Pflegende Angehörige und Spitex - Spitex Verband Kt. Zürich
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<strong>Spitex</strong>-Zeitung zum Nationalen <strong>Spitex</strong>-Tag vom September 2011 2<br />
S P I T E X- KU N D E RO G E R S E I L E R :<br />
«Menschlichkeit ist viel wichtiger als jedes Papier»<br />
Die Diagnose Multiple Sklerose<br />
(MS) traf Roger Seiler mitten im<br />
Studium. Inzwischen ist er 41<br />
Jahre alt <strong>und</strong> lebt seit 14 Jahren<br />
mit dieser Autoimmunkrankheit.<br />
Sie verläuft bei ihm chronisch, so<br />
dass sich sein Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
nach <strong>und</strong> nach verschlechtert. Seit<br />
zwei Jahren kommt die <strong>Spitex</strong><br />
drei Mal in der Woche bei ihm<br />
vorbei, hilft bei der Pflege <strong>und</strong><br />
entlastet seine Angehörigen. Es<br />
berichtet Agnes Meili.<br />
Die Diagnose war ein Schock für Roger<br />
Seiler <strong>und</strong> seine Angehörigen. Nach dem<br />
Bescheid erahnte die Familie zwar, was<br />
auf sie zukommt, die Realität war jedoch<br />
viel schlimmer als angenommen. Schon<br />
bald nach der Diagnose war Roger Seiler<br />
auf den Rollstuhl angewiesen. Anders als<br />
andere chronisch Kranke nimmt er keine<br />
Medikamente <strong>und</strong> verzichtet auch auf<br />
Alternativmedizin, da sich der Krankheitsverlauf<br />
nach mehrmaligen Versuchen<br />
nicht verbesserte.<br />
Ausstrahlung <strong>und</strong> Humor<br />
Inzwischen kann Roger Seiler seine Muskeln<br />
nicht mehr kontrollieren. Er spürt jedoch<br />
alles: Schmerzen, Nässe, Kälte. Er<br />
kann lediglich noch seinen Kopf bewegen<br />
<strong>und</strong> sich an Gesprächen beteiligen. Aber<br />
auch das Sprechen fällt ihm nicht mehr so<br />
leicht wie früher.<br />
Was beeindruckt, sind die Ausstrahlung<br />
des Mannes <strong>und</strong> sein Humor. Als es ihm<br />
noch besser ging, unternahm er verschiedene<br />
Reisen mit Fre<strong>und</strong>en. Nach Hawaii,<br />
Bali <strong>und</strong> Ägypten. Kinder fragten ihn: «Warum<br />
läufst du nicht?» Er antwortete: «Weil<br />
ich zu faul bin.» Mit diesem Spruch zeigt<br />
er, dass die Krankheit MS auch mit (Galgen-)Humor<br />
ertragen werden kann.<br />
Betreut von den Eltern<br />
Roger Seilers Mutter Ruth ist 65 Jahre<br />
alt, sein Vater Stefan 68. Sie sind beide<br />
sehr vital <strong>und</strong> erzählen mit viel Idealismus,<br />
wie sie ihr Leben ganz auf die Betreuung<br />
ihres Sohnes ausgerichtet haben. Das<br />
ganze Jahr <strong>und</strong> r<strong>und</strong> um die Uhr sind sie<br />
für ihn da: «Wegen seiner Krankheit kann<br />
er nur den Kopf bewegen. Wir geben ihm<br />
das Essen ein, putzen seine Zähne, duschen<br />
ihn, helfen beim Gang auf die Toilette.<br />
Roger kann ohne fremde Hilfe nichts<br />
machen.»<br />
Eine Kopfmaus ermöglicht Roger Seiler<br />
allerdings das selbstständige Arbeiten am<br />
PC. Ein Voicedetector versteht Befehle<br />
<strong>und</strong> klingelt bei den Eltern, wenn er Hilfe<br />
benötigt. Die Eltern ermöglichen dem Sohn<br />
Alles für die<br />
Pflege<br />
zu<br />
Hause:<br />
www.bimeda.ch<br />
Bimeda AG, 8184 Bachenbülach<br />
Roger Seiler<br />
so ein selbstständiges Leben zu Hause,<br />
soweit dies angesichts der Einschränkungen<br />
noch möglich ist.<br />
Zeit am Computer<br />
Ruth Seiler erzählt: «Am liebsten macht<br />
Roger schwere Sudokus. Er schaut die Sudokus<br />
an <strong>und</strong> löst sie im Kopf. Bis abends<br />
um 23.00 Uhr schaut er in der Stube Fernsehen.<br />
Danach bringen wir ihn in sein<br />
Zimmer. Dort verbringt er noch Zeit am<br />
Computer bis etwa um 02.00 Uhr morgens.<br />
Wenn er ins Bett will, klingelt er uns<br />
aus dem Schlaf, <strong>und</strong> Stefan bringt ihn ins<br />
Bett. Morgens um 8.00 Uhr steht er wieder<br />
auf.»<br />
Weil sich Roger Seiler ohne Hilfe keinen<br />
Zentimeter bewegen kann, besteht ständig<br />
