Oberungarn, <strong>der</strong><br />

heutigen Slowakei. Bekannt und berühmt ist seine geognostische Beschreibung <strong>der</strong><br />

Umgegend von Predazzo, St. Cassian und <strong>der</strong> Seiser Alm, in <strong>der</strong> er die Dolomitstöcke<br />

Südtirols erstmals als alte Korallenriffe deutete. 5 Mehr als 25 Publikationen rühren aus<br />

dieser gut dreijährigen Tätigkeit, zumeist Berichte in den Veröffentlichungen <strong>der</strong><br />

1 Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags in Pokój (Carlsruhe) am 8. Juni 2012. Für Vorarbeiten<br />

danke ich meiner Kollegin Dr. Ute Wardenga.<br />

2 dt. Fassung: Über den Melaphyr. In: Zeitschrift <strong>der</strong> Deutschen Geologischen Gesellschaft 8, 1856, S. 589-689.<br />

3 in Praetorius von Richthofen, Emil Frh.: <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Familie Praetorius von Richthofen. Magdeburg 1884,<br />

S. 236.<br />

4 Vgl. Wagenbreth, Otfried: <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Geologie in Deutschland. Stuttgart 1999.<br />

5 Geognostische Beschreibung <strong>der</strong> Umgebung von Predazzo, Sanct Cassian und <strong>der</strong> Seisser Alpe in Süd-Tyrol.<br />

Gotha 1860.<br />

1


Geologischen Reichsanstalt. 6 Was erst vor kurzer Zeit durch Archivfunde bekannt<br />

wurde: Richthofen habilitierte sich bereits 1857 kumulativ für Geologie an <strong>der</strong><br />

Universität Wien. 7 Er nahm allerdings seine Lehraufgaben als Privatdozent nicht wahr;<br />

und es gibt auch keine Hinweise darauf, dass er zu dieser Zeit eine Hochschullaufbahn<br />

geplant hätte.<br />

Die entscheidende Wende im Leben Ferdinand von Richthofens brachte das Jahr 1860.<br />

Er nahm das Angebot an, als Wissenschaftler an <strong>der</strong> von Friedrich Graf zu Eulenburg<br />

geleiteten preußischen Ostasienexpedition teilzunehmen. 8 Was als diplomatische<br />

Mission begann, endete erst nach zwölf Jahren wissenschaftlicher Forschung. Es sollte<br />

die einzige größere Auslandsreise seines Lebens bleiben, doch sie begründete seinen<br />

Weltruhm als Forschungsreisen<strong>der</strong>. Für die geographische Nachwelt wurde er zum<br />

Prototyp des wissenschaftlichen Reisenden und zum Vorbild für Generationen von<br />

Geographen.<br />

Die Chronologie seiner zwölfjährigen Auslandsreisen ist rasch erzählt: Die Expedition<br />

begann in Ceylon und führte dann nach China. Hier trennte sich Richthofen bereits von<br />

<strong>der</strong> preußischen Delegation und ging für fünf Monate nach Japan. Über Formosa und die<br />

südostasiatischen Inseln (Philippinen, Celebes, Java) kam er nach Siam. Während<br />

Eulenburg von hier aus – nachdem man China einen Handelsvertrag abgerungen hatte,<br />

<strong>der</strong> den deutschen Staaten ähnliche Rechte verschaffte wie den europäischen<br />

Konkurrenten – den Rückweg nach Berlin antrat, blieb Richthofen in Asien. Sein<br />

Versuch, am Ganges entlang ins Innere Asiens vorzudringen, um den Tian-Shan zu<br />

erforschen, scheiterte wegen islamischer Unruhen in Zentralasien. Daraufhin<br />

überquerte er den Pazifischen Ozean und hielt sich fast sechs Jahre in Kalifornien auf.<br />

Mit <strong>der</strong> Rückkehr nach Asien 1868 begann <strong>der</strong> erfolgreichste Teil seiner Reisen. In vier<br />

Jahren führte er sieben Expeditionen in China durch, auf denen er weite Teile des<br />

Riesenreichs durchstreifte und wissenschaftlich erkundete. Als er 1872 nach Berlin<br />

zurückkehrte, galt er als <strong>der</strong> beste Kenner Chinas. Kein Europäer seit Marco Polo hatte<br />

<strong>der</strong>art umfangreiche Reisen in Ostasien durchgeführt wie Richthofen. Bereits während<br />

seines Auslandsaufenthalts hatte er Briefe und Berichte nach Europa gesandt,<br />

geologische Detailfragen aufgegriffen, die von <strong>der</strong> Deutschen Geologischen Gesellschaft<br />

veröffentlicht wurden, o<strong>der</strong> landeskundliche Eindrücke geschil<strong>der</strong>t, die in „Petermanns<br />

Mitteilungen“ erschienen.<br />

Nach seiner Rückkehr begann er unmittelbar mit <strong>der</strong> wissenschaftlichen Aufarbeitung<br />

seiner reichhaltigen Forschungsergebnisse. Mit fünf voluminösen Bänden und einem<br />

Atlas in zwei Teilen ist sein Werk „China“ eines <strong>der</strong> umfangreichsten Reisewerke des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts 9 : Rechnet man die zwei Bände Reisetagebücher 10 hinzu, sind es mehr als<br />

6 Publikationslisten finden sich in: Tiessen, Ernst: Die Schriften Ferdinand Freiherrn von Richthofen. In:<br />

Drygalski, Erich von: Ferdinand Frhr. von Richthofen. Gedächtnisrede. Leipzig 1906, Anhang S. 1–18 und<br />

erweitert in: Zuckermann, Brigitta: Ferdinand von Richthofen. Kritische Würdigung eines deutschen<br />

Geographen unter beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung seiner gesellschaftlich-geographischen und methodologischen<br />

Arbeiten. unveröff. Diss. Päd. Hochschule Potsdam 1960, Bl. 260–276.<br />

7 Cernajsek, Tillfried: Auf den Spuren von Ferdinand Freiherrn von Richthofen in Wien und im<br />

Österreichischen Kaiserstaat. In: 10. Internationales Symposium Kulturelles Erbe in Geo- und<br />

