Download des Leitartikels - Selbsthilfe-Kontaktstelle Frankfurt
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Titel<br />
Raus aus dem Schneckenhaus<br />
Kinder mit Behinderungen profitieren von Frühförderung und<br />
neuen integrativen Konzepten<br />
Von Volker Hütte<br />
„Integration ist kein Gnadenakt, der großzügig<br />
gewährt oder auch rechtens verweigert werden<br />
könnte; sie ist eine humane und demokratische<br />
Verpflichtung, die alle angeht.“ (Hans Wocken)<br />
Vor 18 Jahren bekamen Silvia und Dietmar Johannes ihren<br />
erwünschten Nachwuchs gleich im Doppelpack: Zwillinge,<br />
ein Mädchen und ein Junge. Die Geburt verlief normal, die<br />
Babys waren gesund und erhielten ihre Namen: Jennifer<br />
und Sascha. Doch während Jennifer rasch wuchs, zunahm<br />
und allgemein einen altersgemäßen Entwicklungsprozess<br />
durchmachte, wurde Sascha schon in den ersten Wochen<br />
schwer krank. Nach eingehenden Untersuchungen wurde<br />
bei ihm eine körperliche und geistige Behinderung diagnostiziert.<br />
Ein halbes Jahr nach seiner Geburt eröffneten die<br />
Ärzte den Eltern, dass Sascha seine Behinderungen ein<br />
Leben lang mit sich tragen müsse.<br />
„Damals war nur noch nicht klar, welchen Behinderungsgrad<br />
Sascha behalten würde, ob er beispielsweise jemals<br />
würde laufen und sprechen können“, erinnert sich Silvia<br />
Johannes. Der Diagnoseschock schmerzt und hinterlässt<br />
gleichzeitig ein Gefühl zwischen Hoffen und Bangen, es<br />
möge nicht allzu schlimm kommen. Die Endgültigkeit,<br />
dass ihr Sohn nicht „normal“ aufwachsen könne, haben<br />
die Eltern allerdings begriffen. Vor die Alternative gestellt,<br />
sich der Tatsache zu stellen oder sich in Kummer und Trauer<br />
zurückzuziehen, siegt in der Mutter alsbald der Wunsch, „so<br />
viel wie irgend vorstellbar aus Sascha herauszuholen, um<br />
ihm ein Maximum an Selbständigkeit zu ermöglichen.“<br />
Auch die Angst, dass das geistig und körperlich behinderte<br />
Kind von der Umwelt nicht akzeptiert werden könnte, sei<br />
ein Antrieb gewesen, gibt Silvia Johannes unumwunden zu.<br />
So werden die Behinderungen <strong>des</strong> Sohnes zur pädagogischen<br />
und vor allem logistischen Herausforderung der<br />
Mutter. Sie organisiert professionelle Hilfe, um Saschas<br />
Bewegungsabläufe zu schulen. Vojta-Gymnastik, Ergotherapie,<br />
Hypotherapie und Bobath – seit Jahren schon jagt<br />
ein Termin den anderen. Da ihr Mann berufstätig ist, bleibt<br />
die Rund-um-die-Uhr-Betreuung an ihr hängen. Sie klagt<br />
nicht, hadert nicht mit ihrem Schicksal und nimmt sich fest<br />
vor, auch Saschas Zwillingsschwester Jennifer genügend<br />
Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Als Sascha<br />
fünf Jahre alt ist, kann er schließlich laufen. Ein Meilenstein,<br />
sowohl in seiner persönlichen Entwicklung als auch<br />
für die betreuende Mutter.<br />
Familie Johannes wohnt in Schwalbach, einem kleinen,<br />
18.000 Einwohner zählenden Städtchen im Landkreis Saarlouis.<br />
Eine ländliche Region <strong>des</strong> Saarlan<strong>des</strong> also, in der es<br />
noch vor zehn Jahren außer Kindergarten und Schule kaum<br />
praktische Hilfen von außen für Kinder mit Behinderungen<br />
gab. Qualifizierte, unbürokratisch zu organisierende Betreuung<br />
zur persönlichen Entlastung der Eltern – in der großen<br />
Mehrzahl der Mütter – war ebenso wenig vorhanden wie<br />
adäquate Freizeitangebote. Eine frustrierende, <strong>des</strong>illusionierende<br />
Situation der betroffenen Familien, zu der die<br />
gesellschaftliche Isolation ein Übriges beitrug. Das änderte<br />