die Gefahr von W<strong>und</strong>liegen (Dekubitus).<br />
Ein häufiger Wechsel der Sitz- <strong>und</strong><br />
Liegepositionen schützt vor diesem Übel.<br />
Deshalb sind Ruth <strong>und</strong> Stefan Seiler immer<br />
aufmerksam <strong>und</strong> positionieren ihren Sohn<br />
um.<br />
Im vergangenen Jahr hätten sie sich<br />
nach langer Zeit Ferien erlaubt, erzählen<br />
die Eltern: «Roger Seiler verbrachte die<br />
drei Wochen in einem Heim, doch die Erfahrungen<br />
dort waren so negativ, dass wir<br />
ihn nie mehr dorthin geben würden.» Ein<br />
Heim kann trotz grossem Einsatz niemals<br />
eine Betreuung bieten, wie sie Roger Seiler<br />
zu Hause bekommt.<br />
Ein gutes Umfeld<br />
Die Krankheit verschlimmert sich schleichend.<br />
Die Angehörigen gewöhnen sich<br />
laufend an neue Situationen. Dank eines<br />
guten sozialen Umfeldes fühlen sich Ruth<br />
<strong>und</strong> Stefan Seiler unterstützt. Roger Seiler<br />
kann regelmässig zu Nachbarn <strong>und</strong> Bekannten<br />
gehen. Oft kommen auch Fre<strong>und</strong>e<br />
zu Besuch.<br />
Die Eltern sagen einstimmig: «Dass wir<br />
so mit Roger leben können, mit ihm den<br />
Tag verbringen dürfen, ist für uns Wertschätzung<br />
genug. Viele Menschen sagen,<br />
das Wichtigste im Leben sei Ges<strong>und</strong>heit.<br />
Für uns ist das Wichtigste im Leben die Zufriedenheit.»<br />
Familie Seiler beweist es: Obwohl vom<br />
Schicksal geprüft, strahlt die ganze Familie<br />
eine grosse Zufriedenheit <strong>und</strong> Freude<br />
aus. Man fühlt sich sofort wohl in ihrem<br />
Haus. Ihr Motto: «Das Leben akzeptieren<br />
<strong>und</strong> leben!»<br />
Schwieriger Transfer<br />
Seit zwei Jahren kommt die <strong>Spitex</strong> bei<br />
Roger Seiler drei Mal in der Woche vorbei.<br />
Die <strong>Spitex</strong>-Organisation arbeitet mit dem<br />
System der «Bezugspflege». Das heisst<br />
für die <strong>Spitex</strong>-K<strong>und</strong>schaft: Jeweils eine<br />
<strong>Spitex</strong>-Fachperson ist für die Koordination<br />
der Pflege zuständig. Und gleichzeitig ist<br />
diese Fachperson auch die wichtigste<br />
Ansprechperson für die K<strong>und</strong>in oder den<br />
K<strong>und</strong>en.<br />
Für die Familie Seiler hat die Hauspflegerin<br />
Wilma Vollenweider diese Aufgabe<br />
übernommen. Sie erzählt: «Für die<br />
Pflege von Roger Seiler <strong>und</strong> den Transfer<br />
vom Rollstuhl zum Sessel brauche ich<br />
jeweils knapp eine St<strong>und</strong>e. Das Schwierigste<br />
ist der Transfer. Man braucht viel<br />
Geschick <strong>und</strong> Gspüri dafür.» Wie der<br />
Transfer mit Hilfe von Kinästhetik zu machen<br />
ist, lernte sie von Stefan Seiler.<br />
Gleichzeitig ist die Hauspflegerin aber<br />
froh, vor kurzem einen Kinästhetik-Kurs<br />
besucht zu haben.<br />
Natürlich wäre es von Vorteil, wenn immer<br />
die gleiche <strong>Spitex</strong>-Mitarbeiterin bei<br />
Roger Seiler im Einsatz wäre. Doch dies ist<br />
aus organisatorischen Gründen leider<br />
nicht möglich. Denn bei der Gestaltung der<br />
Dienstpläne müssen Teilzeitarbeit, Ferien,<br />
Wochenendeinsätze, krankheitsbedingte<br />
Ausfälle, kurzfristige Anmeldungen <strong>und</strong><br />
vieles mehr berücksichtigt werden. So<br />
kommt es, dass auch bei der Familie Seiler<br />
zwischenhinein <strong>Spitex</strong>-Mitarbeiterinnen<br />
im Einsatz sind, denen es für den Transfer<br />
von Roger Seiler an Kinästhetik-Erfahrung<br />
fehlt, so dass der Vater diese Arbeit in solchen<br />
Fällen wieder selber übernehmen<br />
muss.<br />
Ein Tag der Entlastung<br />
Auf der andern Seite entlastet die <strong>Spitex</strong><br />
die Eltern seit Anfang Jahr regel mässig,<br />
indem die Hauspflegerin Wilma Vollenweider<br />
Roger Seiler zusätzlich an einem<br />
ganzen Tag im Monat betreut: «An diesem<br />
freien Tag machen die Eltern einen<br />
Ausflug <strong>und</strong> können für einmal ihre Pflegepflichten<br />