Montanwissenschaften. Bibliotheken, Archive, Museen, Sammlungen, Freiberg/Sa., 29. September – 2. Oktober<br />

2009. Tagungsband. o. O. o. J., S. 20–21.<br />

8 Vgl. Baum, Karl Josef: Die preußische Ostasien-Expedition 1859–1862. In: Jahrbuch <strong>der</strong> Deutschen<br />

Gesellschaft für Schiffahrts- und Marinegeschichte 8, 2002 (2004), S. 127–138.<br />

9 China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien. Berlin. Bd 1: Einleiten<strong>der</strong> Theil, 1877; Bd 2:<br />

Das nördliche China, 1882; Bd 3: Das südliche China, hrsg. von Ernst Tiessen, 1912. Die Bände 4 und 5<br />

enthalten die Ergebnisse seiner paläontologischen Beobachtungen und wurden 1883 und 1911 von an<strong>der</strong>en<br />

2


3000 Druckseiten – keine an<strong>der</strong>e Forschungsreise dürfte so gründlich dokumentiert<br />

worden sein.<br />

Bereits zu Lebzeiten galt Ferdinand von Richthofen als <strong>der</strong> bedeutendste<br />

Forschungsreisende seiner Zeit und als legitimer Nachfolger Alexan<strong>der</strong> von Humboldts.<br />

Dabei blieb Richthofen immer Naturwissenschaftler, dem es um exakte Beschreibung<br />

und Analyse ging. Wichtigste Arbeitsgrundlage war ihm die Beobachtung, die es ihm<br />

ermöglichte, aus <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> Einzelkomponenten zu einer Synthese zu gelangen. Mit<br />

diesem induktiven Vorgehen, das er in seinem Chinawerk praktizierte, wurde er zum<br />

Schöpfer einer neuen, mo<strong>der</strong>nen <strong>Geographie</strong>, einer auf naturwissenschaftlicher Basis<br />

beruhenden Län<strong>der</strong>kunde, die er dann auch später als akademischer Lehrer theoretisch<br />

begründete. Umso erstaunlicher ist es, dass Richthofen als Hochschullehrer keine<br />

Exkursionen mit seinen Studenten durchführte und die Arbeit im Gelände anscheinend<br />

keine Rolle in seiner Lehre spielte!<br />

Doch zurück zu seiner großen Reise. Sie war keineswegs eine einzige Erfolgsgeschichte<br />

und schon gar nicht den Zielen einer „reinen“ wissenschaftlichen Erforschung<br />

untergeordnet. Schon die Teilnahme als Geologe an <strong>der</strong> preußischen Ostasienexpedition<br />

diente in erster Linie <strong>der</strong> Erkundung von Lagerstätten, um dem preußischen Staat<br />

Hinweise auf mögliche bergbauliche Nutzungen und Handelsinteressen zu geben. Auch<br />

auf seinen weiteren Reisen spielten praktische, wirtschaftspolitische Aspekte eine<br />

entscheidende Rolle.<br />

Als er in Kalifornien in eine wirtschaftliche Notsituation geriet, die ihn „an den Rand des<br />

Grabes brachte“ 11 , nahm <strong>der</strong> notgedrungen eine Stellung als Geologe im kalifornischen<br />

Edelmetallbergbau an und betrieb fortan Auftragsforschung. So analysierte er etwa die<br />

Bedingungen <strong>der</strong> amerikanischen Metallproduktion und prüfte, wo und unter welchen<br />

Bedingungen sich europäisches und vor allem deutsches Kapital mit Aussicht auf<br />

Gewinn in die nordamerikanischen Minen investieren ließ. 12 Seine Vermutungen über<br />

den Verlauf des Comstock-Quarzganges sollten sich als richtig erweisen. 13 Von den<br />

Milliarden Dollar, die später aus dieser Golda<strong>der</strong> erwirtschaftet wurden, profitierte<br />

Richthofen allerdings nicht.<br />

Als sich im Frühjahr 1868 endlich die ersehnte Chance bot, im damals noch weitgehend<br />

unbekannten China unterwegs zu sein, griff er dankbar zu. Die selbst gesteckten Ziele<br />

waren dabei zunächst wissenschaftlicher Art, durchaus bereits mit dem<br />

Hintergedanken, später einmal eine akademische Karriere als Professor zu starten. 14<br />

Freilich stand dem entgegen, dass es ihm am nötigen Eigenkapital mangelte – im<br />

Unterschied zu an<strong>der</strong>en adeligen Forschern wie Alexan<strong>der</strong> von Humboldt, Maximilian zu<br />

Wied o<strong>der</strong> dem ebenfalls im schlesischen Carlsruhe geborenen Paul Wilhelm von<br />

Württemberg. Er war daher weiterhin gezwungen, Auftraggeber zu finden, die ihn<br />

Wissenschaftlern herausgebracht. Die beiden Atlasbände erschienen 1885 und 1912, Teil 2 gab sein Schüler<br />

Max Groll heraus.<br />

10 Tiessen, Ernst (Hrsg.): Ferdinand von Richthofens Tagebücher aus China. 2 Bde. Berlin 1907.<br />

11 zit. in: Tiessen, Ernst: Ferdinand von Richthofen. In: Schlesier des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Breslau 1922, S. 233–<br />

244; hier S. 235.<br />

12 Richthofen, Ferdinand v.: Die Metallproduktion Californiens und <strong>der</strong> angrenzenden Län<strong>der</strong>. Mittheilungen<br />

von den pacifischen Küstenlän<strong>der</strong>n Nord-Amerikas. Gotha 1864 (Petermanns geographische Mitteilungen, Erg.-<br />

H. 14).<br />

13 Vgl. Knochenhauer, Bruno: Das Gutachten Ferdinand von Richthofens über den Comstockgang und seine<br />

Bedeutung für die Gegenwart. In: Zeitschrift für praktische Geologie 47, 1939, S. 42–53.<br />

14 Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 141.<br />

3


finanzierten, damit aber auch in starkem Maße auf seine Forschungsaufgaben Einfluss<br />

nehmen konnten. Für das erste Jahr seines Chinaaufenthalts übernahm die Bank of<br />

California die Reisekosten. Richthofen erhielt den Auftrag, vor allem <strong>der</strong> konkreten<br />