sich im Landkreis Saarlouis erst, als sich einige Mütter behinderter<br />
Kinder regelmäßig zum Erfahrungsaustausch trafen.<br />
Aus dem gegenseitigen Verständnis für die besondere<br />
Situation der anderen wuchsen Solidarität und der Wunsch,<br />
gemeinsam für Verbesserungen zu kämpfen.<br />
Silvia Johannes und sechs weitere betroffene Mütter gründeten<br />
eine <strong>Selbsthilfe</strong>gruppe und als Konsequenz ihres<br />
steten Engagements im Jahr 1999 schließlich den Verein<br />
„Hilfe für Familien mit behinderten Kindern Saar e.V.“<br />
Zwei wesentliche Fortschritte hat die Vereinsarbeit seitdem<br />
gebracht: Einerseits bietet der Verein sowohl den
Titel<br />
inzwischen 93 angeschlossenen Familien als auch Nichtmitgliedern<br />
die Vermittlung von qualifizierten Betreuungspersonen<br />
an. Sonderschullehrer, Pädagogen und Kinderkrankenschwestern<br />
springen nach Terminabsprache ein, wenn<br />
die Pflegeperson für die Betreuung <strong>des</strong> entsprechenden<br />
Kin<strong>des</strong> verhindert ist oder einfach nur ausspannen möchte.<br />
Der finanzielle Betreuungsaufwand kann nach dem Pflegeergänzungsgesetz<br />
über den Verein mit der zuständigen<br />
Krankenkasse abgerechnet werden. Zum anderen organisieren<br />
die Mitglieder regelmäßige Freizeitaktivitäten.<br />
Darunter sind etwa ein Spielkreis für Kinder mit und ohne<br />
Behinderungen zwischen 0 und 10 Jahren, ein Tanz- und<br />
Bewegungskurs, Kinderkochunterricht, Minigolf, ein Kunstworkshop<br />
und Kegelabende.<br />
„Der Bedarf an Betreuung und Aktivitäten ist immens“,<br />
weiß Silvia Johannes. Wer die Hemmschwelle überwinde<br />
und aus dem Schneckenhaus der Isolation komme, könne<br />
sich schon bald darauf ein Leben ohne die Gemeinschaft<br />
gar nicht mehr vorstellen. „Wer zu uns kommt, bleibt auch<br />
bei uns.“<br />
Für sein außergewöhnliches Engagement wurde der Verein,<br />
der sich im Januar 2007 in „fair leben Saar e.V.“ umbenannt<br />
hat, mit dem Saarländischen <strong>Selbsthilfe</strong>preis 2006<br />
ausgezeichnet.<br />
Seit Jahrzehnten kämpfen diverse Organisationen, Verbände<br />
und Vereine gegen eine latente oder auch offene Behindertenfeindlichkeit<br />
in unserer Gesellschaft. Als Ursache für<br />
diese diskriminierende Geisteshaltung gilt die Ablehnung<br />
eines von der „Norm“ abweichenden Körperbaus und abweichender<br />
körperlicher oder geistiger Möglichkeiten. Diese<br />
erfolgt vor dem Hintergrund der Vision eines perfekten<br />
Körpers als Gradmesser für Wohlstand und Glück. Der Begriff<br />
Behindertenfeindlichkeit wird von seinen Verwendern<br />
auch in Kombination mit Rassismus, Sexismus und Diskriminierung<br />
sozialer Klassen benutzt und in Zusammenhang<br />
gestellt. Behindertenfeindlichkeit manifestiert sich sowohl<br />
in zwischenmenschlichen Handlungen (mitleidige Blicke,<br />
abfällige Bemerkungen bis hin zu körperlicher Gewalt), institutioneller<br />
Arroganz (nicht behindertengerechte Gebäude<br />
oder Verkehrsmittel) und kulturellen Phänomenen (Körpernormen<br />
in den Medien).<br />
Dem behindertenfeindlichen Zusammenleben steht ein<br />
verbinden<strong>des</strong> und eingliedern<strong>des</strong> gegenüber. Integration<br />
ist auch das Leitmotiv <strong>des</strong> Vereins „Gemeinsam leben<br />
– gemeinsam lernen“, einem bun<strong>des</strong>weit aktiven Eltern-<br />
<strong>Selbsthilfe</strong>verband, der über ein Projektbüro in <strong>Frankfurt</strong><br />
am Main verfügt. Dort hat auch die Lan<strong>des</strong>arbeitsgemeinschaft<br />
Hessen ihren Sitz, die seit 1996 offizielle, von der<br />