vergessen <strong>und</strong> auftanken.»<br />
Die Hauspflegerin ihrerseits erlebt dann<br />
<strong>Spitex</strong>-Mitarbeiterin Wilma Vollenweider<br />
hautnah, wie ein Tag im Leben eines MS-<br />
Kranken abläuft.<br />
Der Tag bietet der <strong>Spitex</strong>-Mitarbeiterin<br />
auch Gelegenheit, mit Roger Seiler besondere<br />
Anliegen <strong>und</strong> Terminvereinbarungen<br />
zu besprechen. Eines ist der Hauspflegerin<br />
Wilma Vollenweider ganz wichtig:<br />
«Wenn immer ich bei der Familie Seiler im<br />
Einsatz bin, möchte ich alle Arbeiten, die<br />
mit Roger Seiler zu tun haben, selber erledigen.<br />
Denn sonst sind die Eltern, die<br />
durch die Betreuung ihres Sohnes stark<br />
eingeschränkt sind, in ihrer Lebensgestaltung<br />
auch an diesen Tagen nicht wirklich<br />
entlastet.»<br />
Gegenseitige Offenheit<br />
Angesprochen auf ihre generellen Erfahrungen<br />
als <strong>Spitex</strong>-Mitarbeiterin, erklärt<br />
die Hauspflegerin: «Für eine erfolgreiche<br />
Zusammenarbeit zwischen der <strong>Spitex</strong>-<br />
K<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> den Mitarbeitenden der<br />
<strong>Spitex</strong> braucht es eine Vertrauensbasis.<br />
Wir von der <strong>Spitex</strong> müssen uns bewusst<br />
sein, dass wir stets nur sind bei<br />
den Menschen zu Hause.» Die Hauspflegerin<br />
kann gut nachvollziehen, dass K<strong>und</strong>innen<br />
<strong>und</strong> K<strong>und</strong>en anfangs zum Teil<br />
gros se Mühe haben, die Hilfe der <strong>Spitex</strong> in<br />
Anspruch zu nehmen: «Wir dringen ja in<br />
die Privatsphäre dieser Menschen ein <strong>und</strong><br />
erleben sie in sehr intimen Situationen.»<br />
Wichtig sind nach Ansicht von Wilma<br />
Vollenweider gegenseitige Offenheit <strong>und</strong><br />
Ehrlichkeit, <strong>und</strong> zwar gerade dann, wenn<br />
etwas nicht ideal läuft: «Damit habe ich<br />
bis jetzt immer sehr gute Erfahrungen gemacht.»<br />
Manchmal empfindet es Wilma Vollenweider<br />
als schwierig, sich abzugrenzen:<br />
«Ich wohne in der Gegend, in der ich arbeite.<br />
Deshalb kann es vorkommen, dass ich<br />
dort nicht mehr als Privatperson wahrgenommen<br />
werde, sondern vor allem als<br />
<strong>Pflegende</strong> der einen oder anderen Person.»<br />
Die Hauspflegerin hält sich aber<br />
strikt an die Schweigepflicht <strong>und</strong> spricht<br />
ausserhalb des Berufsfeldes nicht über<br />
Pflegesituationen: «Das muss ich jeweils<br />
ganz klar kommunizieren <strong>und</strong> mich entsprechend<br />
distanzieren.»<br />
Ungewisse Zukunft<br />
Die Familie Seiler ist mit der <strong>Spitex</strong> sehr<br />
zufrieden: «Wir haben ein gutes Einvernehmen<br />
mit der Leiterin, <strong>und</strong> die Bezugsperson<br />
ist für uns eine Vertrauensperson.»<br />
Die Kosten für die <strong>Spitex</strong>-Pflege<br />
seien angemessen <strong>und</strong> würden einen<br />
Bruchteil dessen betragen, was eine<br />
Heim unterbringung kosten würde, sagen<br />
die Eltern. Dank der <strong>Spitex</strong> können sie ihre<br />
Arbeit zwischendurch abgeben <strong>und</strong> etwas<br />
durchatmen. Die Zukunft aber lässt sich<br />
bei der Krankheit Multiple Sklerose nicht<br />
voraussagen. Deshalb nimmt Familie<br />
Seiler jeden Tag an, wie er ist. Probleme<br />
werden gelöst, wenn sie da sind.<br />
Roger Seiler wünscht sich als <strong>Spitex</strong>-<br />
K<strong>und</strong>e weniger Administration beim Staat<br />
<strong>und</strong> bei den verschiedenen Organisationen<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen. Die Pflegefachleute<br />
müssten zu viel rapportieren<br />
<strong>und</strong> administrieren, stellt er fest: «Die<br />
Menschlichkeit ist doch viel wichtiger als<br />
jedes Papier.» Die Begegnung mit Roger<br />
Seiler zeigt, dass sich viele sogenannt ges<strong>und</strong>e<br />
Menschen von der positiven Einstellung<br />
dieses MS-Patienten ein grosses<br />
Stück abschneiden könnten.