Frage nachzugehen, ob und inwiefern sich die ausgedehnten chinesischen<br />

Kohlelagerstätten für eine industrielle Ausbeutung eigneten. Bereits während <strong>der</strong><br />

preußischen Ostasienexpedition hatte er am Jangtsekiang ergiebige Steinkohlenflöze<br />

gesehen. Das erweckte natürlich Begehrlichkeiten und ließ die Mittel für eine<br />

sachkundige Prospektion durch einen Experten wie Richthofen fließen.<br />

Die später so berühmten Reisen Richthofens in China waren demzufolge zumindest<br />

anfänglich Teil einer imperialistischen Aneignung von überseeischen Gebieten, was in<br />

biographischen Würdigungen gerne verschwiegen wird. 15 Es ging vor allem um<br />

Ressourcen und um die Frage, wer sie wie im Prozess <strong>der</strong> Industrialisierung Europas<br />

und Nordamerikas ausbeuten durfte.<br />

Getrieben vom Ehrgeiz, Großes zu leisten und verfolgt von <strong>der</strong> Angst, abermals zu<br />

scheitern, machte Richthofen sein Beobachtungsverhalten im höchstem Maße von<br />

zukünftigen äußeren Erfolgen abhängig. So schwelgte er in einem Brief an seine Eltern<br />

in <strong>der</strong> Vorstellung, dass er die Chinesen zu einer Öffnung ihrer Bergwerke bewegen und<br />

vom Einsatz westlicher Technologien und Kapitalien würde überzeugen können und den<br />

Fremden damit das Land für weitere wirtschaftliche Betätigung aufschließen könne. An<br />

<strong>der</strong>en Ende stünde dann, wie er hoffte, ein China, das mit ausländischer Hilfe sukzessive<br />

an den Weltmarkt angebunden wäre. 16 Man sieht daran, dass Ferdinand von Richthofens<br />

Zielstellung in China sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftspolitisch motiviert<br />

war. Jürgen Osterhammel urteilt hierzu:<br />

„Ein teils preußisch-deutsches, teils sozusagen gesamtimperialistisches<br />

Sendungsbewusstsein motivierte Richthofen vom Anfang bis zum Ende seiner<br />

Reisen und bewog ihn schon früh, unangefor<strong>der</strong>te Memoranden über deutsche<br />

Möglichkeiten in China an Bismarck zu schicken. Er sah sich in <strong>der</strong> doppelten Rolle<br />

des wissenschaftlichen und des imperialen Pioniers.“ 17<br />

Zunächst untersuchte er in <strong>der</strong> Provinz Shandong jedes ihm bekannte Kohlevorkommen.<br />

Er beobachtete Lagerungsverhältnisse und Mächtigkeit <strong>der</strong> Kohleflöze, Beschaffenheit<br />

<strong>der</strong> Kohle, technische Anlagen des Abbaus, die Menge des geför<strong>der</strong>ten Materials,<br />

Probleme <strong>der</strong> Wasserhaltung, Eignung <strong>der</strong> Kohlegruben für ausländische Anleger, den<br />

Zustand <strong>der</strong> heimischen Industrie sowie die regionalen Wirtschaftsverflechtungen. 18<br />

Infolge seiner hochfliegenden Erwartungen überschätzte er jedoch sowohl die<br />

Mächtigkeit als auch die Qualität <strong>der</strong> Kohlenflöze Shandongs, weil er die mit dem Abbau<br />

zusammenhängenden Faktoren letztlich doch nicht in ihrer Gesamtheit erfassen<br />

15 Vgl. hierzu z. B. Drygalski, Erich von: Gedächtnisrede auf Ferdinand Freiherr von Richthofen. In: Zeitschrift<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1905, S. 681–697. Tiessen, Ernst 1922 (wie Anm. 8). Beck, Hanno:<br />

Große Geographen. Pioniere – Außenseiter – Gelehrte. Berlin 1982, S. 149–163; Stäblein, Gerhard: Der<br />

Lebensweg des Geographen, Geomorphologen und China-Forschers Ferdinand von Richthofen. In: Die Erde<br />

114, 1983, S. 90–102. Kolb, Albert: Ferdinand Freiherr von Richthofen 1833-1905. In: Geographers.<br />

Biobibliographical Studies, Vol. 7. London, New York 1984, S. 109–115. Engelmann, Gerhard: Ferdinand von<br />

Richthofen 1833–1905, Albrecht Penck 1858–1945. Zwei markante Geographen Berlins. Aus dem Nachlaß.<br />

(Erdkundliches Wissen; 91), Stuttgart 1988.<br />

16 Vgl. Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 27 f.<br />

17 Osterhammel, Jürgen: Forschungsreise und Kolonialprogramm. Ferdinand von Richthofen und die<br />

Erschließung Chinas im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. In: Archiv für Kulturgeschichte 69, 1987, S. 150–195, hier S. 172.<br />

18 Vgl. Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 166, 179 f., 184 ff., 191 f.<br />

4


konnte. 19 So blieb er in Sachen Kohleprospektion weit hinter seinen eigenen<br />

Vorstellungen zurück. Auch die Vorstöße, die er in Bezug auf Öffnung <strong>der</strong> Bergwerke<br />

unternahm, waren von keinem Erfolg gekrönt. 20<br />

Als die von <strong>der</strong> Bank of California für die ersten Reisen in China bereitgestellten Mittel<br />

verbraucht waren, gelang es ihm, in <strong>der</strong> Handelskammer von Schanghai einen neuen<br />

Finanzier zu finden. Bei <strong>der</strong> an Kenntnis von Land und Leuten interessierten Institution<br />

hatten offensichtlich mündliche Berichte über seine bisherigen Reisen Eindruck<br />

gemacht, sodass sie gegen die Verpflichtung, die Ergebnisse zu berichten, Mittel für<br />

weitere Reisen in China zur Verfügung stellte. 21 Sie führten Richthofen auf mehreren<br />

Wegen durch die östlichen Provinzen bis zum Südrand <strong>der</strong> Mongolei.<br />