Stadt <strong>Frankfurt</strong> beauftragte Integrationsberatungsstelle ist.<br />
„Wir setzen uns ein für gemeinsames Aufwachsen von<br />
Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen.<br />
Und das von Anfang an und in allen Bereichen, in denen<br />
sie unterwegs sind“, fasst Sibylle Hausmanns, Leiterin <strong>des</strong><br />
Projektbüros, die Vereinsziele zusammen. „Das betrifft die<br />
Kindertagesstätte, die Schule, die Freizeitaktivitäten, den<br />
Übergang in das Berufsleben und schließlich das Wohnen<br />
in der selbstgewählten Umgebung.“<br />
„Wer die Hemmschwelle überwindet und aus dem<br />
Schneckenhaus der Isolation kommt, kann sich<br />
schon bald darauf ein Leben ohne die Gemeinschaft<br />
gar nicht mehr vorstellen. (Silvia Johannes)<br />
Starker Mangel herrscht in <strong>Frankfurt</strong> an integrativen Hortplätzen.<br />
Deshalb hat die LAG Hessen von „Gemeinsam<br />
leben – gemeinsam lernen“ die Trägerschaft über ein<br />
Projekt übernommen, das sich „offener Treff“ nennt. In der<br />
Ernst-Reuter-Schule II in Niederursel, einer traditionell<br />
aufgeschlossenen Bildungsstätte, gilt dieses Integrationsangebot<br />
für Schülerinnen und Schüler mit körperlicher und<br />
geistiger Behinderung sowie mit Mehrfachbehinderung und<br />
Sinnesbeeinträchtigungen ab zwölf Jahren bis zum Ende der<br />
Schulausbildung. Die eigene Gestaltung der Freizeit gemeinsam<br />
mit Schülern ohne Behinderungen ist gelebte<br />
Integration. Die Besucher/innen <strong>des</strong> offenen Treffpunkts<br />
haben während der Werktage von 12.00 Uhr bis 17.00 Uhr<br />
die Gelegenheit, sich dort individuell zu beschäftigen oder<br />
aber Theater, Kino und Schwimmbad zu benutzen. Darüber<br />
hinaus gibt es diverse Angebote in den Schulferien.<br />
Was „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ von vielen<br />
anderen – nicht weniger engagierten – Vereinen unterscheidet,<br />
ist die direkte Einmischung auf politischer- und<br />
auf Behördenebene. Einflussnahme auf die Gesetzgebung<br />
im Sinne eines selbstbestimmten Lebens ihrer Kinder mit<br />
Beeinträchtigungen ist ein Ziel, das in der Vereinsarbeit
Titel<br />
hohe Priorität genießt. „Dabei ist die Gesetzgebung erstaunlicherweise<br />
den tatsächlichen Verhältnissen ein gutes Stück<br />
voraus“, sagt Sibylle Hausmanns. „Es geht also neben dem<br />
Füllen von Gesetzeslücken primär darum, den vorhandenen<br />
Gesetzen Leben einzuhauchen.“<br />
Dieses Anliegen vertritt der Verein verstärkt in der Öffentlichkeit:<br />
in Medien, aber auch bei Tagungen und Kongressen.<br />
So fand im vorigen Jahr ein Vortrag von Sibylle<br />
Hausmanns bei einer Tagung der Integrationsforscher in<br />
Rheinsberg viel Beachtung. Thema war die Eingliederung<br />
von Jugendlichen mit Behinderung in den allgemeinen<br />
Arbeitsmarkt mit den Mitteln der Berufsvorbereitenden<br />
Bildungsmaßnahmen (BvB) der Bun<strong>des</strong>agentur für Arbeit.<br />
Die LAG Hessen von „Gemeinsam leben – gemeinsam<br />
lernen“ betrat mit ihrem Engagement Neuland innerhalb<br />
<strong>des</strong> <strong>Frankfurt</strong>er Stadtgebiets. Sie schwang sich nämlich zum<br />
ersten Träger auf, der eine BvB-Maßnahme für Menschen<br />
mit geistiger Behinderung nutzte.<br />
Diskrimination behinderter Menschen erfolgt<br />
vor dem Hintergrund der Vision eines perfekten<br />
Körpers als Gradmesser für Wohlstand und Glück.<br />
Im Vorfeld der Bildungsmaßnahme waren durch intensive<br />
Akquisitionsarbeit von der LAG Betriebe gefunden worden,<br />
die ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärten, behinderten<br />
