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↙ Und doch gebe ich Paul Theroux im Grunde meines Herzens<br />
Recht. Und zwar immer dann, wenn ein Flug abgesagt<br />
wird, und ich mir ein Landverkehrsmittel suchen muss – oder<br />
darf. So wie Ende 1991, ein Projekteinsatz in der russischen<br />
Wolgaregion lag gerade hinter mir. Der Flughafen von Samara<br />
war zugeschneit, ich musste stattdessen mit dem Nachtzug<br />
nach Moskau fahren. 14.30 Uhr, der Zug setzt sich langsam in<br />
Bewegung. Schon herrscht Abenddämmerung über der verschneiten<br />
Landschaft, das wird ein langer Abend. Mir gegenüber<br />
im weich gepolsterten Zweierabteil weißhaarig und ein<br />
wenig rotgesichtig Professor Orlow von der Allunionsakademie<br />
der Medizinischen Wissenschaften in Moskau, wie mir anhand<br />
der Visitenkarte wortreich erklärt wird. Sorgsam mit Butterbrotpapier<br />
abgedeckt, hat Professor Orlow auf dem Tisch<br />
zwischen uns seinen Proviant aufgebaut.<br />
↙ Kleine Unterbrechung durch den Schaffner: Fahrkartenkontrolle.<br />
An meiner Fahrkarte stimmt etwas nicht. Erst allmählich<br />
begreife ich: Man hat mir eine Fahrkarte ausgestellt,<br />
die Sowjetmenschen vorbehalten ist. Ich müsste eigentlich<br />
einen Dollarfahrschein für Ausländer haben. Ich versuche, alles<br />
zu erklären, der Schaffner besteht auf der sofortigen Begleichung<br />
einer Strafgebühr. Da erhebt sich Professor Orlow<br />
würdevoll, zückt seinen Dienstausweis, hält ihn dem Schaffner<br />
unter die Nase, dieser entschuldigt sich ohne weitere Nachfragen<br />
und tritt den Rückzug an. Um wenige Minuten später<br />
mit zwei großen Wassergläsern wieder aufzutauchen.<br />
↙ Professor Orlow schiebt das Butterbrotpapier zur Seite.<br />
Zum Vorschein kommen zwei große gebratene Hühner, ein<br />
Korb mit etwa 30 Butterbroten und zwei Flaschen Wodka.<br />
Orlow füllt die Wassergläser großzügig, erhebt sein Glas und<br />
bringt den ersten Toast aus. Dabei mischt er Russisch mit<br />
englischen Floskeln, die er von internationalen Konferenzen<br />
mitgebracht hat, und mit einigen Brocken Deutsch, die er<br />
von seiner Großmutter gelernt hat. Pflichtschuldig leere ich<br />
mein Glas. Da kommt die Aufforderung: „Ihr Toast bitte!“ In<br />
derselben Sprachmischung, allerdings mit mehr Englisch und<br />
weniger Russisch, ringe ich um die passenden Worte für den<br />
aktuellen Zustand der deutsch-sowjetischen Freundschaft.<br />
Professor Orlow ist begeistert und artikuliert auf Deutsch:<br />
„Glänzend.“ Und wieder wird auf ex getrunken.<br />
↙ Der Zug fährt mit gleichmäßiger Geschwindigkeit mit Tempo<br />
70, die Landschaft verschwimmt immer mehr in der Dämmerung<br />
und im Wodkanebel. Toast folgt auf Toast in unserem<br />
Zweierabteil, für mich eine absonderliche Situation. Indem<br />
wir uns mit förmlich ziselierten Toasts abwechseln, wird auch<br />
viel von der Gefühlswelt der beiden Reisenden offenbar. Orlow<br />
quittiert jeden meiner Toasts mit dem Ausruf „Glänzend!“.<br />
Nach der ersten Flasche Wodka heißt es „Essen Sie Butterbrot!“<br />
Das Hühnchen wird vertilgt. Meine geheime Hoffnung, dass<br />
die zweite Wodkaflasche bis Moskau unberührt bleiben könne,<br />
erfüllt sich nicht. Orlows Gesicht wird immer roter, seine<br />
Toasts eloquenter, sein Deutsch abgeschliffener, seine englischen<br />
Brocken für mich unverständlicher. Aber es gibt kein<br />
Entrinnen: Es folgen noch Toasts auf die Kinder, auf die Abrüstung,<br />
auf die Wissenschaft und immer wieder auf die ruhmreiche<br />
Sowjetunion, die deutschen Dichter und Komponisten.<br />
Irgendwann versinkt dieser Tag endgültig zwischen dem<br />
gleichmäßigen Rhythmus der Schienenstöße.<br />
↙ Am nächsten Morgen reibe ich mir am Bahnhof in Moskau<br />
die Augen. Ich habe Kopfschmerzen wie schon lange nicht<br />
mehr. Von Professor Orlow ist keine Spur mehr zu sehen, der<br />
Schaffner steht in der Abteiltür. Wahrscheinlich hat er mich<br />
wecken müssen. Ich nehme ein Taxi zum internationalen<br />
Flughafen, um nach Düsseldorf zu fliegen. In der Wartehalle<br />
sprechen Ausländer neben mir vom Ende der Sowjetunion.<br />
Gerücht oder Wahrheit? Ich weiß es nicht. Später höre ich<br />
die Nachrichten. Es stimmt also. Auf dem Flughafen hat mich<br />
die Realität eingeholt. Jetzt gehört die nächtliche Fahrt mit<br />
der Eisenbahn schon einer versunkenen Welt an.<br />
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