Auf diesen Reisen trat zunehmend zu seinem wissenschaftlichen, hauptsächlich<br />

geologisch orientierten Beobachtungsprogramm eine geographische Landesaufnahme,<br />

mit <strong>der</strong>en Hilfe er die Verhältnisse von Land und Leuten zu erfassen und zu<br />

dokumentieren suchte. Welchen Strapazen er sich dabei aussetzte, kann man heute<br />

kaum mehr ermessen. Ernst Tiessen berichtet in einer 1922 erschienenen Würdigung:<br />

„Mit o<strong>der</strong> noch vor Sonnenaufgang wurde Tag für Tag aufgebrochen, um Mittag<br />

gerastet und bis zum Sonnenuntergang marschiert – und so ging es durch Monate<br />

fort. Dabei begann die Hauptarbeit des Forschers, die Nie<strong>der</strong>schrift des Tagebuchs<br />

an Hand <strong>der</strong> während <strong>der</strong> Bewegung benutzten Notizbücher, erst im Quartier und<br />

währte oft bis Mitternacht. Denn nach Richthofens Meinung war alles, was nicht<br />

am selben Tage aufgezeichnet wurde, verloren. Und was enthielten diese Tageund<br />

Merkbücher nicht alles! Blieb hier auch stets <strong>der</strong> ernste Zweck maßgebend, so<br />

beschränkte sich Richthofen dennoch nicht auf die Aufzeichnung <strong>der</strong> geologischen<br />

und damit zusammenhängenden Beobachtungen, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Reiseerlebnisse und allgemeinere Schil<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Landschaft, <strong>der</strong> Bewohner,<br />

ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse wurden nie<strong>der</strong>geschrieben. Die<br />

Notizbücher fielen naturgemäß bunter aus und nahmen auch reisetechnische<br />

Anmerkungen auf bis zu Küchenrezepten, wie denn seine Witwe mir einmal sagte,<br />

bei ihrer Heirat habe ihr Mann vom Kochen mehr verstanden als sie“. 22<br />

Nach zwölfjähriger Abwesenheit kehrte Richthofen im Dezember 1872 mit <strong>der</strong> festen<br />

Absicht nach Deutschland zurück, seine vielfältigen wissenschaftlichen sowie Land und<br />

Leute betreffenden Beobachtungen in Buchform zu veröffentlichen. Im Gegensatz zu<br />

Großbritannien, wo er zunächst vergeblich versucht hatte, einen Verleger zu finden, traf<br />

er in Deutschland auf großzügige Geldgeber für die Ausarbeitung <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Ergebnisse. Nach Befürwortung <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften zu Berlin gewährten<br />

<strong>der</strong> Kaiser sowie die Ministerien des Kultus und des Handels erhebliche Mittel, damit er<br />

sein Chinawerk ohne sonstige Verpflichtungen schreiben konnte. Als er nach Ablauf <strong>der</strong><br />

Zeit nicht fertig war, erhielt er einen Ruf auf ein geographisches Ordinariat an <strong>der</strong><br />

Universität Bonn, wurde aber sogleich von Lehrverpflichtungen freigestellt und konnte<br />

an seinem Reisewerk weiterschreiben. Trotz dieser in <strong>der</strong> deutschen<br />

<strong>Geographie</strong>geschichte sicher einmaligen Vergünstigungen blieb das Gesamtwerk lange<br />

Zeit unvollständig und konnte erst posthum abgeschlossen werden.<br />

19 Vgl. Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 166 sowie Grün<strong>der</strong>, Horst: <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> deutschen Kolonien.<br />

Pa<strong>der</strong>born 1985, insbes. S. 198–202.<br />

20 Vgl. hierzu Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 69, 141 sowie Stoecker, Holger: Deutschland und China im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t. Das Eindringen des deutschen Kapitalismus. Berlin 1958, insbes. S. 71–73.<br />

21 Vgl. Tagebücher (wie Anm. 10) I, S. 139, 340, 347.<br />

22 Tiessen, Ernst (wie Anm. 8), S. 237 f.<br />

5


Doch obwohl das Chinawerk zu Richthofens Lebzeiten ein Torso blieb, hat es wie kaum<br />

ein zweites Werk dieser Zeit die Ausformung einer gesamten Fachdisziplin geprägt.<br />

Denn es zeigte zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, was eine auf eigenen<br />

wissenschaftlichen Beobachtungen aufbauende wissenschaftliche Landeskunde leisten<br />

konnte. So enthielt das Chinawerk nicht nur die berühmte Theorie des Lößes als eines<br />

vom Wind und nicht vom Wasser verfrachteten Sediments. Es enthielt auch die<br />

Aufdeckung <strong>der</strong> großen Leitlinien, die für den Bau und die Oberflächenstruktur großer<br />

Teile des asiatischen Kontinents maßgeblich sind. Beson<strong>der</strong>s beeindruckend war die<br />

von Richthofen zum ersten Mal in aller Schärfe hervorgehobene Diskrepanz zwischen<br />

den abflusslosen Steppengebieten Zentralasiens einerseits und den wasserreichen<br />

Gebieten an ihrer Peripherie, in denen ein an<strong>der</strong>es Regime bei <strong>der</strong> aktuellen Bildung von<br />

Oberflächenformen vorherrscht. Schließlich hat er durch seine Beobachtungen auch die<br />

Theorie <strong>der</strong> Abrasion ein großes Stück vorangebracht, indem er zeigen konnte, dass<br />

sogenannte Rumpfgebirge das Ergebnis einer durch die Meeresbrandung entstandenen<br />

Abtragung sind und aufgrund dieses Mechanismus aus einst hoch aufragenden<br />

Faltengebirgen nur noch flachwellige, beinahe als Ebenen erscheinende<br />

Oberflächenformen übrig bleiben. Doch trotz <strong>der</strong> geologisch-geomorphologischen<br />

Schwerpunkte enthält das Chinawerk Richthofens zahlreiche kultur- und<br />

gesellschaftswissenschaftliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen, die sich zum<br />

Teil auch heute noch mit Gewinn lesen lassen. Für Generationen von Geographen wurde<br />

Richthofens „China“ zum Leitbild einer auf naturwissenschaftlicher Basis verfassten<br />