Menschen Gelegenheit zur Arbeitserprobung zu bieten.<br />
Gemeinsam mit ihnen wurden geeignete Tätigkeitsbereiche<br />
innerhalb <strong>des</strong> Betriebs gesucht und erschlossen, in denen<br />
es trotz Rationalisierung und Technologisierung noch „einfache“<br />
Arbeiten gibt. Wichtig hierbei war, dass die Erledigung<br />
dieser Arbeiten durch Menschen mit Behinderungen<br />
sich langfristig auch für den Betrieb lohnen sollte. Tatsächlich<br />
fanden sich noch solche Nischen, und die akquirierten<br />
Berufssparten sollen an dieser Stelle Erwähnung finden:<br />
Bäckerei, Kindergarten, Einzelhandel, Museum, Reiterhof<br />
und Schuhmacherwerkstatt. Dazu stellten Unternehmen<br />
weiterer Branchen Fortbildungsplätze in Büros und Lagern<br />
zur Verfügung. Anbietern und Teilnehmern der Bildungsmaßnahme<br />
ging es dabei weniger um einen bestimmten<br />
Qualifizierungsabschluss, sondern um individuelles Lernen<br />
Lebenshilfe e.V. <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />
an einem Arbeitsplatz, der den Fähigkeiten und Neigungen<br />
<strong>des</strong> jungen Menschen entspricht, der aber auch Leistung<br />
und Lernen fordert. Es kam im Wesentlichen darauf an,<br />
Kompetenzen wie Selbständigkeit, Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit,<br />
Kritikfähigkeit und angemessenes Verhalten<br />
am Arbeitsplatz zu erlernen. Motivation musste nicht aufgebaut<br />
werden. Motiviert waren die meisten Teilnehmer/innen<br />
von Anbeginn in großem Maße!<br />
Das Ergebnis der Berufsfördernden Bildungsmaßnahme<br />
kann sich sehen lassen: Rund ein Drittel der Teilnehmer/<br />
innen mit geistiger Behinderung wurde in Beschäftigungsverhältnisse<br />
vermittelt. Dass die Mehrheit davon in Teilzeit<br />
arbeiten wird, weil viele von ihnen durch eine Vollzeitbeschäftigung<br />
überfordert wären, darf das Gesamtergebnis<br />
nicht schmälern. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass ein<br />
Nachweis erbracht wurde, dass es abseits der Arbeit in<br />
eigens eingerichteten Werkstätten für behinderte Menschen<br />
eine berufliche Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt<br />
geben kann. Der hier eingeschlagene Weg ist arbeitsaufwändig<br />
und von langer Prozessdauer, führt jedoch<br />
nachhaltiger in die Integration als viele der ausgetretenen<br />
Pfade der Vergangenheit.
Titel<br />
Lebenshilfe e.V. <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />
Wer über Integration von Kindern mit Behinderungen<br />
nachdenkt, stößt beinahe zwangsläufig auf die Frühförderung.<br />
Integration und Frühförderung scheinen eine unzertrennliche<br />
Wesenseinheit zu sein, so dass der eine Begriff<br />
ohne die Nähe <strong>des</strong> anderen in eine inhaltliche Sinnkrise<br />
schlittern könnte.<br />
Unter Frühförderung versteht man pädagogische und<br />
therapeutische Maßnahmen für Kinder, die behindert oder<br />
von Behinderung bedroht sind. Sie umfassen den Zeitraum<br />
der ersten Lebensjahre und erstrecken sich in der Regel<br />
bis zum Kindergarteneintritt oder bis zur Einschulung.<br />
Unterschieden wird zwischen allgemeiner und spezieller<br />
Frühförderung. Während sich die allgemeine an Kinder mit<br />
körperlicher, kognitiver und seelischer Behinderung wendet,<br />
richtet sich die spezielle Frühförderung an Kinder mit<br />
Sinnesbehinderungen wie zum Beispiel Sehbehinderung<br />
und Blindheit oder Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit.<br />
Dabei orientiert sich Frühförderung stets an den individuellen<br />
Bedürfnissen und Möglichkeiten <strong>des</strong> jeweiligen Kin<strong>des</strong><br />