Län<strong>der</strong>kunde. 23<br />

Daneben ist <strong>der</strong> Name Richthofen aber auch eng mit <strong>der</strong> deutschen Kolonialgeschichte<br />

verbunden. Denn auf Richthofen ist es letztlich zurückzuführen, dass Kiautschou zum<br />

deutschen Schutzgebiet erklärt wurde. 24 Als man nämlich nach dem Frieden von<br />

Schimonoseki 1895 im Reichsmarineamt Pläne für einen deutschen Stützpunkt an <strong>der</strong><br />

chinesischen Küste Gestalt annahmen, fasste man dafür auch die Kiautschou-Bucht ins<br />

Auge. Die Vorzüge dieses Hafens für die deutsche Flotte hatte Richthofen seit 1868<br />

mehrfach betont. Nachdem sich auch die militärischen Berater für diesen Stützpunkt<br />

ausgesprochen hatten, folgte schließlich Kaiser Wilhelm II. <strong>der</strong>en Vorschlag. Er nahm,<br />

wie er sich später erinnerte, „das Werk von Freiherrn v. Richthofen mit <strong>der</strong> Karte von<br />

China vor“ und entschied sich „nach Durchlesung seines Aufsatzes über Schantung … für<br />

den Hafen von Kiautschou … da Richthofens Urteil so ungemein günstig für das<br />

Hinterland lautete“. 25<br />

Soweit zur großen Chinareise und ihrer Wirkungsgeschichte. Die Bedeutung Ferdinand<br />

von Richthofens für die geographische Disziplingeschichte basiert in hohem Maße auf<br />

diesem Auslandsaufenthalt, ähnlich wie für Alexan<strong>der</strong> von Humboldt dessen fünfjährige<br />

Amerikareise. Aber im Unterschied zu Humboldt, <strong>der</strong> sein Leben lang Privatgelehrter<br />

blieb, wurde Richthofen nach seiner Rückkehr zur bestimmenden Persönlichkeit<br />

innerhalb <strong>der</strong> sich gerade formierenden Hochschuldisziplin <strong>Geographie</strong>.<br />

23 Vgl. Wardenga, Ute: Ferdinand von Richthofen als Erforscher Chinas. Ein Beitrag zur Entstehung und<br />

Verarbeitung von Reisebeobachtungen im Zeitalter des Imperialismus. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte<br />

13, 1990, S. 141–155.<br />

24 Vgl. Zögner, Lothar: Ferdinand von Richthofen, neue Sicht auf ein altes Land. In: Hinz, Hans-Martin / Lind,<br />

Christoph (Hrsg.): Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897–1914.<br />

Ausstellungskatalog. Berlin 1998, S. 72–76.<br />

25 Zitiert nach einer Mitteilung von Alexan<strong>der</strong> Freiherr von Danckelmann: Die deutsche Eroberung von<br />

Kiautschou. In: Petermanns Mitteilungen 61, 1915, S. 147.<br />

6


In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr aus Asien lebte Richthofen in Berlin und<br />

engagierte sich vor allem in <strong>der</strong> Berliner Gesellschaft für Erdkunde. Mehrfach übernahm<br />

er <strong>der</strong>en Vorsitz und vertrat den Verein auf internationalen Kongressen. Erst 1879,<br />

inzwischen 46 Jahre alt, trat er seine Professorenstelle in Bonn an. Bereits nach vier<br />

Jahren verließ er jedoch wie<strong>der</strong> die Stadt am Rhein und nahm einen Ruf an die<br />

Universität Leipzig an. 26 Ob es das schwüle Klima im Rheintal war o<strong>der</strong> die für ihn<br />

unbefriedigenden Verhältnisse an <strong>der</strong> provinziellen Hochschule, den preußischen<br />

Staatsdienst zu quittieren, sei dahingestellt. Jedenfalls bot ihm die sächsische Universität<br />

bessere Forschungs- und Lehrbedingungen. Hier fand er – wie bereits zuvor in Berlin –<br />

Anschluss an den örtlichen geographischen Verein, und hier hatte er zwei seiner später<br />

berühmten Schüler: Alfred Philippson wurde von Richthofen 1886 promoviert, und<br />

Alfred Hettner habilitierte sich ein Jahr später in Leipzig. Auch publizistisch waren die<br />

Leipziger Jahre für v. Richthofen fruchtbar. Seine Antrittsvorlesung, in <strong>der</strong> er seine<br />

Vorstellungen einer mo<strong>der</strong>nen <strong>Geographie</strong> darlegte, ist bis heute einer <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong>geschichte. 27 Aus den eigenen Erfahrungen langjähriger<br />

Feldforschung verfasste er einen „Führer für Forschungsreisende“, eine konkrete<br />

Handlungsanleitung für Geographen und Geologen auf Reisen, <strong>der</strong> 1886 erschien.<br />

Dagegen blieb sein großes Chinawerk weiterhin unvollendet und konnte in Leipzig<br />

lediglich um einen ersten Atlasband ergänzt werden. Doch auch Leipzig blieb nur<br />

Episode, nach drei Jahren verließ er Sachsen und folgte einem Ruf nach Berlin. 28 Er<br />

selbst hatte sich immer wie<strong>der</strong> für eine geographische Professur in <strong>der</strong> preußischen<br />

Hauptstadt angeboten und von Leipzig aus geklagt, dass er seinen vaterländischen<br />

Pflichten am besten in <strong>der</strong> deutschen Metropole Berlin nachkommen könne. Vermutlich<br />

war ihm vom preußischen Kultusministerium bereits in Bonn angedeutet worden, dass<br />

er bei erster Gelegenheit nach Berlin berufen würde. Allerdings dauerte es dann bis<br />

1886, als an <strong>der</strong> Berliner Universität neben dem ersten Lehrstuhl Carl Ritters, auf dem<br />

seit 1874 Heinrich Kiepert saß, ein zweites Ordinariat für Physische <strong>Geographie</strong> für ihn<br />

eingerichtet werden konnte.<br />

Mit seiner Berufung nach Berlin hatte Ferdinand von Richthofen den Gipfel einer damals<br />

möglichen Gelehrtenkarriere erreicht. In <strong>der</strong> Hauptstadt des Deutschen Reichs waren<br />

die Bedingungen für eine auch in die Gesellschaft und die Politik hineinwirkende<br />

akademische Tätigkeit sehr günstig. Wenngleich als Person von äußerster<br />

Zurückhaltung und Bescheidenheit, nutzte Richthofen die ihm zur Verfügung stehenden<br />

Spielräume aus und vertrat die <strong>Geographie</strong> auf <strong>der</strong> nationalen und internationalen<br />

Bühne. Einen Höhepunkt bildete hierbei <strong>der</strong> VII. Internationale Geographenkongress,<br />

den er 1899 nach Berlin holte und zu einem glänzenden Erfolg für die damals weltweit<br />

führende deutsche <strong>Geographie</strong> ausgestalten konnte.<br />

So glanzvoll <strong>der</strong> Berliner Geographenkongress allerdings international gewesen sein<br />

mag, so wenig gefestigt war die <strong>Geographie</strong> innerhalb <strong>der</strong> institutionalisierten<br />

Hochschulwissenschaften im Deutschen Reich. Erst nach 1870 hatten die deutschen<br />

Staaten begonnen, an ihren Hochschulen geographische Lehrstühle und Seminare<br />

einzurichten. Zumindest in Preußen waren diese Bestallungen seit 1874 eindeutig<br />

bildungspolitisch motiviert und geschahen teilweise gegen den Willen <strong>der</strong> Fakultäten.<br />

26 Vgl. Brogiato, Heinz Peter: Abenteurer, Forscher und Gelehrte – Leipziger erkunden und beschreiben die<br />

Welt. In: Deimel, Claus / Lentz, Sebastian / Streck, Bernhard (Hrsg.): Auf <strong>der</strong> Suche nach Vielfalt. Ethnographie<br />

und <strong>Geographie</strong> in Leipzig. Leipzig: Leibniz-Institut für Län<strong>der</strong>kunde 2009, S. 13–45, hier S. 33.<br />

27 Aufgaben und Methoden <strong>der</strong> heutigen <strong>Geographie</strong>. Akademische Antrittsrede am 27. April 1883 in Leipzig.<br />

Leipzig 1883.<br />

28 Vgl. hierzu: Engelmann, Gerhard: Die Hochschulgeographie in Preußen 1810–1914. (Erdkundliches Wissen;<br />

64), Wiesbaden 1983, S. 69–78 und S. 114–124.<br />

7


Neben <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> sollte vor allem <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong>unterricht zu einer<br />

vaterländischen, deutschnationalen Bildung beitragen und so zur Stabilisierung des<br />

jungen Nationalstaats beitragen. Bei <strong>der</strong> Berufung von Professoren auf die neu<br />

eingerichteten Lehrstühle achtete <strong>der</strong> Staat daher mehr auf die pädagogische Eignung<br />

als auf wissenschaftliche Reputation. Insofern war Richthofen als auslandserfahrener<br />

Forscher eher die Ausnahme als die Regel. Sein Einfluss auf die Fachentwicklung war<br />

dann wohl auch ein an<strong>der</strong>er, als sich dies die Bildungsplaner im Ministerium erwartet<br />

hatten, wie er sich überhaupt aus konkreten schulischen und unterrichtsmethodischen<br />

Diskussionen heraushielt. Anstatt auf einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Basis<br />

das für den län<strong>der</strong>kundlichen Unterricht in <strong>der</strong> Schule benötigte Wissen bereitzustellen,<br />

wurde Richthofen zu einem <strong>der</strong> Vorkämpfer für eine am Methodenideal <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften orientierte <strong>Geographie</strong>.<br />

Schon im ersten Band seines Chinawerkes von 1877 hatte er im Schlusskapitel aus<br />

seiner Sicht die Aufgaben <strong>der</strong> neuen wissenschaftlichen <strong>Geographie</strong> umrissen und sie als<br />

eine von <strong>der</strong> Geologie ausgehende wissenschaftliche Beobachtung <strong>der</strong><br />

Wechselbeziehungen von Erdoberfläche, Klima und organischer Welt bestimmt. Fortan<br />

wurde die Erdoberfläche zum zentralen Gegenstand, an dem sich jegliche geographische<br />

Forschung orientieren sollte. 29 Auch <strong>der</strong> Mensch sollte nur dort zum geographischen<br />

Untersuchungsobjekt werden, wo er in seinen Wechselwirkungen – ein weiteres<br />

Schlagwort geographischer Identität – zu den Naturreichen eine Rolle spielte.<br />

Richthofen setzte auf ein von kritischer Beobachtung getragenes Forschungsprogramm.<br />

Es sollte mit Hilfe <strong>der</strong> Analyse von kausalen Wechselbeziehungen aus <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong><br />

ein Fach machen, dem es auf die Erkenntnis von Regelhaftigkeiten und<br />

Gesetzmäßigkeiten ankam und dessen Kardinalfrage darin bestand, möglichst exakt<br />

erklären zu können, wie das am konkreten Ort vorhandene Zusammenspiel von innerem<br />

Bau, Oberflächenformen, Böden, Klima sowie Vegetation funktionierte und dies<br />

zusammengenommen dann zur Voraussetzung für menschliche Handlungen im Umgang<br />

mit <strong>der</strong> Natur wurde.<br />

Diesem hier nur in Umrissen angedeuteten Programm ist die deutsche<br />

Hochschulgeographie bis in die 1920er-Jahre gefolgt. Für viele <strong>der</strong> jungen Männer, die<br />

bei Richthofen studierten, war seine auf naturwissenschaftliche Analysen ausgelegte<br />

Fachvision wie eine Offenbarung. Sein 1886 veröffentlichter „Führer für<br />

Forschungsreisende“ gehörte mit seinen exakten Beobachtungsanleitungen und seinen<br />

zahllosen Warnungen vor allzu raschen deduktiven Schlüssen schon bald zur<br />

Grundausstattung eines jeden, nach Richthofens Vorbild im Feld forschenden jungen<br />