in seinem Lebensumfeld. Für je<strong>des</strong> Kind werden auf diese<br />
Gegebenheiten hin spezielle Förderziele und -schwerpunkte<br />
in einem Förderplan festgelegt und umgesetzt.<br />
Im Bun<strong>des</strong>land Hessen steht nach Aussage <strong>des</strong> zuständigen<br />
Kultusministeriums in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien<br />
Stadt min<strong>des</strong>tens eine Frühförderstelle freigemeinnütziger<br />
oder kommunaler Träger zur Verfügung.<br />
In Hessens Metropole <strong>Frankfurt</strong> gibt es sogar einen Wettbewerb<br />
unter den Anbietern. Eine der bedeutendsten Frühförder-<br />
und Beratungsstellen der Stadt ist der „Lebenshilfe<br />
für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.“ (Lebenshilfe)<br />
angeschlossen. Von „etwa 275 laufenden Anfragen und<br />
Frühförderungen pro Jahr“ spricht Christine Jung-Seeh, die<br />
verantwortliche Fachbereichsleiterin. Seit 1983 existiert die<br />
Frühförderstelle der Lebenshilfe, die bewusst als niederschwelliges<br />
Angebot konzipiert wurde. „Wir arbeiten nach<br />
wie vor mobil, gehen zu den betroffenen Familien hin, um<br />
die Kinder mit Behinderungen im häuslichen Umfeld zu<br />
fördern“, so Christine Jung-Seeh. Trotzdem sei es von unschätzbarem<br />
Vorteil, seit dem Umzug in die großzügigen<br />
Räumlichkeiten in der Mörfelder Landstraße eine attraktive<br />
Anlaufstelle für die Eltern vorzuweisen sowie Einzel- und<br />
ergänzende Gruppenangebote für die Kinder mit Behinderungen<br />
vor Ort. Der Snoozle-Raum und ein großes Trampolin<br />
seien stellvertretend für reizspendende Elemente<br />
erwähnt.<br />
Der Wunsch, „so viel wie irgend vorstellbar aus<br />
Sascha herauszuholen, um ihm ein Maximum an<br />
Selbständigkeit zu ermöglichen.“ (Silvia Johannes)<br />
Seit den 70er Jahren gilt das Motto: Förderung so früh<br />
wie möglich. Zu Beginn steht dabei immer die Frage nach<br />
dem Förderbedarf. Nach der medizinisch-therapeutischen<br />
Diagnostik, die in den sozialpädiatrischen Zentren der Stadt<br />
– im Klinikum Höchst oder im „Verein Arbeits- und Erziehungshilfe“<br />
– vorgenommen wird, und der pädagogischen<br />
Diagnostik setzt die eigentliche Arbeit an den Kindern mit<br />
der heilpädagogischen Förderung ein. Ein interessanter<br />
pädagogischer Aspekt ist die Förderung der Stärken und<br />
Schwächen. Was sich bei der Aussage zunächst irritierend<br />
anhören mag, erhält bei der Erläuterung einen Sinn. „Bei<br />
allen berechtigten Hoffnungen auf Fortschritte müssen<br />
Kinder und Eltern verstehen lernen, dass es Grenzen der
Titel<br />
Förderung gibt“, gibt die Leiterin zu bedenken. „Neben<br />
den Stärken je<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> gibt es nun einmal auch seine<br />
Schwächen, die von allen am Prozess Beteiligten respektiert<br />
werden müssen.“<br />
Die Anzahl der interdisziplinär kooperierenden Berufsgruppen<br />
ist beträchtlich; Psycholog/innen, Sonder- und<br />
Heilpädagog/innen, Pädagog/innen, Sozialpädagog/innen,<br />
Sozialarbeiter/innen und Sonderschullehrer/innen arbeiten<br />
in der Frühförder- und Beratungsstelle, in der sich ebenfalls<br />
eine logopädische Praxis befindet. Eine gut funktionierende<br />
Zusammenarbeit mit externen Fachstellen und<br />
Einrichtungen ist die Basis für das dichte Betreuungsnetzwerk,<br />
das auch außerhalb <strong>Frankfurt</strong>s einen hervorragenden<br />
Ruf genießt. Dazu gehören Krankenhäuser, Kinderärzte,<br />
Einrichtungen der Ergotherapie und Krankengymnastik,<br />
Kindertagesstätten und Krippen, Schulen, Kinder- und<br />