Geographen. 30 Zweifellos ist es Richthofen zu verdanken, dass mit <strong>der</strong> Verschmelzung<br />

von Naturwissenschaft und <strong>Geographie</strong> das Fundament geschaffen wurde, auf <strong>der</strong> das<br />

neue Hochschulfach seine Identität herausbilden und sich zu einer Wissenschaft<br />

entwickeln konnte.<br />

Die entscheidenden wissenschaftlichen Impulse setzte Richthofen, wie bereits<br />

hervorgehoben, vor seiner Berufung nach Berlin. In den letzten beiden Jahrzehnten<br />

seines Lebens fand er für eigene Forschungen kaum mehr die nötige Muße. Zu sehr war<br />

er mit politischen und gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen beschäftigt. Neben<br />

29 Vgl. Schultz, Hans-Dietrich: „Geben Sie uns eine scharfe Definition <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong>.“ Ferdinand von<br />

Richthofens Anstrengungen zur Lösung eines brennenden Problems. In: Nitz, Bernhard / Schultz, Hans-Dietrich<br />

/ Schulz, Marlies (Hrsg.): 200 Jahre <strong>Geographie</strong> in Berlin, 1810–2010. (Berliner geographische Arbeiten; 115),<br />

2., verb. u. erw. Aufl. Berlin 2011, S. 59–97.<br />

30 Vgl. Richthofen, Ferdinand v. 1886: Führer für Forschungsreisende. Anleitung zu Beobachtungen über<br />

Gegenstände <strong>der</strong> physischen <strong>Geographie</strong> und Geologie. Berlin.<br />

8


<strong>der</strong> Gesellschaft für Erdkunde und <strong>der</strong> Mitwirkung in kolonialen Vereinigungen fand er<br />

seit 1899 in <strong>der</strong> Preußischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften ein weiteres<br />

Betätigungsfeld, noch als 70-Jähriger wurde er 1903 zum Rektor <strong>der</strong> Universität Berlin<br />

gewählt. In allen diesen Funktionen verstand er es, für die <strong>Geographie</strong> zu agitieren und<br />

ihr öffentliche Anerkennung zu verschaffen. Dass Richthofen dabei kein reiner<br />

Kathe<strong>der</strong>gelehrter war, wurde bereits mehrfach betont. Immer sah er die <strong>Geographie</strong><br />

auch in einer politischen Verantwortung für den Staat. Heute bewerten wir die<br />

Aktivitäten <strong>der</strong> damaligen Geographen für koloniale und imperiale Ziele kritisch. Für<br />

Richthofen und die meisten Geographen seiner Generation stand außer Zweifel, dass<br />

sich <strong>der</strong> junge Nationalstaat im Rahmen einer zunehmenden Globalisierung im Zeitalter<br />

des Imperialismus kolonial betätigen musste, wollte er im Konzert <strong>der</strong> Weltmächte<br />

bestehen. Sein großes Ziel, ein geographisches Zentralinstitut in Berlin zu begründen, in<br />

dem die Wissenschaft in Theorie und Praxis (d. h. vor allem als Politikberatung)<br />

betrieben werden sollte, erreichte er zwar nicht. Gewissermaßen als Ersatz konnte er<br />

1900 die Gründung eines Museums für Meereskunde, das seinem Geographischen<br />

Institut angeschlossen wurde, als persönlichen Erfolg verbuchen. 31 Hierauf hatte er<br />

mehrere Jahre hingearbeitet. Die einzige längere Auslandsreise seit seiner Rückkehr aus<br />

China hatte er durchgeführt, um in mehreren europäischen Län<strong>der</strong>n Erfahrungen mit<br />

ähnlichen Einrichtungen zu erkunden. Die Eröffnung des Museums 1906 erlebte<br />

Richthofen allerdings nicht mehr. Dies blieb seinem Nachfolger Albrecht Penck, <strong>der</strong> in<br />

den folgenden zwanzig Jahren die Berliner (und deutsche) <strong>Geographie</strong> entscheidend<br />

gestalten sollte, vorbehalten.<br />

Das Museum für Meereskunde existiert schon lange nicht mehr, aber Ferdinand von<br />

Richthofen hat bis heute einen festen Platz innerhalb und außerhalb <strong>der</strong> geographischen<br />

Wissenschaft. Auf den Landkarten ist sein Name auf fast allen Kontinenten vorhanden 32 :<br />

Zwar konnte sich „Richthofen-Gebirge“ als Bezeichnung für eine mächtige Himalaja-<br />

Gebirgskette in <strong>der</strong> chinesischen Provinz Gansu international nicht durchsetzen, sie<br />

heißt heute fast überall Qilian Shan. Dagegen findet man in <strong>der</strong> Antarktis noch einen<br />

„Richthofen-Pass“ an <strong>der</strong> östlichen Küste des Grahamlandes, so benannt vom<br />

schwedischen Polarforscher Otto Nordenskiöld 1902. Auf <strong>der</strong> Insel New Britain (früher<br />

Neupommern) in Papua-Neuguinea existiert eine „Richthofen Bay“. Auch zwei Berge<br />

tragen den Namen Richthofens: In Colorado wurde 1870 ein fast 4000 Meter hoher<br />

Gipfel nach ihm benannt. Ein zweiter Mount Richthofen in Westaustralien bringt es<br />

hingegen lediglich auf eine Höhe von 339 Meter. Schließlich wird eine Berggruppe in<br />

den Cassianer Dolomiten, die Richthofen am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere<br />

1860 geologisch untersuchte, als „Richthofen-Riff“ bezeichnet.<br />

Der wichtigste Begriff, <strong>der</strong> sich auf Karten und in Geschichtsbüchern findet und mit dem<br />

sich <strong>der</strong> Name Ferdinand von Richthofen verbindet, ist allerdings <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

„Seidenstraße(n)“. Im Rückgriff auf antike Quellen (Marinus von Tyrus) bezeichnete<br />

Richthofen 1876/77 33 so die alten Fernhandelswege nach Zentral- und Ostasien und<br />

führte sie damit in den wissenschaftlichen und allgemeinen Sprachgebrauch ein. 34<br />

31 Vgl. Engelmann, Gerhard: Die Gründungsgeschichte des Instituts und Museums für Meereskunde in Berlin<br />

1899–1906. In: Historisch-meereskundliches Jahrbuch 4, 1997, S. 105–122.<br />

32 Tiessen, Ernst: Der Name „Richthofen“ auf <strong>der</strong> Landkarte. In: Zeitschrift <strong>der</strong> Gesellschaft für Erdkunde zu<br />

Berlin 1905, S. 784–786.<br />

33 Richthofen, Ferdinand von: Über die centralasiatischen Seidenstrassen bis zum 2. Jahrhun<strong>der</strong>t nach Chr. In:<br />

Verhandlungen <strong>der</strong> Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 4, 1877, S. 96–122.<br />

34 Waugh, Daniel: Richthofen’s „silk roads“. Toward the archaeology of a concept. In: Silk road 5, 2007, no. 1,<br />

S. 1–10.<br />

9


In <strong>der</strong> deutschen <strong>Geographie</strong> erinnert man sich regelmäßig anlässlich run<strong>der</strong> Jubiläen an<br />

den großen Chinaforscher: 1933 organisierten seine Schüler in Berlin ein<br />

Gedenkkolloquium zum 100. Geburtstag. 35 Hun<strong>der</strong>t Jahre nach seinem Antritt als<br />

Professor an <strong>der</strong> Bonner Universität erinnerte man sich ebenfalls an Ferdinand von<br />

Richthofen. 36 Zu seinem 150. Geburtstag würdigten in Berlin eine Tagung und eine<br />

Ausstellung seine Verdienste 37 , und zuletzt erinnerte man 2005 an seinen 100.<br />

Todestag. 38<br />

1933 wurde eine Goldene Ferdinand-von-Richthofen-Medaille gestiftet, die erst zwölf<br />

Mal verliehen wurde, zuletzt 2005 an Dietrich Barsch. Seit 1951 existiert in Bonn eine<br />

Schriftenreihe „Colloquium geographicum“. In ihr werden vornehmlich die Ergebnisse<br />

wissenschaftlicher Tagungen publiziert. Der Name erinnert an das Kolloquium, das<br />

Richthofen erstmals in Bonn, später auch in Leipzig und vor allem in Berlin einrichtete,<br />

um seine engsten Schüler um sich zu scharen. Die Teilnehmer des Richthofen-<br />

Kolloquiums waren ein verschworener Haufen, die ihrem akademischen Lehrer auch<br />

Jahrzehnte nach dessen Tod die Treue hielten. Dies, obwohl Ferdinand von Richthofen<br />

kein mitreißen<strong>der</strong> Lehrer gewesen sein soll und seine Vorlesungen als eher monoton<br />

galten. Aber wem die Ehre zuteil wurde, an seinem wöchentlichen Kolloquium<br />

teilnehmen zu dürfen, war herausgehoben aus <strong>der</strong> deutschen Geographenschaft. Es war<br />

wohl dieses Elitedenken, das den Kreis zusammenschweißte und noch viele Jahre nach<br />

des Lehrers Tod zusammenführte. In Berlin mokierte sich Richthofens Nachfolger<br />

Albrecht Penck über diesen „Personenkult“ und brachte eigene Schüler an die<br />

Schaltstellen <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong>. Zum Richthofen-Kreis zählten, wie schon erwähnt, Alfred<br />

Philippson und Alfred Hettner, außerdem Erich von Drygalski, Max Frie<strong>der</strong>ichsen, Kurt<br />

Hassert, Rudolf Lütgens, Ludwig Mecking, Wilhelm Meinardus, Alfred Rühl o<strong>der</strong> Wilhelm<br />

Sievers, die später alle selbst geographische Lehrstühle erhielten, daneben<br />

Forschungsreisende wie Georg Wegener, Albert Tafel und vor allem <strong>der</strong> Schwede Sven<br />

Hedin, <strong>der</strong> durch seine Zentralasienforschungen in die Fußstapfen von Richthofens trat<br />

und dessen Forschungen am konsequentesten fortführte.<br />

Ferdinand von Richthofen starb am 6. Oktober 1905 in Berlin und wurde vier Tage<br />

später auf dem Matthäi-Friedhof in Tiergarten bestattet. In den 1930er-Jahren erfolgte<br />

die Umbettung auf den Stahnsdorfer Waldfriedhof, wo die Familie das Grab 2003<br />

restaurieren ließ. Mit <strong>der</strong> Enthüllung seiner Büste vor <strong>der</strong> Sophienkirche in Carlsruhe<br />

(Pokój) wird nun auch an seinem Geburtsort an einen Forscher erinnert, <strong>der</strong> – wie kaum<br />

ein an<strong>der</strong>er – die <strong>Geographie</strong> im letzten Viertel des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts prägte und bis<br />

heute zu den international bekanntesten Köpfen <strong>der</strong> <strong>Geographie</strong>geschichte zählt.<br />

35 Gedenkfeier zum 100. Geburtstag Ferdinand von Richthofens, verbunden mit dem 105. Stiftungsfest <strong>der</strong><br />

Gesellschaft für Erdkunde. In: Zeitschrift <strong>der</strong> Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1933, S. 81–100. S. a.:<br />

Ferdinand von Richthofen. Ansprachen anläßlich <strong>der</strong> Gedächtnisfeier zu seinem 100. Geburtstage an <strong>der</strong><br />

Universität Berlin. (Berliner geographische Arbeiten; 5), Stuttgart 1933.<br />

36 Richthofen-Gedächtnis-Kolloquium, 26.11.1979. (Colloquium geographicum; 17), Bonn 1983.<br />

37 Richthofen-Gedenkheft. In: Die Erde 114, 1983, H. 2/3, S. 90–252. Stäblein, Gerhard (Hrsg.): Regionale<br />

Beiträge zur Geomorphologie. Vorträge des Ferdinand von Richthofen-Symposiums, Berlin 1983. (Berliner<br />

geographische Abhandlungen; 36), Berlin 1984. Zögner, Lothar (Hrsg.): China cartographica. Chinesische<br />

Kartenschätze und europäische Forschungsdokumente. Ausstellung anläßlich des 150. Geburtstages des<br />

Chinaforschers Ferdinand von Richthofen, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin 7. Okt. – 26. Nov.<br />

1983. – (Ausstellungskataloge / Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz; 19), Berlin 1983.<br />

38 Vgl. die Vorträge in: Die Erde 138, 2007, H. 4, S. 301–396.<br />

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