Jugendärztlicher Dienst, die Sozialrathäuser und weitere<br />
Institutionen. Besonders die Kindergärten haben in letzter<br />
Zeit einen Kompetenzzuwachs erhalten. Für die Mitarbeiter/<br />
innen der Frühförder- und Beratungsstellen bedeutet das<br />
eine vorübergehende Pause im intensiven Betreuungsprozess<br />
der Kinder mit Behinderungen, der ganz im Sinne der<br />
Integrationsbegleitung erst mit der Vorbereitung auf die<br />
Schule wieder aktiviert wird.<br />
Aufgrund <strong>des</strong> großen, nicht selten belastenden Gesprächsbedarfs<br />
zu ihrer persönlichen und familiären Situation hat<br />
die Frühförder- und Beratungsstelle der Lebenshilfe einen<br />
Elterngesprächskreis initiiert. Den Eltern wird einerseits die<br />
Möglichkeit geboten, das Erlebte zu erzählen (wie habe ich<br />
die Diagnose meines Kin<strong>des</strong> erfahren, wie habe ich es aufgenommen?<br />
Wie wirkt sich das Leben mit einem beeinträchtigten<br />
Kind auf meine Person, meine Partnerschaft, meine<br />
Familie und meine Umwelt aus?), andererseits können sie<br />
sich untereinander austauschen, Verständnis füreinander<br />
aufbringen und sich Mut zusprechen. Auch die separate<br />
Geschwisterkindergruppe hat sich bewährt. Je<strong>des</strong> Geschwisterkind<br />
geht erfahrungsgemäß unterschiedlich mit dieser<br />
Familiensituation um. Das Wohlbefinden der Geschwister<br />
ist abhängig davon, wie in der Familie mit der Behinderung<br />
<strong>des</strong> Bruders oder der Schwester umgegangen wird, wie miteinander<br />
gesprochen wird und welche Gefühlsäußerungen<br />
erlaubt sind.<br />
Frühförderung wird auf der Grundlage von § 53/54, SGB<br />
XII in Verbindung mit § 55, SGB IX beantragt. Liegt ein<br />
Attest mit der entsprechenden Diagnose vor, übernimmt<br />
in <strong>Frankfurt</strong> das Jugend- und Sozialamt als Kostenträger<br />
sämtliche Beratungen und Therapien. Ein Wermutstropfen<br />
ist allerdings die verhältnismäßig lange Warteliste. „Es gibt<br />
mehr Bedarf als Plätze“, konstatiert Christine Jung-Seeh.<br />
Wie bei anderen Einrichtungen sei auch bei der Lebenshilfe<br />
eine Wartezeit von einigen Wochen, mitunter sogar bis zu<br />
vier Monaten Realität.<br />
Im saarländischen Schwalbach hat Sascha Johannes enorm<br />
von seiner Frühförderung, aber auch vom Einsatz seiner<br />
Eltern und vom Verein „fair leben Saar e.V.“ profitiert.<br />
Sascha, sagt seine Mutter stolz, sei ein fröhlicher, aufgeweckter<br />
junger Mann, der viel und gerne lache und am<br />
alltäglichen Leben teilhabe. Sie selbst habe das Gefühl, alles<br />
richtig gemacht zu haben. Silvia Johannes möchte aber<br />
auch die Rolle ihres Mannes ins rechte Licht gestellt wissen,<br />
der, im Gegensatz zu vielen anderen Vätern von Kindern<br />
mit Behinderungen, das Handicap seines Sohnes nach dem<br />
Diagnoseschock als Herausforderung betrachtet habe.<br />
„Es ist grundsätzlich falsch anzunehmen, dass Eltern von<br />
Kindern mit Behinderungen nichts vom Leben haben“, sagt<br />
die heute 45-Jährige. „Wir leben bestimmt nicht schlecht.<br />
Wir leben nur anders.“<br />
AUTOR:<br />
Volker Hütte<br />
Eschersheimer Landstraße 296, 60320 <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />
E-mail: volker.huette@gmx.de<br />
Internetadressen der vorgestellten Vereine und Institutionen<br />
sowie Adressen mit weiteren empfehlenswerten<br />
Informationen zum Thema:<br />
www.fair-leben-saar.de<br />
www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de<br />
www.lebenshilfe-ffm.de<br />
www.behinderte-kinder.de<br />
www.besondere-kinder.de<br />
www.muetter.besondere-kinder.de